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Mandat zum Widerstand. Der Fall der deutschen Opposition gegen Hitler | APuZ 29/1969 | bpb.de

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APuZ 29/1969 Mandat zum Widerstand. Der Fall der deutschen Opposition gegen Hitler Militäropposition und Armee im Sommer 1939

Mandat zum Widerstand. Der Fall der deutschen Opposition gegen Hitler

Klemens von Klemperer

Übersetzung: Karl Römer, Bad Godesberg

Das Problem: Die Fragwürdigkeit des Mandats

Klaus-Jürgen Müller: Militäropposition und Armee im Sommer 1939

Eines der quälendsten Probleme dieses Jahrzehnts ist das Problem des Widerstands gegen die verfassungsmäßige Staatsgewalt. Jeder, der nachdenklich an dieses Problem herantritt, wird — so denke ich — feststellen, daß sich in Praxis und Theorie der Politik im Westen allmählich ein behutsames Gleichgewicht herausgebildet hat — ein behutsames Gleichgewicht zwischen menschlichen Satzungen und dem „unwandelbaren Gesetz des Himmels". Menschliche Satzungen geben ein positives, greifbares Mandat für das, was in ihrem Namen getan wird; aber sie können ungerecht sein oder sind, falls gerecht, dem Mißbrauch ausgesetzt. Die Staatsgewalt, welche die Satzungen handhabt, läuft in beiden Fällen Gefahr, ihre Legitimität zu verlieren und berechtigten Widerstand herauszufordern. Das Gesetz des Himmels, auf der anderen Seite, steht zwar höher, ist aber nicht zu greifen, bleibt ein Gegenstand der Skepsis; und es mag scheinen, daß Handlungen, die in seinem Namen gegen bloß menschliche Satzungen unternommen werden, der nachweisbaren Rechtfertigung ermangeln. Doch auch diese Handlungen — mit anderen Worten: Akte des Widerstands — brauchen ein Mandat, sollen sie einen gewissen Grad von _ Legitimität haben, sollen sie öicht reiner Gesetzlosigkeit den Weg bereiten und Vorzeichen bloßer Anarchie sein.

Das Mandat zum Widerstand ist schwer zu begründen. Es beruht schwerlich auf positivem Recht, und es beruht ganz sicher nicht auf den Aufträgen einer Wählerschaft. Gewöhnlich wird es von allgemeineren Prinzipien abgeleitet, etwa dem „Naturrecht", dem „Gemeinwohl“ oder dem „nationalen Interesse". Das sind erhabene Begriffe, aber sie sind, darauf muß hingewiesen werden, nicht ohne Gefahren und Zweideutigkeiten. Denn kann sich nicht jede Form von Widerstand — berechtigt oder nicht, aggressiv oder nicht — auf diese Werte in all ihrer hohen Abstraktheit berufen? Können sie nicht den Feinden der Freiheit ebenso wie ihren Verteidigern dienen Adolf Hitler selbst begründete ja, wie man bei ihm nachlesen kann, das Widerstandsrecht und die Widerstandspflicht eines bedrohten Volkstums mit dem Hinweis auf ein höheres Recht — geradeso, wie diejenigen, die sich 1944 gegen ihn verschworen, im Namen des „göttlichen und menschlichen Rechts" an das deutsche Volk appellieren wollten

Doch mag das höhere Recht auch schwer zu fassen sein, so ist es darum doch nicht weniger existent-ia selbstverständlich. Wenn immer eine Regierung Recht und Gesetz verletzt und somit tyrannisch wird, dient es als oberste Berufungsinstanz. Das Mandat, das es verleiht, muß natürlich durch Sicherungen und einschränkende Bedingungen näher bestimmt werden Eingeprägt nicht in die Gesetzes-tafeln, wohl aber in die Herzen und das Gewissen freiheitsliebender Menschen, wird es wirksam, „wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, wenn unerträglich wird die Last", wie Friedrich Schillers Stauffacher sagt. In diesem Fall, und nur in diesem Fall, ist Widerstand gegen das Gesetz frei vom Stigma des Ungesetzlichen; er ist dann übergesetzlich und empfängt seine Rechtfertigung von moralischen und religiösen Prämissen, wie es beim Widerstand Antigones der Fall war. Während des Zweiten Weltkrieges hatten die Widerstandsbewegungen in verschiedenen alliierten Ländern ein klares, unbestreitbares Mandat. Die Widerstandsbewegungen in Frankreich, in Holland, in Norwegen waren gegen Besetzung und Unterdrückung durch eine auswärtige Macht gerichtet; sie konnten auf die Unterstützung breiter Volksschichten zählen. Und ihr Befreiungskampf diente nicht nur der Behauptung fundamentaler Menschenrechte, sondern auch eindeutigen nationalen Interessen.

Der deutsche Widerstand gegen Hitler, mit dem ich mich hier beschäftigen will, hatte hingegen kein solch klares Mandat. Keine Volksbewegung stützte ihn. Er schritt von Komplott zu Komplott — zögernd zuerst, am Schluß ungestüm — und gipfelte in Oberst Claus von Stauffenbergs kühnem, aber erfolglosem Anschlag auf Hitlers Leben am 20. Juli 1944. Gewiß richteten sich wenige Widerstandsakte in der Geschichte gegen eine so ungeheuerliche Verbindung der Macht mit dem Bösen, wie sie der Nationalsozialismus darstellte. Dennoch hat gerade diese Widerstandsbewegung, deren Rechtmäßigkeit außer Zweifel stehen sollte, ihren Platz in der Geschichte mit einem höchst fragwürdigen Mandat eingenommen. Darin liegt eine tiefe, beunruhigende Ironie; und diese Ironie ist das Thema dieser Abhandlung.

Die Kritiker des deutschen Widerstandes

Kurz nach dem Anschlag auf sein Leben trat Hitler vor das Mikrofon und sprach zum deutschen Volk: „Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer, dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet ..." Mit diesen Worten begann jene Verächtlichmachung der Verschwörer, die später lauten Widerhall finden sollte, und zwar auch bei nichtnationalsozialistischen Kritikern des deutschen Widerstandes. Zum Mangel an Rückhalt im Volke trat die grausame Schmach des Scheiterns. Noch schlimmer war natürlich: Die Verschwörung stand nicht im Einklang mit der augenblicklichen Hauptanstrengung der Nation, der Kriegführung; sie lief dem zuwider, was zumindest im herkömmlichen Sinne als „nationales Interesse" galt. Denn ein Erfolg des Komplotts hätte möglicherweise die Niederlage des Vaterlandes bedeutet. Die Verschwörer handelten in einer Situation, in der Heldentum an Verrat, Widerstand an Defätismus grenzte. Ihr Dilemma war marternd für sie, und es hat ihrem Ansehen bei ihren Landsleuten auf schwerste geschadet. Gewiß, seit dem Ende der vierziger Jahre sind gründliche, maßgebende Werke erschienen, in denen die Motive des deutschen Widerstands gerechtfertigt werden Es stimmt auch, daß ein Braunschweiger Gericht 1952 den früheren Nazigeneral und späteren Neonazi Otto Ernst Remer verurteilte, weil er die deutschen Verschwörer als Landesverräter bezeichnet hat-te und daß das Gericht in seinem Urteil den Unrechtscharakter des Dritten Reiches ein für allemal festzustellen suchte. Trotzdem kann man auch jetzt noch schwerlich sagen, daß Namen wie Ludwig Beck, Carl Goerdeler, Helmuth James von Moltke, Claus Schenk von Stauffenberg einen Platz in den Herzen oder auch in den Köpfen der meisten Deutschen gefunden hätten. Noch vielen Deutschen fehlt es an der vornehmen Weisheit des ersten Bundespräsidenten, Theodor Heuss, der sagte, die Verschwörer hätten sich in einer „Grenzsituation" zwischen den Ansprüchen der nationalen Loyalität und denen der menschlichen Gerechtigkeit befunden Der von ihnen gewählte Weg, erklärte Heuss, sei letztlich der höhere gewesen.

