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Zur Analyse autoritärer Parlamentarismuskritik | APuZ 49/1969 | bpb.de

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APuZ 49/1969 Artikel 1 Strukturanalyse der modernen Demokratie Innerparteiliche Demokratie und politische Willensbildung Zur Analyse autoritärer Parlamentarismuskritik

Zur Analyse autoritärer Parlamentarismuskritik

Christian Graf von Krockow

I. Die Sehnsucht nach der Entscheidung

Das Parlament als zentrale Institution eines demokratischen Regierungssystems ist alles andere als selbstverständlich; von vielen und verschiedenartigen Standpunkten her erfährt es Kritik oder auch Angriffe, die aufs Prinzipielle zielen. Die Angriffe kommen von „links" wie von „rechts", wobei die extremen Positionen gerade in ihrer Negation oft eigentümliche Ähnlichkeiten aufweisen. Von besonderer Bedeutung aber dürfte, theoretisch wie praktisch, in Deutschland die autoritäre Kritik sein, die einen starken, das heißt als Einheit und Über-parteilichkeit, als Ordnung und Schlagkraft über die Vielfalt gesellschaftlicher Anschauungen und Interessen hinausgehobenen Staat herbeisehnt und dem Parlament vorwirft, es sei teils unverantwortliche „Schwatzbude", teils ein Jahrmarkt der Interessenten, der an die Stelle „echter" politischer Entscheidungen treten läßt. In „Kuhhandel" Form den der grobschlächtigen Diffamierens und hemmungslosen Beschimpfens findet sich diese Kritik etwa in Hitlers „Mein Kampf".

Aber es gibt andere, subtilere Formen der Kritik, die gerade in ihrem Anschein der Seriosität langfristig eher noch wirksamer und gefährlicher sein dürften. Den Vorwurf der Entscheidungsschwäche hat beispielsweise Carl Schmitt pointiert zum Ausdruck gebracht, wenn er sagt, daß auf die Frage: Barabbas oder Christus? das liberale Diskussionsprinzip des Parlaments mit einem Vertagungsantrag oder mit der Einsetzung einer Untersuchungskommission antworten würde, obwohl doch — wie Schmitt fortfährt — gerade in den wichtigsten Dingen wichtiger ist, daß entschieden wird, als wie entschieden wird

überhaupt dürften die Schriften Carl Schmitts — vor allem sein Buch: „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus", 1923 zuerst erschienen — die Grundlage aller neueren autoritären Parlamentarismuskritik darstellen, auch für die Zeit nach 1945. Sie ist wirksam geworden nicht zuletzt durch zahlrei -che akademische Lehrer aus der Schule oder aus der Nähe Carl Schmitts, wenngleich — aus verständlichen Gründen — diese Kritik meist mehr indirekte, verdeckte Formen annimmt. Von Schmitts Position soll deshalb die weitere Analyse ausgehen.

II. Carl Schmitt:

Die Kultivierung des Widerspruchs zwischen Idee und Wirklichkeit

Bei Schmitt heißt es: „Alle spezifischen parlamentarischen Einrichtungen und Normen erhalten erst durch Diskussion und Öffentlichkeit ihren Sinn. . . . Das Parlament ist jedenfalls nur solange „wahr’, als die öffentliche Diskussion ernst genommen und durchgeführt wird. . Diskussion'hat hier aber einen besonderen Sinn und bedeutet nicht einfach Verhandeln . . . Diskussion bedeutet einen Meinungsaustausch, der von dem Zweck beherrscht ist, den Gegner mit rationalen Argumenten von einer Wahrheit und Richtigkeit zu überzeugen oder sich von der Wahrheit und Richtigkeit überzeugen zu lassen. . . Zur Diskussion gehören gemeinsame Überzeugungen als Prämissen, Bereitwilligkeit, sich überzeugen zu lassen, Unabhängigkeit von parteimäßiger Bindung, Unbefangenheit von egoistischen Interessen .. . Was die durch Diskussion und Öffentlichkeit garantierte Balance bewirken sollte, war nicht weniger als Wahrheit und Gerechtigkeit selbst." Dem Anschein nach handelt es sich also um eine sehr hohe Meinung vom Wesen des Parlamentarismus. Aber der Verdacht drängt sich auf, daß die Darstellung bewußt überzogen wird, um hernach im höhnischen Abmessen der Diskrepanz von Norm und Wirklichkeit demonstrieren zu können, daß das parlamentarische Prinzip des „government by discussion" inzwischen als — wie es ausgedrückt wird — „verschimmelt" zu gelten habe Denn „die Lage des Parlamentarismus ist heute so kritisch, weil die Entwicklung der modernen Massendemokratie die argumentierende öffentliche Diskussion zu einer leeren Formalität gemacht hat" Es ist eine bekannte Tatsache: Die Abgeordneten sind in der Praxis kaum mehr gemäß Art. 21 der Weimarer Reichsverfassung oder Art. 38 Abs. 1 des Grundgesetzes „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen", sondern sie sind an Parteien und an eine Vielfalt von Interessen-organisationen gebunden. Im Parlamentsplenum will man auch längst nicht mehr Gegner durch rationale Argumentation überzeugen, sondern lediglich den eigenen Standpunkt begründen; oft redet man von vornherein propagandistisch „zum Fenster hinaus". Wesentliche Entscheidungen fallen anderswo: Im Kabinett, in den Fraktionen, in den Ausschüssen oder in informellen Gremien — jedenfalls immer oder doch häufig unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Es würde langwieriger Untersuchungen bedürfen, um festzustellen, ob das alles den Parlamentarismus tatsächlich obsolet macht — oder nicht vielmehr Bedeutung hat, um ihn unter gewandelten Verhältnissen funktionsfähig zu erhalten. Problematisch sind Schmitts Argumente deshalb gerade in ihrer kurzschlüssigen und scheinbaren Plausibilität, denn sie wekken antiparlamentarische Affekte. Diese werden oft noch befördert durch eine subjektiv zwar wohlmeinende, aber in der objektiven Wirkung fatale Bilderbuch-Bildungsarbeit, die eben jene überzogenen Normen vor Augen stellt, an denen gemessen die Wirklichkeit dann in der Tat nur als „verschimmelt" gelten kann.

