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Revolution, Reform oder Verteidigung des Status quo? Die Problematik der Veränderung der lateinamerikanischen Gesellschaft | APuZ 23/1970 | bpb.de

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APuZ 23/1970 Revolution, Reform oder Verteidigung des Status quo? Die Problematik der Veränderung der lateinamerikanischen Gesellschaft Der „Kontinentalismus" als außenpolitische Doktrin der USA und ihre historischen Analogien in Europa

Revolution, Reform oder Verteidigung des Status quo? Die Problematik der Veränderung der lateinamerikanischen Gesellschaft

Rudolf Schloz

/ 43 Minuten zu lesen

Mit freundlicher Genehmigung des Instituts für Internationale Solidarität wird dieser Beitrag aus Band 10 der Schriftenreihe des Instituts als Vorab-druck veröffentlicht. Der Band erscheint in Kürze unter dem Titel „Christliche Demokratie in Lateinamerika" beim v. Hase & Koehler Verlag in Mainz.

Tabelle 2: Bevölkerungswachstum in Lateinamerika (am Beispiel von acht ausgewählten Ländern) — Stand 1968

Gibt es eine „lateinamerikanische" Gesellschaft? Finden sich in dem riesigen Subkontinent, von Mexiko bis Chile, dieselben oder wenigstens so nah verwandte Gesellschaftsformen, daß man bei allen Unterschieden, die zweifellos gegeben sind, eine „Einheit" unterstellen darf, die Einheit, die es letztlich erst ermöglicht, die anstehenden Probleme auf kontinentaler Ebene zu untersuchen?

Dies ist zweifellos die erste Frage, die eine klare Antwort fordert. Eine zweite Fragengruppe schließt sich unmittelbar an, Fragen nach den Veränderungen dieser wie immer zu beschreibenden „lateinamerikanischen" Gesellschaft. Welche Veränderungen sind sichtbar, welche angestrebt, welches sind die Gründe, die Richtungen und Tendenzen, die Stärke dieser Veränderungen, welches sind ihre Ziele? Von wem werden diese Ziele angestrebt, von wem bekämpft?

Die dritte Fragengruppe schließlich: Welche Wege, welche Möglichkeiten, welche Chancen gibt es? Was wird mit den „Veränderungen" gewonnen? Ist der gangbare Weg die Revolution, die Reform oder die Verteidigung des Status quo? Wer gewinnt und wer verliert bei diesem Prozeß?

Die aufgeworfenen Fragen, die in drei Gruppen zu untersuchen sind, enthalten Sprengkraft, sie machen deutlich, daß nicht nur die Prozesse gesellschaftlicher Veränderung in ein Stadium gewaltiger Dynamik gelangt sind, sondern auch die Diskussion darüber. Es wird ebenso deutlich, daß das eine vom anderen nicht mehr zu trennen ist, daß die Verhärtung der Fronten gleichzeitig die Verhärtung des Dialogs bedeutet, daß die Radikalität von Handlungen oder deren Forderung Ausfluß der Radikalität der verschiedensten dahinter-stehenden Ideologien ist.

I. Die „lateinamerikanische“ Gesellschaft

Helmut Wagner: Der „Kontinentalismus" als außen-politische Doktrin der USA und ihre historischen Analogien in Europa

Gehen wir von der Tatsache aus, daß Gemeinsamkeiten auf bestimmten Sektoren Unterschiede auf anderen Gebieten implizieren und daß die Behandlung von Gemeinsamkeiten die Abgrenzung durch die gleichzeitig vorhandenen Unterschiede nahezu zwangsläufig mit sich bringen wie auch die Behandlung der Unterschiede immer wieder zur Betrachtung der Gleichartigkeit führt. Die Suche nach den Gemeinsamkeiten muß zu der Frage führen, inwieweit einzelne Elemente, welche die Ausbildung von Gesellschaftsformen bestimmen, oder wenigstens mitbestimmen, „kontinental" sind. Diese Elemente sind ebenso in der Geographie und Geschichte wie in der Wirtschaft, der Politik und letztlich der Psychologie der einzelnen Gruppen zu suchen. Diese Faktoren sollen im folgenden kurz dargestellt werden.

1. Geographie Geographische Gemeinsamkeiten und Unterschiede machen vor den politischen Staatsgrenzen nicht halt. Das „tropische Tiefland", die „Sierra", der „Altiplano", die „Pampa", die „tierra caliente", die „tierra fria", die „costa", all das sind Begriffe, nahezu Eigennamen, die quer durch die verschiedensten Länder berechtigte Anwendung finden. Damit sind von Land zu Land die verschiedensten geographischen Gemeinsamkeiten gegeben, die auf die Lebens-art und die Entwicklung der Bewohner der jeweiligen Gegend direkten und bestimmenden Einfluß ausüben. Staatsgrenzen, die ja erst sehr spät, zum Teil willkürlich, zum Teil nach einem Krieg mit den Nachbarn, entstanden sind, konnten bis heute in vielen Fällen keinerlei „Zäsur" in Lebensart und Zusammengehörigkeitsgefühl gleicher Stämme bewirken. Vielfach ist es den dort lebenden Gruppen überhaupt noch nicht bewußt geworden, daß sie beispielsweise nicht nur Aimaras oder Quechuas sind, sondern darüber hinaus etwa Peruaner oder Bolivianer. Es ist den Motilonen im unwegsamen und von der Außenwelt abgeschnittenen Grenzland zwischen Kolumbien und Venezuela tatsächlich bis zum heutigen Tag gleichgültig, ob sie Kolumbianer oder Venezolaner sind. Unerheblich mag es auch sein, ob die Indios um den Titicaca-See Bolivianer oder Peruaner sind. In diesen wie in vielen anderen Fällen spielen Staatsgrenzen vor den ethnischen Gemeinsamkeiten keine Rolle. 2. Geschichte Für den Subkontinent Lateinamerika fallen eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf, die in die Vergangenheit zurückreichen und gleichem oder ähnlichem Geschichtsablauf entsprechen.

Der Kontinent kannte in der vorkolumbianischen Zeit in weiten Gebieten, besonders in den Gebirgsländern, aber auch in den tropischen Urwäldern Mittelamerikas hochentwik-kelte Indianerkulturen, die zum Teil sehr eigenständig erscheinen, zum Teil aber auch erstaunliche Verwandtschaften untereinander aufweisen. So ist die Ähnlichkeit der aus massivem Gold hergestellten Kunst-und Kultgegenstände der Chibchas (heutiges Kolumbien) und den gleichen in Mittelamerika aufgefundenen Gegenständen geradezu frappierend. Ebenso zeigen die Töpferarbeiten der Incas und der Azteken in Farbe, Form und Ornamentik mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Gemeinsam war diesen vorkolumbianischen Kulturen auch das großartige mathematische und besonders astronomische Wissen, andererseits aber auch die verhältnismäßig dürftige Kenntnis auf dem Gebiet der Landwirtschaft.

Für weitere Gemeinsamkeiten sorgte die „Conquista", die Eroberung des Kontinents durch Spanier und Portugiesen, die Zerstörung der alten vorkolumbianischen Kulturen, das Aufzwingen des Christentums durch die Eroberer, vor allem aber auch die Vermischung der europäischen Eroberer mit den Ureinwohnern und damit die Begründung einer neuen „Rasse". Die Kolonisation Lateinamerikas sorgte zweifellos für Gemeinsamkeiten in ungleich stärkerem Maße als sie Eigenständigkeiten herbeiführte. In ganz Lateinamerika läßt sich die heutige Bevölkerung unterteilen in wenigstens drei Hauptgruppen: Indios, Mestizen, Weiße. Dazu kommen in verschiedenen Ländern noch Neger, Mulatten sowie Orientalen, „Turcos" genannt. Unterschiedlich sind hierbei lediglich die Prozentzahlen der Zusammensetzung eines Volkes aus diesen einzelnen Gruppen, nicht jedoch die Zusammensetzung aus den ethnischen Gruppen selbst.

Die Tabelle über die Zusammensetzung der Bevölkerung einzelner Länder macht die großen Unterschiede, wie sie von Land zu Land gegeben sind, deutlich. „Extreme" Positionen aufgrund der Bevölkerungs-Zusammensetzung kommen Argentinien und Honduras zu. Die Zahl der reinrassigen Indios ist in Guatemala am höchsten. Der Anteil an schwarzer Bevölkerung ist besonders hoch in Brasilien, während Haiti den üblichen Rahmen vollkommen sprengt.

Aufschlußreich ist, daß die amtliche Statistik Kolumbiens Mestizen und Indios zu einer Gruppe zusammenfaßt, während die Statistik für Peru Weiße und Mestizen in einer Gruppe ausweist. Allein diese Tatsache macht schon deutlich, daß es in Lateinamerika keine Rassendiskriminierung gibt — eine weitere Gemeinsamkeit ! — und daß die Aufgliederung in Indios und Mestizen bzw. in Weiße und Mestizen zum Teil gar nicht möglich ist.

In ganz Lateinamerika (mit Ausnahme Brasiliens) ist der 12. Oktober gesetzlicher Feiertag. Der Tag wird als „dia de la raza" gefeiert, und der ursprüngliche Grund, die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus, ist längst in den Hintergrund getreten. Was ist hier mit „Rasse" gemeint, wo doch feststeht, daß sich jedes Volk des Kontinents aus rassisch verschiedenartigen Teilen zusammensetzt? Hier ist die Erkenntnis wichtig, daß sich „Volk" und „Rasse" nirgends auf der Erde decken und wohl auch in der Vergangenheit nicht gedeckt haben.

Nach Hellpach kennen wir keine Rasse, „die als Ganzes in einer geschlossenen Volksgemeinschaft lebte. Innerhalb der Räume, die von wesentlich einer Rasse bewohnt sind, ist diese rassisch homogene Bevölkerung in Völkerschaften und Volksstämme aufgegliedert, die teilweise in grimmiger Feindschaft zueinander leben. Umgekehrt sind viele Völker, welche den sehr festen und bewußten Schicksalszusammenhang der , Nation'in sich ausgebildet haben, aus verschiedenen Rassen gemischt". Diese letztere Feststellung gilt zweifellos für ganz Lateinamerika Als gute Beispiele für das Bewußtsein, einer einzigen „Nation" anzugehören, werden mit Recht immer wieder die Bevölkerung Chiles oder Mexikos genannt.

