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Sittengesetz und Strafrechtsreform | APuZ 25/1970 | bpb.de

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APuZ 25/1970 Politischer Stil -politische Kultur -politische Bildung Versuch einer theoretischen Zuordnung Sittengesetz und Strafrechtsreform

Sittengesetz und Strafrechtsreform

Ernst Martin

/ 42 Minuten zu lesen

I. Fragestellung

Inhalt I. Fragestellung II. Das Strafrecht III. Das Sittengesetz IV. Sitte und Schuld im Entwurf 1962 V. Bedeutungswandel des Sittengesetzes VI. Der Schuldbegriff im Alternativentwurf VII. Statt Schuld und Strafe: „Defense sociale“ VIII. Zusammenfassung und Ausblick 1.

2. Aufbau und Funktion Philosophische Einflüsse 1.

2. Juristische Erklärungen 3. Zusammenhänge mit Rechtsphilosophische Erklärungen dem Strafrecht

Unser 99 Jahre altes Strafgesetzbuch erhielt im Mai 1969 durch das 2. Strafrechtsreformgesetz einen neuen Allgemeinen Teil, der 1973 in Kraft treten wird. Bis dahin soll -— das ist jedenfalls der Wille des Gesetzgebers — auch der gesamte Besondere Teil reformiert werden. Einzelne kriminalpolitisch bedeutende und vordringliche Änderungen sind durch das 1. Strafrechtsreformgesetz bereits am 1. September 1969 und am 1. April 1970 in Kraft getreten. Die in weiten Kreisen geführte Diskussion um die Strafrechtsreform, um das Für und Wider einer Einheitsstrafe und um die Abschaffung bestimmter Tatbestände haben gezeigt, daß das Strafrecht nicht nur eine Sache der Juristen ist, daß es nicht nur diejenigen angeht, die es anwenden und gegen die es angewandt wird. Das Strafrecht bestimmt letztlich die gesamte Lebensordnung eines Volkes, und umgekehrt schlagen sich Lebensordnung und Ansichten eines Volkes in seinen Strafgesetzen nieder.

Die „geschlossene Gesellschaft" des Mittelalters hatte noch eine festgefügte Lebensordnung und einheitliche sittliche Maßstäbe; die Strafgesetze stellten abweichendes Verhalten unter Strafe, der Staat führte in seinem Selbstverständnis „Gottes Schwert" und konnte so Gottes Gebote oder ein als unwandelbar verstandenes Sittengesetz unmittelbar vollstrekken.

Unsere pluralistische Gesellschaft ist dagegen differenziert in Gruppen mit unterschiedlichen Ansichten; bestimmte Wertvorstellungen werden nicht mehr von allen geteilt, Strafbestim-mungen können nicht mehr als Ausführungsbestimmungen zu einem übergeordneten Sittengesetz angesehen werden. Trotzdem gibt es formal ein solches Sittengesetz noch. Es ist als Grundrechtsschranke in Artikel 2 des Grundgesetzes enthalten und steht auch hinter dem Begriff der „guten Sitten" des § 226 a StGB.

Das Strafrecht muß im Interesse der Rechtssicherheit festumschriebene Tatbestände enthalten. Weitgefaßte Generalklauseln würden eine wechselhafte Auslegung und eine unterschiedliche Anwendung der Gesetze ermöglichen. Es wird daher zu untersuchen sein, ob das „Sittengesetz" ein exakt definierter Begriff von allgemeiner Verbindlichkeit ist oder ob der Richter es wegen seiner Unbestimmtheit mit eigenen Wertvorstellungen ausfüllen muß, was eine Rechtsprechung zugunsten bestimmter Gruppen zur Folge haben könnte.

Auch die Frage nach dem Sinn und Zweck des Strafrechts führt zum Sittengesetz. Wird eine Tat bestraft, weil sie sittlich verwerflich oder weil sie sozialschädlich ist? Wenn das Strafrecht nicht mehr die Ausführungsbestimmung zu einem Sittengesetz ist, dann muß neu bestimmt werden, wem gegenüber der Täter „schuldig" wird und ob er überhaupt schuldig werden kann. Weil die Berechtigung eines „Schuld" -Strafrechts also möglicherweise davon abhängt, ob es ein Sittengesetz gibt — und wenn ja, wie es beschaffen ist —, soll untersucht werden, welche Rolle dieses Sittengesetz in der Strafrechtsreform gespielt hat und ob eine längst fällige Neubestimmung der Standorte vorgenommen wurde oder nicht.

II. Das Strafrecht

Abkürzungen: AE = Alternativentwurf BGB = Bürgerliches Gesetzbuch BGH = Bundesgerichtshof BGHSt = Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen (Bd. 1 ff.) BVerfG = Bundesverfassungsgericht BVerfGE = Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Bd. 1 ff.)

E = Entwurf GG = Grundgesetz JR = Juristische Rundschau JZ = Juristenzeitung KJ = Kritische Justiz LG = Landgericht NJW = Neue Juristische Wochenschrift Rdn.

= Randnote RG = Reichsgericht StGB = Strafgesetzbuch ZStW = Zeitschrift für die 

1. Philosophische Einflüsse Soziologisch beruhte das Strafgesetz von 1871 auf der Machtstellung des Staates und der ihn tragenden gesellschaftlichen Schichten; weltanschaulich lagen ihm die staatsphilosophischen Ideen Kants und Hegels zugrunde, und noch heute berufen sich die Verteidiger des Vergeltungsgedankens auf die Thesen dieser beiden Philosophen.

In seiner „Metaphysik der Sitten" schrieb Kant 1797: „Das Strafrecht ist das Recht des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen, ihn wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen", und an anderer Stelle: „Das Strafge13 setz ist ein kategorischer Imperativ, und wehe dem, welcher die Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre durchkriecht, um etwas auszufinden, was durch den Vorteil, den es verspricht, ihn von der Strafe oder auch nur einem Grade derselben entbinde." Gerechtigkeit, so meinte Kant, könne nur durch das Wiedervergeltungsrecht bestehen bleiben, und er führte zur Erläuterung das seitdem oft zitierte Beispiel an: „Selbst wenn sich die Bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflöste (zum Beispiel das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinanderzugehen und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind."

Gerechtigkeit und Recht geschahen bei Kant um ihrer selbst willen, sie waren frei von realen Zwecken und Zielen. „Kants heller Geist scheint in seiner Straftheorie durch depressive Visionen verdunkelt" doch Kant hat nur einen jahrtausendealten Gedanken der Menschheit rigoros formuliert.

Auch nach Hegel sollte die Strafe Vergeltung sein. Seine in der Schrift „Grundlinien der Philosophie des Rechts" vertretene Auffassung stimmt wesentlich mit der von Kant überein. Hegels (aus einer Vorlesung überlieferte) Definition der Strafe als „Negation der Negation" ist so zu erklären: Das Verbrechen ist eine Verletzung von Rechten, und diese Verletzung wird aufgehoben durch die Bestrafung, die Rechte des Verbrechers, besonders seine Freiheitsrechte, verletzt. Hierbei dachte Hegel nicht an das Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn". Einen einäugigen und zahnlosen Verbrecher (im Mittelalter durchaus üblich, man denke an die von der „Carolina" vorgesehenen Strafen) konnte er sich nicht vorstellen. Vielmehr meinte Flegel, daß die Taten und die Strafen ihrem Wert nach gleich sein sollten. Hierbei kam ihm die (noch gar nicht so alte) „Erfindung" der Freiheitsstrafe zu Hilfe. Sie war leicht zu handhaben und ermöglichte für das damalige Verständnis eine der Schwere jedes Verbrechens entsprechende Zumessung. 2. Aufbau und Funktion Das geltende Strafrecht ist eingeteilt in einen Allgemeinen Teil (AT) und einen besonderen Teil (BT). Der Besondere Teil enthält den Katalog der einzelnen strafbaren Tatbestände; hier sind verschiedene Gruppen von Delikten zusammengefaßt, z. B. die Straftaten gegen das Leben, gegen das Eigentum oder gegen die Sittlichkeit. Der Allgemeine Teil enthält für jeden Tatbestand des BT gültige allgemeine Bestimmungen, wie z. B. die Bestimmungen über die Strafbarkeit des Versuchs, über Rechtfertigungs-oder Schuldausschließungsgründe, über Irrtum, Teilnahme oder mittelbare Täterschaft. Der AT ist also so etwas wie eine Gebrauchsanweisung zum BT. Genaue Ausführungen zu den Elementen der Straftat finden sich (in unserem noch geltenden StGB) nicht, sie wurden von Rechtsprechung und Lehre aus den Bestimmungen über Strafmilderungs-und Schuldausschließungsgründe heraus entwickelt. Eine Straftat ist eine tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Handlung. Zu jeder Straftat gehört also zunächst die Erfüllung eines besonderen gesetzlichen Tatbestandes, dei im BT enthalten ist. Der Tatbestand muß durch eine menschliche Handlung erfüllt sein, die Tatbestandserfüllung muß rechtswidrig sein. Das ist bei Erfüllung des Tatbestandes in der Regel der Fall, da ja der BT nur unrechtmäßige (rechtswidrige) Tatbestände enthält. Es können aber besondere Rechtfertigungsgründe vorliegen, z. B. die Tötung eines Menschen in Notwehr.

Das dritte Element der Straftat ist die Schuld. Eine Straftat liegt nur dann vor, wenn dem Täter sein konkretes rechtswidriges Handeln auch vorgeworfen werden kann. Ihm wird also nicht der Erfolg seiner Tat vorgeworfen, sondern entweder der böse Wille, der den Erfolg herbeigeführt hat (Vorsatz), oder seine Unachtsamkeit, die den Erfolg hat eintreten lassen (Fahrlässigkeit).

Der Schuldbegrif gehört, wie vor allem die Ausführungen über die defense sociale noch zeigen werden, zu den umstrittensten Erscheinungen im Strafrecht. Schuld setzt notwendig Willens-und Entscheidungsfreiheit voraus, und eben diese wird von den Vertretern eines reinen Maßnahmerechtes bestritten. An der Bejahung oder Verneinung der Existenz einer Willensfreiheit scheiden sich auch die Erklärungen über Wesen und Funktion des Strafrechts. Unser geltendes Strafrecht sowie die Rechtsprechung und ein überwiegender Teil der Lehre gehen von einer „sittlich autonomen", in ihrer Entscheidung freien Täter-persönlichkeit aus. Dieser Täter soll dann durch die Verbüßung der Strafe sein begangenes Unrecht sühnen. Er soll „selbst durch Aufsichnehmen der Rechtsfolge für seine Tat die verletzte Rechtsordnung wieder versöhnen, er soll möglichst durch einen inneren Akt der Einkehr und Selbstbesinnung die Notwendigkeit der Strafe bejahen. . . . Die Vorstellung, den Täter zum Sühnen zu bringen, ist gar nicht so lebensfremd. . . . Der vom Gewissen angesprochene Mensch wird oft erst dann vom Druck der Tat völlig befreit, wenn er sich innerlich von ihr gelöst hat und äußerlich eine Genugtuung gegeben, nämlich das Strafübel erlitten hat."