Carl Schmitts Argumentation gewinnt ihre Brisanz freilich erst dadurch, daß sie Parlamentarismus und Demokratie voneinander trennt, ja als Gegensatz darstellt: „Der Glaube an den Parlamentarismus, an ein government by discussion, gehört in die Gedankenwelt des Liberalismus. Er gehört nicht zur Demokratie. Beides, Liberalismus und Demokratie, muß voneinander getrennt werden, damit das heterogen zusammengesetzte Gebilde erkannt wird, das die moderne Massendemokratie ausmacht."

Wenn aber die Demokratie einerseits vom Parlarmentarismus abgelöst wird, dann wird sie andererseits mit Diktaturen und Cäsarismen, mit Faschismus und Bolschewismus in Verbindung gebracht, mit Regimen, „die den Willen des Volkes bilden und eine Homogenität schaffen". Das geheime Wahlrecht dagegen, das den Wähler „privatisiert", erscheint als undemokratisch: „Volk ist ein Begriff des öffentlichen Rechts. Volk existiert nur in der Sphäre der Publizität. Die einstimmige Meinung von hundert Millionen Privatleuten ist weder Wille des Volkes, noch öffentliche Meinung. Der Wille des Volkes kann durch Zuruf, durch acclamatio, durch selbstverständliches unwidersprochenes Dasein ebenso gut und noch besser demokratisch geäußert werden als durch den statistischen Apparat, den man seit einem halben Jahrhundert mit einer so minutiösen Sorgfalt ausgebildet hat. Je stärker die Kraft des demokratischen Gefühls, um so sicherer die Erkenntnis, daß Demokratie etwas anderes ist als ein Registriersystem geheimer Abstimmungen. Vor einer, nicht nur im technischen, sondern auch im vitalen Sinne unmittelbaren Demokratie erscheint das aus liberalen Gedankengängen entstandene Parlament als eine künstliche Maschinerie, während diktatorische und cäsaristische Methoden nicht nur von der acclamatio des Volkes getragen, sondern auch unmittelbare Äußerungen demokratischer Kraft und Substanz sein können."

III. Die Motive des autoritären Antiparlamentarismus

Man kann Schmitt gewiß nicht vorwerfen, daß er sich mißverständlich ausdrückt; er hat denn ja auch den geschichtlichen Weg von der parlamentarischen Republik über das Präsidialregime in die cäsaristische Diktatur mit seiner acclamatio begleitet. Dennoch bleibt die Frage, was eigentlich der Motor, das Motiv der ganzen Argumentation ist: Cui bono?

Um das zu klären, ist ein gewisser ideologie-kritischer Exkurs erforderlich, denn es liegt in den scheinbar „demokratischen" Bekundungen ganz und gar nicht am Tage. Zunächst ist wohl deutlich, daß das Parlament, das Schmitt als ursprüngliche Norm vor Augen hat, das der konstitutionellen Kompromisse des 19. Jahrhunderts zwischen monarchistischer und be-amteter Staatsgewalt einerseits und liberalem Honoratiorenbürgertum von „Besitz und Bildung" andererseits ist. In einem von diesem Honoratiorenbürgertum besetzten Parlament kann man gewiß von einem hohen Maße der Homogenität und der Unabhängigkeit der Abgeordneten sprechen, auch von einem jedenfalls seither nicht mehr erreichten Maße an rationaler Argumentation, dagegen allenfalls von lockerer Parteibindung. Was aber ganz und gar nicht zutrifft, ist der Begriff des „government by discussion". Dieses Parlament regiert nicht — das tun eindeutig die auf den Monarchen bezogene Exekutive und der von ihr gesteuerte Beamtenapparat —, sondern es kontrolliert, zumal im Sinne sparsamer Haushaltsführung. Es handelt sich gleichsam um einen öffentlich agierenden Ausschuß der Steuerzahler, von deren Leistungen der Staatsapparat lebt, und die parlamentarische Homogenität beruht wesentlich eben darauf, daß im Gegenüber zur Exekutive ein grundsätzlich gemeinsames Interesse des Bürgertums vertreten wird. Nicht zufällig sind im Zeitalter des konstitutionellen Kompromisses die klassischen Konflikte zwischen Regierung und Parlament Budgetkonflikte gewesen.

Es ist merkwürdig und unwahrscheinlich, daß der so gebildete Carl Schmitt diesen Tatbestand, das Unzutreffende seines „government" -Begriffs, nicht gesehen haben sollte. Auch ein Hinweis auf England — in Amerika liegen die Verhältnisse ohnehin anders — hilft kaum weiter; eine „regierende" Parlamentssouveränität gibt es allenfalls während einer kurzen Übergangs-und Umstrukturierungsspanne in der Mitte des 19. Jahrhunderts, übrigens bleibt Schmitt durchweg kontinental orientiert, so daß das Zitieren angeblicher angelsächsischer Vorbilder sich verdächtig macht, im schlechten Sinne Advokatentrick zu sein.