Rafael Caldera, der venezolanische Präsident, sagte: „Raza ist nicht biologisch aufzufassen. Wir sind eine kosmopolitische Rasse geworden, eine Weltrasse. Raza ist also ein philosophischer Begriff." Schon Simon Bolivar dachte an eine neue „Rasse", als er schrieb:

„Wir sind nicht Indianer und nicht Europäer, sondern eine Mischung zwischen den ursprünglichen Besitzern des Landes und den spanischen Eroberern; also Amerikaner von Geburt." Diese neue Rasse ist tatsächlich entstanden, und der gemeinsame Feiertag am 12. Oktober hat seine Berechtigung. Zweifellos hat auch die gemeinsame, von den Con-quistadoren stammende europäische Sprache — Spanisch bzw. Portugiesisch — wesentlich zur Entwicklung des Bewußtseins der Zusammengehörigkeit, der neuen Rasse, beigetragen.

Eine weitere, geschichtlich bedingte Gemeinsamkeit ist der Kampf um die Unabhängigkeit zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Doch auch hier zeigt sich sofort wieder die Verschieden-artigkeit: Während sich die Befreiung und Loslösung Brasiliens vom Mutterland Portugal unblutig, quasi mit der Einwilligung des Königshauses in Lissabon in einer einzigen Willenserklärung vollzog, hatten die übrigen Teile des Kontinents ihre Freiheit in harten, blutigen Auseinandersetzungen gegen das spaninische Mutterland zu erkämpfen. Bis zum heutigen Tag werden die Helden der Befreiung — Bolivar, San Martin, O'Higgins, Artigas, um nur die wichtigsten zu nennen — in allen Ländern des Kontinents gleichermaßen verehrt und gefeiert.

Eine weitere Gemeinsamkeit für alle Länder des Kontinents stellt die Einwanderung von Europäern im 19. und 20. Jahrhundert dar. Italienische, spanische, französische, irische, englische und vor allem auch deutsche „Kolonien" sind auf dem ganzen Kontinent anzutreffen und stellen für die jeweilige nationale Gesellschaft ein interessantes, aber oft problematisches Phänomen dar: Ganz im Gegensatz zu europäischen Einwanderern in den USA bewahren diese Gruppen bis zur Gegenwart vielfach ihre nationalen Eigenheiten. Sie haben sich gegen die vollständige Integration gewehrt und bilden eigene Gemeinschaften, die sich von den echten „Einheimischen" gern distanzieren — und dies auch noch, wenn sie in zweiter und dritter Generation im Lande leben und längst die argentinische, chilenische oder brasilianische Staatsbürgerschaft besitzen. 3. Wirtschaft Auch wirtschaftlich betrachtet werden eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten quer über den Kontinent deutlich. Der ganze Subkontinent hat tropisches, im Süden subtropisches Klima. Die Erzeugnisse der Landwirtschaft gehören demzufolge überwiegend der Welt der Tropen an. Kaffee und Bananen sind die typischen Produkte. Dazu kommen Kakao und Tropenfrüchte aller Art. Wir haben es hier noch überwiegend mit Agrarländern zu tun, in denen allerdings die Industrialisierung immer rascher voranschreitet. Immerhin sind noch über die Hälfte der Gesamtbevölkerung in der Landwirtschaft tätig. Ein weithin sichtbares Charakteristikum ist hierbei die Monokultur, der Anbau nur eines Erzeugnisses. Trotz aller Bemühungen um die „diversificaciön" sind die Monokulturen noch weithin verbreitet. Sie wurden bisher durch die Außenhandelssituation der einzelnen Länder stark gefördert. Allen Ländern Lateinamerikas gemeinsam ist die Tatsache, daß sich ihr Export auf jeweils nur wenige pflanzliche, tierische oder auch mineralische Rohstoffe beschränkt. Uruguays und Argentiniens Exporte werden zu 90 % von der Viehzucht und Landwirtschaft bestimmt. In den Andenländern Chile, Bolivien, Peru und in Venezuela machen Bergbauprodukte — Kupfer, Zinn, Zink, Erdöl, Eisen, Silber und Blei — 70 bis 90 % des Gesamtexports aus Der Export Ecuadors ist überwiegend von Bananen bestimmt, der Export Kolumbiens und El Salvadors vom Kaffee.

Damit sind die Länder Lateinamerikas auf dem Weltmarkt mit „ihrem" Exportartikel bzw. mit den wenigen Produkten, die ihr Gesamtangebot ausmachen, allzusehr von den Industrienationen abhängig und allzusehr das Opfer der langandauernden Verschlechterung der „terms of trade", der Exportbedingungen. Gemeinsam ist allen Ländern Lateinamerikas auch die außenwirtschaftliche Abhängigkeit von bestimmten Ländern. Wichtigster Handelspartner sind für alle Länder die USA. An zweiter und dritter Stelle kommen dann je nach Land, aber immer mit deutlichem Abstand hinter den USA, die Bundesrepublik Deutschland und England. Diese starke Außenhandelsabhängigkeit von den USA, die noch zu dem oft fragwürdigen Verfolgen der amerikanischen Eigeninteressen in Lateinamerika kommt, läßt die Wut der Lateinamerikaner gegen Imperia-lismus und Ausbeutung der Nordamerikaner immer stärker anwachsen

Monokulturen, Außenhandelsabhängigkeit und Schädigung durch die Verschlechterung der „terms of trade" sind somit die schwerwiegendsten Gemeinsamkeiten der Länder des Kontinents auf dem Gebiet der Wirtschaft. Die wenigen, an der Geographie und Geschichte des Kontinents sowie an den wirtschaftlichen Tatbeständen gewonnenen Einsichten lassen erkennen, daß — bei allen bestehenden Unterschieden — die Gemeinsamkeit so deutlich und so bestimmend stark ist, daß man mit Berechtigung von einer „lateinamerikanischen“ Gesellschaft sprechen und deren Probleme gemeinsam untersuchen und darstellen kann 4. Die lateinamerikanische Gesellschaft Wie stellt sich nun diese lateinamerikanische Gesellschaft typischerweise dar? Bekannt ist ihre „klassische" Einteilung in mehrere „Schichten" — eine Einteilung, der eindeutig statisches Denken zugrunde liegt und die deshalb besonders in der Gegenwart immer fragwürdiger für die praktische und immer unzureichender für die theoretische Erkenntnisgewinnung ist. Nach dieser Einteilung ist der sichtbare Kopf der Gesellschaft die dünne, herrschende Oberschicht, welche die wirtschaftliche und politische Macht im Lande fest in Händen hält und sie im Sinne klaren Eigeninteresses manipuliert.

Die typischen Vertreter dieser Oberschicht — meist Oligarchie genannt, auch „las familias" — stützen ihre Macht überwiegend auf den Großgrundbesitz („latifundistas") oder auf Industriezweige, die sie kontrollieren oder ganz in Händen haben („monopolistas"). Ihrer wirtschaftlichen und sozialen Geltung wegen wird diese Schicht auch „clase alta", „clase pri-

vilegiada" oder „los poderosos" genannt. Die politische Bedeutung dieser Klasse wird dadurch unterstrichen, daß sie typischerweise den Präsidenten des Landes sowie die übrigen wichtigsten Politiker stellt.

Unter dieser Oberschicht ist nach der hier vorgenommenen Einteilung die Mittelschicht angesiedelt, „la clasa media", eine im allgemeinen dünne Schicht der Gesellschaft, die es weder zu politischer noch zu wirtschaftlicher Macht gebracht hat, die aber dennoch ein deutliches Standesbewußtsein besitzt und in den meisten Ländern des Kontinents ständig — wenn auch langsam — im Wachsen ist. Zu dieser Gruppe zählen kleine, selbständige Geschäftsleute, „los comerciantes", Angestellte und Funktionäre der öffentlichen Verwaltung, Angestellte von Privatbetrieben sowie Professoren und Lehrer, die in einem festen Vertragsverhältnis arbeiten und somit ein bescheidenes, aber meist sicher zu erwartendes Einkommen haben.

Oft leitet sich daher auch der Anspruch, zu dieser Mittelschicht zu gehören, gar nicht aus den materiellen Möglichkeiten der Lebensgestaltung ab, sondern aus der „capacidad mental", aus geistigen Fähigkeiten also, die in einer oft sehr bescheidenen, aber doch klar über dem Durchschnitt liegenden Schul-und Berufsausbildung gewonnen wurde. Hierher gehört die Fähigkeit, lesen, schreiben und rechnen zu können, Fähigkeiten, die einen zur Tätigkeit hinter dem Schreibtisch eines Büros berechtigen (die auch in Lateinamerika gesuchten „white collar jobs") und einen damit klar von der Unterschicht abheben. Auch in Lateinamerika können Vertreter dieser Mittelschicht Eigentümer eines Hauses oder eines Autos sein.

Die nächste Schicht, die Unterschicht, „la clasa baja", setzt sich zusammen aus Arbeitern der Städte und Landarbeitern (obreros y campesinos). Es sind Gelegenheitsarbeiter oder einfa-ehe, doch in einem festen Vertragsverhältnis beschäftigte Hilfskräfte wie Arbeiter der Müllabfuhr, Boten und Pförtner bei Banken, Versicherungen, Ministerien und anderen öffentlichen Gebäuden, Nachtwächter und Gärtner. Zu dieser Gruppe zählt auch das Heer von Angestellten, Dienstboten und Kindermädchen in Privatfamilien. Die typischen Angehörigen dieser Klasse sind Analphabeten, oft mit einer geringen Schulbildung von ein, zwei oder vielleicht drei Jahren. Aufstiegschancen von Vertretern dieser Gruppe in die höhere Mittel-schicht sind innerhalb der „klassischen" Gesellschaft als sehr gering anzusprechen.

Unter dieser Unterschicht der Gesellschaft ist in Lateinamerika noch eine weitere Gruppe zu sehen, ein echtes Spezifikum des Kontinents, kein Teil der . Gesellschaft'mehr, doch ein nicht zu übersehender Teil der Bewohner eines Landes: die Marginalbevölkerung. Diese Gruppe ist keine „Schicht" oder „Klasse" mehr, denn sie ist weder in sich organsiert noch nach außen hin in irgendeiner geregelten Art vertreten. Es ist der Teil der Bevölkerung (los marginados), der vollkommen außerhalb der Gesellschaft dahinleben muß. Es sind die eigentlich Unterprivilegierten, die weder eine Ausbildung genossen haben noch die Möglichkeit geregelter Arbeits-, Verdienst-und Lebensverhältnisse kennen. Diese Gruppe bildet die Callampas, Favelas, Ranchos, Barrios, Villas miseria, Barriadas und wie sie sonst noch heißen mögen: die Elendsgürtel um die Haupt-städte und sonstigen großen Industriestädte des Kontinents. Sie bildet auch die Elendskerne auf dem Land. Dieser Bevölkerungsteil lebt in latenter oder offener Arbeitslosigkeit oder arbeitet im „tertiären" Bereich, als Losverkäufer, Schuhputzer, Gelegenheitsarbeiter, von der Not oft genug zum Diebstahl und Raub, zur Prostitution und anderen Vergehen, oft auch einfach zum Betteln getrieben. Diese Gruppe der Marginierten’ ist zahlenmäßig höchst bedeutsam. (In Lima z. B. gehört ihr die Hälfte der Bewohner der Stadt an.) Sie ist in ständigem, raschem Wachsen.