Vertreter dieser Ansicht sind erstaunt darüber, daß der Strafvollzug eher das Gegenteil einer „Entsühnung" bewirkt, daß oft nicht das Verbrechen selbst, sondern das Sitzen im Gefängnis den eigentlichen Makel ausmacht. Sie wundern sich, daß bestraft werden in den Augen der Gesellschaft nicht reinigt, sondern beschmutzt. Sie sehen darin eine „Verkehrung und Äußerlichkeit der Betrachtung", die sich nur „aus dem Mißtrauen des Menschen gegen sich selbst, gegenüber der eigenen Möglichkeit innerer Einkehr und Wandlung" erklären lasse, vermutlich als „Frucht mechanistischer und materialistischer Weltauffassung"

Vergeltung und Sühne sind nach herrschender Lehre natürlich nicht die einzigen Funktionen des Strafrechts. Nur teilweise anerkannt ist der Zweck des Strafrechts als Generalprävention wonach die bloße Existenz des Strafrechts und das Wissen um die Rechtsfolgen die Gesellschaftsmitglieder von der Begehung strafbarer Handlungen abhält.

Bei Gewohnheits-oder Berufsverbrechern, denen gegenüber die Abschreckung nicht mehr wirkt, soll das Strafrecht auch Sicherungsfunktionen wahrnehmen. Hierzu gehören neben der Strafe vor allem die Maßregeln zur Sicherung und Besserung (§§ 42 a ff. StGB), besonders § 42 e StGB, der für gefährliche Gewohnheitsverbrecher neben der Strafe die Sicherungsverwahrung anordnet. Gegen die Zulässigkeit dieser Vorschrift sind aus verfassungsrechtlicher Sicht erhebliche Bedenken geltend gemacht worden Auch die Neuregelung der Sicherungsmaßnahmen kann diese Bedenken nicht beseitigen.

Eine weitere Funktion des Strafrechts soll die Besserung des Einzelnen, also die Spezialprävention sein. Die Rechtsfolgen des Strafrechts sollen den einzelnen Täter bessern oder zumindest ihn durch das zugefügte Übel vor neuer Tat abschrecken. Doch die Wirkung der Strafe als Mittel der Erziehung wurde schon früh bezweifelt Aus diesem Grunde wurden die Maßregeln der Besserung als „zweite Spur“ geschaffen (und im neuen StGB noch wesentlich ausgebaut), die dann angewandt werden sollen, wenn die zugemessene Strafe die Besserungsaufgabe nicht erfüllen kann.

III. Das Sittengesetz

Rechtsphilosophische Erklärungen Die bedeutendsten Richtungen in der Rechts-philosophie sind die Naturrechtslehre und die historische Rechtsschule. Für die historische Rechtsschule ist — stark vereinfacht — das Recht keine natürliche Gegebenheit, sondern mit der Geschichte gewachsen. Es hat sich aus der geistigen Haltung und der Rechtsüberzeugung eines Volkes, also aus dem Gewohnheitsrecht entwickelt. Die Gesetzgebung hat keine eigene schöpferische Kraft, sondern sie ist nur Niederschlag des schon gewordenen (Gewohnheits-) Rechts. Die Gedanken der historischen Rechtsschule wurden später zur soziologischen Schule weiterentwickelt.

Naturrecht hingegen ist das Recht, das sich aus der (ideal vorgestellten) menschlichen Natur ableiten läßt und daher für alle Zeiten gültig und von Raum und Zeit unabhängig sein soll. Nach einer modifizierten Auffassung gehört zur Wirksamkeit des Naturrechts allerdings ein Rechtssetzungsakt auf Grund der jeweiligen Volksüberzeugung, es ist somit wandelbar. Lehren vom Naturrecht existieren seit et-wa 2500 Jahren. Sie wurden zu Beginn'des 19. Jahrhunderts von der historischen Rechts-schule weitgehend verdrängt, doch nach dem zweiten Weltkrieg traten unter dem Eindruck der Mißachtung der Persönlichkeit durch totalitäre Regime naturrechtliche Gedankengänge (Anerkennung allgemeingültiger, unveräußerlicher Menschenrechte) wieder in den Vordergrund. Ansätze zu einer Suche nach den „materialen Grundstrukturen des Rechts" lieferten vor allem die materielle Wertethik Max Schelers und Nicolai Hartmanns. In ihrer Philosophie ist eine „ewige Ordnung" der „absoluten ethischen Werte" beschrieben, für Scheler ist der letzte höchste Bezugspunkt der „göttliche Heilsplan". Auf der Basis dieser Wertphilosophie hat in der deutschen Rechts-philosophie vor allem Coing versucht, ausgehend vom Wesen des Menschen als sittlicher Person, eine Reihe von Grundsätzen als materiale Inhalte der Rechtsidee zu entwickeln.

Das Sittengesetz ist im Naturrecht ein fest umschriebener Begriff. Der „Große Herder" unterscheidet ein „positives göttliches Sittengesetz" und ein „natürliches Sittengesetz". Das „positive göttliche Sittengesetz" stellt die Gesamtheit aller Gesetze dar, die Gott im Hinblick auf die Heilsbestimmung des Menschen zur Seligkeit in seiner besonderen geschichtlichen Offenbarung verkündete. Das „natürliche Sittengesetz" ist die „Gesamtheit aller das sittliche Verhalten des Menschen auf das Gute hin verpflichtenden Normen, wie sie als Abbild des ewigen Gesetzes in Gott sich im Wesen der geschaffenen Naturwirklichkeit der Dinge und des Menschen kundtun und durch das sittliche Bewußtsein (Gewissen) zu erkennen sind." Das natürliche Sittengesetz ist „Geltungsgrundlage des menschlichen positiven Gesetzes".

Der „Neue Herder" gibt eine andere, eingeschränktere Definition: Das natürliche Sittengesetz ist hier „die Gesamtheit aller . . . Normen, die im sittlichen Bewußtsein (Gewissen) anerkannt werden. Das Sittengesetz gebietet nach Kant (kategorischer Imperativ) ohne Rücksicht auf empirische Zwecke."

Zwischen diesen beiden Definitionen besteht ein interessanter Unterschied: Im „Großen Herder" war das Sittengesetz die Gesamtheit aller Normen, die vom Gewissen „zu erkennen sind", im „Neuen Herder" ist das Sittengesetz die Gesamtheit aller Normen, die „anerkannt werden".

Die Kritik an diesem so definierten Sittengesetz muß beim Naturrecht selbst ansetzen: Alle Naturrechtslehren legen in ihr Bild von der Natur die Wertvorstellungen hinein, die sie dann als „Natur der Sache" oder „Natur des Menschen" wieder herausholen. Im Zirkelschlußverfahren wird das, was man sich wünscht oder für gut hält, für das „Naturgemäße" erklärt und so jeweils schon vorausgesetzte Wertungen und Zielsetzungen als die wahrhaft guten und richtigen hingestellt „Zur permanenten Aufklärung unserer Gesellschaft gehört es deshalb, alle neuen Formen von Naturrecht, zu dem sich der Protestantismus nicht bekennt und erst recht nicht der Atheismus. ... als das zu erweisen, was sie sind: . christlich-abendländische Rechtsidee'vorzüglich katholischer Konfession. . . . durchweg Absolutheitsanspruch nicht absoluter Meinungsgruppen an eine auch ihrerseits nicht absolute Umwelt. . ." 2. Juristische Erklärungen Bei dem Versuch einer juristischen Definition des Sittengesetzes liegt es nahe, sich an Art. 2 des Grundgesetzes zu halten, in dem die freie Entfaltung der Persönlichkeit durch die „verfassungsmäßige Ordnung", „die Rechte anderer" und das „Sittengesetz" eingeschränkt wird. Die Wirksamkeit dieses in Art. 2 gewährten Grundrechtes hängt also unmittelbar von einer klaren und eindeutigen Interpretation des „Sittengesetzes" ab, doch die Kommentare hierzu äußern sich widersprüchlich.

Nur teilweise wird hierbei auf das Naturrecht zurückgegriffen und das Sittengesetz als objektiv und absolut hingestellt, weil es außer-und vorrechtliche Normen zur Geltung bringe Nach überwiegender Auffassung ist das Sittengesetz ein Begriff mit keineswegs unveränderlichem Inhalt, zu interpretieren aus den jeweils herrschenden Anschauungen über sittliche Freiheit und Gebundenheit des Individuums Es wird auch als „die Summe derjenigen Normen, die Allgemeingut abendländischer Kultur sind", bezeichnet zu diesen Normen werden z. B. die zehn Gebote gezählt. Der Schwierigkeit einer genauen und einheitlichen Interpretation des Begriffes wird teilweise auch dadurch ausgewichen, daß man das „in dem Ausdruck Sittengesetz liegende Pathos auf die ethische Normallinie" zurückschraubt, den Begriff also durch (zwar auch unbestimmte und wertausfüllungsbedürftige) nach Ansicht der Kommentatoren aber bewährte, praktikable und hinreichend definierte Begriffe wie „gute Sitten" und „Treu und Glauben" ausfüllt

Die unterschiedlichen Definitionen lassen sich zu zwei vorläufigen Thesen zusammenfassen: 1. Das Sittengesetz ist absolut, unabhängig und vorgegeben; es gilt unabhängig davon, ob es anerkannt wird oder nicht. 2. Das Sittengesetz sind die jeweils in einem Volk oder einer Gemeinschaft herrschenden Anschauungen; diese sind durchaus wandelbar.

Das BVerfG hat seine Auffassung zum Sittengesetz des Art. 2 GG in einer sehr umstritte-nen Entscheidung dargelegt: Es handelte sich um die Beschwerde eines Kaufmanns, daß die Bestrafung der Homosexualität willkürlich sei, weil daran kein öffentliches Interesse bestehe und es sich um einen unberechtigten Eingriff staatlicher Gewalt in die persönliche Freiheit des einzelnen handle

Das BVerfG prüfte diesen Einwand unter dem Gesichtspunkt des Art. 2 Abs. 1 GG Das Gericht meinte, an der Bestrafung von Homosexualität bestehe doch ein öffentliches Interesse, und zwar aus folgendem Grund: „Grundsätzlich gibt schon die Berührung mit der Persönlichkeitssphäre eines anderen Menschen einer Handlung den Bezug auf das Soziale, der sie dem Recht zugänglich macht. Doch können auch Vorgänge, die sich in Kommunikation mit anderen vollziehen, aus dem Gesichtspunkt des Art. 2 Abs. 1 GG dem Zugriff des Gesetzgebers entzogen sein; die Zulässigkeit eines Eingriffs hängt dann davon ab, ob der Sozialbezug der Handlung intensiv genug ist. Zu besonderer Zurückhaltung ist der Gesetzgeber verpflichtet, wenn es sich um einen Eingriff durch ein Strafgesetz handelt.