Nicht nur bei Schmitt, sondern weit über ihn hinaus bis hin zu radikal „linken" Positionen läßt sich immer wieder feststellen, wie man in Deutschland die theoretischen und ideellen Vorstellungen von Demokratie aus Frankreich bezieht, besonders aus den rousseauistischen Identitätslehren, die Vorbilder für die praktisch relevanten politischen Institutionen dagegen aus dem angelsächsischen Raum übernimmt. Daraus folgte und folgt die schier endlose Verwirrung, auch im Sinne des ständigen, oft mehr unkritischen als kritischen Abmessens der Distanz von Norm und Wirklichkeit

Das ideologiekritische Bemühen führt also zu einem ersten Resultat: Geschichtsfälschung. Cui bono? Das wird im Blick auf die weitere Entwicklung deutlich. Sie vollzieht sich als progressive Ausbildung straff organisierter Massenparteien, in Deutschland zumal unter Führung der Sozialdemokratie, also im Zeichen der politisch avancierenden Arbeitschaft. Die anderen Parteien müssen nachziehen, um mit der Entwicklung Schritt zu halten. Damit vollzieht sich zugleich natürlich eine Umstrukturierung und Umfunktionierung des Parlaments: Es ist nicht länger Stätte relativ homogener Interessenvertretung des Bürgertums gegenüber Staat und Regierung, sondern es wird zum Ort des institutionalisierten Konflikts divergierender — in erheblichem Maße klassenbestimmter — Interessen. Mindestens potentiell wird das Parlament zugleich zum Hebel für eine Umgestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse, wie schon der späte Friedrich Engels andeutete und Eduard Bernstein es zum Programm seiner „revisionistischen" Strategie machte. Dieses Potential wird grundsätzlich aktiviert mit dem Ende des konstitutionellen Kompromisses, mit der Parlamentarisierung der Regierung, in Deutschland also ab 1918.

Man mag nun mit gutem historischen Recht argumentieren, daß gerade die Institutionalisierung des Klassenkonflikts im parlamentarischen System ein, wenn nicht das hervorragende Mittel zur Entschärfung und pluralistischen „Umfunktionierung" dieses Konflikts darstellt, — wie es ja auch engagierte Revolutionäre dem Revisionismus stets vorgeworfen haben. Das erschrockene, um nicht zu sagen von Panik erfüllte Bürgertum der Weimarer Republik sah es indessen anders. Es glaubte im parteienbestimmten Parlamentarismus und in der damit unabwendbar fortschreitenden wechselseitigen Durchdringung von Staat und Gesellschaft die überkommenen Herrschaftsstrukturen in Gefahr, seine bis dahin obrigkeitsstaatlich abgeschirmte Vorzugsstellung — Thomas Mann prägte die treffende Formel von der „machtgeschützten Innerlichkeit" — bedroht. Der Antiparteien-und Antiparlamentsaffekt, der Mythos von der wesensgemäßen Überparteilichkeit der Staatsführung, die schon Gustav Radbruch „die Lebenslüge des Obrigkeitsstaates" nannte — das alles gewinnt so gesehen Kontur, und am Ende ist dann der panische Amoklauf, der in die cäsaristische Diktatur führt, nur folgerichtig.

Hermann Heller, der große demokratische Staatsrechtslehrer der Weimarer Republik, hat dies alles in seiner kleinen Schrift „Rechts-staat oder Diktatur?" mit äußerster Klarheit analysiert. Leider vergeblich hat er gewarnt: „Indem das Bürgertum aber Rechtsstaat, Demokratie und Parlamentarismus konventionelle Lügen nennt, straft es sich selbst Lügen. Durch seinen neofeudalen Gesetzeshaß gerät es nicht nur in einen Selbstwiderspruch mit seinem eigensten geistigen Sein, sondern verneint auch die Existenzbedingungen seines gesellschaftlichen Lebens ... Ein Bürgertum, das durch die Renaissance hindurchgegangen ist, kann nicht, ohne Selbstmord zu begehen, sich vom Diktator sein Fühlen, Wollen und Denken vorschreiben lassen..." Geistiger Klassenselbstmord mag nun in der Tat ein so seltsames wie abstoßendes Schauspiel sein, aber er hat den Hintersinn, jene materiellen, machtgeschützten Privilegien zu wahren, die man bedroht sieht.

Der Antiparlamentarismus, die Denunziation des Parlaments als einer angeblich funktionsunfähigen, verantwortungs-und entscheidungsscheuen „Schwatzbude" ist also insgeheim von der Furcht bestimmt, in Wahrheit könnte das Parlament als Stätte des institutionalisierten Konflikts nur zu gut funktionieren und unerwünschte Entscheidungen herbeiführen. In diesem Sinne wäre es übrigens genauerer Untersuchung wett, ob zur Zeit der Weimarer Republik nicht vielleicht der reformerische Sozialismus viel mehr als der revolutionäre — der lediglich als Schreckgespenst fungierte — das Bürgertum in die Arme des Faschismus trieb So gesehen würde es sich dann bei der verächtlichen Abwertung des Parlaments um die typische „Haltet den Dieb!" -Reaktion handeln.