Soweit die Unterteilung der Gesellschaft nach dem klassischen, statischen Modell. Diese Gliederung deckt sich im übrigen nicht mit der ethnologischen Untergruppierung in Weiße, Mestizen, Indios und Schwarze wenn auch verallgemeinernd festzustellen ist, daß in Ländern mit starker Indio-und Mestizenbevölkerung die Oberschicht überwiegend von Weißen gebildet wird und der Anteil von Indios und Mestizen gerade bei der Marginalbevölkerung besonders hoch ist. In den Ländern mit beträchtlicher schwarzer Bevölkerung (Kolumbien, Brasilien) ist dieser Bevölkerungsteil ebenfalls überwiegend der Unterklasse oder Marginalbevölkerung zuzurechnen. Andererseits läßt sich die Zugehörigkeit von Weißen zur Unterschicht oder Marginalbevölkerung nirgends ausschließen, besonders nicht in Ländern mit einem hohen Anteil an weißen Bewohnern. Hier ist eine Tatsache bedeutsam, die bisher zu wenig beachtet wird, in naher Zukunft aber schon zum „Alptraum lateinamerikanischer Städte" werden kann

Karlstetter weist mit Recht darauf hin, daß die Bewohner der Elendsgürtel um die Städte keinesfalls alle „aus der Landflucht stammen, wie eine geläufige Meinung es will. Etwa die Hälfte von ihnen stammt aus der Stadt. Sie konnten dort mit der rapid einsetzenden Stadtentwicklung nicht mehr Schritt halten." Daß hierbei Weiße ebenso das Opfer schneller Entwicklung werden können wie Indios und Mestizen ist nicht verwunderlich. Der Alptraum im Sinne Karlstetters wäre hierbei nicht darin zu sehen, daß Weiße der Marginalbevölkerung zuzurechnen sind, sondern daß nicht nur Land-, sondern in immer stärkerem Maße Stadtbewohner, die bereits in die Gesellschaft integriert waren, aufgrund zu geringer Lebens-„tüchtigkeit" zu Außenseitern der Gesellschaft werden.

II. Die Veränderungstendenzen innerhalb der Gesellschaft

Tabelle 1:

Quelle: Boletin Estadistico de America Latina, hrsg. von CEPAL (Centro de Estudios para America Latina) /Naciones Unidas, Santiago de Chile, sowie Ibero America-Handbuch, 5. Auflage.

1. Ausgangslage Der lateinamerikanischen Gesellschaft wird immer wieder der Vorwurf der Statik, des Beharrens, des Festhaltens an Vergangenem gemacht. Der Vorwurf ist in dieser globalen Form sicher falsch. Selbst wenn politisch handelnde Teile der Gesamtgesellschaft nicht um Veränderung gleich welcher Art bemüht wären, was in keinem Land Lateinamerikas der Fall ist, wären Veränderungen in starkem Ausmaß und sich steigerndem Tempo dennoch unvermeidlich. Einer der wichtigsten Gründe dafür ist das Bevölkerungswachstum, das alle Länder des Kontinents ohne Ausnahme in eine Dynamik gerissen hat, die allein schon gewaltige Veränderungen in der Gesellschaft herbeiführen muß. Es ist dies eine im Wachstum inhärente Dynamik zur Veränderung der Gesellschaft, die von der Dynamik der Veränderung durch den Willen politisch handelnder Menschen zu unterscheiden ist

Die nebenstehende Tabelle 2 führt zu folgenden Erkenntnissen: a) Das Bevölkerungswachstum ist in Lateinamerika insgesamt größer als auf jedem anderen Kontinent der Erde. Die Bevölkerung Lateinamerikas wächst wesentlich rascher als die Gesamtbevölkerung Asiens oder Afrikas. Sie wächst mehr als viermal so rasch wie die Bevölkerung Europas und fast dreimal so schnell wie die Bevölkerung Nordamerikas. b) Das Bevölkerungswachstum innerhalb Lateinamerikas weist von Land zu Land Unterschiede auf. Diese Unterschiede sind zum Teil gering (vgl. Dominikanische Rep. — Nicaragua), zum Teil beträchtlich groß (vgl. Uruguay und Argentinien mit El Salvador und Venezuela). Diese Unterschiede lassen den Schluß zu, daß die Länder des Kontinents, die verhältnismäßig stärker, entwickelt sind als andere, ein geringeres Bevölkerungswachstum aufweisen als die rückständigeren Länder des Kontinents. c) Aus der letzteren Erkenntnis läßt sich eine weitere Folgerung ableiten (aus der Tabelle 2 nicht ersichtlich), die in Zukunft von allergrößter Bedeutung sein wird: Innerhalb der Bevölkerung eines Landes wachsen die zurückgebliebenen Schichten (Glase baja und Marginal-bevölkerung) verhältnismäßig rascher als die Oberschichten, werden also von Jahr zu Jahr einen höheren Prozentsatz der Gesamtbevölkerung ausmachen.

Die für die lateinamerikanische Gesellschaft relevante Erkenntnis daraus ist eindeutig: Allein schon das natürliche Wachstum der Ge-samtbevölkerung des Kontinents sowie jedes einzelnen Landes bringt zwangsläufige Veränderungen in der Gesellschaft mit sich, die zwar in der zahlenmäßig veränderten Zusammensetzung zugunsten der unteren Schichten und der Marginalbevölkerung und zuungunsten der oberen Schichten in Erscheinung treten, sich aber bestimmt nicht darauf beschränken, sondern Auswirkungen auf alle Bereiche der Gesellschaft haben müssen. Dies wird besonders bei der Projektion der gegenwärtigen Wachstumstendenzen auf die Zukunft deutlich. Während im Jahre 1968 in Europa etwa 180 Millionen Menschen mehr lebten als in Lateinamerika, werden im Jahre 2000 in Lateinamerika voraussichtlich 120 Millionen Menschen mehr leben als in Europa. Während es in Lateinamerika im Jahre 2000 weit mehr als doppelt soviel Venezolaner geben wird als gegenwärtig, werden „nur" eineinhalb mal soviel Argentinier und Uruguayer ihre Länder zusätzlich bevölkern.

Im Analogieschluß gilt wieder folgendes: Wenn heute in einem Land Lateinamerikas die Oligarchie 7 °/o und die Marginalbevölkerung 30 °/o der Gesamtbevölkerung ausmacht, so können es im Jahr 2000 3 °/o für die Oberklasse und 50 °/o für die Marginierten sein.

Was bedeuten diese Wachstumsraten für die Veränderung der lateinamerikanischen Gesellschaft? In erster und letzter Konsequenz bedeuten sie die unausweichbare Forderung, sich diesen Veränderungen so rasch und so gut wie möglich anzupassen, es sei denn, das Wachstum als solches könne entscheidend geändert, etwa verringert werden. Oder es besteht eine Möglichkeit des stärkeren Wachsens der oberen Schichten und des geringen Wachsens oder des nicht mehr Weiterwachsens der unteren Schichten. Dies allerdings ist in kurzer Zeit und mit entscheidenden Konsequenzen nicht zu erwarten. Bevölkerungs„explosion" bedeutet ja nicht nur das rasche Wachsen, sondern auch das der Planung und Kontrolle nicht mehr genügend zugängliche Wachsen. Daher die Notwendigkeit, sich den Veränderungen anzupassen, wenn die Veränderungen nicht genügend rasch und umfassend in den Griff zu bekommen sind

Das Wachstum der Bevölkerung bedeutet aber auch das Wachsen der Schwierigkeiten, die sich einer notwendigen Anpassung naturgemäß als Hindernis präsentieren. Das rasche Wachsen bedeutet ein rasches Jüngerwerden der Gesamtbevölkerung. In Chile sind heute über 50 °/o der Bevölkerung unter 20 Jahre alt. In 20 Jahren werden es über 60 0/0 sein.

Ähnliche Verhältniszahlen lassen sich für alle anderen Länder errechnen. Dies bedeutet einmal, daß immer größere Teile der Gesamtbevölkerung im nicht arbeitsfähigen Alter bzw. in der Ausbildung auf einen Beruf oder im Studium stehen. Mit anderen Worten bedeutet es, daß für die immer größer werdende Gesamtbevölkerung ein verhältnismäßig immer kleiner werdender Teil von Arbeitenden das Sozialprodukt erarbeiten muß. Es bedeutet andererseits, daß der noch „orientierungslose", nicht festgelegte, unzufriedene, revolutionäre Teil der Bevölkerung, die Jugend im weitesten Sinn, zahlenmäßig ständig größere Bedeutung erlangt und die Krisenanfälligkeit des gesamten „Systems" somit verstärkt

Das Bevölkerungswachstum zwingt die Gesamtgesellschaft schließlich zu folgenden konkreten Maßnahmen: Zusätzliche Gewinnung von Nahrungsmitteln zur Versorgung der größeren Bevölkerung, zusätzlicher Bau von Wohnungen, von Schulen und Ausbildungsstätten aller Art, zusätzliche Ausbildung von Lehrern und Befähigung von Ausbildungsfachkräften, mehr Institute und Lehrstellen, mehr Arbeitsplätze und zusätzliche Arbeitsmöglichkeiten.

Die Bemühungen der lateinamerikanischen Gesellschaft, die heute bestehenden Defizite auf den genannten Gebieten zu beseitigen oder wenigstens zu verringern, müssen unter diesem Zwang der zusätzlichen Notwendigkeiten als unzureichend angesprochen werden. Diese zusätzlichen ständig wachsenden Notwendigkeiten sind letztlich dafür verantwortlich, daß sich trotz aller Anstrengungen die Versorgungslücke zwischen Industrieländern und Ländern der Dritten Welt im letzten Jahrzehnt nicht nur nicht verringert, sondern noch erweitert hat. Den genannten Problemen steht aber eine Gesellschaft gegenüber, die sich durch schroffe, bisher unüberbrückbare Gegensätze charakterisiert. Tannenbaum betont mit Recht, es gäbe „wenig Stellen in der Welt, wo die Unterschiede zwischen den . Bürgern'der gleichen Nation so groß sind. Kulturell sind die meisten Nationen Lateinamerikas ein Kaleidoskop ihrer Gesellschaft, von der primitivsten bis zur differentiertesten, von den nackten Amazonaskriegern (die in jedem Weißen ihren Feind sehen) bis zu den hochintellektuellen Kreisen in Quito, Lima oder Mexico-Ciudad, die Sartre lesen und sich als Existenzialisten fühlen. Diese sozialen Gruppen, die auf demselben Staatsgebiet die Extreme menschlicher Erfahrungsweisen repräsentieren, sind in Lateinamerika mehr verbreitet, als gemeinhin angenommen wird."