. . . Für die Entscheidung des Gesetzgebers kann es nun von großer Bedeutung sein, ob die in Frage stehende Handlung gegen das Sittengesetz verstößt. Denn es liegt auf der Hand, daß bei einer in dem Grenzbezirk zwischen privatem und sozialem Bereich liegenden Handlung das Bedürfnis nach Bestrafung eher bejaht wird, wenn feststeht, daß die soziale Gemeinschaft die Handlung eindeutig als im Widerspruch zum Sittengesetz stehend betrachtet, das sie allgemein als für sich verbindlich anerkennt. Eine Sanktion der Gemeinschaft wird dann das Rechtsgefühl nicht verletzen, sondern geradezu von ihm gefordert werden. Die Verfassung erkennt das selbst an, indem sie in Art. 2 auch das Sittengesetz als eine rechtliche Schranke des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt. Für die Gesetzgebung . . . bedeutet das . .. , daß ihr das Sittengesetz zum Richtmaß dienen kann; es kann einen sonst unzulässigen oder doch in seiner Zulässigkeit zweifelhaften Eingriff des Gesetzgebers in die menschliche Freiheit legitimieren.

Gleichgeschlechtliche Betätigung verstößt eindeutig gegen das Sittengesetz. Auch auf dem Gebiet des geschlechtlichen Lebens fordert die Gesellschaft von ihren Mitgliedern die Einhaltung bestimmter Regeln, Verstöße hiergegen werden als unsittlich empfunden und mißbilligt. Andererseits bestehen Schwierigkeiten, die Geltung eines Sittengesetzes festzustellen. Das persönliche sittliche Gefühl eines Richters kann hierfür nicht maßgebend sein; ebensowenig kann die Auffassung einzelner Volksteile ausreichen. Von größerem Gewicht ist, daß die öffentlichen Religionsgemeinschaften, insbesondere die beiden großen christlichen Konfessionen, aus deren Lehren große Teile des Volkes die Maßstäbe für ihr sittliches Verhalten entnehmen, die gleichgeschlechtliche Unzucht als unsittlich verurteilen. . . Nicht darauf kommt es an, aufgrund welcher geschichtlichen Erfahrung ein sittliches Werturteil sich gebildet hat, sondern nur darauf, ob es allgemein anerkannt wird und als Sittengesetz gilt."

Dieses Urteil steckt voller Widersprüche: Der Beweis, daß die soziale Gemeinschaft eine solche eindeutige Auffassung vertritt, kann nicht erbracht werden. Die Diskussion um die Strafrechtsreform hat eher das Gegenteil nachgewiesen. Redewendungen wie „es liegt auf der Hand" und „Verstöße hiergegen werden als unsittlich empfunden und mißbilligt" sind nichtssagend und unbegründet. Die Erklärung, daß große Teile der Bevölkerung ihre Maßstäbe aus den Lehren der beiden großen christlichen Konfessionen ableiten, ist ebenfalls unbewiesen, außerdem werden damit diese Lehren für allgemeinverbindlich erklärt und zur Norm erhoben. Das steht eindeutig im Widerspruch zu Art. 3 und 4 des GG

Das Bundesverfassungsgericht setzt das Sittengesetz mit den in einer Gemeinschaft herrschenden Anschauungen gleich, wobei es eingesteht, daß es Schwierigkeiten hat, die Geltung eines solchen Sittengesetzes festzustellen; es beruft sich schließlich darauf, daß die beiden christlichen Konfessionen gleichgeschlechtliche „Unzucht" als unsittlich verurteilen. Trotzdem wird das Sittengesetz als „rechtliche Schranke" eines verfassungsmäßig garantierten Rechtes anerkannt, es hat sogar der Gesetzgebung zum Richtmaß zu dienen. „Das Sittengesetz . . . steht nicht nur höher als die verfassungsmäßige Ordnung, die sich sittlich nach ihm zu orientieren hat, es darf nicht einmal rechtswirksam nach seinem Sinn befragt werden. Das Volk muß es anerkennen, weil die Verfassung es schützt, die Verfassung muß es schützen, weil das Volk es als verbindlich anerkennt."

Der Bundesgerichtshof gab in (bisher) ständiger Rechtsprechung dem Sittengesetz eine andere Bedeutung als das Bundesverfassungsgericht. In einer Entscheidung handelte es sich um den Fall einer Witwe, die wegen Kuppelei angeklagt war, weil sie dem Verlobten ihrer (bereits schwangeren) Tochter gestattet hatte, bei dieser zu schlafen. Der Große Senat des BGH führte dazu aus, daß die innere Verbindlichkeit des Rechts gerade auf seiner Übereinstimmung mit dem Sittengebot beruhe. „So ist es auch im vorliegenden Fall gerade die entscheidende Frage, ob nicht der Gesetzgeber den Richter auf eine Norm verwiesen hat, die dem Bereich der Ethik angehört." Als wichtig für diesen Fall sah der BGH die Frage an, ob die Norm, aus der die Einschätzung des , Verlobtenverkehrs'zu beurteilen sei, ein Gebot der bloßen Konvention, der Sitte, oder ein Gebot der Sittlichkeit, des Sittengesetzes sei: „Gebote der bloßen Sitte, der Konvention leiten ihre (schwache) Verbindlichkeit nur aus der Anerkennung derjenigen her, die sie freiwillig anerkennen und befolgen . . . , sie ändern ihren Inhalt, wenn sich die Vorstellung über das, was die Sitte verlangt, ändert. Normen des Sittengesetzes dagegen gelten aus sich selbst heraus; ihre (starke) Verbindlichkeit beruht auf der vorgegebenen und hinzunehmenden Ordnung der Werte und der das menschliche Zusammenleben regierenden Sollenssätze; sie gelten unabhängig davon, ob diejenigen, an die sie sich mit dem Anspruch auf Befolgung wenden, sie wirklich befolgen und anerkennen oder nicht. Ihr Inhalt kann sich nicht deswegen ändern, weil die Anschauungen über das, was gilt, wechseln ... Die sittliche Ordnung will, daß sich der Verkehr der Geschlechter grundsätzlich in der Einehe vollziehe, weil der Sinn und die Folge des Verkehrs das Kind ist." 1962 wurde diese Auffassung in einer anderen Entscheidung bestätigt Der BGH berief sich auf das Urteil von 1954 und erklärte erneut, daß erst die Eheschließung den Verkehr der Geschlechter nicht nur rechtlich, sondern auch sittlich rechtfertige.

Der BGH hat das Sittengesetz eindeutig naturrechtlich interpretiert. Es gilt „aus sich selbst heraus", unabhängig davon, ob es anerkannt wird oder nicht. Diese naturrechtliche Anschauung setzt voraus, daß die Beziehungen der Menschen zueinander durch eine objektive rechtliche Geordnetheit gekennzeichnet sind, durch einen Bereich objektiven Sollens mit dem Anspruch auf absolute Verbindlichkeit. Die vorgegebene Ordnung der Werte soll durch redliche Anspannung von Vernunft und Gewissen mit großer Sicherheit erkannt werden können.

Doch dieses Erkennen kann nicht wissenschaftlicher, sondern nur glaubender Art sein. Unter der Prämisse, daß es eine vorgegebene (göttliche) unabänderliche Sittenordnung gibt, die Vorform und Geltungsgrundlage der menschlichen Gesetze ist, kann man die Existenz eines aus sich selbst heraus geltenden Sittengesetzes bejahen, das sogar in der Lage ist, Gesetzeslücken zu füllen oder der Gesetzgebung als Richtmaß zu dienen. Diese Prämisse aber ist die Glaubensaussage einer Konfession und kann darum nicht für alle verbindlich sein. Denn die im Grundgesetz garantierte Glaubensfreiheit impliziert nicht nur, daß man glauben kann was man will, sondern daß auch der eigene Glaube (und nicht der einer anderen Konfession) die Maxime des eigenen Handelns sein darf.

So ersetzt der BGH in seinen Entscheidungen zum Sittengesetz „Begründungen durch Behauptungen nach eben jenem Zirkelschlußverfahren, das wir als Technik naturrechtlicher Argumentation kennen. Der BGH geht nicht allein von einem falschen Vorverständnis von Recht und Sittenordnung aus, weil er zu Unrecht Sittenordnung mit der katholischen , Hochethik'identifiziert. Er hat auch nicht eine einzige Überlegung der überragenden Bedeutung und Einschätzung der Sexualität in der heutigen Gesellschaft gewidmet." Zusammenhänge mit dem Strafrecht Schon die Urteile des BVerfG und des BGH haben einige Zusammenhänge zwischen Sittengesetz und Strafrecht gezeigt. Das Wort „Sittengesetz" wird im Text des StGB nicht explizit genannt, es steht aber unausgesprochen hinter mancher Vorschrift, besonders hinter den Sittlichkeitsdelikten’.

Der dreizehnte Abschnitt des StGB faßt unter der Überschrift „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit" Straftaten zusammen, die durch ihre Beziehung zum Geschlechtlichen gekennzeichnet sind. Der Begriff „Sittlichkeitsdelikte" ist dabei eine ungenaue, nur hilfsweise gebrauchte Bezeichnung, die Tatbestände mit sehr unterschiedlicher Schutzrichtung auf einen Nenner bringen soll Beim Tatbestand der Blutschande in § 173 spielen eugenische und moralische Erwägungen eine Rolle, bei den Tatbeständen der §§ 175 (Homosexualität) und 175 b (Sodomie, jetzt aufgehoben) wird eine . abartige'sexuelle Betätigung als solche wegen ihrer , Unsittlichkeit'

unter Strafe gestellt, während z. B. bei den §§ 174, 176 Abs. 3 und 182 durch Mißbrauch von Abhängigkeitsverhältnissen begangene Delikte unter Strafe gestellt werden.

Gemeinsames Merkmal aller dieser Delikte ist die „Unzucht" oder die „unzüchtige Handlung".