Doch es ist vielleicht verständlich, daß Deutsche nach wie vor das Mandat des deutschen Widerstands in Frage stellen. Rätselhafter und verwirrender sind die Angriffe, die in anderen westlichen Ländern, besonders in den Vereinigten Staaten, immer wieder gegen ihn erhoben worden sind Diese Angriffe begannen unmittelbar nach dem Krieg: Die Besatzungsbehörden unterbanden jede öffentliche Diskussion über den Widerstand, weil sie fürchteten, sie könne zu einer Ehrenrettung des deutschen Militarismus führen, wenn vom Kampf eines deutschen Offiziers gegen Hitler die Rede sei In einem britischen Geheimdienstbericht vom Dezember 1945 wurde unwillig eingeräumt, das Ergebnis des 20. Juli 1944 sei eines, „von dem wir zweifellos noch weiterhin hören werden". Doch nicht ohne Scharfsinn fuhr der Bericht fort: „.. . man kann den Wunsch [der Verschwörer], sich Hitlers zu entledigen, zwar nur bewundern, aber die Motive dafür und das Programm, das sie zu verwirklichen gedachten, stehen beide keineswegs in Einklang mit unseren Vorstellungen von einer echten liberalen Widerstandsbewegung." Ich komme später auf die Frage zurück, ob ein „liberaler" Widerstand in Deutschland überhaupt im Bereich des Möglichen lag.

Zunächst jedoch möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Grundannahme lenken, von der dieser Bericht ausgeht — die Annahme nämlich, die Männer des deutschen Widerstands hätten bei allem Heldentum ohne gültiges Mandat gehandelt; sie hätten die Tyrannei bekämpft, aber nicht im Namen der Freiheit, und sie hätten das Böse bekämpft, aber nicht im Namen allgemeingültiger Werte. Diese mit sehr schwachem Lob gemischte Verurteilung des deutschen Widerstands ging ursprünglich von primär politischen Erwägungen aus. Später tauchte sie, unterschiedlich stark akzentuiert, in den Werken von Historikern auf. So behauptete der britische Historiker John Wheeler-Bennett, die deutschen Verschwörer seien von keinem höheren Ziel inspiriert gewesen als dem, einen Führer und ein Regime zu vernichten, die ihnen nicht mehr von Nutzen waren Ähnlich äußerte sich Hannah Arendt: Ihrer Meinung nach waren Stauffenberg und seine Freunde ausschließlich motiviert durch ihre Überzeugung von der kommenden Niederlage und dem kommenden Zusammenbruch Deutschlands

Soviel sei zum angeblichen Verrat und zum angeblichen Opportunismus der deutschen Verschwörer gesagt. Man hat ihnen auch ein steriles Elitedenken vorgeworfen. Ein Kritiker meint, sie hätten nicht die wahre Elite aller Klassen und Traditionen vertreten, sondern enge Klassen-und Standesinteressen. Die Verschwörer vom 20. Juli waren vorwiegend Adlige und Offiziere; sie vertraten — nach Meinung dieses Kritikers — eine Gesellschaftsschicht, die hochtrabend von Treue sprach, in Wirklichkeit aber nur sich selbst treu war, die „ohne weiteres Nation und Staat verriet, wenn ihre Privilegien in Gefahr waren" Daher sei die Widerstandsbewegung keineswegs die Stimme des „ewigen Deutschlands" gewesen, sondern nichts weiter als eine Offiziersrevolte spanischen Typs, eine von Klassengeist erfüllte Fronde

Zur gleichen Zeit beschuldigt man jedoch die Verschwörer eines ganz unaristokratischen Kompromißlertums. Zwar gab es einen Konflikt der Klasseninteressen zwischen den überwiegend. adligen Frondeuren und den nationalsozialistischen homines novi, zwischen den traditionsbewußten Mitgliedern einer alten Oberklasse und einer Bewegung, welche die soziale Revolution verhieß; aber dessenungeachtet waren die beiden Gruppen eng miteinander verflochten. Zumindest in der ersten Zeit hatten Differenzen zwischen ihnen mehr mit dem persönlichen Stil als mit politischen Über-zeugungen zu tun Soweit die Verschwörer Führungspositionen im Staat bekleideten, dienten sie den Nationalsozialisten und arbeiteten mit ihnen zusammen. Daher formte sich die Verschwörung direkt unter den Augen der Nazis sie wurde nicht nur genau beobachtet, sondern auch geduldet. Mehr noch: Bevor man über die deutsche Widerstandsbewegung urteilt, muß man sich mit der Tatsache vertraut machen, daß eine ihrer Gruppen enge Verbindungen zum Elitekorps des Nationalsozialismus unterhielt — zur SS und ihrem Führer Heinrich Himmler Die Verschwörer, die diese Verbindungen herstellten, auf der einen Seite und Himmler auf der anderen Seite suchten einander für ihre Pläne zum Sturz Hitlers einzuspannen. Der Historiker des deutschen Widerstands sieht sich somit einem erregenden Problem gegenüber: Die deutsche Widerstandsbewegung ist nicht nur dem Vorwurf des Verrats ausgesetzt, sie kann zugleich beschuldigt werden, mit jenem Zentrum der nationalen Macht kollaboriert zu haben, das auch das Zentrum des Bösen war.

Ein weiterer Grund, die Widerstandsbewegung zu tadeln, ihr zumindest mit Vorbehalt zu begegnen, ergibt sich aus ihrer politischen Haltung. Ich habe schon auf die adlige Herkunft vieler ihrer Teilnehmer hingewiesen. Es ist nicht verwunderlich, daß ihre Ideologie ebenso wie ihre soziale Herkunft konservativ war — jedenfalls alles andere als liberal und kaum demokratisch. Hatte ihr Widerstand auch edle Züge, so bot er ein treffendes Beispiel für eine merkwürdige Tendenz in der deutschen Geschichte, auf die der Soziologe Ralf Dahrendorf aufmerksam gemacht hat: das Auseinandertreten von Moralität und Liberalität Die Verschwörer — so argumentiert man — gehörten zu jenen Gruppen, die in den Weimarer Jahren gemeinsam mit den Nationalsozialisten die Republik bekämpften, weil sie ein Produkt „undeutschen" Geistes sei; im Grunde bestand zwischen ihnen und den Nationalsozialisten ideologische Übereinstimmung. Daraus ergibt sich die harte Frage: Wie kann man gegen etwas rebellieren, mit dem man übereinstimmt Diese Frage hat ein amerikanischer Kritiker brutal — und, wie ich hinzufügen möchte, absurd — wie folgt beantwortet: Die Rebellen „hatten keine Ideen, sondern starben, weil sie den Gestank ihrer eigenen Taten nicht ertragen konnten"

Schließlich ist den deutschen Verschwörern der Vorwurf gemacht worden, sie seien auf allzu romantische und theoretische, das heißt „apolitische" Weise an ein Unternehmen herangegangen, das ein politisches Unternehmen hätte sein müssen. Anfangs seien sie von ihren eigenen Einwänden gegen die Massendemokratie gelähmt gewesen und sodann von der Tatsaehe, daß die deutschen Volksmassen nazifiziert waren. Das daraus resultierende Dilemma, die „Politik der Unsicherheit" habe dazu beigetragen, daß diese elitär denkenden Menschen an der Möglichkeit politischen Handelns in einer modernen Massengesellschaft verzweifelten.

Die Anklage gegen den deutschen Widerstand ist also umfassend — oder man sollte vielleicht eher sagen, sie ist vielfältig. Sie kommt von verschiedenen Seiten, sogar von entgegengesetzten Seiten, und zuweilen ist sie in sich widersprüchlich. Wie wir gesehen haben, wirft man den Verschwörern Verrat und Kollaboration, unpolitische Romantik und allzu politische Schlauheit vor. Aber es ist nicht einfach so, daß sich die Vorwürfe, die hier aufgezählt wurden, gegenseitig aufheben. Der Historiker, der das Mandat des deutschen Widerstands aufspüren und beurteilen will, kann an ihnen nicht vorübergehen. Die Zweideutigkeiten der Geschichte mögen für die Geduld, für den Verstand, ja auch für die Selbstachtung der Menschen recht beschwerlich sein. Simplifizierende Ansichten von der Vergangenheit können ebenso verlockend sein wie simplifizierende Ansichten von der Gegenwart.