Die große Divergenz zwischen theoretischem Erkennen und Umsetzen in die Praxis, die ja so oft und auf den verschiedensten Gebieten ihre unheilvolle Rolle spielt, ist auch hier mitverantwortlich, denn die Lehre von der Gleichheit aller Menschen ist zwar auch in den Verfassungen der Länder Lateinamerikas enthalten, doch der Gedanke, „daß innerhalb der Staatsnation die Kulturen gleicherweise legitimiert sind" hat sich bisher nicht in der Praxis durchgesetzt Das meist ererbte Privileg, zur Führungsschicht des Landes zu gehören, verwandelt sich daher zusehends in ein drückendes Gewicht zur Verantwortung gegen-über den Notwendigkeiten, sich den Entwicklungstendenzen innerhalb der Gesellschaft rechtzeitig und möglichst umfassend zu stellen. 2. Die Veränderung der Gesellschaft als politische Forderung Wenn von Veränderungen der lateinamerikanischen Gesellschaft die Rede ist, wird gemeinhin nicht so sehr an die Dynamik zu Veränderungen gedacht, die das Bevölkerungswachstum impliziert, als vielmehr an aktive Eingriffe in den Prozeß seitens politisch handelnder Menschen, die Veränderungen gleich welcher Art nicht der „Entwicklung" überlassen, sondern selbst durch zielgerichtetes Handeln erreichen oder erzwingen wollen. Diese aktiven Eingriffe sind so sehr Mittelpunkt des Interesses und der Polemik geworden, daß die erstgenannten Veränderungstendenzen oftmals nahezu übersehen werden

Hier ist von der Statik erstarrter Gesellschaftsformen nichts mehr zu spüren, hier tritt der Wandlungsprozeß in eine allesbeherrsehende Dynamik. Aus den Schichten und Klassen der traditionellen Gesellschaft werden Gruppen und Verbände, die gesellschaftspolitische Schlüsselpositionen bezogen haben oder zu beziehen gewillt sind: politische Parteien Gewerkschaften, Unternehmerverbände, Studentenschaften, Jugendverbände, Lehrerverbände. Hierzu gehören in Lateinamerika die Armee und die Kirche, beide als politische Faktoren von meist entscheidender Bedeutung. Gesellschaftspolitische Bedeutung kommt außerdem Genossenschaften, Ausbildungsstätten zur Berufsausbildung sowie dem Radio-und Fernseh-Schulwesen zu.

Es ist leicht nachzuweisen, daß diese Gruppen und Verbände sich nicht mehr mit den Schichten und Klassen der traditionellen Gesellschaft identifizieren lassen, wenngleich dieser Versuch immer wieder gewagt wird. Danach wer-den Mitglieder von Unternehmerverbänden pauschal der Oberklasse zugerechnet, Gewerkschaftsmitglieder der Unterklasse und der Marginalbevölkerung, Jugendverbände und Lehrerverbände „mehr den unteren Schichten", während die Zurechnung bei Genossenschaften, Studentenverbänden, Organisationen der „te-leeducaciön“ und der Armee kein einheitliches Schema mehr findet. Besonders interessant ist auch die Zurechnung der politischen Parteien zu den verschiedenen Klassen: Die konservativen und liberalen Parteien werden danach von Vertretern der Oligarchie gebildet, die sozialistischen, kommunistischen und sonstigen Revolutionsparteien wie auch demokratische Linksparteien von Arbeitern, Arbeitslosen und einigen Intellektuellen, die christdemokratischen Parteien rekrutieren sich zum Teil aus dem Mittelstand, in überwiegendem Maße jedoch aus der Unterklasse.

Ideologisch wie politisch gesehen, sind Unternehmer damit entweder konservativ oder liberal, während die Arbeitnehmer z. B. entweder kommunistisch, sozialistisch oder christdemokratisch sein müssen. Gemäßigte Parteien der Mitte fehlen bei diesem Versuch der Zurechnung, und dies ist etwa das einzige, was der Wirklichkeit tatsächlich standhält.

Wenn die Veränderung der Gesellschaft als politisches Postulat angesehen wird, muß dabei erkannt werden, daß Beweggründe zu den gewünschten Veränderungen politischer, wirtschaftlicher und sozialer Natur sein können. Welche Beweggründe die jeweils stärksten und wichtigsten sein sollen, kann nur am konkreten Fall entschieden werden, wobei die Entscheidung verschiedenartig ausfallen wird, je nachdem, wer entscheidet. In der Theorie sind die politischen, die wirtschaftlichen und die sozialen Veränderungen als gleichberechtigt und gleichermaßen wichtig anzusprechen. Die Interdependenz der drei Faktoren ist zudem allseitig gegeben, das heißt, wirtschaftliche Veränderungen erhalten entscheidende Impulse aus der Politik, aber auch aus der sozialen Entwicklung. Soziale Veränderungen wiederum hängen von der Politik und den wirtschaftlichen Möglichkeiten ab, während die Politik ihrerseits in Abhängigkeit von den beiden Faktoren Wirtschaft und Sozialdynamik zu sehen ist. Es besteht somit ein Dreiecksverhältnis zwischen wirtschaftlicher, sozialer und politischer Dynamik zur Veränderung. Die Intensität und Richtung der wechselseitigen Einflüsse sind von Fall zu Fall verschieden und verändern sich außerdem in der Dynamik des Prozesses fortwährend.

Auf die Praxis und die lateinamerikanische Gesellschaft angewandt bedeutet dies, daß alles Bemühen um Veränderung politisch ist. Vorzugsweise die Politik ist mit dem Wechsel (cambio) befaßt, gleichgültig, wie er im einzelnen konzipiert sein mag. Doch was heißt: die Politik befaßt sich mit dem Wechsel, mit den Veränderungen der Gesellschaft?

Bei der Beantwortung dieser Frage kommen wir zwangsläufig auf das Problem der Entwicklung. Jede Veränderung der bestehenden Verhältnisse soll ja einen Fortschritt darstellen, letztlich einen Fortschritt für den Menschen, der für die Veränderung kämpft. Unterstellt ist hierbei ein konkretes, zielgerichtetes Interesse von Staat und Gesellschaft an Entwicklung in jeder möglichen Form. Das Interesse des Staates muß aber allen Teilen des von ihm vertretenen Volkes gleichermaßen zugute kommen. Dies ist jedoch in reiner Form gar nicht möglich, denn das Interesse des einen wird durch das Interesse des anderen begrenzt oder gestört, die Forderung einer Gruppe läuft den Zielen der anderen Gruppe entgegen. Die Tatsache, daß wirtschaftliche und soziale Veränderungen eine Einheit darstellen und meist auch zusammen gefordert werden, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich dabei um zwei ganz verschiedene Dinge handelt, die allerdings in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen, wobei diese Beziehungen sowohl fördern wie auch hemmen können. Es sind hierbei vier verschiedene Fälle direkter Wirkung denkbar: 1. Die wirtschaftliche Entwicklung bringt eine günstige soziale Entwicklung mit sich, 2. die wirtschaftliche Entwicklung bringt sozialen Rückschritt, 3. die soziale Entwicklung wirkt sich positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung aus, 4. die soziale Entwicklung wirkt sich negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung aus

In diesem Zusammenhang muß die Frage gestellt werden, ob die wirtschaftliche oder die soziale Entwicklung Priorität verdient. Die Antwort auf diese Frage erfordert eine Entscheidung, die aber gerade in Lateinamerika Gegenstand heftigster Polemik ist. Die Entscheidungen dazu werden vom jeweiligen Interessenstandpunkt gefällt, wobei die Vertreter einer Gruppe jeweils nur die Optik der eigenen Gruppe kennen und dabei berechtigte Interessen anderer Gruppen übersehen. Wichtig dabei ist auch, daß Anregungen für Veränderungsimpulse gerade in Lateinamerika nicht nur konkreter Art sind, sondern vielfach abstrakt ideologisch gegeben werden. Behrendt gliedert die Elemente der Veränderung in „ 1) die anregenden, also die Leitbilder, seien sie konkreter Art, in der Form sichtbaren Vergleichs mit Bessergestellten und ihren Lebensweisen, die nun als Vorbilder angenommen werden, oder abstrakt, als Informationen oder ideologische Botschaften; 2) die im engeren Sinne motivierenden, also die eigentlichen Mobilisierungsimpulse, und 3) die instrumentalen, also alle Verhaltensweisen, die dem Aufspüren, dem Erlangen und dem Einsatz von Mitteln für die Durchführung des Gewollten dienen!"

Aus diesen Gründen gewinnt die Gesellschaftspolitik im Rahmen der Gesamtentwicklung und besonders für die Veränderungen innerhalb der Gesellschaft in Lateinamerika allergrößte Bedeutung 3. Wichtige Ziele der Veränderung der (lateinamerikanischen) Gesellschaft Die Veränderungsimpulse, mögen sie aus der Praxis oder von der Ideologie her kommen, zielen zwar auf Öffnungen für den sozialen Wandel hin; „andererseits sagt der Begriff der Öffnung für den Wandel nichts über das Ziel, den Endpunkt der ausgelösten Bewegung aus. Er sagt auch nicht, ob die Bewegung auf Hindernisse stoßen wird, die sie aufhalten oder ablenken." Auf die Praxis übertragen heißt dies, daß sowohl die Ziele des sozialen Wandels heftig umstritten sind als auch damit zu rechnen ist, daß das Streben nach einem konkreten Ziel jederzeit auf Hindernisse der verschiedensten Art und Richtung stoßen kann. Welches sind nun solche wichtige Ziele? a) Die innere Integration Das oben dargestellte Vorhandensein und das rasche Anwachsen der Marginalbevölkerung, die Existenz jenseits der Möglichkeiten der materiellen, geistigen, kulturellen, sanitären und medizinischen Bedürfnisbedfriedigung, das Ausgeschlossensein von der Möglichkeit, politisches oder gesellschaftliches Leben mitzugestalten, die Unfähigkeit, sich als Mensch „realisieren" zu können — um einen Ausdruck aus der christlichen Soziallehre zu benützen —, mit anderen Worten, der Zwang zu einem Leben, das sowohl für die Gesellschaft wie für den Marginierten selbst „sinnlos" ist, all das drängt nach rascher Lösung des Problems, wofür es letztlich nur eine Möglichkeit gibt: die Einbeziehung der Marginal-bevölkerung in die Gesellschaft des Landes mit dem Ziel einer neuen Gesellschaft aus beiden Teilen (la nueva sociedad). Die Öffnung für diesen Wandel muß der Mentalitätswandel darstellen, nicht nur bei den Marginierten selbst, sondern auch bei allen Teilen der Gesellschaft.