Unzucht ist jenes Verhalten, das seinem äußeren Erscheinungsbild nach eine Beziehung zum Geschlechtlichen aufweist, „objektiv das Scham-und Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlicher Hinsicht gröblich verletzt und subjektiv von einer sexuellen Tendenz getragen ist"

Maßgebend für die objektive Verletzung des Scham-und Sittlichkeitsgefühls soll dabei nicht das Gefühl des Einzelnen oder einzelner Volkskreise, sondern die gesunde Anschauung, d. h. die Auffassung des sittlich empfindenden Menschen schlechthin sein

Sicherlich läßt sich zu vielen Problemen eine in weiten Kreisen des Volkes übereinstimmende Meinung feststellen, aber gerade in diesen Fällen scheinen manche Gerichte der Auffassung zu sein, daß das Volk die falsche Meinung vertritt, daß es, um ein Zitat aus dem folgenden Urteil vorwegzunehmen, „nicht darauf ankommt, was die Öffentlichkeit tatsächlich denkt, sondern was sie nach richtigem moralischem Empfinden denken sollte . .

Ein Beispiel dafür ist der Fall Dr. Dohrn. Dohrn hatte von 1946 bis 1961 etwa 1300 Frauen durch Tubenligatur sterilisiert. 149 dieser Sterilisationen bildeten den Gegenstand der Anklage, von diesen waren 100 Ligaturen nach Fehlgeburten und Entbindungen erfolgt

Der Tatbestand der freiwilligen Sterilisation findet sich nicht im Gesetz, jedoch kann (was streitig ist) nach § 226 a StGB bestraft werden. Dieser lautet: „Wer eine Körperverletzung mit Einwilligung des Verletzten vornimmt, handelt nur dann rechtswidrig, wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die „guten Sitten verstößt". Ein Verstoß gegen die „guten Sitten" liegt nach ständiger Rechtsprechung dann vor, wenn eine Handlung „dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden zuwiderläuft" Die Ungenauigkeit und Verschwommenheit dieser Formel ist wiederholt kritisiert worden jedenfalls soll eine Sterilisation nur dann gerechtfertigt sein, wenn ein vom Sittengesetz gebilligter Zweck gegeben ist. Hierfür kommen drei Fälle in Betracht: 1. ein medizinisch indizierter Eingriff bei Gefahr für Leben und Gesundheit der Frau; 2. ein eugenischer Eingriff zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und 3. ein sozial indizierter Eingriff, bei dem die ökonomisch-soziale Situation der Frau und ihrer nächsten Umwelt entscheidend sein soll. Ein Eingriff allein aus dem dritten Grund wird als nicht gerechtfertigt, angesehen.

Dr. Dohrn hatte für sich die „ärztlich-ethische" Indikation eingeführt er wollte die Entscheidungen von Ehepaaren respektieren, die schon Kinder hatten und keine weiteren mehr haben wollten. Sogenannte „Gefälligkeitssterilisationen" nahm er, wie die Ermittlungen ergaben, nicht vor. Das Problem im Fall Dr. Dohrn war also, ob diejenigen seiner Eingriffe, die weder medizinisch noch eugenisch indiziert waren (etwa 50 °/o), gegen die „guten Sitten" verstießen und damit nach § 226 a StGB trotz Einwilligung der „Verletzten" eine strafbare Körperverletzung darstellten.

Das Landgericht Hannover führte in seinem Urteil dazu aus „Zwar wird in der Recht-sprechung vielfach zur Entscheidung über Sittenwidrigkeit oder Sittengemäßheit das , Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden'für maßgebend erklärt. Diese Formel ist aber nicht kollektiv-psychologisch zu verstehen. . . . Die Prüfung der Sittenwidrigkeit oder gar der Strafwürdigkeit eines Verhaltens von der Befragung weiter Volkskreise abhängig zu machen, verstieße im übrigen auch gegen den Repräsentationsgrundsatz (Art. 20, II GG), nach dem das Volk seine Staatsgewalt grundsätzlich durch besondere Organe, hier der rechtsprechenden Gewalt ausübt. . . . Dementsprechend hat die Strafkammer in ihrem sittlichen Werurteil allerdings auch nicht die individuelle, subjektive Wertansicht der erkennenden Richter zugrunde zu legen. Ebensowenig konnte überhaupt die Auffassung von Einzelnen oder von Gruppen maßgebend sein. Auch die Auffassungen der einen oder anderen Konfession durften nicht entscheidend sein und sind nicht entscheidend gewesen. . . Entscheidend war damit nicht, was die Öffentlichkeit tatsächlich denkt, sondern was sie nach richtigem moralischen Empfinden denken sollte. . . Wie dementsprechend auch in der Entscheidung BGHSt 6, 46 ff. ausgeführt wurde, gelten die Normen des Sittengesetzes aus sich selbst heraus, unabhängig davon, ob diejenigen, an die sie sich mit dem Anspruch auf Befolgung wenden, sie wirklich befolgen und anerkennen oder nicht. Ihr Inhalt kann sich nicht deswegen ändern, weil die Anschauungen über das, was gilt, wechseln."

Die Ausführungen des Landgerichtes zwingen zu der Schlußfolgerung, daß das StGB die Ausführungsbestimmung zu einem übergeordneten Sittengesetz ist. Durch dieses Sittengesetz wird vorgeschrieben, was die Bevölkerung denken und wie sie handeln soll, und durch das Strafrecht werden von der Norm abweichende Handlungen geahndet.

Dieser Ansicht schienen auch die Verfasser des (amtlichen) „Entwurf 1962" (E 62) zu sein, der bis zu seiner Neufassung kurz vor der Strafrechtsreform 1969 heftig umstritten war.

IV. Sitte und Schuld im Entwurf 1962

Dem E 62 ist vor allem zum Vorwurf gemacht worden, daß er kein Gesetz für die Zukunft sei, sondern eine Zementierung der augenblicklichen Strafrechtsdogmatik vornehme. Seine Verfasser haben nicht eine einschneidende Beschränkung der Strafbarkeit auf die eigentliche Kriminalität vorgenommen, sondern „ihren Scharfsinn vornehmlich darauf verwandt, zusätzliche Regelungen auszusinnen, um auch noch die letzten Lücken der Strafbarkeit zu schließen" Die Tatbestände der Bettelei, Landstreicherei und Prostitution (vorher Übertretungen) waren zu Vergehen erhoben worden, obwohl sie doch allenfalls Gegenstand der Sozialfürsorge und nicht der Kriminalgerichtsbarkeit sein können.

Zum Tatbestand der „Verlobten-Unzucht" und der damit zusammenhängenden Kuppelei (vgl. oben) erörterte der Entwurf in den Begründungen zu den Straftaten gegen die Sittlichkeit zwei Gesichtspunkte: Er wog die gebotene Zurückhaltung des Gesetzgebers bei derartigen Delikten gegen die „unbestreitbare Erkenntnis" ab, daß „die Reinheit und Gesundheit des Geschlechtslebens eine außerordentliche wichtige Voraussetzung für den Bestand des Volkes und die Bewahrung der natürlichen Lebensordnung ist". Der Entwurf entschied sich darum für die „strenge Regelung" und legte die Bereitschaft nahe, „gewisse Unzuträglichkeiten in Kauf zu nehmen, die wegen der nur bedingten Eignung des Strafrechts zur Bekämpfung von Gefahren für die allgemeine Sittlichkeit unvermeidbar sind". „Dabei muß er noch mehr als auf irgendeinem anderen Gebiet die sittlichen Grundanschauungen des Volkes berücksichtigen und sich darüber klar sein, daß jeder Fehlgriff geeignet ist . . . , das sittliche Empfinden des Volkes zu trüben und zu verwirren." In ihrer Einleitung stellten die Verfasser des Entwurfs folgende Grundsätze auf: „Der Entwurf bekennt sich zum Schuldstrafrecht. Das bedeutet, daß die Strafe, die ein sittliches Unwerturteil (Hervorhebung v. Vers.) über menschliches Verhalten enthält und als solches immer empfunden werden wird, nur dann und grundsätzlich nur insoweit verhängt werden darf, als dem Täter sein Handeln sittlich zum Vorwurf gemacht werden kann." Die Strafe ohne Schuldvorwurf sei eine sittlich farblose Maßnahme, die zu politischen Zwecken mißbraucht werden könne. „Der Begriff der Schuld ist im Volk lebendig. Ohne ihn gibt es kein Leben nach sittlichen Wertvorstellungen. . . Auch die Wissenschaft vermag nicht der Über-zeugung die Grundlage zu entziehen, daß es Schuld im Handeln des Menschen gibt. Neuere Forschungen geben dem Raum.“

Welche neueren Forschungen gemeint sind, wurde nicht deutlich gemacht. Der E 62 sah den Sinn der Strafe darin, die Schuld des Täters auszugleichen (Sühne, Vergeltung), die Rechtsordnung zu bewahren und künftige Straftaten zu verhüten (Generalprävention). Weiterhin sollte die Strafe auf den Täter einwirken, um ihn wieder für die Gemeinschaft zu gewinnen „und ihn gegen neue Versuchungen innerlich widerstandsfähiger zu machen" (Spezialprävention). Für den Fall schließlich, daß die Strafe der Gefährlichkeit des Täters nicht wirksam genug begegnen könne, waren die Maßregeln der Besserung und Sicherung vorgesehen. Mit dem Bekenntnis zum Vergeltungsstrafrecht und zu einer nach sittlichen Maßstäben feststellbaren Schuld hatte der Entwurf den Boden weltanschaulicher Neutralität verlassen und sich „auf das Feld der Auseinandersetzung um Menschenbild, Willensfreiheit und die Relativität und Manipulierbarkeit des Sittengesetzes" begeben. Der E 62 hatte die normative Schuldlehre des BGH übernommen und sich unmittelbar auf das Sittengesetz Kant'scher Prägung berufen. Der „im Volk lebendige Begriff der Schuld" und das Leben „nach sittlichen Wertmaßstäben" zeigten sehr deutlich die Einflüsse naturrechtlichen Denkens. Ausgehend von der Entscheidungsfreiheit des Menschen wird das Verbrechen als Verneinung absoluter sittlicher Werte aufgefaßt.

Von den Vertretern der , dfense sociale'ist diese Auffassung eine „im Schafspelz der Wissenschaft betriebene schlechte Metaphysik" genannt worden Woesner warnte: „Wer den Strafrichter zwingt, Sittengesetze wie objektive Rechtsnormen anzuwenden oder als deren Rechtfertigung zu berücksichtigen, setzt sich der Gefahr aus, in das Kraftfeld der Gruppeninteressen zu geraten und dort massiv mit weltanschaulichen Mitteln bekämpft zu werden."