Dennoch: Wenn es um die augenscheinlichen Helden der Vergangenheit geht, um Männer wie die Verschwörer vom 20. Juli, dann reicht unkritische Verherrlichung nicht aus. Und auch das Umgekehrte genügt nicht — das schicke, leichte, besserwisserische Herunterreißen. Billiges Moralisieren wird den Problemen des Widerstands gegen ein totalitäres Regime wie dieses nicht gerecht. Es war ein Regime, unter dem die Deutschen alle „gefangen in einem großen Zuchthaus" waren, wie ein sozialistisches Mitglied der Widerstandsbewegung, Wilhelm Leuschner, am Vorabend des Krieges sagte Ungezählte einzelne, jeder mit seinem Gewissen allein waren in diesem Zuchthaus extremen, beispiellosen Situationen konfrontiert und hatten Entscheidungen zu treffen, bei denen es um Leben und Tod ging. Die Vorwürfe gegen den deutschen Widerstand, die ich erwähnt habe, hängen aufs engste zusammen mit unserem Problem — dem Mandat zum Widerstand. In diesem Zusammenhang gehe ich kurz auf die Chronologie und die Soziologie des Widerstandes ein. Der Beginn der Bewegung kann, wie ich meine, zurückgeführt werden auf einen denkwürdigen Augenblick im März 1933, als Otto Wels, der Führer der Sozialdemokraten, vor versammeltem Reichstag aufstand und tapfer Hitlers Plan entgegentrat, seine Diktatur durch die pseudoverfassungsmäßige Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes zu errichten. Wels erklärte: „Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten." Doch ich muß hinzufügen: Die Sozialdemokratische Partei hatte schon vor Hitlers Machtergreifung gezeigt, daß es ihr an Kampfgeist fehlte; daß sie nicht fähig und willens war, der Drohung einer Rechts-diktatur zu widerstehen. Und nach Hitlers Machtergreifung war die sozialdemokratische Organisation zu exponiert, um einen organisierten Widerstand in Deutschland zu leisten. Die einzige praktische Alternative für die Parteiführung war Emigration. Die Parteiführer, die im Lande blieben — Männer wie Wilhelm Leuschner und Julius Leber —, erkannten, daß eine Untergrund-Aktivität von ihrer Seite zum Scheitern verurteilt sein würde. Sie zogen den Schluß, daß das nationalsozialistische Regime nur in Zusammenarbeit mit der Wehrmacht gestürzt werden konnte

Wie stand es um die Kommunisten? Vor 1933 hatten die Kommunisten jede Chance für eine gemeinsame proletarische Front zunichte gemacht; sie bezeichneten die Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten“ und lehnten die Zusammenarbeit mit ihnen ab. Für kommunistische Parteidoktrinäre waren die Sozialdemokraten ein größeres Übel als die Nationalsozialisten. Tatsächlich machten die Kommunisten mit den Nationalsozialisten gemeinsame Sache bei der Zerstörung der Weimarer Republik. Später — nach dem Januar 1933 — war die Partei merkwürdig unvorbereitet für die Untergrund-arbeit. Und in den wenigen Fällen, wo sie wirklich organisiert handelte, traf sie der nationalsozialistische Terror hart

Die proletarischen Widerstandsorganisationen waren also durch die Kontrolle und den Terror der Nationalsozialisten praktisch neutralisiert. Und die Massen — das heißt die untere und die mittlere Mittelschicht — waren nazifiziert. Unter diesen Umständen konnte Widerstand, wenn überhaupt, nur aus den Reihen des traditionellen deutschen Establishments kommen Da die Massen nazifiziert waren — dies war eine unübersehbare soziologische Tatsache in den ersten Jahren nach Hitlers Machtergreifung —, konnten individuelle Äußerungen der Gegnerschaft, persönliche Akte eines stillen Heldentums, einfach nicht zu einem breiten Strom des Volkswiderstandes zusammenfließen Aus diesem Grunde waren das Establishment — wenn ich dieses wichtige, freilich viel mißbrauchte Wort noch einmal verwenden darf — und besonders die Armee der geeignetste potentielle Kern der Rebellion. Die Armee war schließlich „das Volk in Waffen"; sie war der Kontrolle der NSDAP entrückt und konnte als Instrument in den Händen antinationalsozialistischer Befehlshaber dienen. Die Dinge lagen so, daß der einzige wirklich mögliche Widerstand in Deutschland ein „Widerstand ohne . Volk’ " war, wie Hans Mommsen es genannt hat In Sodom gab es nur wenige Gerechte.

Die Widerstandskreise und die Weimarer Republik

Der Vorwurf, das Establishment habe nur aus Opportunismus angesichts der bevorstehenden Niederlage Widerstand geleistet, ist offenkundig unbegründet, betrachtet man ihn im Lichte der Ereignisse von 1938. In jenem Jahr bildete sich das militärische Zentrum des Widerstan-des aus Persönlichkeiten, die in Opposition zu Hitlers Kriegsplänen standen. Viel zutreffen-der wäre der Vorwurf der politischen Unreife, Unerfahrenheit, ja Unverantwortlichkeit in den Jahren der Weimarer Republik. Die Politik der Reichswehr trug in den zwanziger Jahren entscheidend dazu bei, die Demokratie in Deutschland zu untergraben. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, begrüßte das die Armee im großen und ganzen als ein Ereignis, das ihr selbst größere Bewegungsfreiheit und dem Lande neuen Glanz verhieß. Derselbe General Oster, der später, 1940, bereit war, bis zum Landesverrat zu gehen, besaß keine Bindung an den „bankerotten Parteien-staat" von Weimar; anfänglich feierte er die nationalsozialistische Revolution als „nationale Erhebung" Und niemand hat bisher schlüssig den Bericht widerlegt, wonach der junge Leutnant Claus von Stauffenberg — der Mann, der 1944 den Bombenanschlag ausführte — am 30. Januar 1933, dem Tag, an dem Hitler Reichskanzler wurde, an der Spitze eines Fackelzugs durch Bamberg marschierte Was die Haltung, prominenter Kirchen-männer betrifft, so müssen wir daran erinnern, daß der Erzbischof von München, Kardinal Michael von Faulhaber, der später enge Verbindungen mit der Widerstandsbewegung unterhielt, nicht müde wurde, die Republik zu diskreditieren Selbst Pastor Martin Niemöller, der schon 1933der Führer des protestantischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus wurde, rühmte sich einmal, er sei stets ein Feind „jeder Art von Republik“ gewesen und habe seit 1924 immer für die Nationalsozialistengestimmt Und die akademische Ju-gend?Die Geschwister Hans und Sophie Scholl, die, zusammen mit ihrem Professor Kurt Huber, für ihre tapfere Haltung gegen die Tyrannei mit dem Leben bezahlen sollten — sie ließen sich 1933 von den marschierenden Kolonnen und wehenden Fahnen der Hitlerjugend blenden und traten ihr freiwillig bei

Wir spüren hier deutlich einen leicht entflammbaren Unwillen gegen die hausbackene, schwerfällige Rechtmäßigkeit der Demokratie, wie man sie in Deutschland zwischen 1918 und 1933 zu praktizieren versuchte. Hinter diesem Unwillen steckte viel politische Unreife, viel mißleitete Romantik; und daraus nährten sich die großen Erwartungen, die man an die nationalsozialistische Verheißung eines Tausendjährigen Reiches knüpfte. Die weitverbreitete Nachgiebigkeit gegenüber dem Nationalsozialismus, wie wir es heute nennen mögen, war zugleich die häßliche Frucht einer bewußten Politik Hitlers, nämlich der trügerischen Politik der Legalität und Respektabilität, die er seit dem fehlgeschlagenen Münchener Putsch vom November 1923 verfolgte. Man kann, glaube ich, feststellen, daß dem Faschismus, im Gegensatz zum Kommunismus, stets eine fest-umrissene Gestalt gefehlt hat und daß er deshalb viel schwerer zu identifizieren war. Der Kommunismus war von Anfang an eine klare, augenscheinliche Gefahr für die herrschenden Mächte; der Faschismus hingegen wurde oft — zum Teil gerade wegen dieser Gefahr — als Bundesgenosse rechtschaffener und wohlmeinender Bürger angesehen. „Die große Maske -rade des Bösen hat alle ethischen Begriffe durcheinandergewirbelt", schrieb Pastor Dietrich Bonhoeffer in einem Hitlerschen Gefängnis. Und in der Tat hat der Faschismus dadurch, daß er „in der Gestalt des Lichts, der Wohltat, des geschichtlich Notwendigen, des sozial Gerechten" erschien, so manchen im herkömmlichen Sinne anständigen Menschen getäuscht. Bonhoeffer, einer der am klarsten blikkenden und klügsten Männer der Widerstandsbewegung, durchschaute dieses Täuschungsvermögen: „. . . für den Christen", schrieb er, „ist es gerade die Bestätigung der abgründigen Bosheit des Bösen"

Die Widerstandsbewegung und der „Triumph des Bösen"