Bei Carl Schmitt zumal drängt sich die Frage auf, ob seine Überführung der Willensentscheidung angeblich privatisierter Wähler in den Raum der „Öffentlichkeit" nicht auf Vernichtung der Öffentlichkeit im Sinne kritischer Meinungsbildung und -äußerung zielt. Ob die Überführung der parlamentarischen Massen-demokratie in die „wahre" Demokratie — von der übrigens auch Hitler sprach — nicht den Hintersinn hat, den Massen, vor denen man sich fürchtet, die Herrschaft zu entwinden, um den parlamentarisch institutionalisierten Konflikt durch die autoritäre „Entscheidung" zu ersetzen? Wie die acclamatio von hundert Millionen Menschen praktisch aussehen soll, bleibt ohnehin ein Geheimnis, das sich nur in den organisierten Kundgebungen des totalitären Regimes auflöst.

Schmitt hat freilich auf die Bedeutung des Plebiszits verwiesen. Aber dazu heißt es dann:

„Es liegt in der Natur der Sache, daß Plebiszite nur augenblicksweise und intermittierend veranstaltet werden können. . .. Das Volk kann nur Ja und Nein sagen; es kann nicht beraten, deliberieren oder diskutieren; es kann nicht regieren und nicht verwalten; es kann auch nicht normieren, sondern nur einen ihm vorgelegten Normierungsentwurf durch sein Ja sanktionieren. Es kann vor allem auch keine Frage stellen, sondern nur auf eine ihm vorgelegte Frage mit Ja oder Nein antworten. .. . Infolge dieser Abhängigkeit von der Fragestellung setzen alle plebiszitären Methoden eine Regierung voraus, die nicht nur die Geschäfte besorgt, sondern auch Autorität hat, die plebiszitären Fragestellungen im richtigen Augenblick richtig vorzunehmen. Die Frage kann nur von oben gestellt werden, die Antwort nur von unten kommen. Auch hier bewährt sich die Formel des großen Verfassungskonstrukteurs Sieyes: Autorität von oben, Vertrauen von unten."

Ein Volk, das nicht beraten und diskutieren, keine Fragen stellen kann, das weder auf Regierung noch Verwaltung Einfluß hat, sondern in allem vom Belieben der Herrschenden abhängig ist: das erscheint als wahre Demokratie. — Die Sätze stammen aus dem Jahre 1932.

IV. Die autoritäre Staatsideologie nach 1945

Nach 1945 haben sich die Verhältnisse offenbar gewandelt, nicht zuletzt natürlich unter dem Eindruck der katastrophalen Folgen natio-nalsozialistischer Herrschaft. Es erscheint nun doch als vorteilhafter, Konflikte parlamentarisch zu institutionalisieren und damit zugleich zu bändigen, als sie mit Unterdrückung und Aggression außer Kontrolle geraten zu lassen, überdies scheint die Hoffnung oder Gefahr, daß vom Parlament grundlegende Systemveränderungen ausgehen könnten, ehedem erheblich überschätzt worden zu sein. Aber wir leben in Zeiten, in denen, nach einem Wort Schumpeters, „Optimismus nichts ist als eine Form der Pflichtvergessenheit". Abgesehen von Fragen wie: Erfüllt das Parlament wirklich die Funktion institutionalisierter Konfliktaustragung? Gab und gibt es nicht, doch wieder ein Ausweichen vor dem Konflikt durch Außenprojektionen — Stichworte etwa Kommunismus und DDR? Wie würde sich das System im Fall einer wirtschaftlichen Depression bewähren? — Abgesehen von alledem bleibt zu fragen, ob nicht nach wie vor, wie immer versteckt, autoritäre Parlamentarismus-kritik am Werke ist. Hierfür sollen zunächst einige literarisch-akademische Belege beigebracht werden, um abschließend und zum Zwecke der Diskussion Thesen zur praktischen Bedeutung der autoritären Kritik zu formulieren. Die Belege stammen überwiegend aus der Carl-Schmitt-Schule, wobei vielleicht auch das schon als eine Art von Beleg zu denken geben sollte, daß Schmitts akademische Reputation so wenig mehr bestritten wird, daß jüngst — 1968 — zu seinem 80. Geburtstag eine große, zweibändige Festschrift erscheinen konnte, ohne ernsthafte Kritik auszulösen.

Seit 1962 gibt es in der Bundesrepublik eine neue Zeitschrift: „Der Staat". Der Titel ist programmatisch gemeint. Denn, schrieben die Herausgeber, es ist „das Verständnis für die politische und rechtliche Bedeutung staatlicher Autorität geschwunden, der Staat zerredet worden. . . . Demgegenüber gilt es, die politische Ordnungsform des Staates, wie sie in Europa geschichtlich gewachsen ist, als eine der wichtigsten Sicherungen persönlicher und politischer Freiheit zu erkennen und gegenüber den mancherlei Gefährdungen zu behaupten, denen sie von außen wie von innen ausgesetzt ist. Die mit diesem Heft beginnende Zeitschrift soll eine solche Stätte der Staatsbesinnung sein ..." Einem derartigen Vorhaben ist Beifall gewiß. Denn die Klage ist ja allgemein, daß es heute in Deutschland an Staatsbewußtsein fehlt, daß es deshalb eine dringende Aufgabe ist, die Menschen, die Jugend zumal, an den Staat heranzuführen. Die — wie Ernst Forsthoff es nannte — „staatsideologische Unterbilanz" mag zwar nach einer — um nochmals die Herausgeber zu zitieren — „höchst verderblichen Überspannung staatlicher Allmacht" verständlich sein; sie bleibt aber ein Not-und Übel-stand, den es zu überwinden gilt.