V. Bedeutungswandel des „Sittengesetzes"

Die Vorwürfe gegen den E 62 und die katholische Moraltheologie haben auf katholischer Seite eine neue Begriffsbestimmung des Sittengesetzes gebracht. Der katholische Theologe Böckle hat diese Veränderung wie folgt präzisiert Eine Analyse des Sittengesetzes dürfe nicht von den positiven Gesetzen aus erfolgen. Der Mensch als „nicht triebgesichertes", nicht „vorprogrammiertes" Wesen bedürfe der sozialen Verhaltensregeln, die sittliehen Verhaltensregeln seien ein notwendiger Ausdruck des auf kulturelle Überformung angewiesenen Menschen. Nun gelte der von der katholischen Moral verkündete Sittenkodex als eine schwer veränderliche Größe, aber die moderne Entwicklung habe die kulturgeschichtliche Bedingtheit der biblischen wie der naturrechtlichen Verhaltensnormen deutlich gemacht. Man wisse heute genau, aus welchen zeitgeschichtlichen Quellen die sittlichen Gebote und Forderungen der Bibel stammten; etwas vereinfachend lasse sich der Sachverhalt so deuten: „Die biblische Ethik ist unlösbar verbunden mit der biblischen Religion. Aus der religiösen Überzeugung wird der Sollensanspruch begründet und unveränderlich durchgehalten. Die konkreten inhaltlichen Forde-B rungen sind weitgehend kulturgeschichtlich bedingt, werden aber von der Religion her gedeutet und geformt."

So hätten durchaus auch wirtschaftliche und andere Gründe zum Postulat der Monogamie geführt; oder die Verurteilung homosexuellen Verhaltens habe überwiegend in der religiösen Auseinandersetzung Israels mit seinen Nachbarvölkern und deren Kultur ihren Ursprung: „Man kann also die praktischen Anweisungen der Bibel nicht einfach unkritisch übernehmen und daraus für alle Zeiten gültige Forderungen ableiten. Die Bibel ist kein Moralhandbuch: sie bietet weder ein geschlossenes System noch eine kasuistische Behandlung aller sittlichen Fragen." Die konkreten Forderungen des Sittengesetzes seien in der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Welt-und Selbstverständnis des Menschen immer neu zu gewinnen. Böckle unterscheidet daher ein formales und ein materiales Sittengesetz: „Formal ist das Sittengesetz ein Anruf an die Menschen . . . zur seinsgerechten geschichtlichen Selbstverwirklichung; material aber sind es die in einem geschichtlichen Prozeß dynamisch sich weiterentwickelnden Verhaltensnormen . . ." Diese, wie Böckle selbst sagt, für die meisten wohl neue Sicht des Sittengesetzes führt auch zu Konsequenzen für die Diskussion um das Strafgesetz.

Die Frage muß neu gestellt werden, ob das Sittengesetz „Geltungsgrundlage des menschlichen positiven Gesetzes" (so der Große Her-der) sein kann, und welche primäre Funktion dann das Strafrecht hat. Soll es in bestimmten Fällen allein aus seiner „sittenbildenden Kraft" heraus strafen, ohne Rücksicht darauf, ob die Tat auch gemeinschaftsschädlich war? Der E 62 bekannte sich zu dieser Ansicht und wollte deshalb z. B. auch die Strafandrohung für Ehebruch auf ein Jahr (bisher sechs Monate) her-aufsetzen mit der Begründung, daß „die wesentliche Bedeutung der Vorschrift" darin liege, daß von ihr eine „sittenerhaltende und sitten-bildende Wirkung ausgeht".

Oder soll ein Tatbestand grundsätzlich nur bestraft werden, wenn er sich auch als sozial-schädlich erwiesen hat? Die Mehrzahl der Meinungen befürwortet heute diese These. Böckle betont mehrmals, daß ein bloß sittenwidriges Verhalten zur Bestrafung nicht genüge: „Dinge, die zwar sittlich verwerflich sind, die aber das Gemeinwohl nicht berühren, gehen den irdischen Gesetzgeber nichts an."

Diese Trennung von Strafrecht und Sittlichkeit wirft jedoch mehrere Fragen auf:

Wie ist zu entscheiden in Grenzfällen, in denen eine (sittlich verwerfliche) Handlung sowohl privat als auch sozialbezogen ist? Im (oben zitierten) Urteil des BVerfG zur Homosexualität wurde ein „intensiver Sozialbezug der Handlung" bejaht. Die heterosexuelle Struktur der Gesellschaft kann natürlich durchaus als ein Rechtsgut angesehen werden, das geschützt werden muß. Ist aber andererseits die Homosexualität wirklich sozialschädlich? Das konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Kann aber eine Berufung darauf, daß weite Kreise des Volkes die Homosexualität mißbilligen, zu einer Verurteilung führen? Der Gesetzgeber hat diese Frage verneint und die Strafbarkeit für Homosexualität unter Erwachsenen aufgehoben 48a).

Nun wird dem Strafrecht aber auch eine sitten-erhaltende Kraft zuerkannt. Kann daher nicht durch die Streichung des § 172 (Ehebruch) das Zurückweichen des Gesetzgebers als eine moralische Wertentscheidung aufgefaßt werden? Dem wäre entgegenzuhalten, daß die „ethosstützende" Kraft des Strafrechts (sofern es eine hat) nicht seine „eigentliche und primäre Aufgabe" ist „Das Strafrecht im pluralistischen Rechtsstaat darf allein solche Verhaltensweisen poenalisieren, die gravierende, das Gemeinwohl berührende Gefahren im sozialen Raum darstellen und sich mit anderen, leichteren Mitteln nicht abfangen lassen. Wo das Strafrecht ein bestimmtes menschliches Verhalten nicht erfaßt, kann es daher, richtig verstanden, niemals eine moralische Wertentscheidung des Gesetzgebers bedeuten, sondern höchstens besagen, daß er eine Sozialschädlichkeit verneint." Wenn eine sachliche Begründung die Aufhebung eines Straftatbestan-des fordert, müssen eventuelle negative Folgen dieser Aufhebung auf andere, sozial-adäquatere Weise bewältigt werden.

Nun hat der Gesetzgeber zwar einige offensichtlich nicht mehr tragbare Tatbestände aus dem StGB gestrichen und damit einen Schritt in Richtung auf eine Liberalisierung getan Aber nach wie vor gibt es den Begriff der „Unzucht" im StGB.

Der Bundesgerichtshof hat seine Ansicht darüber. was „Unzucht" ist, zumindest in Bezug auf die Pornographie (also die geschriebene Unzucht) modifiziert. In seiner Entscheidung vom 22. 7. 1969 zur Frage der Unzüchtigkeit des Romans „Fanny Hill" geht er zwar von „auf den Wertvorstellungen unserer Kultur beruhenden sittlichen Grundanschauungen" aus. Er bestätigt auch die ständige Rechtsprechung, nach der eine Schrift dann „unzüchtig" im Sinne des StGB sei, „wenn sie geeignet ist, das Scham-und Sittlichkeitsgefühl des normalen Menschen in geschlechtlicher Beziehung zu verletzen" (S. 1818).

Die Anschauungen darüber, wo die Toleranzgrenze gegenüber geschlechtsbezogenen Darstellungen zu ziehen sei, seien jedoch zeitbedingt und darum dem Wandel unterworfen (S. 1819). Die Rechtsprechung könne nicht an einer tiefgreifenden und nachhaltigen Änderung der allgemeinen Anschauungen vorbeigehen. Die Sexualität werde zunehmend als Grundproblem des menschlichen Lebens offen betrachtet und sachlich erörtert. Das Strafgesetz habe nicht die Aufgabe, auf geschlechtlichem Gebiet einen moralischen Standard des erwachsenen Bürgers durchzusetzen, sondern es habe die Sozialordnung der Gemeinschaft vor Störungen und groben Belästigungen zu schützen.

Besonders die letzte Aussage beinhaltet eine deutliche Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung zu diesem Thema. Wenn das Strafrecht nicht mehr der Aufrechterhaltung einer Sittenordnung zu dienen hat, wenn das ledig-liehvon der sittlichen Norm abweichende Verhalten nicht mehr bestraft werden soll, dann ergeben sich daraus auch Folgerungen für die Interpretation der „guten Sitten" und des „Sittengesetzes".

Nach wie vor gibt es einen strafbaren Verstoß gegen die „guten Sitten". So ist nach § 226 a StGB eine Körperverletzung dann rechtswidrig, wenn sie trotz Einwilligung des Verletzten gegen die „guten Sitten" verstößt. Aus diesem Grunde wurde (wie ausgeführt) die Sterilisation in bestimmten Fällen als rechtswidrig angesehen. Das Landgericht Hannoverhatte bei der Verurteilung von Dr. Dohrn die „guten Sitten" auf das „Sittengesetz" und dieses als „aus sich selbst heraus" geltend auf sich selbst zurückgeführt. Eine solche tautologische Definition ist nicht mehr tragbar.

Eine genaue Auslegung des Begriffs „gute Sitten" ist unbedingt nötig für die Funktion dieser Bestimmung als anwendbares Strafgesetz. Nach der herrschenden Meinung stammt der Begriff der „guten Sitten" aus dem BGB; er wird in ständiger Rechtsprechung als das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden" interpretiert Der historische Überblick von Roth-Stielow zeigt, wie nachdrücklich schon zu Beginn dieses Jahrhunderts bei Diskussionen um das neue BGB darauf geachtet wurde, daß sich nicht bestimmte Moral-vorstellungen etwa über zu weit gefaßte Klauseln in das Gesetz einschleichen und darüber zu anwendbarem Recht werden könnten.

Schon in einer Plenumssitzung von 1896 machte ein Abgeordneter der SPD Einwände gegen den Begriff der „guten Sitten". Er sprach für die Arbeiterklasse und wehrte sich gegen die Einführung dieses Begriffes, weil die soge-nannten guten Sitten eben diejenigen der oberen Bevölkerungsschichten seien. Er bestätigt damit, daß es damals so etwas wie faßbare und in den maßgeblichen Gesellschaftsschichten erkennbar gepflogene „gute Sitten" gab (wenn sie auch oft nur zum Preise der Heuchelei aufrechterhalten wurden). Seine Ausführungen zeigen aber auch, daß die Brauchbarkeit des Begriffs schon damals umstritten war. Ein anderer Abgeordneter (Gröber) definierte damals die Sitte als „Gewohnheit und Anschauung der Allgemeinheit, nicht bloß nach subjektivem Ermessen, und zwar die allgemein in den beteiligten Kreisen als gut gebilligte Gewohn-heit" Die Formel von dem „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden" ist gegenüber der Gröber'schen Definition schwächer und unbestimmter; denn bloßes Gefühl ist weniger als durchgängig geübte Sitte: „Der einzelne Richter wird oft zu leicht bereit sein, seine eigene Gerechtigkeits-oder Moralauffassung mit derjenigen aller billig und gerecht Denkenden gleichzusetzen. Denn jeder Richter wird sich selbstverständlich für einen solchen halten, der gerecht und billig denkt." Das „richterliche Vorverständnis", also die Frage, ob und wie die Herkunft der Richter aus bestimmten sozialen Schichten zu bestimmten Einstellungen und Haltungen führt, die dem einzelnen Richter zwar unbewußt sind, die er aber bei seiner Entscheidung als selbstverständliche Grundlagen voraussetzt, ist nicht nur in jüngster Zeit wiederholt untersucht worden * a), ohne aber bisher breiten Eingang in die Überlegungen der Rechtsprechung gesungen zu haben.