Erst spät, viel zu spät trennten sich die Wege der alten Oberschicht von denen Hitlers. Zwischen 1933 und 1938 kamen mehrere kritische Augenblicke, in denen die Wehrmacht hätte handeln können, aber sie konnte sich nicht dazu entschließen. Zu einer Zeit, da es für sie vielleicht noch Wirkungsmöglichkeiten gab, ging sie der politischen Verantwortung aus dem Wege. Doch im Sommer 1938 sprach der Chef des Generalstabs des Heeres, General Ludwig Beck, in einer dienstlichen Aufzeichnung von der „Grenze" soldatischen Gehorsams, und er faßte sogar eine „innere Auseinandersetzung" ins Auge, die sich in Berlin abspielen werde

So rang sich denn endlich ein hoher Offizier zu dem Gedanken durch, daß die Pflicht des Soldaten nicht nur in sklavischem Gehorsam bestehe und daß die Wehrmacht vielleicht aktiv in die Innenpolitik eingreifen könne. Was bisher nur individueller Nonkonformismus und das Murren einer privilegierten Gruppe gewesen war, nahm endlich die Form einer organisierten Verschwörung an. Obzwar spät genug, geschah dies keineswegs zu einer Zeit, da Hitlers Stern im Sinken war — im Gegenteil, er stieg immer höher am Firmament der europäischen Diplomatie. Die führenden Köpfe der Verschwörung waren General Beck — nach seinem erzwungenen Rücktritt sein weniger kraftvoller Nachfolger General Franz Halder —, Staatssekretär Ernst von Weizsäcker vom Auswärtigen Amt und der geheimnisvolle Admiral Wilhelm Canaris von der Abwehr. Indes erwies sich, daß ihre Strategie auf einer falschen Kalkulation beruhte: Sie machten Hitlers Absetzung durch die Armee abhängig von einem starken britischen Widerstand gegen seine Aggressionspläne. In Großbritannien jedoch neigte man nicht nur allzusehr zur Beschwichtigungspolitik; leider bestärkten auch die Abgesandten der Rebellen aus Berlin unbeabsichtigt einen alten Argwohn in Downing Street Nr. 10 — die Furcht vor einem „neuen Preußentum", einem Wiederaufleben des Wilhelminischen Militarismus. Chamberlain verglich einen von ihnen mit den Jakobiten am französischen Hof zur Zeit König Wilhelms III Der Vergleich deutete an, daß der Emissär mit ausländischen Regierungen konspiriere, ohne ein klares Mandat von einer rechtmäßigen Autorität zu besitzen. Chamberlain blieb dabei, in Hitler das kleinere Übel zu sehen; die Hitlersche Politik war für ihn eine unbequeme, aber verständliche Manifestation der legitimen Ansprüche Deutschlands auf nationale Selbstbestimmung, eine berechtigte Reaktion auf die repressive Ordnung von Versailles, für die sich die Engländer verantwortlich fühlten. Den diplomatischen Erfolgen Hitlers fügte München einen weiteren hinzu: Es ließ ihn nicht als ränkevollen Kriegstreiber, sondern als vollendeten Friedensstifter erscheinen. München gab ihm den Schein der Respektabilität, der sich im Ausland ebenso bezahlt machte wie schon früher zu Hause. General Halders Pläne für einen Staatsstreich fielen in sich zusammen.

Es war vielleicht unrealistisch von den Verschwörern, eine Erhebung in Deutschland auf einen Kurswechsel der britischen Außenpolitik gründen zu wollen. Die Neigung zum Appeasement war stark in Großbritannien — zu stark, als daß die Regierung ihre Sorgsam genährte Verständigung mit Adolphus paciiicus zugunsten eines abenteuerlichen Pakts mit einer hypothetischen Rebellenregierung hätte opfern können. Außerdem erschienen die Rebellen, was ihre Ansichten über Deutschlands rechtmäßige Ziele in West-und Osteuropa betraf, reaktionärer und unnachgiebiger als Hitler. Und wie konnte man ihnen Vertrauen schenken, da sie doch so lange Hitlers Politik mitgemacht hatten? Schließlich: Gab es irgendwelche Sicherheiten, daß das Komplott in Deutschland genügend vorbereitet war, um eine Erfolgsaussicht von mehr als fünfzig Prozent zu haben? Angesichts solcher Fragen ist es nicht verwunderlich, daß die britische Regierung nicht nach den Vorschlägen der deutschen Emissäre handelte. Natürlich ist es eine Übertreibung, die Westmächte wegen ihres Verhaltens in München für die Dezimierung der Anti-Hitler-„Front" in Deutschland verwortlich zu machen Aber soviel steht fest: die geheimen Verhandlungen von 1938 bestärkten Chamberlain und seine Freunde in ihrem Fehlurteil über die Absichten Hitlers. Chamberlain übersah, daß der in Europa heranreifende Konflikt kein Konflikt zwischen rivalisierenden nationalen Ansprüchen war, sondern ein Kampf der Ideologien, in welchem die preußischen Konservativen seine potentiellen Ver-bündeten waren und Hitler sein wirklicher Feind. Chamberlains Münchener Politik hatte die Wirkung, Hitler zu stützen und die deutsche Opposition zu entmutigen.

Der Ausbruch des Krieges im September 1939 erschwerte es den Verschwörern noch mehr, Gehör bei den Alliierten zu finden. Sowohl die Briten wie die Amerikaner verhielten sich starr abweisend gegen alle Annäherungsversuche, die von Deutschen unternommen wurden. Natürlich hatten die Westmächte jetzt alle ihre Illusionen über Adolphus pacilicus verloren, aber sie fuhren fort, die Deutschen — ja sogar jede Gruppe von Deutschen — mit den Nazis gleichzusetzen. Diese Politik kam klar zum Ausdruck in der Formel von der „bedingungslosen Kapitulation", die im Januar 1943 in Casablanca verkündet wurde. Sie hatte die Wirkung, die deutschen Massen noch mehr in die Arme Hitlers zu treiben und die Widerstandskräfte gänzlich zu isolieren. So verdichtete sie jene seltsame Wolke des Schweigens, die in der totalitären Landschaft des 20. Jahrhunderts die Andersdenkenden und Unterdrückten, die potentiellen Vorkämpfer für Vernunft und Menschlichkeit einhüllt.

Der deutsche Widerstand wurde mehr und mehr geprägt von reiner Isolierung. Die soge-nannte „Clique" der Verschwörer war eine Gruppe von Menschen, die den notwendigen Zusammenhalt und die notwendige Unabhängigkeit besaß, isoliert und im Widerspruch gegen das zu handeln, was Graf Helmuth von Moltke den „Sumpf von äußerem Glück, Wohlbehagen und Wohlstand" nannte Die Verschwörer diagnostizierten die Erfolge der Nationalsozialisten im In-und Ausland als „Triumph des Bösen" und sahen sich selbst auch dann als Patrioten, wenn sie die Niederlage des eigenen Landes erstrebten. Das Ethos der Clique war ein Ethos von noblesse oblige, von Pflicht und Mut. Die Widerstandsbewegung, die am 20. Juli 1944 kulminierte, ist mit Recht die letzte Manifestation einer politischen Elite in Deutschland genannt worden. Mit dem Fehlschlagen des Attentats auf Hitler und den anschließenden Verfolgungen hörten diese Aristokratie und ihr Ethos auf zu bestehen

Die Überwindung von Tabus

Es ist zu unterstreichen, daß das Mandat des deutschen Widerstands mehr als ein enges Klassenmandat war. Es war keine vorübergehende Aufwallung, was Graf Moltke zu der Erklärung trieb, er stehe vor dem NS-Volks-gerichtshof „nicht als Protestant, nicht als Großgrundbesitzer, nicht als Adliger, nicht als Preuße, nicht als Deutscher" — sondern „als Christ und als gar nichts anderes". Die Männer und Frauen des deutschen Widerstands brachen mit vielen überkommenen Tabus und rangen sich durch zu Einsichten höherer Ordnung. „Wir Deutschen", schrieb Bonhoeffer im Gefängnis, „haben in einer langen Geschichte die Notwendigkeit und die Kraft des Gehorsams lernen müssen." Was den Deutschen jedoch fehle, sei Zivilcourage. In einer Situation, wo Gehorsam keine Ehre bringen konnte, bekräftigte Bonhoeffer das Lutherwort von der „Freiheit des Christenmenschen" und forderte „das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat"

Und weiter: So unglaublich es vom Standpunkt der Jahrhundertmitte erscheinen mag, der soldatische Treueeid hatte für die deutsche Wehrmacht seine bedingungslos bindende Kraft behalten, auch wenn er seit dem Tode Hindenburgs im Jahre 1934 entgegen allen Verfassungsbestimmungen nicht mehr dem Reich, sondern der Person des Führers geschworen wurde. Für viele deutsche Offiziere war dieser Eid das einzige, was sie hinderte, sich den Verschwörern anzuschließen. Aber die Männer des Widerstands machten sich von einer sklavischen Auffassung des Eides frei. Beck wies einen General zurecht, der erklärt hatte, der Eid binde ihm die Hände: „Sie sprechen von Eid? Hitler hat seinen Eid auf die Verfassung, er hat seine Treupflicht gegenüber dem Volke hundertfach gebrochen. Wie können Sie sich einem solchen Eidbrüchigen gegenüber auf Ihren Treueid berufen!" Es gab höhere Verpflichtungen. Hitlers offenkundiger Machtmißbrauch, seine Hybris und seine Verbrechen brachten schließlich die deutsche Widerstandsbewegung zum Handeln. Im November 1939 faßte Generalmajor Helmuth Stiess in einem Brief an seine Frau seine Eindrücke von einem Besuch im eroberten Warschau in die Worte zusammen: „Ich schäme mich, ein Deutscher zu sein."