Für die Integration sind selbstverständlich eine Reihe schwerwiegender Hindernisse zu erwarten, die auf objektive wie subjektive Gründe zurückgehen: Das Integrieren bisher marginierter Teile der Bevölkerung erfordert technische Pogramme von gewaltigen Ausmaßen, die letztlich nur im Rahmen der integralen Entwicklung eines Landes zu lösen sind. Alphabetisierungsprogramme, Berufsausbildung, Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten überwiegend durch Industrialisierung, Schaffung von Wohnungen, Anschluß an Wasser-und Energieversorgung, an das Verkehrsnetz, gewerkschaftliche und genossenschaftliche Organisationsmöglichkeiten, bewußte Erziehung zum Staatsbürger und anderes mehr müssen hierbei ein geschlossenes Programm bilden.

Sowohl von der Finanzkraft als auch von den zur Verfügung stehenden Fachkräften her ist nahezu jede Regierung des Kontinents aber mit solchen Programmen überfordert. Dies erscheint nach außen als Haupthindernis. Dazu gesellen sich andere Hindernisse, die zum Teil in der Marginalbevölkerung selbst liegen, zum Teil aber in der etablierten Gesellschaft. Es gilt als erwiesen, daß weite Teile der Marginalbevölkerung nicht mehr bildungsfähig sind, sei es, weil sie ein Alter erreicht haben, das die Bildungsunfähigkeit herbeigeführt hat sei es, daß sie aufgrund von Unterernährung in der Jugend und daraus resultierendem niedrigem Intelligenzniveau oder aufgrund der fehlenden Erziehung und daraus folgender moralischer Haltlosigkeit den Ansprüchen für Erwachsenenbildungskurse nicht genügen können. Die etablierte Gesellschaft ihrerseits möchte die Marginalbevölkerung wahrscheinlich gar nicht integrieren, sondern sie als Außenseiter abhängig halten. Sie wünscht die nueva sociedad gar nicht, denn sie ist ihr zu heterogen, zu verschieden im Niveau, zu nachteilig oder wenigstens zu unsicher für den eigenen, bisher verfolgten Lebenszuschnitt. Hier liegt möglicherweise das Haupthindernis für die innere Integration der Länder des Kontinents. Der Mentalitätswandel aber, der echten Integrationsbemühungen vorausgehen muß, ist ein Generationsproblem.

Kann diese Schwierigkeit dadurch umgangen werden, daß die Marginalbevölkerung nicht in die jetzt bestehende, etablierte Gesellschaft integriert wird, daß sich vielmehr die beiden vorhandenen Teile, die Gesellschaft und die Marginalbevölkerung, aufeinanderzubewegen und schließlich eine neue, eigenständige Einheit bilden? Diese Frage ist noch ungeklärt; es ist jedoch wahrscheinlich, daß es sich hierbei lediglich um eine neue Variante handelt, die das alte Problem jedoch auch nicht lösen kann b) Die äußere Integration Die Notwendigkeit des wirtschaftlichen Zusammenschlusses der Staaten des Kontinents einerseits und die vielfältigen ethnologischen und soziologischen Verwandtschaften der Bewohner dieser Staaten untereinander andererseits erfordern auch ein rasches weiteres Zusammenwachsen der Gesellschaft des Kontinents. Die ALALC und der gemeinsame Markt Zentralamerikas sind bedeutende Anfänge auf wirtschaftlichem Gebiet: Diese äußere Integration ist ein wichtiges Ziel lateinamerikanischer Politik und von allen Präsidenten des Kontinents 1967 auf der Konferenz von Punta del Este in Uruguay feierlich bejaht worden. Wenn diese äußere Integration zunächst auch überwiegend wirtschaftliche Ziele zeigt, steht doch fest, welch gewaltige soziale Bedeutung sie hat und in Zukunft noch stärker bekommen muß, denn eine unbefriedigende Wirtschaftsentwicklung bedeutet Arbeitslosigkeit, Unterernährung, Hilfslosigkeit und Lebensangst — alles Phänomene, die sich als Druck auf die Gesellschaft des Kontinents auswirken.

Daß diese äußere Integration über das Wirtschaftliche hinaus gerade auch notwendige Impulse für die Umstrukturierung der Gesellschaft zu erbringen hat und in dieser Richtung konzipiert ist, geht aus den Worten des chile-nischen Präsidenten Frei hervor, der in diesem Zusammenhang am 16. August 1966 in Bogota Estados sagte: „Die Völker, die zerrissen und zerstritten sind, werden immer kleiner, immer unbedeutender. Sie sind reine Objekte der Geschichte, keine gestaltenden Kräfte; müssen Auch Entscheidungen, die andere über sie ohne ihre Mitwirkung fällen, einfach annehmen und ausführen. Geteilt und uneinig wie wir sind, können wir unsere Naturschätze und vielfältigen Möglichkeiten nicht nutzen, wir verschwenden unsere Reserven und unsere menschlichen Kräfte, wir leben in Abhängigkeit von Forschung und Technik der anderen und halten so* unsere Völker in einer Unterentwicklung, die sich in Elend und Angst, Arbeitslosigkeit und Unwissenheit sowie Krisen aller Art kundtut." Aufgrund gemeinsamer geschichtlicher Vergangenheit, aufgrund der gemeinsamen Sprache und aufgrund derselben moralischen und kulturellen Grundlagen ruft Frei dagegen zum Zusammenschluß aller Lateinamerikaner auf.

Die äußere Integration wird neben allen wirtschaftlichen Vorteilen die Möglichkeit bieten, die Umwandlung der Gesellschaften als gemeinsame Aufgabe gleichzeitig und solidarisch anzugehen. Darüber hinaus gilt es, der größten soziologischen Einheit — der lateinamerikanischen Gesellschaft — eine stärkere internationale Position zu verschaffen, besonders gegenüber den Großmächten und den Wirtschaftszusammenschlüssen Europas. Ähnlich wie der internen stellen sich auch der externen Integration die verschiedensten Hindernisse in den Weg. Hier sind besonders die Wirtschaftsformen mit starker Bedeutung der Monokulturen zu nennen, ferner Grundstoffindustrien, die unter ausländischer, meist nordamerikanischer Kontrolle stehen und die Integration provinzlerischer Nationalismus die Tatsache, daß die interne Integration erreicht ist. Als ein weiteres Hinderniswird immer mehr die Tatsache angesprochen, die 19 lateinamerikanischen Staaten zusammen mit den USA die „Organizaciön de Americanos (OAS)" bilden, was den weitgehend Einfluß in Lateinamerika verschafft, sich zum Nachteil der Integrationsbemühungen auswirkt.

die äußere Integration bedarf des Mentalitätswandels der Mehrzahl der Integrationswilligen. Das Konzept der absoluten staatlichen muß besonders in den Ländern, sich zu den größeren rechnen, einer übernationalen Ideologie weichen. Die „Blockmentalität" muß ferner vor der Politik friedlicher verschwinden und die politische aller Integratiönswilligen muß auf dem Recht auf Selbstbestimmung des Volkes aufbauen und pluralistische Gesellschaftsformen bejahen und fördern. c) Soziale Gerechtigkeit Ein weiteres wichtiges Ziel, das den beiden vorgenannten in seiner Bedeutung nicht nachsteht, ist die Erlangung sozialer Gerechtigkeit im weitesten Sinne. An erster Stelle bedeutet dies die vollständige Neuordnung der Eigentums-und Besitzverhältnisse an Grund und Boden, sei er landwirtschaftlich, industriell (Grundstoffindustrien) oder bisher gar nicht genutzt; die Neuordnung der Einkommensverhältnisse, der zwischenmenschlichen Beziehungen in der Arbeitswelt, die Neugestaltung der Mitwirkungsund Mitbestimmungsmöglichkeiten von Arbeitnehmern, Abbau alter Privilegien, weitere Streuung politischer Verantwortung. Gefordert werden diese Ziele über entsprechende Reformen, also Agrarreform (refor-ma agraria), Unternehmensreform (reforma de la empresa), Steuerreform (reforma tributaria), Bankenreform (reforma bancaria), Verfassungsreform (reforma constitucional), Mitbestimmung (cogestiön) und schließlich Städtebaureform (reforma urbana) zur Neuregelung des städtischen Grundbesitzes.

Die Erfüllung all dieser Forderungen muß radikal, das heißt von Grund auf, durchgreifend und schnell erfolgen. Sie bedeutet revolutionären Wandel der bisherigen Gesellschaftsstrukturen, sie ist unumgängliche Notwendigkeit und muß ebensosehr wie die interne Integration zur neuen Gesellschaft führen. Das Ziel läßt sich nach der Meinung zahlreicher Ideologen nur dann erreichen, wenn die soziale Gerechtigkeit zum sozialen Frieden (paz social), wird, der nach Thomas von Aquin die „Ruhe in der Ordnung" darstellt Juan Pablo Terra (Uruguay) interpretiert die Forderung Thomas'dahingehend, daß der Zustand, in dem jedes Ding an seinem Platz ist, jeder über das ihm Zustehende verfügt und alle Teile nicht nur am Gemeinwohl Anteil haben, sondern auch dazu beitragen, die geforderte „Ruhe in der Ordnung" bedeute. Damit ist Ordnung mit Gerechtigkeit gleichzusetzen und damit wird der Friede zur „Ruhe in der Gerechtigkeit" d) Menschenwürde und Chancengleichheit Die beiden letzten Ziele, die stärkere Achtung der Menschenwürde und die Schaffung von Chancengleichheit, hängen eng mit den Forderungen nach der sozialen Gerechtigkeit zusammen. Menschenwürde bedingt in Lateinamerika die größere Achtung der Regierenden und Mächtigen der Gesellschaft vor den Regierten, Schwachen und Einflußlosen. Es bedeutet das Ende von Terror-und Willkürherrschaften, unter denen der Kontinent traditionell krankt (z. B. Haiti), das Ende von Folterung politischer Gegner oder auch nur mutmaßlicher Feinde des Regimes, das Ende der Verweigerung von Grundrechten und Grundfreiheiten wie Presse-, Rede-und Versammlungsfreiheit sowie die Freiheit zu politischen Zusammenschlüssen, zu Gewerkschaften und zu Selbsthilfeorganisationen. Diese Forderungen wenden sich besonders an die Diktaturen des Kontinents sowie an die Kreise, welche die politische Macht kontrollieren und ausüben, sei es die Armee, deren Haltung zur Ausbreitung oder Verhinderung freiheitlicher Systeme von entscheidender Wichtigkeit ist, seien es zivile Gruppen der Oligarchie und deren Mitläufer aus Eigennutz.