Und doch drängen sich Zweifel und Fragen auf. Wer ist dieser Staat, dem die Besinnung gelten soll? Er kann ja sehr verschiedenartige Formen annehmen. Die Unbestimmtheit der Begriffsbildung ist unverkennbar. Inwiefern und von wem ist der Staat im übrigen „zerredet" worden? Nicht jeder drückt sich so klar aus wie etwa der Staatsrechtslehrer Ernst Forsthoff, bei dem man nachlesen kann: „Staatsgesinnung als Grundlage der Gehorsamsbereitschaft erwächst nicht aus der Freiheit. Die Freiheit isoliert den Menschen — sie distanziert ihn vom Staat. Sie konstituiert nichts an überindividueller Ordnung, auch nicht im Ethischen. Sie bringt keine Staatsgesinnung hervor."

Die Zweifel und Fragen könnten sich also zu gewissen Vermutungen verdichten. Sie werden verstärkt, wenn man in der genannten Zeitschrift anläßlich einer Buchbesprechung liest, „daß eine Neufundierung der Theorie der . schützenden Schichten'... in der Gegenwart die politiktheoretische Aufgabe schlechthin" sei Das ist freilich wieder charakteristisch verschlüsselt, und der Laie wird mit der Formulierung wenig anfangen können. Es gibt aber etliche Autoren, die die „Zerstörung schützender Schichten" als das moderne Verhängnis schlechthin empfinden und ihm entgegenzuwirken trachten.

Besonders eindrucksvoll ist die historisch eingekleidete Darstellung von Reinhard Koselleck Aus den Kriegs-und Bürgerkriegs-wirren des 16. und 17. Jahrhunderts, gegen Fanatismus und Verfolgung, wie sie das Zeitalter der Religionskämpfe prägen, erhebt sich der moderne Staat als schützende, friedenstiftende Macht, indem er die Bürgerkriegsparteien sich unterwirft, sie entpolitisiert, mit Max Weber zu sprechen die legitime physische Gewaltsamkeit monopolisiert. Weit über den religiösen Bereich hinaus geht es dabei um die Brechung aller Gewalten, die im Staat und gegen ihn eigenständige politische Macht beanspruchen. Mit anderen Worten: Der Staat — getragen vom monarchischen Absolutismus, praktisch immer mehr vom Berufsbeamtentum — hebt sich autoritär über die Gesellschaft hinaus, um eben damit, um den Preis ihres entpolitisierten politischen Gehorsams, ihr den Schutz zu gewährleisten, der ihr allererst die Entfaltung einer prinzipiell individualisierten, zum materiellen und geistigen Konkurrenzkampf pazifierten bürgerlichen Lebensordnung ermöglicht. Das Kunstwerk des Leviathan überwindet jene fundamentale „natürliche" Unsicherheit, in der, nach Hobbes, das Leben nichts anderes sein kann als „solitary, poor, nasty, brutish, and short".

Voraussetzung für das Gelingen der Pazifierung ist die vollzogene Einsicht in die strenge Wechselbedingtheit von Schutz und Gehorsam. Also, vom Bürger aus gesehen, der Verzicht auf jegliche Form von politischer Kritik, auf moralisch-ideologisches Räsonnement, das sich gegen den Staat richtet. Der Gehorsam ist wie der Schutz unteilbar, denn — um wieder Carl Schmitt zu zitieren, auf den sich Koselleck ausdrücklich beruft —: „Die Staatsmaschine funktioniert oder sie funktioniert nicht. Im ersten Falle garantiert sie mir die Sicherheit meines physischen Daseins; dafür verlangt sie unbedingten Gehorsam gegen die Gesetze ihres Funktionierens. Alle weiteren Erörterungen führen in einen , vorstaatlichen'Zustand der Unsicherheit, in dem man schließlich seines physischen Lebens nicht mehr sicher ist, weil die Berufung auf Recht und Wahrheit nicht etwa Frieden schafft, sondern den Krieg erst ganz erbittert und bösartig macht. Jeder behauptet natürlich, das Recht und die Wahrheit auf seiner Seite zu haben. Aber nicht die Behauptung, Recht zu haben, führt zum Frieden, sondern die unwiderstehliche Entscheidung eines sicher funktionierenden gesetzlichen Zwangssystems, das dem Streit ein Ende macht." Auctoritas, non veritas facit legem: auf diese Formel von Hobbes hat sich Schmitt immer wieder berufen. Einzig der autoritäre Dezisionismus bietet deshalb den Schlüssel zum Frieden — und zur Freiheit, jedenfalls im Sinne unpolitischer Lebensentfaltung.

Koselleck will nun zeigen, wie der wohltätige Leviathan frevelhaft zerstört wurde. Das Bürgertum, nach gelungener Pazifierung seiner mörderischen Selbstgefährdung nicht mehr eingedenk, materiell und geistig erstarkt, wendet sich im Zuge der Aufklärung, politische „Moral" predigend und politische „Rechte" wie politische „Wahrheit" (die Beseitigung staatlicher arcana) fordernd, kritisch gegen den Staat. Im Akte der eigenen politischen Machtergreifung zerstört es das Friedenspotential des Staates, zugleich mit den ihn tragenden nicht-bürgerlichen Schichten. Die Französische Revolutionwird damit zum Auftakt einer Krise, die bis heute nicht nur nicht gebannt, sondern — mit dem Fortschreiten über konstitutionelle Kompromisse zur modernen parlamentarischen Demokratie — immer mehr verschärft worden ist. Der Krise vorläufig letztes Wort sind die Kriege und Bürgerkriege, die totalitären Bewegungen unseres Jahrhunderts.