So durchbrachen die Verschwörer die engen Schranken von Kaste, Klasse und Nation und schlugen einen Weg ein, der in der deutschen Geschichte-praktisch nirgends vorgezeichnet war. Das höhere Recht der Natur als Alternative zur Tyrannei der Staatsgewalt hat in deutschen Büchern und in der deutschen Gesetzestafel nie viel Anerkennung gefunden aber die Widerstandsbewegung hat gezeigt, daß es in die Herzen und Gewissen sich selbst achtender Menschen eingegraben werden kann.

Theorie und Sozialromantik im Widerstand

Die deutsche'Widerstandsbewegung litt nicht unter der latenten Spaltung in Kommunisten und Nichtkommunisten, die den meisten anderen europäischen Widerstandsbewegungen zu schaffen machte; aber ihre Mitglieder waren keineswegs alle gleichgesinnt. Die Anschauungen General Becks und Carl Goerdelers, des designierten Kanzlers der vorgesehenen neuen Regierung, waren im wesentlichen restaurativ Ihrem Kreis gehörten auch die Männer an, welche die erwähnten engen Verbindungen zur SS unterhielten. (Diese Verbindungen — das sei in Parenthese bemerkt — mögen moralisch anfechtbar gewesen sein, aber sie waren bestimmt nicht apolitisch oder unpraktisch.) Hingegen waren die Mitglieder des Kreisauer Kreises (die Gruppe nannte sich so nach dem schlesischen Gut ihres Mentors, des Grafen Moltke) auf der Suche nach einem Neubeginn Schon die Zusammensetzung des Kreisauer Kreises gibt eine gute Vorstellung von dem hochherzig forschenden und menschlichen Geist, der ihn beseelte. Er umschloß Adlige und Bürgerliche, Protestanten und Katholiken (darunter drei Jesuiten), Konservative und sozialistische Arbeiterführer. Diese Männer waren nicht an Parteiprogramme gebunden und lehnten einseitige doktrinäre Standpunkte ab. Sie wollten voneinander lernen und den Boden bereiten für eine neue Synthese, die alle religiösen und politischen Spaltungen, unter denen Deutschland in der Vergangenheit gelitten hatte, überwinden sollte. Sie wandten sich energisch gegen Goerdelers Ansichten über Innenpolitik, die ihnen reaktionär, und seine außenpolitischen Vorstellungen, die ihnen nationalistisch erschienen. Was ihnen vorschwebte, war innenpolitisch eine Kombination von konservativen und sozialistischen Ideen und außenpolitisch ein europäischer Föderalismus, welcher der „Machtpolitik" und dem „Nationalismus" ein Ende setzen würde

über die meisten dieser Grundsätze stimmten Moltke und sein Kreis mit Stauffenberg überein. Nicht einig waren sie sich über den Tyrannenmord: Moltke lehnte ihn entschieden ab, während Stauffenberg ihn seit Ende 1942 unerbittlich anstrebte. Die Verschwörung geriet mehr und mehr unter die Führung Stauffenbergs und seiner Gruppe jüngerer Offiziere und steuerte so auf das unglückliche Attentat vom 20. Juli zu.

Aber welcher Gruppe des deutschen Widerstands wir uns auch zuwenden, überall finden wir einen ausgesprochen theoretischen, ja apolitischen Zug. Man ist versucht zu sagen, die Widerstandsbewegung habe zwar die traditionelle deutsche Auffassung von bedingungslosem Gehorsam überwunden, sei jedoch dem deutschen Hang zu abstraktem Theoretisieren erlegen. Allein die Dinge lagen so, daß sich die deutsche Widerstandsbewegung mit den höchsten Werten auseinandersetzen mußte. Im Unterschied zu nichtdeutschen Widerstandsbewegungen konnte sie sich nicht einfach dadurch rechtfertigen, daß sie an den aufgebrachten Nationalstolz und die empörte Weltmeinung appellierte. Der deutsche Widerstand mußte in bedrückender Isolierung sein Mandat finden und seine Ziele formulieren. Deshalb entstanden so gründliche Denkschriften wie „Das Ziel" und „Der Weg" deshalb wurden Grundsätze und Absichten in vielerlei Formen dargelegt, von Abhandlungen über politische Theorien bis zu Direktiven für alle Bereiche des öffentlichen Lebens Wir können auch nicht umhin festzustellen, daß die Bewegung weder liberal noch demokratisch war. Der britische Geheimdienstbericht, den ich schon zitierte, hatte darin ganz recht. Selbst sozialistische Führer wie Wilhelm Leuschner und Julius Leber sagten sich von der „überlebten" Parteienstruktur der Weimarer Republik los, und mehr noch, sie lehnten auch die egalitäre „Massendemokratie" ab. Als Stauffenberg und sein Bruder den Eid entwarfen, der nach dem Staatsstreich geschworen werden sollte, nahmen sie einen Passus über die, wie sie es nannten, „Gleichheitslüge" auf. Tatsächlich betrachteten die Verschwörer den Nationalsozialismus als eine extreme Form von egalitärer Massenherrschaft, ähnlich dem Bolschewismus. Sie suchten nach einem „deutschen Weg" der zwischen Liberalismus und Egalitarismus, zwischen Kapitalismus und Kollektivismus läge, der zu einer Neubetonung christlicher Werte und zur Wiedereingliederung des Menschen in seine natürliche Umwelt führen würde

Was diesen Punkt betrifft, haben Kritiker wie Dahrendorf ganz recht. Zwar lehnte die Widerstandsbewegung im großen und ganzen Restauration und Autoritarismus ab, doch entging sie nicht den Gefahren einer Sozialromantik: sie war nicht willens und nicht fähig, Vielfalt, Pluralismus sowie politische und soziale Interessenkonflikte als gegeben hinzunehmen Ihre Haltung zur Modernität war von tiefem Mißtrauen, wenn nicht gar von Verzweiflung geprägt. Aus diesen Gründen könnte man sagen, daß all ihre Diskussionen sinnlos waren, daß sie zu nichts führen konnten. Man könnte sagen: Die Tatsache, daß die deutsche Widerstandsbewegung nicht mit der Modernität fertig wurde, war mindestens ebenso wichtig wie die Tatsache, daß Stauffenbergs Bombe Hitler nicht tötete.