Nun gilt es als erwiesen, daß die Gesellschaft von heute nicht mehr über ungeschriebene, sichere Ordnungsvorstellungen oder einen festen Bestand an sogenannten guten Sitten verfügt. Eine Norm, die die guten Sitten als Beurteilungsmaßstab heranzieht, ist also nur insoweit anwendbar, als es einen festen Bestand an guten Sitten im Sinne der Gröber'schen Formel gibt. Sollte ein solcher Bestand nicht mehr feststellbar sein, muß die entstandene Lücke durch andere Maßstäbe gefüllt werden. Allerdings sind die Begriffe „gerecht" und „billig" hierzu nur bedingt geeignet, da sie zu unbestimmt und dehnbar sind. Auf Moralvorstellungen einzelner Gruppen in der Gesellschaft darf ebenfalls nicht zurückgegriffen werden. „Es kann innerhalb eines bestimmten Lebens-bereiches zu einer abrupt eintretenden und sehr schnell verlaufenden neuen Entwicklung kommen mit der Folge, daß mit den solange geübten Sitten gebrochen werden muß. Liegen hierfür gewichtige Anzeichen und Gründe vor, so ist eine Berufung auf die bisher geübten Sitten nicht mehr möglich". Maßstäbe für die Rechtsfindung können dann nur noch allgemeine Grundsätze wie z. B. die Unantastbarkeit der menschlichen Würde (Art. 1 I GG) oder die Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht (Art. 20 III GG) sein.

Eine konsequente Trennung von Strafrecht und Sittengesetz fordert auch ein überdenken des Schuldbegrifss. Schuld kann nicht mehr allein „sittliches Unwerturteil" (E 62) sein. Von den Verfassern des Alternativentwurfs (AE) wurde daher der Versuch einer Neubestimmung des Begriffs „Schuld" gemacht. Freilich scheint dieser Versuch wenig geglückt.

VI. Der Schuldbegriff im Alternativentwurf

Als Antwort auf den E 62 legten 1966 vierzehn deutsche und schweizerische Strafrechtslehrer einen „Alternativentwurf eines Strafgesetz-buches, Allgemeiner Teil" vor Dieser AE ist inzwischen um einige Abschnitte aus dem Besonderen Teil (Sexualdelikte und politisches Strafrecht) des StGB ergänzt worden. Er spielte bei den Beratungen des Sonderausschusses für Strafrechtsrefom eine wesentliche Rolle. Unter den Mitautoren des AE waren sowohl Vertreter Schuldstrafrechtes (wie Baumann) als auch solche, die einem reinen Maßnahmerecht nahestehen (wie Roxin). Im Ergebnis blieb der AE ein Schuldstrafrecht, doch lag das Hauptgewicht der gesamten kriminalpolitischen Konzeption eindeutig auf Resozialisierung und Sicherung der Gesellschaft. Die Auseinandersetzung: Schuldstrafrecht — ja oder nein? hat für den AE jedoch eine andere Definition von „Schuld" gebracht, als sie im E 62 (sittliches Unwerturteil) enthalten war. Zur Frage: „Was ist überhaupt Schuld?" zitiert Arthur Kaufmann eine Definition aus der Psychologie: „Das Schulderlebnis ist eine leidvolle Erfahrung, ausgesetzt zu sein dem Vorwurf ob des Versagens vor den Forderungen verpflichtender Werte.“ Das Schulderlebnis beruhe auf dem Bewußtsein, sich wegen eines Versagens verantworten zu müssen vor einer persönlichen Instanz, z. B. vor den Mitmenschen, vor der Gemeinschaft, vor dem Staat oder vor dem eigenen Gewissen. Lösung von der Schuld könne nicht durch Verdrängung, sondern nur dadurch geschehen, daß der Schuldige sie selbstveranwortlich übernehme. Sühne in diesem Sinne sei eine aktive sittliche Leistung des Schuldigen selbst. „Er muß die Möglichkeit haben, wieder Frieden zu machen mit sich und der Gemeinschaft. Es ist unmenschlich, ihm diese Möglichkeit zu verwehren, ihn in seiner Schuld zu belassen." Auf den Einwand, daß Sühne ein Akt der Freiheit ist und daß die meisten Verurteilten gar nicht willens sind, ihre Schuld einzugestehen, antwortet Kaufmann, daß Sühne gewiß nicht zu erzwingen sei, aber ebensowenig sei Resozialisierung des Täters zu erzwingen. Beides beruhe auf der Mitarbeit des Täters, und das Strafrecht habe ihm nur die Chance dafür zu bieten. So könne es auch keinen Widerspruch zwischen Schuldstrafe und Resozialisierungsstrafe geben.

Kaufmann stellt weiter die Frage, ob denn ein staatlicher Richter zu einem Schuldvorwurf überhaupt legitimiert sei: „Ist nicht vielmehr das Urteil über die Schuld eines Menschen seinem eigenen Gewissen anheimgestellt? Ganz sicher ist es so. .. Aber das Strafrecht, das auf die Grundgebote der elementaren Sittlichkeit, auf die einfachsten, allgemeinsten . . . Anforderungen des Gemeinschaftslebens beschränkt ist — beschränkt sein müßte, lebt nicht nur im Gewissen des einzelnen, sondern auch in der Öffentlichkeit des kollektiven Bewußtseins." Ein stellvertretendes Gewissensurteil des Richters sei nur dort angängig, wo es sich um die einfachsten Gebote der Sittlichkeit handle.

Sicherlich, auf Raub, Mord oder Diebstahl läßt sich dieser Grundsatz anzuwenden, wenngleich auch die Beschwörung eines „kollektiven Bewußtseins" von dem „im Volke lebendigen Schuldbegriff" des E nicht weit entfernt ist. Aber wäre er auch in den Randgebieten des Strafrechts anwendbar? Eine konsequente Durchführung des Grundsatzes hätte gute Folgen: Das Strafrecht würde auf das eindeutig Kriminelle beschränkt. Aber was geschähe dann z. B. mit dem politischen Strafrecht? Das Schuldprinzip der oben dargestellten Art läßt sich hier eindeutig nicht verwirklichen, aber ebensowenig ist vom Gesetzgeber eine Streichung des politischen Strafrechts oder eine Überführung ins Ordnungswidrigkeiten-recht zu erwarten. Schließlich: Welche Schuld könnte bei Überzeugungstätern festgestellt werden?

Die Frage: „Gibt es überhaupt Schuld?" ist für Kaufmann gleichbedeutend mit der Frage, ob der Mensch zur freien Selbstbestimmung befähigt ist. Mit der freien Selbstbestimmung sei nicht die Freiheit des Indeterminismus gemeint: „Der Akt sittlicher Freiheit besteht nicht in einem Nein zur kausalen Determination, vielmehr in deren Überdetermination, d. h. im Hinzufügen einer eigenen Determinante besonderer Art. . . " 62) Es könne nicht das Problem sein, ob der Mensch generell zu freier Entscheidung und damit zum Schuldig-werden fähig sei; das Problem sei vielmehr, ob er sich im konkreten Fall frei und verantwortlich entschieden habe. „Wir sind hier . . . auf unsere Erfahrung angewiesen. Ob sich ein Mensch in einer bestimmten Situation frei entschieden hat, können wir nur durch einen Vergleich ermitteln, indem wir sein Verhalten mit dem erfahrungsgemäßen Verhalten solcher Menschen konfrontieren, die sich in der gleichen, d. h.: ganz ähnlichen inneren und äußeren Situation befanden."

Zum Verhältnis von Strafe und Schuld bestimmt § 2 Abs. 2 des AE: „Die Strafe darf das Maß der Tatschuld nicht überschreiten." Mit dieser Bindung der Strafe an ein Höchstmaß wollte man darauf hinweisen, daß schuldhaftes Verhalten unabdingbare Voraussetzung jeder Strafe sein solle, und daß keine „Lebensführungsschuld" sondern nur Tatschuld bestraft werden dürfe. Auch der E 62 hatte sich gegen eine Bestrafung einer Lebensführungsschuld ausgesprochen. Er hatte auch zunächst den Grundsatz aufgestellt, daß die Strafe das Maß der Schuld nicht überschreiten soll, ihn dann aber mit folgender Begründung wieder gestrichen: „Gegen diesen Satz bestehen Bedenken. Er erweckt den Eindruck, als sei die Schuld eine feste Größe, der eine feste Meßzahl der Strafe entspreche . . . Würde der Satz gelten, daß die Strafe das Maß der Schuld nicht überschreiten dürfe, so wäre demnach nach oben eine unüberschreitbare Schranke, nach unten aber keinerlei Grenze gesetzt. Beides erscheint bedenklich. Es gibt Fälle, in denen es gerecht scheint, eine gewisse Überschreitung des Schuldmaßes zuzulassen, um dadurch eine nachhaltige Einwirkung auf den Täter zu ermöglichen. . . " Demgegenüber argumentierten die Verfasser des AE: „Gleichwohl liegt in der Bindung des Höchstmaßes der im Einzelfall zulässigen Strafe an die Tatschuld eine rechtsstaatlich notwendige Sicherung. Sie schließt es aus, die Strafe aus spezialpräventiven Gründen — sei es der Besserung, sei es der Sicherung — über diese Grenze hinaus zu erhöhen." Konsequent lautet denn auch § 59 Abs. 1 des AE: „Die Tatschuld bestimmt das Höchstmaß der Strafe . . . während § 60 des E 62 lautet: „Grundlage für die Zumessung der Strafe ist die Schuld des Täters." Dieser Wortlaut wurde vom Sonderausschuß unverändert übernommen und ist auch im Text des neuen StGB enthalten (§ 13 1 StGB).

Zum Verhältnis von Strafe und Maßregel hatte der AE das Prinzip der „Subsidiarität der staatlichen Strafe" aufgestellt: Die staatliche Strafe hat zurückzutreten, wenn die Schuld auf andere Weise gesühnt werden kann. In § 77, 1 des AE ist angeordnet, daß die Maßregel vor der Strafe zu vollziehen und auf die Strafe anzurechnen sei Die Fassung des Sonderausschusses hatte diese Möglichkeit zunächst nur als Kann-Bestimmung enthalten, später aber den Wortlaut der Bestimmung derjenigen des AE angeglichen.