Die Chancengleichheit zielt auf die Beseitigung jeder Diskriminierung ab, wie sie in vielen Fällen aus der Kolonialzeit übernommen ist. Dazu zählt das In-Abhängigkeit-Halten der „dienenden Schicht", der abhängigen Landarbeiter (inquilinos), des Hauspersonals (em-pleadas, mozos), der traditionelle Paternalismus, dem vielleicht zwar einige gute Seiten zuzuerkennen sind, der aber Unselbständigkeit ebenso wie Lebensuntüchtigkeit über Generationen gefördert hat. Die Beseitigung der Diskriminierung ist ein erster Schritt, dem sofort weitere folgen müssen: die Organisation der Massen, die Unterweisung in der Fähigkeit, sich einzeln oder — noch wichtiger — in Verbänden, Gruppen und Organisationen zum Gestalter des eigenen Schicksals zu machen. Dies erfordert große Fortschritte und Änderungen auf dem Gebiet der Bildung, wie sie in der Bildungsreform (re-forma educacional und als wichtige Untergliederung dazu reforma universitaria) angestrebt werden. Es bedingt ferner die „Promociön populär" im weitesten Sinne, die konsequent durchgeführt werden muß. Darunter ist ein Prozeß der Erziehung und Organisation des Volkes zu verstehen, das dadurch befähigt werden muß, aktiv an der Entwicklung seines Landes mitzuarbeiten und selbst Lösungen für seine Probleme zu finden und in die Tat umzusetzen. Letztlich bedeutet es das notwendige Wecken eigener Initiative und Schaffenskraft und ist damit genau das Gegenteil des bisher herrschenden Paternalismus

III. Möglichkeiten zur Erreichung der Ziele

Tabelle 1:

Quelle: Boletia Estadistico de America Latina

Nach der Begründung der Notwendigkeiten, die Gesellschaft zu verändern, und nach der Weisung der anzustrebenden Ziele stellt sich schließlich die entscheidende Frage, ob und auf welche Weise, über welche Wege also, diese Ziele erreicht werden können. Mittel und Wege zur Erreichung der Ziele sind im vorgegebenen Thema umschrieben mit Revolution, Reform oder Verteidigung des Status quo. 1. Status quo Es mag verwundern, daß auch die Erhaltung des Status quo angeführt ist. Meist wird nämlich unterstellt, daß die Verteidiger der bestehenden Verhältnisse gegen jede Veränderung der Gesellschaft seien, die Entwicklung auf sozialem Gebiet also zu blockieren suchten. Diese Unterstellung ist in der vorgetragenen pauschalen Form sicher nicht richtig. Auch die Vertreter des Status quo wollen eine rasche Entwicklung, in erster Linie natürlich wirtschaftliche Entwicklung. Aber sie verneinen die Berechtigung sozialer Entwicklungen und Veränderungen darob nicht kategorisch. Allerdings sehen sie die Voraussetzungen dazu „gegenwärtig" als noch nicht gegeben an.

Ziel dieser Gruppe ist daher erstrangig die Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommens über rasches Wirtschaftswachstum, und daraus abgeleitet graduelle Verbesserungen auf sozialem Gebiet in der ähnlichen Art, wie sie in Europa erreicht worden sind. Der jüngst erschienene Pearson Report schlägt den Industrieländern eine zusätzliche Bereitstellung von Mitteln für Entwicklungsaufgaben vor. Mit diesen Mitteln soll die größtmögliche Zahl von Ländern der Dritten Welt soweit gebracht werden, daß sie aus eigener Kraft und langfristig gesehen ihr Pro-Kopf-Einkommen um 6 v. H. jährlich steigern können.

Dabei werden 6 0/0 als Minimum bezeichnet, da wegen des raschen Bevölkerungswachstums von 3 % im Durchschnitt des Kontinents eine Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens unter 3 v. H. Rückschritt und eine Steigerung von 3 v. H. Stagnation bedeuten würde. Nach Pearson läßt sich dieses Ziel in den 70er Jahren in den meisten Ländern Lateinamerikas erreichen, zumal das durchschnittliche Wirtschaftswachstum auf dem Kontinent im vergangenen Jahrzehnt nahezu 5 v. H. jährlich erreichte.

Diese Marschroute der Entwicklung wollen die Gruppen einschlagen, die zwar soziale Entwicklung, soweit sie sich aus wirtschaftlicher Entwicklung herleiten und auch materiell vertreten läßt, als berechtigt ansprechen, von der Ablösung der alten Gesellschaft durch eine neue und besonders von der Änderung der Eigentums-und Besitzverhältnisse jedoch nichts wissen wollen. Sie werden in Lateinamerika „desarrolistas" genannt, also Anhänger einer Entwicklungsrichtung, welche die Gesellschaft in ihrer jetzigen Form weiterbestehen lassen möchte und ihre Grundstrukturen nicht antastet.

Aus vielen einsichtigen Gründen ist die Position dieser Gruppe sehr schwach. Das Bestreben, hauptsächlich wirtschaftliche Entwicklung durch Kopieren europäischer oder nordamerikanischer Modelle zu erreichen — und dies oft genug unter Mißachtung von Erfordernissen der sozialen Entwicklung —, kann auf die Dauer keinen Erfolg bieten. Es wird immer deutlicher, daß die Entwicklung, gleich welcher Art, sich der charakteristischen, eigenständigen Werte eines Volkes annehmen muß, desgleichen der berechtigten Hoffnungen, Forderungen und Notwendigkeiten — und dies in Lateinamerika in verstärktem Maße —, und daß daher allzu technologische, vom Wesen und der Eigenständigkeit des jeweiligen Volkes losgelöste, gleichsam abstrakt durchgeführte Versuche der Entwicklung zum Scheitern verurteilt sind. Das Gespür für diese Tatsache geht aber vielfach solchen Gruppen ab, die ihr Land vielleicht gar nicht als ihre Heimat ansehen, sondern als Durchgangsstation zum raschen und einfachen Erwerb von Reichtum, die somit mit einem Leben „später" — auch wenn es nie dazu kommt —-in Europa oder Nordamerika spekulieren. Diese Geisteshaltung ist aber charakteristisch für viele Verfechter des Status quo, auch wenn sie gar nicht selbst Einwanderer oder direkte Nachkommen von Einwanderern sind.

Wer vertritt nun diese Richtung? Die Frage ist heikel und die Antwort darauf schwer zu geben. Bei aller Gefahr der Verallgemeinerung kann die wirtschaftliche Rechte (la derecha econömica) darunter verstanden werden. Großgrundbesitzer etwa, Unternehmer, Politiker konservativer und liberaler Richtung, die damit als Reaktionäre bezeichnet werden müssen und die in den meisten Ländern des Kontinents Regierungsgewalt ausüben und nur in den seltensten Fällen in Opposition zu einer andersartigen Regierung stehen. Interessanterweise zählt ein Teil der Hierarchie der Kirche zu dieser Gruppe, ein Teil der Armee; wobei gerade bei diesen beiden letztgenannten Machtfaktoren die vertretene Richtung nicht mehr einheitlich ist und Vertreter der Kirche extrem revolutionär und Vertreter der Armee betont „nasseristisch" ausgerichtet sind. Als Außenstehende zwar, doch als wohlmeinende Berater und Entwicklungstechniker können Vertreter internationaler Organisationen sowie ausländische Diplomaten und besonders auch Vertreter ausländischer Firmen und Fach-organisationen zu dieser Gruppe zählen. Deren Äußerungen oder Ratschläge werden von den Kreisen der Opposition wachsam verfolgt. Das Ergebnis davon ist häufig genug der Aufruf zum Kampf gegen den ausländischen, besonders nordamerikanischen, aber auch europäischen Imperialismus.

Wenn auch deutlich ist, daß die meisten Vertreter der genannten Gruppen die Verteidigung des Status quo aus reinem Eigeninteresse übernehmen, darf doch nicht übersehen werden, daß andere Vertreter derselben Gruppen aus der Überzeugung argumentieren oder handeln, es geschehe zum Besten und zum Wohl des ganzen Volkes. Sie berufen sich dabei auf Empfehlungen und Statistiken von UNO-Sonderorganisationen, etwa der FAO (Food and Agricultural Organization der UNO) oder der CEPAL, und haben Argumente und Begründungen zur Hand, die meist wenigstens auf Teilwahrheiten beruhen. 2. Reform und Revolution Der Versuch, Reform und Revolution gleichgeordnet zu behandeln, mag Erstaunen erregen. Gerade aber diese Gleichsetzung der beiden zunächst so verschiedenartigen Lösungsmöglichkeiten entspricht der lateinamerikanischen Wirklichkeit ebenso wie der ideologischen Diskussion so stark, daß das Auseinanderreißen beider Möglichkeiten das eigentliche Wagnis wäre, nicht etwa deren gemeinsame Analyse. Allerdings hängt dieses Vorgehen entscheidend von den zugrunde gelegten Definitionen ab, und hier besonders von der Verwendung des Begriffs der Revolution.

Wenn die Möglichkeiten der Verändungen der lateinamerikanischen Gesellschaft untersucht werden und dabei das Phänomen Revolution von Interesse ist, so ist es notwendig, den lateinamerikanischen Revolutionsbegrifi zugrunde zu legen, der sich vom europäischen stark unterscheidet. Während der Begriff der Revolution in Europa den gewaltsamen Umsturz von Herrschaftsstrukturen ausdrückt und dabei meist Anwendung von Waffengewalt und Blutvergießen unterstellt bezeichnet der lateinamerikanische Begriff schon die tiefgreifende, rasche Veränderung der Gesellschaftsstrukturen als Revolution, wobei es dann zur Verwirklichung dieser Veränderung die beiden Möglichkeiten des friedlichen Weges (via pacifica) oder der Gewaltanwendung (via violenta) gibt.

Europäer sind leicht versucht, den lateinamerikanischen Revolutionsbegriff, soweit er die via pacifica betrifft, in Evolution umzudeuten. Dies ist nur in erster Annäherung richtig. Tatsächlich ist die angestrebte, grundlegende, rasche und vollkommene Änderung der bestehenden Strukturen, wie sie über die geforderten Reformen erreicht werden soll, und worüber noch gehandelt werden wird, weit mehr als Evolution, besonders wenn bedacht wird, daß am Ende eine neue Gesellschaft mit ebenso neuen Ordnungsvorstellungen und Ordnungsprinzipien stehen soll. Allein die Zusammenführung von etablierter Gesellschaft und Marginalbevölkerung oder die konsequente Umverteilung von Grund und Boden sowie die Änderung der-Einkommensverhält-nisse sind revolutionäre Maßnahmen. Mit Evolution im lateinamerikanischen Sinn lassen sie sich sicher nicht bezeichnen

Revolution ist somit in Lateinamerika die Durchführung der geforderten Reformen. Reform ist daher nicht die Alternative für die mögliche Revolution, sondern deren Ziel! Diese Erkenntnis ist für das Verständnis der südamerikanischen Revolutionsideologie von grundlegender Bedeutung. Die ideologische Auseinandersetzung über Revolution in Lateinamerika geht konsequenterweise nicht um die Frage, ob Revolution oder nicht Revolution, sondern nur um die Frage des friedlichen Weges oder der Gewaltanwendung. Beide Wege sind aber Mittel der Revolution und für beide Mittel die Reformen das Ziel.