Die Frage, was an solcher Darstellung stichhaltig ist und was Ideologie, mag auf sich beruhen. Deutlich ist wohl aber, worum es bei der Konstruktion oder Rekonstruktion einer Theorie der „schützenden Schichten" geht. Es geht um die Restauration eines starken, über die Gesellschaft hinausgehobenen Staates, der, als gesellschaftsüberhobener, nicht mühevoll Kompromisse aushandeln muß, sondern eindeutige Entscheidungen zu treffen vermag. Und es geht um die diesen Staat tragende politische „Elite".

Nachdrücklich ist diese Haltung bereits vor Jahren von Winfried Martini zum Ausdruck gebracht worden Das „Ende aller Sicherheit", das seinem — wie Forsthoff schrieb

— „höchst instruktiven" Buch den Titel gab, liegt nach Martini darin beschlossen, daß eine Politisierung der Massen alle staatlichen Entscheidungen vermittels des parlamentarischen Systems kurzschlüssigen Interessen und Emotionen ausliefert, während wesentliche, aber den Nichtinformierten kaum einsichtige Aufgaben vernachlässigt bleiben. Der Ausweg kann daher nur in der planvollen Heranbildung einer den gesellschaftlichen Querelen und Stimmungen enthobenen Elite gefunden werden. Als Modell empfiehlt Martini das Portugal Salazars.

Der autoritäre Grundzug solcher Auffassungen, ihr bewußt oder unbewußt, offen oder verschwiegen antidemokratischer wie antiparlamentarischer Affekt muß kaum eigens demonstriert werden. Da freilich auch die autoritäre Konstruktion im modernen Zeitalter eines sie legitimierenden Widersachers bedarf, verfällt man darauf, sich — wie schon Carl Schmitt — auf „das Volk" — in anderer Spielart: auf die Nation — zu berufen. Dessen wahre und ursprünglicher Homogenität wird in einer Art von verspätetem Rechts-Rousseauismus polemisch gegen die „künstlichen" Spaltungen der Parteien und Verbände und ihr „Gezänk" im Parlament ausgespielt. In diesem Sinne beklagt etwa Werner Weber die „Mediatisierung des Volkes durch die Apparatur politischer Parteien" und „oligarchischer Herrschaftsgruppen" Nur sofern es sich bei den Verbandsfunktionären um „Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem Blut" handelt, ist Weber hoffnungsvoller. Was gemeint ist, wird deutlich, wenn es heißt, daß viele der Männer, die „einst" — vor dem „Zusammenbruch" von 1945 — verantwortliche Stellen im Staat bekleidet haben, nun in den Verbänden ein Betätigungsfeld fanden, als „geradlinige Fortsetzung ihres Bemühens um die Ordnung des Gemeinwesens". Dafür lassen sich, wie Weber meint, „glücklicherweise zahlreiche Beispiele anführen"

V. Die Fiktion einer Trennung von Staat und Gesellschaft

Vergleicht man das demokratisch-parlamentarische System mit der neoautoritären Staats-ideologie, so scheint diese in gewisser Weise im Vorteil der Modernität zu sein. Sofern es heute, in einer Epoche rapider allseitiger Veränderungen, auf rasches Reagieren, Sichanpassen an stets gewandelte Situationen, auf Entscheidung, Ent-und Geschlossenheit ankommt, scheint eine autoritäre Staatsführung, die über das Hin und Her widerstreitender gesellschaftlicher Interessen und Meinungen hinaus ist und sich plebiszitär des „Vertrauens von unten" zu versichern weiß, einen beträchtlichen Vorsprung zu haben.

Allein der Schein trügt. Denn in Wahrheit krankt diese Staatsideologie gerade an dem unaufhebbaren, fundamentalen, auf keine Weise zu überspielenden Widerspruch, in den sie sich zur modernen Entwicklung stellt: Staat und Gesellschaft haben sich in unserem Jahrhundert so ineinander verflochten, daß ihre Trennung niemals mehr gelingen kann. Diese Verflechtung hat viele Gründe. Im Zeitalter der Weltkriege ist sie von den Rüstungserfordernissen „totaler Mobilmachung" erzwungen und forciert worden. Nicht weniger aber gründet sie in der Steuer-und Wirtschaftspolitik; kein Staat kann heute mehr auf Eingriffe und auf Lenkungsmaßnahmen verzichten, kaum eine Wirtschaftsgruppe auf Hilfs-und Förderungsmaßnahmen des Staates. Ebenso unverzichtbar ist längst die Sozialpolitik geworden, das ganze breitgefächerte Instrumentarium öffentlicher Sicherungssysteme. Ausbildung und Forschung haben sich zu einem Politikum ersten Ranges entwickelt. Gesundheitswesen, Städteplanung, Raumordnung sind zu nennen, und man könnte mit solcher Aufzählung lange fortfahren. Es ist deutlich: Unabweisbare Notwendigkeiten haben den Staat immer tiefer in die Gesellschaft eindringen lassen, unabweisbare Notwendigkeiten die Gesellschaft in den Staat. Durchstaatlichung der Gesellschaft und Vergesellschaftung des Staates entsprechen einander und haben der Scheidung der Sphären — was immer einst ihre positive Bedeutung gewesen sein mag — unwiderruflich ein Ende bereitet. Demokratisierung, nicht als einmaliger Akt, sondern als ständiger, fortschreitender Prozeß, sucht dieser Entwicklung Rechnung zu tragen.