Zusammenfassend charakterisiert Baumann die Grundhaltung des AE so „Bei den Beratungen des AE waren nur kriminalpolitische Argumentationen zugelassen und jede Berufung auf eine . innere Stimme', auf eigene . sittliche Wertvorstellungen'usw. untersagt." Der Schuldgrundsatz des AE sei also nichts Metaphysisches, sondern er gebe vielmehr nur eine Strafbarkeitsgrenze an und limitiere das Maß staatlicher Reaktion. „In etwa kann man sagen, daß der Schuldgrundsatz im Bereich der Strafe das ist, was der Proportionalitätsgrundsatz für die Maßregel darstellt. Das heißt nun nicht, daß etwa den Verfassern ... sittliche Schuld fremd wäre, oder daß man einhellig geglaubt hätte, bei einer Straftat läge nicht auch zugleich sittliches Verschulden vor. Im Gegenteil, es ist meine Überzeugung, daß der Straftäter auch sittlich verwerflich handelt, neben strafrechtlicher auch sittliche Schuld auf sich lädt. Aber das sind Glaubenssätze, die man annehmen mag oder nicht. Ein modernes Strafrecht läßt sich darauf nur schlecht gründen. Für ein modernes Strafrecht sollte eine Basis gefunden werden, die für jeden Rechtsgenossen rational verständlich und sozial annehmbar ist."

Dem Alternativentwurf ist vorzuwerfen, daß er noch zu sehr im traditionellen Strafrechts-denken verhaftet ist. Die Vorstellung, daß Schuld eine meßbare Größe sei, nach der man die Strafe bestimmen könne, ist sicher nicht zukunftsweisend. Kaufmanns Feststellung, daß die analogische Methode bei der Schuldfindung niemals Sicherheit verbürge, daß man sich aber in der Welt immer mit der Ungesichertheit und Vorläufigkeit des Erkennens bescheiden müsse trägt wenig zur Rechtssicherheit bei. „Die Strafzumessung im Richterspruch ist der Angelpunkt zwischen der Setzung der strafbaren Tat und dem Vollzug der Strafe.

Wesentlich hängt daran die Sicherheit des Rechtsgüterschutzes und das Leid des Verurteilten.; , Engt sich der Sachverstand auf das dezisionistische Wagnis ein, verschiebt sich zwangsläufig die Verantwortung auf das Opfer . . ."

Nicht zuletzt aus diesem Grunde wollen die Vertreter eines Maßnahmerechtes ganz auf den Schuldvorwurf verzichten.

VII. Statt Schuld und Strafe: „Defense sociale"

Die Lehre von der defense sociale (Sozial-verteidigung) kann hier nicht in allen Einzelheiten dargestellt werden, dazu wären umfangreiche Ausführungen nötig Die defense sociale verweist den Begriff der Schuld in die Metaphysik; Maßstab für eine Verurteilung des Täters soll ausschließlich seine Gefährlichkeit sein. „Mit den Bestrebungen, die Strafe den Erfordernissen des Täters anzupassen, d. h. mit der Individualisierung der Strafe, wurde ein Weg begonnen, an dessen Ende aus der Strafe eine Maßnahme wird." Die defense sociale sieht im Verbrecher nicht ein isoliertes Individuum, sie begreift darum das Verbrechen auch nicht als das Produkt eines Wesens, das außerhalb der Gesellschaft steht. An der Entstehung eines Verbrechens „hat darum auch jedesmal die Gesellschaft, in der der Verbrecher lebt, einen beträchtlichen Anteil, den sie zu verantworten hat“

Die defense sociale kritisiert auch die Zweispurigkeit des geltenden Strafrechts: „Vergeltungsstrafe und Zweckmaßnahme sind zwei grundverschiedene Antworten auf das Verbrechen. Es ist methodologisch, wissenschaststheoretisch und pragmatisch unmöglich, diese zwei sich ihrem Wesen und Inhalt nach ausschließenden Begriffe miteinander zu vermischen. Hier kann es kein Sowohl-Als-auch sondern nur ein , Entweder-Oder'geben."

Einer der profiliertesten deutschen Vertreter der defense sociale war der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Er setzte sich in seinen Schriften entschieden für eine Entfernung des Schuldbegriffs aus dem Strafrecht ein: „Schuld setzt Freiheit des Willens voraus, diese ist aber wissenschaftlich nicht erweislich. . ." Den Versuchen, eine Willensfreiheit des Menschen zu beweisen, stehen ebensoviele gegenteilige Versuche gegenüber 77 a). Unbestreitbar ist, daß der Mensch Schuldgefühle haben kann. „Gewissensqualen" werden tatsächlich empfunden und können sensible Menschen zur Selbstbestrafung bis zum Selbstmord teiben. Doch ebensowenig, wie ein Minderwertigkeitskomplex der Beweis für einen Minderwert ist, beweisen Schuldgefühle die reale Existenz von Schuld. „Das Schuldgefühl ist der Reflex der mehr oder minder relativen Bewertung der Majorität. Schuldgefühle können daher systematisch produziert werden, und autoritäre Regime sind Meister darin."

VIII. Zusammenfassung und Ausblick

Schuldgefühle werden auch anerzogen; insbesondere in der traditionellen religiösen Erziehung kann eine wichtige Ursache des menschlichen Schuldkompexes liegen: „Mit dem Schuldkompex hält man zunächst Kinder unter Druck, indem ihre Energien psychodynamisch gebunden bleiben und nicht frei werden können für eigene Disponibilität. Die Gewissens-instanz beschränkt unsere Souveränität. Wem zunutze? Die Antwort kann nur lauten, dem äußeren Regiment, der Übermacht von elterlicher, kirchlicher und staatlich institutionalisierter Autorität zum Nutzen." Schuld und Sühne (also Strafe) dienen dazu, den Menschen unter Druck zu halten, ihn abhängig und gefügig zu machen. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit findet ihre Grenze am „sittlichen Unwerturteil" einer höheren Instanz (oder auch der Majorität). „Wie so häufig . . . übersieht man im Täter, wie weit man durch Repression zu seiner Tat, zu der Tat aus ihm beigetragen hat, die dann wieder zur Rechtfertigung dienen muß für strengste Strafen."

Eine Hauptforderung der defense sociale ist deshalb, daß staatliche Maßnahmen gegen Gesetzesübertretungen kriminologisch (d. h. nicht nur juristisch, sondern auch psychologisch, soziologisch, medizinisch) zu fundieren sind. Das dem Schutz der Gesellschaft dienende Recht soll in erster Linie die Aufgabe haben, den Täter gemeinschaftsfähig zu machen. Erst „bei nachweislich mangelnder Resozialisierungsfähigkeit des Täters liegt der Zweck des Rechts in der Sicherung der Gesellschaft"

Der am 7. Mai 1969 verabschiedete neue Allgemeine Teil des StGB ist eine Kompromißlösung zwischen dem E 62 und dem Alternatientwurf. Gegen eine solche Lösung haben sich die Verfasser des AE von Anfang an gewehrt und diese Ansicht auch immer wieder im Sonderausschuß vorgetragen. Zur Fassung des Sonderausschusses führten sie aus: „Beide Entwürfe (E 62 und AE) . . . gehen von einer eigenen kriminalpolitischen Grundeinstellung aus, die vom AE als auf Resozialisierung und Sicherung gerichtet deutlich bekundet wird, dem E 62 als auf Tatschuldvergeltung gerichtet unausgesprochen zugrunde liegt. Es ist nicht möglich, den AE wie einen Steinbruch zu benutzen und aus ihm die eine oder andere Lösung herauszubrechen und sie dem E 62 einzufügen, ohne die Grundauffassung des AE mitzuübernehmen. . . Widersprüche und Ungereimtheiten lassen sich nur vermeiden, wenn das neue Strafgesetz seine kriminalpolitische Grundhaltung ausdrücklich und klar bekannt gibt, wie es der AE in § 2 Abs. 1 ausspricht. Der amtliche Entwurf, auch in der Fassung des Sonderausschusses, spricht eine Grundeinstellung nicht aus."

Die Fassung des Sonderausschusses (Drucksache V/32) wurde in wesentlichen Teilen noch einmal überarbeitet und in der Fassung vom 27. März 1969 nahezu unverändert verabschiedet. Man muß sie als brauchbare Lösung bezeichnen, weil sie in der jetztigen Situation den einzig möglichen Kompromiß darstellt. Einige wesentliche Fortschritte gegenüber dem geltenden Strafrecht, vor allem durch das ausgebaute Maßregelsystem, sollen nicht bestritten werden.

Die in diesem Beitrag gegen das geltende Strafrecht erhobenen Vorwürfe bleiben trotzdem bestehen. Gewiß: Als Ausführungsbestimmungen zu einem „Sittengesetz" kann man das neue Strafrecht nicht mehr ansehen. Aber es ist nach wie vor „Schuldstrafrecht" und damit „irrational mächtig aufgeladen" Auch wenn die Schuld kein „sittliches Unwerturteil“ sein, sondern nur die „Beziehung des Täters zur Tat", die „Vorwerfbarkeit" darstellen soll, läßt sie sich nicht exakt feststellen und messen. Das Gewissen als Instanz ist seit Freud fragwürdig geworden: „Zu Schuldbewußtsein wächst man heran und wird man erzogen. Soweit wir heute wissen, ist es mehr ein Sozialprodukt als eine eingeborene Urstimme." Auf dem Grund dieser Einsicht müssen die Vorarbeiten für ein wirklich neues Strafgesetz geleistet werden. Ein Verzicht auf Strafe, wie ihn die defense sociale fordert, kann für die Bundesrepublik gegenwärtig noch nicht in Betracht kommen. Die Reform muß an der gegenwärtigen Situation anknüpfen, selbst wenn diese Position (z. B. im Vergleich mit manchen skandinavischen Ländern) antiquiert erscheint. Für das Experiment eines reinen Maßnahmerechtes fehlt noch eine große Zahl von organisatorischen Voraussetzungen, über die die deutsche Justiz auch in den nächsten Jahren noch nicht verfügen wird. So wären große finanzielle Aufwendungen sowie eine umfangreiche Gesetzgebungsarbeit notwendig, um den gesamten Strafvollzug so umzugestalten, daß aus der Strafe eine Maßnahme wird.

Zu den gesellschaftlichen Voraussetzungen, die ebenfalls erst noch geschaffen werden müssen, gehört nicht zuletzt auch die Bereitschaft, auf „Rache" zu verzichten, den Täter nicht so zu bestrafen, daß ihm dadurch eine Wiedereingliederung (= Resozialisierung) in die Gesellschaft unmöglich wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, Allg. Anm. E zu §§ 43— 49.

  2. Klug in: Programm für ein neues Strafgesetzbuch, Hrsg. v. Jürgen Baumann, Frankfurt 1968, S. 36.

  3. Erschienen in Berlin 1821.

  4. Die Carolina war das erste allgemeine deutsche Strafgesetzbuch. Nach dem Reichstag in Regensburg 1532 wurde es durch Kaiser Karl V. zum Reichsgesetz erhoben.