Wenn eben behauptet wurde, im ideologischen Disput, aber auch in der politischen Forderung stelle sich die Frage nach der Revolution oder nach der Beibehaltung des Status quo nicht mehr allen Ernstes, so bedarf dies noch des Beweises. Das heißt, es muß die Frage beantwortet werden, warum die Mehrheit der lateinamerikanischen Bevölkerung auf Revolution als der einzigen Möglichkeit der Problemlösung eingeschworen ist. Kronzeugen dafür gibt es aber genug, sowohl unter Politikern wie unter Ideologen und Wissenschaftlern.

Nach Vekemans ist der Ausgangspunkt dazu das „Zum-Bewußtseinkommen" der Massen. Dies bedeutet das Erkennen der Diskrepanz zwischen den eigenen Bedürfnissen und den Möglichkeiten zu deren Befriedigung, d. h. das klare Erkennen des eigenen Elends. Es bedeutet gleichzeitig das Erkennen der „Erreichbarkeit" der knappen Güter zur Bedürfnisbefriedi-gung für die „anderen" und damit den Wunsch, ebenso wie die anderen diese Güter erreichen zu können

Dieses Bewußtwerden wird mehr denn je in der Gegenwart durch die Massenmedien gefördert. über Reklame in Radio, Fernsehen und Filmtheatern kommen auch Marginierte mit der modernen Welt des Konsums in Berührung; der Erfolg davon sind Spannungen der vorbeschriebenen Art, die nach Lösung drängen. „Elend wird nun nicht mehr als Unglück, sondern als Unrecht empfunden, und dagegen kann man rebellieren." Wenn das nunmehr bewußt empfundene Elend nicht zu Entwicklungsimpulsen führen kann — was häufig der Fall ist —, dann führt es unweigerlich zum Protest. Dieser Protest richtet sich aber — und das ist von grundlegender Wichtigkeit — gegen die bestehende Macht insgesamt, das heißt in ganz undifferenzierter Art: „In Lateinamerika besteht keine Differenzierung oder Unterscheidung der verschiedenen Machtbereiche. Damit richtet sich jede Erhebung gegen alle Machtbereiche zugleich, denn sie sind alle in einer Hand oder in einer Gesellschaftsklasse zusammengefaßt. Eine solche Erhebung wird damit zur totalen Revolution und macht eine rein wirtschaftliche Revolution als Revolution des Handwerks, der Technik und der Industrie unmöglich."

Diese Erkenntnis ist der eigentliche Schlüssel zum Verständnis der Radikalisierung der revolutionären Ziele. Sie erklärt außerdem die Tatsache, daß der soziale Wandel vor wirtschaftlicher Entwicklung im allgemeinen den Vorrang bekommt. „Die Entwicklung ist, wenn sie sich an der Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens orientiert, vollkommen unfähig, die Ziele sozialer Anstrengungen zu definieren.

Niemand hat das Recht, uns wegen einiger Dollar mehr oder weniger zur Aufgabe unserer anderen Ziele zu bewegen, Ziele wie sie die Brüderlichkeit, die Solidarität, die demokratische Mitbestimmung, das kommunitaristi-sehe Ideal, die geistige Freiheit und die metaphysische Wahrheit immer für uns darstellen werden."

Ist für den Theoretiker der Ausgangspunkt der Revolutionsbestrebungen das „Zum-Bewußtsein-Kommen", so ist es für den Revolutionspolitiker das „Zum-Bewußtsein-Bringen". Zahllose politische Programme und Forderungen beginnen mit der Feststellung, die eigentliche Unterentwicklung bestehe im Ausgeschlossen-sein und in der Frustration der Massen, die ihrerseits aber die Kenntnis von der Konzentration des Reichtums und der Macht in den Händen weniger besäßen. Die davon abgeleitete Dringlichkeit der Lösung dieser Probleme führt dann entweder zum Aufruf, daß die Entwicklung Aufgabe der ganzen Menschheit (via pacifica) sei, oder aber zur Aufforderung zum Kampf, „wenn notwendig, mit der Waffe in der Hand" (via violenta). Hinter beiden Aufforderungen steckt aber eine ganze Weltanschauung, die in beiden Fällen noch näher zu erläutern ist. a) Friedliche Revolution (via pacifica)

Seit sechs Jahren verfolgt die chilenische Regierung in ihrem Programm der „Revolution in Freiheit" die Verwirklichung der friedlichen Revolution. Die im Vorausgegangenen dargestellten Reformen sind Bestandteil des Regierungsprogramms. Die Promociön Populär wird mit Ernst und Überzeugung durchgeführt; ihr Ziel ist die Organisation aller Volksgruppen und ihre Befähigung zum eigenständigen Handeln. Das Endziel ist die neue, kommunitaristisehe Gesellschaft. Der Begriff des Kommunitarismus, der auf Maritain zurückgeht besagt hierbei, daß das Gemeingut (el bien comün) letztlich Ziel und Zweck der menschli-chen Gemeinschaften und somit auch der Gesellschaft insgesamt darstellt. Dieses Gemeingut ist nicht zu verstehen als bloße Summe aller privaten Güter, welche die Individuen besitzen, sondern als neue Einheit, die allen und jedem einzelnen als Teil des Ganzen gehört. Dieses Gemeingut muß den einzelnen Gliedern der Gemeinschaft zu gerechten Anteilen zur Verfügung stehen.

Auf dieser und anderen Lehren Maritains basiert das Programm der Revolution in Freiheit. Die Gesellschaft, die daraus hervorgehen soll, hat vier Charakteristiken: Sie ist — personalistisch, weil sie dem einzelnen Unabhängigkeit und Freiheit auf dem Hintergrund der Solidarität und Menschenwürde gewährt; — kommunitaristisch, weil sie das Gemeingut über das Gut der Individuen stellt; — pluralistisch, weil sie erkennt, daß die Entwicklung der menschlichen Person eine Mehrheit autonomer Gemeinschaften erfordert; — christlich, nicht in dem Sinn, daß sie von allen ihren Gliedern den Glauben an Gott fordert, sondern in dem Sinn, daß die innere Energie, die jede Gemeinschaft benötigt, der oberste Ordnungsfaktor, einem höheren Wesen zugeschrieben bzw. von ihm abgeleitet wird.

Der Weg der friedlichen Revolution ist dann mit Erfolg gangbar, wenn wenigstens eine von zwei Bedingungen erfüllt werden kann: Entweder muß die Oligarchie diesen Weg bejahen und bewußt mitgehen, was theoretisch möglich, in der Praxis aber nicht zu erwarten ist, oder die von dieser Seite geleistete Opposition muß überwindbar sein. Der Erfolg des chilenischen Wegs — der erste und daher intensiv mitverfolgte Versuch dieser Art auf dem Kontinent — wird von der Erfüllung der zweitgenannten Bedingung abhängen. Eine abschließende Wertung ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht möglich. Sicher jedoch haben die sechs vergangenen Jahre gezeigt, daß der begonnene Prozeß nicht umkehrbar (cambio irreversible) ist. Der ursprüngliche Ausgangspunkt wird, gleich wie die Entwicklung weiter-verlaufen wird, nicht mehr erreicht werden können b) Gewaltsame Revolution (via violenta)

Auch diese Art der Revolution strebt eine bessere Zukunft an, mehr Chancen für die Unterprivilegierten, mehr sozialen Ausgleich, das Ende jeder Diskriminierung, die Abschaffung aller Klassen. Die Forderung nach dieser Lösung tritt besonders dann lautstark auf, wenn der Weg der friedlichen Revolution nicht gangbar erscheint. Zu ihren Verfechtern zählen Gruppen der Intelligenz, politische Ideologen, Studenten, Gewerkschaftsmitglieder, Arbeiter-und Bauernjugend; nicht nur Studenten treten für diesen Weg ein, sondern in nicht zu übersehender Zahl auch Professoren, ja sogar Vertreter der Kirche, etwa Vertreter religiöser Orden. Damit gewinnt die Bewegung eine sozial heterogene Basis, die in Verbindung der Intelligenz mit der Praxis und der Welt der Arbeit ihre besondere Attraktion hat. Die Vertreter der via violenta organisieren sich in der MIR sympathisieren mit der OLAS oder gründen neue Bewegungen wie die MAPU in Chile. Doch darf nicht übersehen werden, daß ihre Ideologie, durch Camilo Torres und Che Guevara emotional überstark angereichert, immer stärker auch in nicht-totalitäre, „demokratische" Bewegungen Eingang findet. Mit Sicherheit hat sie bereits eine neue Gruppe gebildet, die sich freiwillig marginiert, die nicht mehr innerhalb der klassischen etablierten Gesellschaft leben will, die nach eigenen Aussagen in den Klassenunterschieden ein Verbrechen und in der Konsumgesellschaft nur ein Greuel sieht. Wie erklärt sich nun die Gewalt als Mittel des revolutionären Kampfes? Wir müssen davon ausgehen, daß die Gewalt ihren Ursprung nicht beim Volk hat, sondern daß das Aufrechterhalten der jetzigen Gesellschaftsformen mit all ihren Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen bereits Gewalt darstellt, auf die reagiert wird. Die Bischofskonferenz in Medellin hat dafür den Begriff der „institutionalisierten Gewalt" geprägt. Papst Paul VI. hat auf dieser Konferenz eindeutig erklärt: „Die Unterdrük-kung durch die Gruppen der Macht kann zwar den Eindruck des Friedens und der Ordnung erwecken, in Wirklichkeit ist sie aber nur der ständige Keim für unvermeidbare Rebellion und Kriege."

Wer aber erkannt hat, daß die jetzige „soziale Ordnung" nur über die Anwendung von Gewalt erhalten werden kann, weil sie eben ein System ist, das weder sozial noch in Ordnung ist, der versteht auch die Gewalt auf der anderen Seite als Reaktion auf den herrschenden Zustand. Dies gilt um so mehr dann, wenn unter Gewalt nicht nur die physische Kraftanwendung verstanden wird, sondern auch schon „die Anwendung von psychologischem, moralischem und sozialem Druck“ Die Reaktion auf diesen Druck erklärt Arroyo wie folgt: „Wenn ein Mensch nicht sprechen kann, muß er es mit Gesten versuchen. Wenn sich die Massen also kein Gehör verschaffen können, weil die Einrichtungen des Systems weder juristische noch periodische noch andere Kanäle für ihre Klagen vorgesehen haben, was bleibt ihnen anders übrig als entweder zu schweigen oder auf die Straße zu gehen, um zu zerstören, anzugreifen und sich der Polizei als den „Hütern der Ordnung" entgegenzuwerfen?"