So entlarvt sich die autoritäre Staatsideologie als restaurative Ideologie. Es kann schlechthin kein staatliches Handeln, keinen Akt der Gesetzgebung mehr geben, der nicht, positiv oder negativ, hemmend oder fördernd, gesellschaftliche Interessen berührt und von ihnen sich durchdrungen sieht. Noch der einsamste Entschluß eines autoritären Führers, mag er selbst subjektiv aufrichtig sich an den eigenen Vorstellungen vom Gemeinwohl orientieren, kann sich dem nicht entziehen; er gerinnt in seinen objektiven Auswirkungen zur Parteinahme im Widerstreit der Parteiungen. Um das Wort Radbruchs zu wiederholen: Die Überparteilichkeit ist die Lebenslüge des Obrigkeitsstaates. In der Praxis kann das nur heißen, daß die Berufung auf eine angeblich übergesellschaftliche Staatsgesinnung und Staatsautorität, darauf, überparteilich und Gemeinwohl wiederherstellen zu wollen oder zu repräsentieren, nichts anderes darstellt als eine Maskierung, eine Fluchtburg jener, die sich vor der Dynamik einer offenen Gesellschaft fürchten, weil sie in ihr ideelle und materielle Vorzugsstellungen, überkommene Monopole einbüßen könnten.

Sobald man dies erkennt, wird auch die Liberalität der autoritären Ideologie als bloßer Schein durchsichtig. Die Freiheit, die man sichern will, ist die un-und vorpolitische, die auf der Trennung von Staat und Gesellschaft, von Öffentlichkeit und Privatheit, von Äußerem und Innerlichkeit beruht. Wird aber die Trennung aufgehoben, durchdringen die beiden Seiten einander in immer stärkerem Maße, so verkehrt sich die autoritäre Entscheidung zwangsläufig ins Gegenteil der Freiheitssicherung. Sie dringt dann, gewollt oder ungewollt, ins Gesellschaftliche, ins Private, in die Innerlichkeit vor, sie wird zur Vergewaltigung der sozialen Pluralität, ja zur Knebelung des Gewissens und der Gedanken. Und um den Vorgang halbwegs erträglich zu machen, müssen Rechtfertigungsideologien produziert werden. Mit anderen Worten: Am Ende aller Träume vor der Rekonstruktion gesellschaftsüberhobener Staatsautorität steht die totalitäre Bewegung, der man eigentlich vorbeugen wollte. Am Ende steht das Ende aller Sicherheit.

Diese fatale Konsequenz wird nicht zuletzt durch das produziert, was zunächst als Vorteil des autoritären Staates erscheint: durch seine Entschlossenheit und Entscheidungsstärke, seine behende Schlagkraft. Schmitt hatte gesagt, daß „es gerade in den wichtigsten Dingen wichtiger ist, daß entschieden werde, als wie entschieden wird". In seiner Nachfolge hat Weber das Grundgesetz angeklagt, weil seine angeblich „blecherne Rüstung in den dunklen Fährnissen, mit denen Deutschland auf seinem Wege rechnen muß" sich nicht am Ausnahme-und Notstandsfall orientierte. Er hat dem Parlamentarischen Rat vorgeworfen, daß dieser, statt mit „unbekümmerter Frische, vorwärtsgreifendem Wagnis und mutiger Entscheidung" ans Werk zu gehen, sich an der geschichtlichen Erfahrung zu orientieren suchte. Im Gegenentwurf hat Weber behauptet, daß die Weimarer Republik nicht etwa am autoritären Erbe krankte und zugrunde ging, sondern daß sie ihre relative Stabilität gerade den Restbeständen autoritärer Staatlichkeit verdankte, nämlich „dem Umstand, daß sie die

Exekutive der konstitutionellen Monarchie übernommen haite", und der „intensiven Staatlichkeit" Preußens Forsthoff unterstellt, der „Luxus" weitgehender Freiheitsgewährleistung im Grundgesetz sei aus der „exceptionellen" Lage des Verfassungsgebers zu verstehen, dem die Besatzungsmächte die politischen Sicherungslasten abgenommen hatten, — was offenbar impliziert, daß mit einer Normalisierung der Lage solchem „Luxus" ein Ende gemacht werden muß Aber alle diese und ähnlich gerichtete Auffassungen mißachten mit der Verflechtung von Staat und Gesellschaft eben jene Chancen der Freiheits-und Friedenssicherung, die heute einzig von einem demokratischen Verfassungssystem gewahrt werden können, in dessen Zentrum das Parlament nicht als government by discussion, auch nicht als Ort der Wahrheitsfindung steht, wohl aber als Stätte des institutionalisierten und gerade damit auch gebändigten Konflikts.

Es mag sich bei den geschilderten Auffassungen um einen verhängnisvollen Irrtum handeln; an der subjektiven Aufrichtigkeit des Willens zur Freiheits-und Friedenssicherung muß man nicht zweifeln. Wenn allerdings die Geschichte bereits einmal den unaufhaltsamen Umschlag der autoritären Bestrebungen in die totalitäre Machtergreifung demonstriert hat, wird bereits der Irrtum zur'Schuld.