  5. Baumann, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Ausl. 1966, S. 17.

  6. Baumann, a. a. O.

  7. Bestritten z. B. von Welzel, Das deutsche Strafrecht, Berlin 1969, S. 242.

  8. In der Tat ist es mit der in Art. 1 I GG garantierten Unantastbarkeit der Menschenwürde unvereinbar, daß z. B. Gewohnheitsdiebe, die zweimal verurteilt wurden, bei einer dritten Straftat neben ihrer Strafe (bzw. hinterher) zu Sicherheitsverwahrung von unbegrenzter Dauer verurteilt werden können, die praktisch einem lebenslänglichen Gefängnisaufenthalt gleichkommen kann. Der Rechtsbrecher wird wie unbrauchbares Material behandelt, das unschädlich gemacht werden muß. (vgl. Hall, in ZStW 70, S. 54). Im neuen AT des StGB ist die Sicherheitsverwahrung auf zehn Jahre begrenzt.

  9. An neuer Literatur vgl, z B. Hochheimer, Zur Psychologie von strafender Gesellschaft, in: Kritische Justiz 1/69, S. 27 ff.

  10. Wiethölter gibt einen (freilich polemischen) Überblick über die Geschichte des Naturrechts in: „Rechtswissenschaft" (Funk-Kolleg Bd. 4), Frankfurt 1968, S. 42 ff.

  11. Vgl. Der Große Herder, Ergänzungsband II, Freiburg 1966, Sp. 888.

  12. Bd. 8, Freiburg 1956, Sp. 759.

  13. Bd. 6, Freiburg 1968, S. 44.

  14. Vgl. Zippelius, Das Wesen des Rechts, München 1965, S. 75.

  15. Wiethölter, a. a. O., S. 74.

  16. Vgl. Hamann, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, Neuwied-Berlin 1961, S. 81.

  17. Vgl. Dennewitz-Wernecke, Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Bonner Kommentar), Hamburg 1950 ff., Art. 2 GG.

  18. v. Mangold-Klein, Das Bonner Grundgesetz, I, Berlin-Frankfurt 1957, S. 185.

  19. Maunz-Dürig-Herzog, Kommentar zum Grundgesetz, 3. Ausl., Lfg. 1- 10, München 1969, Rdn. 16 zu Art. 2 I GG.

  20. Maunz-Dürig-Herzog, a. a. O., Rdn. 16. Zippelius, Wertungsprobleme im System der Grundrechte, München 1962, S. 23 ff.

  21. Der ebenfalls dort noch angesprochene Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz zwischen Mann und Frau (weibl. Homosexualität wird nicht bestraft) kann in diesem Zusammenhang unbeachtet bleiben. Ebenso ist unbeachtlich, daß Homosexualität unter Erwachsenen inzwischen nicht mehr strafbar ist, weil hier nur die Ausführungen zum Sittengesetz interessieren, die das BVerfG auch in anderem Zusammenhang gemacht haben könnte.

  22. BVerfGE 6, 389— 443, Entsch. V. 10. 5. 1957.

  23. „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt."

  24. Die Behauptung, daß Homosexualität in Deutschland von Rechtsprechung und Gesetzgebung stets als unsittlich verurteilt wurde, wird vom BVerfG mit einer Gesetzesvorschrift aus dem Jahre 1927 belegt.

  25. R. Schepper, Wer kennt das Sittengesetz? in: Vorgänge, 1968, S. 431 f.

  26. 1954: BGHSt 6, S. 46— 59. 1962: BGHSt 17, S. 230— 235.

  27. BGHSt 6, 46— 59.

  28. BGHSt 17, 230— 235.

  29. Wiethölter, a. a. O„ S. 127.

  30. Vgl. Manrach, in NJW 1961, S. 1051.

  31. Schönke-Schröder, Kommentar zum StGB, 15. Auf)., München 1970, Vorbem. 4 vor § 173.

  32. So die ständige Rechtsprechung seit RG JW 1936, S. 389.

  33. Ausführlich und kritisch zum Fall Dohrn: Wiethölter, a. a. O., S. 132— 148.

  34. Vql. RG JW 1938, S. 30; BGHSt 4, S. 91.

  35. Vql. Schönke-Schröder, a. a. O., Anm. 6 zu § 226 a.

  36. Wiethölter, a. a. O., S. 133.

  37. Zit. bei Wiethölter, a. a. O., S. 137.

  38. Dr. Dohrn wurde zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt und später vom BGH (Berliner Strafsenat) freigesprochen mit der Begründung: „Es besteht heute keine deutsche Strafvorschrift mehr, die freiwillige Sterilisation mit Strafe bedroht. Diese Gesetzeslücke kann nur der Gesetzgeber schließen." (BGHSt 20. 81— 86, Urt. v. 27. 10. 1964). Diese Entscheidung fand in der Fachwelt keine Zustimmung, vgl. Schönke-Schröder, Anm. 19 zu § 226 a. Zu den Ausführungen des LG über die guten Sitten nahm der BHG nicht Stellung.

  39. Maihofer in: Die deutsche Strafrechtsreform, Hrsg. v. L. Reinisch, München 1967, S. 76.

  40. Entwurf 1962, Bonn 1962, S. 359 ff.

  41. Woesner in NJW, 1965, S. 1249.

  42. Zit. bei Woesner, a. a. O., S. 1250.

  43. A. a. O., S. 1252.

  44. Sittengesetz und Strafrecht in katholischer Sicht, abgedruckt in: Zur Strafrechtsreform, Symposion der deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, hrsg. v. Hans Giese, Stuttgart 1968.

  45. A. a. O„ S. 8.

  46. A. a. O., S. 12.

  47. A. a. O„ S. 12.

  48. Griffin, zit. bei Böckle, a. a. O., S. 15.

  49. Böckle, a. a. O„ S. 16.

  50. Hanack: Empfiehlt es sich, die Grenzen des Sexualstrafrechts neu zu bestimmen? Gutachten zum 47.deutschen Juristentag, München und Berlin 1969, S. 27.

  51. Ausführlich dazu: Hohler, Die Strafrechts-reform — Beginn einer Erneuerung, in NJW 1969, S. 1225; Kunert, Der erste Abschnitt der Strafrechtsreform, in NJW 1969, S. 1229; Horstkotte, Der Allgemeine Teil des StGB nach dem 1. Sept. 1969, in NJW 1969, S. 1601; Sturm, Die Änderung des Besonderen Teils des StGB zum 1. Sept. 1969, in NJW 1969, S. 1606.

  52. NJW 1969, S. 1818 ff.

  53. RG JW 1938, S. 30.

  54. Die guten Sitten als aktuelles Auslegungspro blem, in JR 1965, S. 210.

  55. Zit. bei Roth-Stielow, a. a. O.

  56. Roth-Stielow, a. a. O.

  57. Roth-Stielow, a. a. O.

  58. Alternativentwurf eines Strafgesetzbuches, Allgemeiner Teil, vorgelegt von Jürgen Baumann, Anne-Eva Brauneck, Ernst-Walter Hanack, Arthur Kaufmann, Ulrich Klug, Ernst Joachim Lampe, Theodor Lenckner, Werner Maihofer, Peter Noll, Claus Roxin, Rudolf Schmitt, Hans Schultz, Günter Stratenwerth und Walter Stree, unter Mitarbeit von Stephan Quensel. 2. Ausl. Tübingen 1969.

  59. In: Programm für ein neues Strafgesetzbuch, a. a. O., S. 64.

  60. Kaufmann, a. a. O., S. 65.

  61. A. a. O., S. 69.

  62. A. a. O„ S. 72.

  63. A. a. O., S. 73.

  64. Nach § 20 a StGB konnten bisher „gefährliche Gewohnheitsverbrecher" über das gesetzliche Höchstmaß hinaus bestraft werden. Das wurde mit einer „Lebensführungsschuld" des Täters begründet; ihm wurde vorgeworfen, daß er sich schuldhaft zum Gewohnheitsverbrecher entwickelt habe. (Vgl. BGHSt 2, 209; Mezger ZStW 57, S. 688; dagegen Schönker-Schröder, 13. Ausl., 1967, Rdn. 4 zu § 20 a StGB). Die These von der Existenz einer Lebensführungsschuld geht also davon aus, daß der Täter die Gestaltung seines Lebens völlig selbst in der Hand habe. Sie ist unhaltbar, weil sie die Milieu-und Umwelteinflüsse nicht berücksichtigt und zudem eine solche „Schuld" konkret nicht nachzuweisen ist.

  65. A. a. O„ S. 29.

  66. Vgl. AE a. a. O., der den E 62, den AE und die Fassung des Sonderausschussus von Ende 1968 vergleichend gegenüberstellt. Hier: S. 114.

  67. Vgl. Kaufmann a. a. O., S. 67.

  68. Vgl. dazu § 87 des Sonderausschusses auf S. 138 des AE.

  69. In: Programm für ein neues Strafgesetzbuch, a. a. O„ S. 21 ff.

  70. Auf das umfangreich ausgebaute System der Maßregeln im AE (sowie in der Fassung des Sonderausschusses) kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden. Vgl. dazu die Erläuterungen im AE.

  71. A. a. O., S. 74.

  72. Nedeimann in: Kritik der Strafrechtsreform, Hrsg, von Carl Nedeimann, Frankfurt 1968, S. 61.

  73. Eine grundlegende Darstellung gibt Filippo Gramatica, Grundlagen der defense sociale, Teil 1 und 2, Hamburg 1965; Marc Ancek Die neue Sozialverteidigung, Stuttgart 1970; vgl. auch Fritz Bauer, Auf der Suche nach dem Recht, 1966.

  74. Mergen in: Die deutsche Strafrechtsreform, a. a. O., S. 41.

  75. Mergen, a. a. O., S. 44.

  76. A. a. O„ S. 50.

  77. F. Bauer, Die Schuld im Strafrecht, in: Vom kommenden Strafrecht, Karlsruhe 1969, S. 59 ff. 77d) Vgl. an neuer Literatur z. B. Danner: Gibt es einen freien Willen?, 2. Ausl., Hamburg 1969, der aus der „emotionalen Besetzung des Wollens" seine Determination herleitet.

  78. F. Bauer, Der Zweck im Strafrecht, a. a. O., S. 33.

  79. W. Hochheimer, Zur Psychologie von strafender Gesellschaft, in: Kritische Justiz 1969, S. 27 (35).

  80. Hochheimer, a. a. O., S. 39.

  81. Bauer, a. a. O., S. 18

  82. Stellungnahme zur Fassung des Sonderausschusses, im AE, a. a. O., S. 202.

  83. Hochheimer, a. a. O., S. 34.

  84. Hochheimer, a. a. O.

Weitere Inhalte

Ernst Martin, geb. am 23. Juni 1946, studiert Jura und Politologie in Marburg.