Landschaft des Schweigens und die Schwäche des Anfangs

Ich möchte an dieser Stelle einen Satz aus einer Studentenarbeit zitieren, der mir als außerordentlich scharfsichtig auffiel; er gehört zu meinem Thema: „Politisch stark engagiert zu sein, bedeutete damals entweder Propaganda oder Schweigen." Hitlers Propaganda, die die Widerstandsbewegung als kleine „Clique" abtat, beherrschte das Feld, solange er lebte; sie ließ die Feigen und die Schüchternen, die Leidenden und auch die Tapferen nicht zu Wort kommen — ihr Los war Schweigen. Ein trauriges Kapitel in den schrecklichen Annalen der totalen Herrschaft ist die Beteiligung der westlichen Diplomatie und auch der westlichen Geschichtsschreibung an dem abscheulichen Geschäft, die Landschaft des Schweigens unter Aufsicht zu halten. Das Tuch des Schweigens, das über die deutsche Widerstandsbewegung gebreitet lag und an dem westliche Zweifler ebensosehr mitgewebt hatten wie Apologeten der Nazis, ist jetzt entfernt worden. Aber nicht behoben sind die Zweifel über das Mandat; es ist nach wie vor in Frage gestellt —• das heißt ein „Streit ohne Ende". Meine Aufgabe kann es hier nicht sein, das Problem säuberlich zu lösen; es geht mir vielmehr darum, es von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Können wir nach dem, was ich bisher gesagt habe, nicht den Vorwurf des Verrats fallenlassen? Können wir uns nicht wenigstens darauf einigen, die außergewöhnliche Furchtlosigkeit und Seelenstärke anzuerkennen, die diese Menschen selbst angesichts der Maskerade des Bösen befähigte, den Kopf oben und den Geist klar zu behalten und sich miteinander zum Handeln zu verschwören? Freilich, das Zögern, mit dem der Widerstand in Gang kam — ein deutscher Jesuit hat es die „Schwäche" des Anfangs genannt —, muß gewisse Zweifel hinsichtlich des Rechtstitels der Verschwörer hinterlassen. Könnte man sie nicht mit Koestleres Rubaschow in Sonnenfinsternis vergleichen? Könnte man nicht sagen, ihr anfängliches Einverständnis mit dem Bösen habe sie kompromittiert und lasse ihr Recht, im Namen des „ewigen Deutschland" zu sprechen, zweifelhaft erscheinen? Hätte sich nicht unendlich viel Leid und Zerstörung verhindern lassen, wenn — wie Pastor Niemöller einmal reuevoll fragte — „brüderliche Liebe treuer gesorgt und tapfer gewagt" hätte Gewiß, unsere heutige Studentengeneration mit ihrer Bereitschaft zum Widerstand, zum vorbeugenden Widerstand, wird ihre Helden wahrscheinlich nicht unter den Zaudernden und Schuldigen suchen. Aber ich darf hier sagen — und ich denke, das hat sehr wohl etwas mit meinem Thema zu tun —, daß das Rezept des vorbeugenden Widerstandes — das heißt praktisch: des immerwährenden Widerstands — während seiner kurzen Geschichte in den sechziger Jahren nicht nur zum Widerstand gegen das Gesetz geführt, sondern selbst wieder eine neue Form von Tyrannei und Mißachtung der Mehrheitsmeinung geschaffen hat. Und das läßt uns mit mehr Nachsicht und Verständnis auf jene blicken, für die Widerstand an sich abstoßend war und deren Mut aus der Notwendigkeit geboren wurde.

Feudaler Ethos und Religion im Widerstand

Ich muß hier noch einmal auf den erwähnten britischen Geheimdienstbericht zurückkommen, auf seine Vorbehalte gegen die Verschwörung vom 20. Juli, auf seine These, die Verschwörer hätten kein wirkliches Mandat besessen, weil ihre Ideen nicht die „einer echten liberalen Widerstandsbewegung" gewesen seien. Tatsache ist, daß die Widerstandsbewegung, die nach dem Zusammenbruch der organisierten Arbeiterbewegung Gestalt annahm, vorwiegend aristokratisch und konservativ war. Doch die deutschen Aristokraten erhoben sich, was sie nie zuvor in der deutschen Geschichte getan hatten, in elfter Stunde stellvertretend für die deutsche Nation. Ihr Konservatismus war in der politischen Landschaft des 20. Jahrhunderts sicher etwas Anachronistisches; aber er diente als freiheitliche, wenn auch nicht liberale Alternative zum Nationalsozialismus. Die härteste der Tatsachen, welche Kritiker der Widerstandsbewegung gewöhnlich ignorieren, ist, daß es eben keinen liberalen Widerstand gab. Seit seinen Anfängen verzweifelte der deutsche Liberalismus an sich selbst, wie Thomas Mann einmal sagte; und angesichts des Nationalsozialismus gab er den Geist auf. Das bestätigen auf jeden Fall die Wahlergebnisse von 19. 30 an. Könnte deshalb nicht die früher erwähnte Trennung von Moralität und Liberalität in Deutschland auf das Schuldkonto des Liberalismus gehen? Das Bürgertum, die soziale Stütze des Liberalismus in Deutschland, reagierte auf die Wirtschaftskrise der zwanziger und frühen dreißiger Jahre damit, daß es in die Reihen der Hitlerpartei strömte. Es besaß keine wirklichen eigenen Überzeugungen und überließ sich deshalb der leidenschaftlichen Bewegtheit der Nationalsozialisten, die es im Grunde nicht teilte.

Die Männer des 20. Juli hingegen hatten ausgeprägte Überzeugungen. Dem Weimarer Regime hatten sie ablehnend, ja ausgesprochen destruktiv gegenübergestanden, und für die Zukunft entwarfen sie mehr oder weniger romantische Konstruktionen, die in Wirklichkeit Rekonstruktionen einer utopischen Vergangenheit waren. Aber wenn es zum Äußersten kam, konnten sich ein Beck, ein Moltke, ein Stauffenberg an einen fast feudalen Begriff von Stolz und Anstand halten Die Bücher in ihren Schränken mögen uns mißfallen; aber sie waren bereit, das Schwert, das an ihrer Wand hing, in die Hand zu nehmen. Eine Aristokratie hat die Tugenden der Unabhängigkeit und der Furchtlosigkeit, und diese Tugenden leiteten die deutschen Widerstandskämpfer. Es ist im Grunde nicht verwunderlich, daß sich in Deutschland nicht die Bürger, sondern die Adligen erhoben; so wie es in England nicht verwunderlich ist, daß der nationalsozialistischen Bedrohung nicht Neville Chamberlain aus Birmingham, sondern Churchill aus Blenheim entgegentrat. Zu erinnern ist hier auch — mit aller Behutsamkeit natürlich — an den Kontrast zwischen dem Widerstand der feudalen und romantischen Polen im Herbst 1939 und der Fügsamkeit der Tschechen kurze Zeit vorher. Es war, wenn Sie so wollen, der Kontrast zwischen Don Quijote und Sancho Pansa. Ich muß jedoch hinzufügen, daß in der Tschechoslowakei Sancho Pansa, auferstanden in der Gestalt des Braven Soldaten Schwejk, nicht ein gewöhnlicher Feigling war, sondern ein Soldat besonderer Art; einer von denen, die nicht durch Kampf Widerstand leisten, sondern durch überleben.

Die Widerstandsbewegung, das muß ich schließlich betonen, fand Kraft nicht nur in ihrem feudalen Ethos, sondern auch in der Religion. Fast alle Verschwörer waren religiöseMenschen. Für Pastor Bonhoeffer waren die zwei Gefängnisjahre vor der Hinrichtung dank der Gewißheit, von Gottes Hand geführt zu werden, kein niederdrückendes, sondern ein schöpferisches Erlebnis Moltke und Stauffenberg handelten beide, jeder auf seine Art, im Grunde aus religiösen Impulsen. Es ist keine Sentimentalität, darauf hinzuweisen, daß in dem „großen Zuchthaus" ebenso wie im Konzentrationslager „im Hintergrund jeder Widerstandshandlung ein Ideal stehen mußte, ein mächtiger Impuls", wie es ein früherer KZ-Häftling genannt hat In einer Situation, da der proletarische Widerstand neutralisiert war, da „unpolitische bürgerliche Gefangene" — um Bettelheims Ausdruck zu gebrauchen — in den Konzentrationslagern und im großen Zuchthaus Deutschland verachtet dahin-lebten — in einer solchen Situation fiel die Aufgabe, Widerstand zu leisten, einer Gruppe stolzer, furchtloser Männer zu, von denen gesagt werden kann, was Yeats 1916 über die irischen Rebellen sagte:

All changed, changed utterly: A terrible beauty is born.

Alles ist ganz verwandelt worden: Eine schreckliche Schönheit ist geboren.