Die Hauptformen, die für diese Gewalt ausgebildet wurden, sind der Guerrillakampf in den Bergen oder im Urwald und die Unruheherde (focos guerrilleros) in den Großstädten. Für die erste Art sind Kuba und Bolivien weltbekannte Beispiele geworden. Für die zweite Art sorgen derzeit z. B. die Tupumaros in Montevideo. 3. Revolution ohne Gewalt?

Zweifellos hat die via violenta in der jüngsten Vergangenheit nahezu mythische Verklärung gewonnen, was ihre Anziehungskraft erhöht. Hemmend für ihre Verbreitung wirkt sich aber ihre enge Anlehnung an totalitäre Systeme aus, die der Verwirklichung der freien, auf Menschenwürde basierenden Gesellschaftsordnung im Wege ist.

Die besonnenen Revolutionäre sehen ein, daß Gewalt um der Gewalt willen einen Weg ohne Ziel darstellt, daß also auch hier die Erfolgsaussichten geprüft werden müssen. Wenn gewaltsame Revolution daher keine Planung für das Nachher bieten kann, wird aller Wahrscheinlichkeit nach das alte System der Unterdrückung nur durch ein neues ersetzt, das höchste Ziel der Revolution somit verfehlt. Bei aller Verhärtung der Positionen verbreitet sich daher die Einsicht immer mehr, daß die via violenta keine globale Lösung der gesellschaftlichen Probleme darstellen kann. „Ich glaube nicht an die bewaffnete Revolution in Lateinamerika", bekannte kürzlich ein chilenischer Gewerkschaftsführer, „weil die Arbeiterklasse in viele Unterklassen zersplittert ist. Gewalt-ist in diesem Fall revanchistisch, weil ihr die Reife fehlt. Außerdem erstickt die eiserne Faust des Militärs, welche die Mehrzahl unserer Länder fest im Griff hat, jeden Revolutionsversuch im Keime."

Aber nicht nur von der Erfolgsaussicht hängt die Berechtigung der Gewaltanwendung ab, sondern auch vom politischen System des Landes, in dem sie erfolgen soll. Innerhalb eines Systems der Willkürherrschaft von den Ausmaßen Haitis ist sie eher am Platz als im Rahmen einer Demokratie vom Zuschnitt Chiles. Wenn aber die Prognosen für die gewaltsame Revolution in Lateinamerika schlecht sind, bleibt nur die Möglichkeit, mit um so mehr Überzeugung und Energie die Revolution in Freiheit zum Ziel und Abschluß zu bringen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Quelle: Boletia Estadistico de America Latina, hrsg. von CEPAL (Centro de Estudios para America Latina) / Naciones Unidas, Santiago de Chile, sowie Ibero America - Handbuch, 5. Auflage

  2. Willy Hellpach, Einführung in die Völkerpsychologie, Stuttgart 1944, S. 29.

  3. Zitiert bei Eric Verg, Manana ist es zu spät, Frankfurt 1962, S. 125.

  4. Eric Verg, S. 128.

  5. Vgl. dazu Gustav Fochler-Hauke, Das politische Erdbild der Gegenwart, Berlin 1969, S. 350; sowie Wolfgang D. Hoeckle-Ritter, Die Stellung Lateinamerikas im Welthandel, in: Lateinamerika in Wirtschaft und Weltpolitik. Schriftenreihe des Instituts für Internationale Solidarität, Bands, S. 51 ff.

  6. Fochler-Hauke, a. a. O.

  7. Fochler-Hauke spricht mit derselben Berechtigung vom „Außenhandel Lateinamerikas" (a. a. O.); Tannenbaum untersucht Probleme wie Rasse, Religion, Erziehung und Politik auf kontinentaler Ebene (Frank Tannenbaum, Lateinamerika, Stuttgart 1963). Eine ganze Reihe von Autoren betont das gemeinsame Schicksal des ganzen Kontinents. (So z. B. Eduardo Frei: America Latina tiene un destino, Santiago de Chile 1967.)

  8. Vgl. Tabelle 1 auf S. 5.

  9. Stephan Karlstetter, Die Situation der lateinamerikanischen Sozialarbeit in Kolumbien, Peru, Ecuador und Bolivien. Bericht einer Studienreise, hektographiertes Manuskript, Bonn 1969.

  10. Karlstetter, S. 12. Damit ist ein Teil der Marginalbevölkerung zu den Lebenschwachen zu zählen. Zum Vergleich: Etwa die Hälfte der Obdachlosen der Bundesrepublik gehört ebenfalls in diese Kategorie.

  11. Diese Art der Dynamik wird auf S. 11 ff. näher behandelt.

  12. Quelle: Boletin Estadistico de America Latina.

  13. Dennoch ist das Bemühen um die Kontrolle, Senkung und Planung des Bevölkerungswachstums nach wie vor von allergrößter Wichtigkeit.

  14. In Chile kommen z. B. auf zehn arbeitende Menschen 25 nichtarbeitende (Jugendliche im nicht berufstätigen Alter bzw. in Ausbildung, Rentner, Arbeitslose). Dieses schon jetzt äußerst ungünstige Verhältnis wird sich der Tendenz noch weiter verschlechtern.

  15. Tannenbaum, S. 93.

  16. Ders., S. 94.

  17. Als bisher einzige Ausnahme kann Mexiko angesehen werden.

  18. Hierbei gilt, daß sich beide Wege zu Veränderungen gegenseitig bedingen und teilweise Zusammenhängen.

  19. Von politischer Veränderung ist hier bewußt abstrahiert.

  20. Beispiel zu:

  21. Richard F. Behrendt, Soziale Strategie für Entwicklungsländer, Frankfurt 1965, S. 166.

  22. Vgl. hierzu vor allem den Beitrag von Hans-Ulrich Reh, Evolutionäre Formen für die lateinamerikanische Gesellschaft?, Bd. 10 der Schriftenreihe des Instituts für Internationale Solidarität.

  23. Peter Heintz, Ein soziologisches Paradigma der Entwicklung, Stuttgart 1969, S. 7; von Interesse sind hierzu die Statistiken zur „Kontexanalyse" der lateinamerikanischen Länder, S. 161 ff.

  24. Dieses Alter muß bei Menschen, die noch nie in ihrem Leben systematisch „gelernt” haben, verhältnismäßig niedrig angesetzt werden, ewa bei 30 bis 35 Jahren, denn auch das Lernen will gelernt sein, und zwar in der Jugend.

  25. Diese Vorstellung wird von DESAL (Desarollo America Latina), Chile, der Organisation des Hilfswerks Misereor in Lateinamerika, vertreten.

  26. Die dadurch entstehende Frage: was geschieht, wenn die innere Integration nicht gelingt? wird im dritten Teil dieses Beitrags behandelt.

  27. Lateinamerikanische Freihandelszone (Asociacin Latinoamericana de Libre Comercio).

  28. Vgl. dazu Juan Pablo Terra, Mistica, Desarrollo y Revoluciön, Montevideo 1966; Benjamin Miguel, Democracia Cristiana, La Paz 1966; Jaime Castillo, Las fuentes de la Democracia Cristiana, Santiago 1968.

  29. Terra, S. 192.

  30. Chile ist das erste Land Südamerikas, in dem Promociön Populär auf Regierungsebene verwirklicht wird und seit 1914 eine wichtige Säule des Regierungsprogramms darstellt.

  31. Lester Pearson, Partners in Development, New York 1969.

  32. Wir denken dabei unwillkürlich und in erster Linie an die französische oder russische Revolution, vielleicht auch an Spanien und Ungarn.

  33. Vgl. Abschnitt II. 3. c. dieses Beitrags, S. 16.

  34. Dazu Reinaldo Tefel, Socializaciön en la Liber-tad, Managua 1964: „Es geht um Evolution, die dem Sinn und Inhalt, der Stärke und Tiefe nach echte Revolution ist, denn sie hat Veränderungen zum Ziel, die kühn provoziert sind und in raschem Tempo in eine bestimmte Richtung gelenkt werden."

  35. In der europäischen Terminologie wäre nur die „via violenta" Revolution. Im folgenden wird jeweils der lateinamerikanische Begriffsinhalt zugrunde gelegt.

  36. Roger Vekemans: Sozio-psychologische Analyse der vorrevolutionären Situation in Lateinamerika, in: Lateinamerika — Eine Analyse seiner gegenwärtigen Probleme, hrsg. vom Institut für Internationale Solidarität der Konrad-Adenauer-Stiftung, Bonn 1965, S. 125 ff.; vgl. auch ders., Tendencias ideologicas y desarrollo Latinoamericano, in: Universidad y Desarrollo, Santiago de Chile 1968.

  37. Behrendt, S. 176.

  38. Vekemans, S. 140.

  39. Terra, S. 107.

  40. Jacques Maritain, Los Derechos del Hombre, Buenos Aires 1943.

  41. Vgl. hierzu den Beitrag von Hans-Ulrich Reh, a. a. O.

  42. Movimiento de Izquierda Revolucionaria.

  43. Organizacion Latino Americana de Solidaridad, Havana.

  44. Movimiento de Accion Populär Unitaria.

  45. Lateinamerikanische Bischofskonferenz, Medellin

  46. Gonzalo Arroyo: Violencia institucionalizada en America Latina, in Mensaie, Santiago de Chile, No. 174, November 1968, S. 535.

  47. Arroyo, S. 543.

Weitere Inhalte

Rudolf Schloz, 39, Diplom-Volkswirt, 1957 Promotion, 1966/69 Leiter des Regional-büros des Instituts für Internationale Solidarität in Santiago de Chile, seit 1969 Abteilungsleiter im Institut für Internationale Solidarität, Ständiger Mitarbeiter des „Auslandskurier''. Veröffenlichungen: Entwicklungshilfe der Tat — Rednerdienst Nr. 6 der Deutschen Stiftung für Entwicklungsländer; Die deutschen Freiwilligen- und Gemeinschaftsdienste und Freiwilligendienste in westeuropäischen Ländern, in: Lernen und Helfen in Übersee, Schriftenreihe des „Auslandskurier'', Band 4; zahlreiche Artikel über Entwicklungspolitik im „Auslandskurier" und in „Entwicklung und Zusammenarbeit"; in Vorbereitung: Eduardo Frei — Profil eines lateinamerikanischen Politikers.