VI. Mögliche Auswirkungen der autoritären Parlamentarismuskritik

Welche Bedeutung, das ist am Ende wohl die entscheidende Frage, kommt heute der autoritären Staatsideologie praktisch zu? Und wie wird sie sich weiter entwickeln, was in der Zukunft bedeuten? Prognosen sind stets ein heikles Unterfangen. Darum sollen sie gar nicht erst versucht werden. Statt dessen sollen einige Thesen formuliert und zur Diskussion gestellt werden:

1. Die alten totalitären Bewegungen, von „rechts" wie von „links", sind noch immer weithin diskreditiert. Sie sind deshalb nicht sehr bedeutsam, welchen Lärm sie partiell auch vollführen mögen.

2. Dagegen kommt der autoritären Staatsideologie eine kaum zu unterschätzende Bedeutung zu, weniger im Sinne eines dramatischen Akts als vielmehr in dem einer schleichenden Vergiftung und Korrumpierung demokratischer Institutionen: a) „Staatsbesinnung" wird allenthalben gefordert. Der Mythos von der Uberparteilichkeit ist populär — die pluralistischen Kräfte, Parteien und Verbände sind es nicht. Um so größer ist die Versuchung für ihre bürokratischen Spitzen, sich um den Preis einer unkritisch„staatserhaltenden" Konformität unter den Schirm staatlicher Protektion und Subventionierung zu flüchten.

b) Gelehrte Autoren, von denen nur einige genannt wurden, rechtfertigen den autoritären Staat im Mantel ihrer Forschung. Gewollt oder ungewollt schaffen sie damit ein Arsenal respektabler Argumente, dessen Parlaments-und demokratiekritische Kräfte sich bedienen können.

c) Die Neigung ist nach wie vor groß, falls sie nicht überhaupt wächst, Kritik als inopportun, als „zersetzend" zu diffamieren, Mißtrauen als politische Untugend abzutun und einmal mehr Abgründe zwischen „staatstragenden Kräften" und „vaterlandslosen Gesellen" aufzureißen. d) Nicht politische Außenseiter, sondern starke Kräfte innerhalb der nach 1949 langjährig regierenden Partei zeigten sich tief beeindruckt vom Experiment des Gaullismus. e) Erhebliche Gruppen in der Justiz-und Verwaltungsbürokratie, im Mittelstand und unter der Landbevölkerung, in den Kirchen, in den Bildungsinstitutionen und an manchem anderen Ort stehen der demokratisch-parlamentarischen Verfassungsidee jedenfalls reserviert gegenüber, weil sie von der mit ihr prinzipiell verbundenen offenen Gesellschaftsdynamik Einbußen befürchten und für wesensmäßig nur autoritär zu leistende Bestandsgarantien plädieren. 3. Dieses autoritäre Potential könnte eines Tages in einer wirklichen — oder auch nur vermeintlichen, aber bewußt zum Staatsnotstand hochgespielten — Krise rasch an Bedeutung gewinnen und dann Reaktionen im Sinne drastischer Verkürzung und Verkümmerung demokratisch-parlamentarischer Institutionen möglich machen. Unserer Analyse gemäß würden damit aber, gewissermaßen im Sekundär-effekt, auch neue totalitäre Bedrohungen entstehen. Will man sie vermeiden, so muß man den Anfängen wehren, das heißt auch gegen die nur autoritäre Kritik für die demokratisch-parlamentarische Alternative eintreten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Politische Theologie, München u. Leipzig 1922, S. 50.

  2. Geistesgeschichtliche Lage ..., München u. Leipzig 1926 2, S. 7, 9, 61.

  3. A. a. O., S. 12.

  4. S. 10.

  5. S. 13.

  6. S. 21.

  7. Vgl. hierzu die Untersuchungen v. Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1968.

  8. Tübingen 1930.

  9. S. 23 f.

  10. Vgl. hierzu Otto Bauer, Der Faschismus, in: W. Abendroth, Hrsg., Faschismus und Kapitalismus, Frankfurt a. M. 1967, S. 154 et passim. Speziell für die ideologiekritische Analyse C. Schmitts vgl. Ingeborg Maus, Zur „Zäsur" von 1933 in der Theorie Carl Schmitts, in: Kritische Justiz, H. 2, 1969, S. 113 ff.

  11. Legalität und Legitimität, München u. Leipzig 1932, S. 92 ff.

  12. Der Staat, 1962, S. 1.

  13. Rechtsstaat im Wandel, Stuttgart 1964, S. 66.

  14. B. Willms, in: Der Staat, 4/1963, S. 502 f.

  15. Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg u. München 1959.

  16. Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, Augsburg 1938, S. 69.

  17. Das Ende aller Sicherheit — eine Kritik des Westens, Stuttgart 1954.

  18. Rechtsstaat im Wandel, 1964, S. 79.

  19. Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, Stuttgart 1954, S. 14, 21, 22, 49.

  20. Der Staat und die Verbände, hrsg. v. Bundes-verband d.deutschen Industrie, Heidelberg 1957, S. 19.

  21. Spannungen und Kräfte ... a. a. O., S. 30.

  22. S. 30.

  23. S. 20.

  24. Rechtstaat im Wandel, S. 65 f. u. 105.

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Christian Graf von Krockow, Professor, Dr. phil., geboren 1927 in Ostpommern, 1961 Prof. f. Politikwissenschaft Pädagogische Hochschule Göttingen, 1965 Univ. Saarbrücken, 1968/69 Univ. Frankfurt a. M. -Veröffentlichungen u. a.: Die Entscheidung — eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Stuttgart 1958; Soziologie des Friedens — drei Untersuchungen zur Problematik des Ost-West-Konflikts, Gütersloh 1962; Sozialwissenschaften, Lehrerbildung und Schule — Plädoyer für eine neue Bildungskonzeption, Opladen 1969.