Die Männer des 20. Juli 1944 waren ebenso leidenschaftlich und feudal, wie die irischen Rebellen unbändig und hitzig gewesen waren. Auch sie waren ganz verwandelt worden. Die Verschwörer transzendierten Kaste, Klasse und Partei, ja Nation und Kirche und folgten den Befehlen Gottes und ihres Gewissens. In diesem Wandel, dieser Transzendenz war ihr Mandat zum Widerstand begründet. Das Mandatwurde in seiner Gültigkeit nicht beeinträchtigt durch die Tatsache, daß das Scheitern nahezu gewiß war. Widerstand vermag die Politik und ihre realistischen Berechnungen über Erfolg und Mißerfolg zu transzendieren. Wenn es zum Äußersten kommt, wenn die Last unerträglich wird, gewinnt er einen Eigenwert. Der zögernde Anlauf des deutschen Widerstands war also nicht bloß ein Zeichen von „Schwäche", die nach Sühne verlangte. Der überfällige Aufstand gegen eine Staatsgewalt, die schon lange zur Tyrannei geworden war, kann als zwiefaches Monument dienen: als makabres Denkmal des Gehorsams, aber auch als heroisches Denkmal eines zum Äußersten getriebenen Widerstands. Das Mandat des deutschen Widerstandes wurde schließlich in der Symbolik einer Opfertat verwirklicht. Weder sein Scheitern noch die Kompliziertheit und Unklarheit seines Mandats nehmen also dem deutschen Widerstand etwas von seiner Legitimität. Sie bestätigen vielmehr jene Sehweise, der sich die Geschichte als eine sophokleische Tragödie darstellt.

Schlußbetrachtung: Uber passiven und aktiven Widerstand und über den Widerstand der Vorbeugung und der heroischen Geste

Meine Betrachtungen kreisten um das Problem der Legitimität des Widerstandes. Ich erwähnte Schwejk, der listig, schlau, verschlagen war, aber alles in allem doch ein passiver Soldat des Widerstandes. Und auf passiven Widerstand hat jedermann unter allen Umständen ein Recht. Wer ihn praktiziert, gibt der Gesellschaft nichts, er nimmt ihr aber auch nichts weg. Er erfüllt sein Minimum an Bürgerpflichten. Er ist ein Bürger mit einer reservatio mentalis,mit Humor und Verschmitztheit. „Wer spricht von Siegen?" fragte Schwejks Landsmann, der Dichter Rainer Maria Rilke: „überstehen ist alles." Schwejk wollte überstehen. Legitim ist auch aktiver Widerstand, wenn ein klares Mandat vorliegt. Das war der Fall beim außerdeutschen Widerstand während des Zweiten Weltkriegs. Unter dem Gesichtspunkt des Naturrechts und des nationalen Interesses ist das Mandat dieses Widerstands unbestritten.

Wie üblich sind die Grenzfälle problematisch. Der Widerstand, den ich „vorbeugenden Widerstand" genannt habe, wirft mindestens ebenso viele Probleme auf, wie er löst. Vorbeugenden Widerstand propagieren einige besonders stimmgewaltige und radikale Angehörige unserer heutigen Jugend. Sie mögen an das denken, was 1933 und danach in Deutschland geschah. Warum warten, bis es zu spät ist? Warum nicht rechtzeitig handeln? Doch wenn solche Vorbeugung in einem noch intakten, obzwar vielleicht erschütterten Gesellschaftsgefüge praktiziert wird, so erhebt sich gerade dadurch das Gespenst der Willkür, der Selbstjustiz einzelner Bürgergruppen, der Gesetzlosigkeit, die ihrerseits die Freiheiten der Bürgerschaft bedroht. Nur in einer Gesellschaft, die völlig von tyrannischer Gewalt beherrscht wird, wo alle friedlichen und gesetzlichen Mittel erschöpft sind, alle Opposition geknebelt ist, nur da wird aktiver Widerstand legitim. Das war in Hitlers Deutschland der Fall.

Das Hauptproblem des deutschen Widerstands war die Kompliziertheit und vor allem die Unklarheit seines Mandats. Und die Pseudo-Konstitutionalität, Pseudo-Legalität, Pseudo-Respektabilität des Hitler-Regimes hielt vom Widerstand ab und verstärkte die deutsche Tendenz, der Obrigkeit zu gehorchen. Wenn der deutsche Widerstand es unterließ, vorbeugend zu handeln, so weniger aus Fügsamkeit gegenüber der gesetzlichen Ordnung als aus falscher Fügsamkeit gegenüber dem Nationalsozialismus. Diese sogenannte „Schwäche" des Anfangs war verhängnisvoll. Auch wenn man die Kompliziertheit und Unklarheit des Mandats, die ein schnelles und geeintes Handeln verhinderte, in Anschlag bringt, so hätte doch 1934, bei Hindenburgs Tod, klar sein müssen, daß die Zeit zum Widerstand gekommen war. Moralisch und politisch wäre die Hand des deutschen Widerstands 1934 unvergleichlich stärker gewesen als 1938 — und 1938 unvergleichlich stärker als 1944.

Dennoch ist das Dilemma der deutschen Verschwörer insofern von allgemeiner Bedeutung, als ihr Handeln ohne klares Mandat ein letzter Ausweg war. Alle, die sich heute verständlicherweise der gesetzlichen Ordnung fügen, können morgen, wenn die friedlichen und verfassungsmäßigen Mittel erschöpft sind, selbst in der Lage sein, handeln zu müssen. Aber dieses Handeln könnte, eben weil es so spät kommt, zum Scheitern verurteilt sein. In diesem Fall würde jeder Widerstand wie der deutsche für seine Taten büßen müssen. Der Lohn für das Handeln läge nicht im Sieg, sondern in der heroischen Geste selbst.

Der deutsche Widerstand ist ein isoliertes Phänomen in der deutschen Geschichte. Er hatte keine nennenswerte Tradition und keine Folgen. Die Deutschen der älteren Generationen werden mit ihm entweder nicht fertig oder möchten ihn vergessen oder beides. Die jüngere Generation, zumindest ihre stimmkräftigeren und radikaleren Mitglieder, fühlt sich zu einem Widerstand anderer Art hingezogen, dem vorbeugenden Widerstand. Die kurze, dramatische Phase des Widerstands teilt somit das Schicksal der meisten anderen Phasen der deutschen Geschichte. Sie ist nicht in die allgemein akzeptierte Tradition eingegangen, sondern bleibt in hohem Grade umstritten. In diesem Sachverhalt spiegelt sich der unstete Verlauf der deutschen Geschichte ebenso wider wie die tiefen Risse, die nach wie vor durch die deutsche Gesellschaft gehen. Was aber bleiben wird vom Erbe eines Leber, eines Beck, eines Moltke, eines Stauffenberg, das ist, wenn nicht die politische Klugheit ihres Tuns, so doch ihr Mut zum Widerstand und die Würde, mit der sie den Tod auf sich nahmen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. zu diesem Thema Guenter Lewy, Resistance to Tyranny: Treason, Right or Duty?, in: The Western Political Quarterly, XIII (September 1960), S. 581— 596.

  2. Rudolf Pechei, Deutscher Widerstand, Zürich 1947, S. 308. Vgl. auch Fritz Bauer, Vom Recht auf Widerstand. Das Vermächtnis des 20. Juli an die Justiz, in: Stuttgarter Zeitung, 20. Juli 1962.

  3. Lewy, a. a. O., S 585 f.; Mother Mary Alice Gallin, German Resistance to ... Hitler, Washington, D. C., 1961, S. 29.

  4. Zu den Standardwerken gehören: Allen W. Dulles, Verschwörung in Deutschland, Zürich 1948; Hans Rothfels, Die deutsche Opposition gegen Hitler, Frankfurt 1958; Eberhard Zeller, Geist der Freiheit. Der Zwanzigste Juli, München 1963; Gerhard Ritter, Carl Goerdeler und'die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1955.

  5. Herbert Kraus (Hrsg.), Die im Braunschweiger Remer-Prozeß erstatteten moraltheologischen und historischen Gutachten nebst Urteil, Hamburg 1953.

  6. Theodor Heuss, Dank und Bekenntnis. Gedenkrede zum 20. Juli 1944, Tübingen 1954, S. 14, 29.

  7. Die russische Literatur über die deutsche Widerstandsbewegung attackiert diese als durchaus reaktionär; sie läßt, neben den kommunistischen Gruppen, nur Stauffenberg und auch den Kreisauer Kreis als fortschrittlich gelten. Vgl. Daniil Melnikow, Der 20 Juli 1944. Legende und Wirklichkeit, Hamburg 1968.

  8. Vgl. Rothfels, Die deutsche Opposition gegen Hitler, S. 25, 181; Paul Kluke, Der deutsche Widerstand, in: Historische Zeitschrift, Bd. 169 (1949), S. 138.

  9. G. S. I., H. Q., British Troops, Berlin, Intelligence Summary No. 24, 17. Dezember 1945.

  10. John W. Wheeler-Bennett, The Nemesis of Power. The German Army in Politics 1918— 1945, New York 1954, S. 592 f.

  11. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964, S. 132 ff.

  12. Henry M. Pachter, The Legend of the 20th of July, 1944, in: Social Research, XXIX (Frühjahr 1962), S. 112.

  13. Ebda., S. 112 f.

  14. Hans Mommsen, Gesellschaftsbild und Verfassungspläne des deutschen Widerstandes, in: Walter Schmitthenner und Hans Buchheim (Hrsg.), Der deutsche Widerstand gegen Hitler, Köln-Berlin 1966, S. 77.

  15. Ebda., S. 77 ff.; vgl. auch Pachter, a. a. O., S. 113, und Spiegelbild einer Verschwörung. Die Kaltenbrunner-Berichte an Bormann und Hitler über das Attentat vom 20. Juli 1944, hrsg. vom Archiv Peter für historische und politische Dokumentation, Stuttgart 1961.

  16. Hedwig Maier, Die SS und der 20. Juli 1944, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 14. Jg. 1966, S. 299— 316.

  17. Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, S. 442.

  18. Vgl. die Besprechung des Stücks „Die Verschwörer“ von Wolfgang Graetz in Frankfurter Rundschau, 28. August 1965, abgedruckt in The German Tribune, 18. September 1965; vgl. auch George K. Romoser, Preview of a German Controversy, in: The Nation, 27. September 1965, S. 172— 174.

  19. Pachter, a. a. O., S. 113.

  20. George K. Romoser, The Politics of Uncertainty: The German Resistance Movement, in: Social Research, XXXI (Frühjahr 1964), S. 73- 93.

  21. Zitiert bei Zeller, Geist der Freiheit, S. 95.

  22. Vgl. die Dokumentarberichte von Annedore Leber, Das Gewissen steht auf, Berlin-Frankfurt 1954, und Das Gewissen entscheidet, Berlin-Frankfurt 1960.

  23. Ernst Deuerlein, Der Reichstag, Bonn 1963, S. 267.

  24. Vgl. zu diesem Thema Hans J. Reichhardt, Möglichkeiten und Grenzen des Widerstandes der Arbeiterbewegung, in: Sdimitthenner/Buchheim, Der deutsche Widerstand gegen Hitler, S. 169— 213.

  25. Ebda.

  26. Vgl. hierzu Mommsen, Gesellschaftsbild, in: Schmitthenner/Buchheim, a. a. O., S. 73 ff.; vgl. auch Herbert von Borch, Obrigkeit und Widerstand, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 3. Jg. 1955, S. 297— 310.

  27. Vgl. Bernhard Vollmer, Volksopposition im Polizeistaat, Stuttgart 1957.

  28. Vgl. Mommsen, Gesellschaftsbild, in: Schmitthenner/Buchheim, a. a. O., S. 76.

  29. Hermann Graml, Der Fall Oster, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 14. Jg. 1966, S. 29 f.

  30. Zu dieser Episode vgl. Hermann Foertsch, Schuld und Verhängnis. Die Fritsch-Krise im Frühjahr 1938, Stuttgart 1951, S. 22. Der Versuch des Biographen Stauffenbergs, den Vorfall wegzuerklären, ist nicht überzeugend (Joachim Kramarz, Claus Graf Stauffenberg. Das Leben eines Offiziers, Frankfurt 1965, S. 42). Eberhard Zeller („Claus und Berthold Stauffenberg", Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 12 Jg. 1964, S. 234 f.) bestätigt Foertschs Darstellung und äußert die einleuchtende Vermutung, daß Stauffenberg nicht aus Sympathie mit dem Nationalsozialismus so handelte, sondern als Aristokrat, in einer Atmosphäre allgemeiner Gehobenheit, aus Noblesse-oblige-Gesinnung.

  31. Vgl.seine öffentliche Verurteilung der Novemberrevolution als „Eidbruch und Hochverrat"; zitiert bei Guenter Lewy, Die katholische Kirche und das Dritte Reich, München 1964, S. 17.

  32. „Ein NS-Funktionär zum Niemöller-Prozeß", Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 4. Jg. 1956, S. 312.

  33. Inge Scholl, Die weiße Rose, Frankfurt 1955, S. 12 ff.

  34. Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, München 1951, S. 10/11.

  35. Vortragsnotizen von General Ludwig Beck für Generaloberst Walther von Brauchitsch, 16. und 29. Juli 1938, in: Wolfgang Foerster, Generaloberst Ludwig Beck. Sein Kampf gegen den Krieg, München 1953, S. 122, 127.

  36. Vgl. Bernd-Jürgen Wendt, München 1938. England zwischen Hitler und Preußen, Frankfurt 1965, S. 36.

  37. Zeller, Geist der Freiheit, S. 51.

  38. Brief Moltkes an Graf Peter Yorck von Warten-burg, 17. Juni 1940, in: Ger van Roon, Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, München 1967, S. 479.

  39. Ebda.

  40. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 444.

  41. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, S. 12 ff., 53.

  42. Hans Bernd Gisevius, Bis zum bittern Ende, Zürich 1954, S. 624/625. Für einen ähnlichen Wortwechsel zwischen Stauffenberg und einem anderen Offizier vgl. Spiegelbild einer Verschwörung, S. 435.

  43. „Ausgewählte Briefe von Generalmajor Helmuth Stiess", Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 2. Jg. 1954, S. 300 (Hervorhebung im Original).

  44. Gallin, German Resistance, S. 37 ff.

  45. Vgl. Ritter, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung; Gert Buchheit, Ludwig Beck, ein preußischer General, München 1964.

  46. Vgl. Theodor Steltzer, Von deutscher Politik, Frankfurt 1949; und van Roon, Neuordnung im Widerstand.

  47. Denkschrift Moltkes vom 24. April 1941, in: van Roon, Neuordnung im Widerstand, S. 510.

  48. Vgl. Wilhelm Ritter von Schramm (Hrsg.), Beck und Goerdeler, Gemeinschaftsdokumente für den Frieden 1941— 1944, München 1965.

  49. Vgl. van Roon, Neuordnung im Widerstand, S. 475 ff.

  50. Kramarz, Claus Graf Stauffenberg, S. 200.

  51. Vgl. hierzu die ausgezeichneten Bemerkungen von Mommsen, Gesellschaftsbild, in: Schmitthenner/Buchheim, Der deutsche Widerstand gegen Hitler, S. 161 ff.

  52. Zu Moltkes Betonung der „kleinen Gemeinschaften" vgl. van Roon, Neuordnung im Widerstand, passim.

  53. Ob Ger van Roon recht hat, wenn er die Staats-vorstellungen des Kreisauer Kreises als „pluralistisch" bezeichnet (a. a. O., S. 385), kann bezweifelt werden. Zwar war Moltke und seinen Freunden daran gelegen, die Massengesellschaft durch „kleine Gemeinschaften" und den Einheitsstaat durch einen föderalistischen Aufbau aufzulockern, aber sie schreckten zurück vor politischen und sozialen Konflikten, wie sie in einer weltlichen Gesellschaft entstehen, die unterschiedliche politische und soziale Interessengruppen umfaßt. Ihre ökumenischen Interessen waren ebenfalls ein Ausdruck ihrer Ablehnung des Pluralismus auf religiöser Ebene.

  54. Vollmacht des Gewissens, I, S. 21 f.

  55. Heinrich Uhlig (Hrsg), Aufstand des Gewissens, Ariola (Athena), Platte Nr. 51193 K, 1961.

  56. Auf General Stieffs Gebrauch des Wortes „Anstand" in seinen Briefen macht aufmerksam Wilhelm Arff; Vierundzwanzig Stunden die Wahrheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Juli 1964.

  57. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, passim.

  58. H. G. Adler, Selbstverwaltung und Widerstand in den Konzentrationslagern der SS, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 8. Jg. 1960, S. 232. Vgl. hierzu auch Bruno Bettelheim, The Informed Heart, Glencoe 111 1961, S. 113, 120 ff., 188 ff., 298; und Elie A. Cohen, Behaviour in the Concentration Camp, London 1954, S. 237.

  59. Bettelheim, The Informed Heart, S. 120.

Weitere Inhalte

Klemens von Klemperer, L. Clark Seelye Professor für neuere Geschichte am Smith College, Northampton/Mass., geb. 1916 in Berlin, studierte in Wien und an der Harvard Universität in Cambridge/Mass., wo er auch seine erste Lehrtätigkeit ausübte, 1957/58 als Guggenheim-und Fulbright Fellow in Wien, 1963/64 stellvertretender Leiter des Seminars für Politische Wissenschaft an der Universität Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Germany's New Conservatism, Princeton 1957 (Konservative Bewegungen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1962); zahlreiche Artikel in amerikanischen und europäischen Zeitschriften.