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Schule und Demokratie Der Beitrag Alexander S. Neills zur Verwirklichung einer freien, antiautoritären Erziehung | APuZ 32-33/1970 | bpb.de

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APuZ 32-33/1970 Mitbestimmung und Kommunikation Eine Analyse der Diskussionen um die „innere Pressefreiheit" Schule und Demokratie Der Beitrag Alexander S. Neills zur Verwirklichung einer freien, antiautoritären Erziehung Kultur und auswärtige Kulturpolitik -Versuch einer Neubestimmung

Schule und Demokratie Der Beitrag Alexander S. Neills zur Verwirklichung einer freien, antiautoritären Erziehung

Thilo Castner

/ 36 Minuten zu lesen

I. Die Schule als gesellschaftspolitischer Hebel

Liberale und linksorientierte Soziologen sind sich darin einig, daß die Ursachen für das Ausbleiben einer emanzipierten, Kontrollfunktionen übernehmenden Öffentlichkeit zum großen Teil in der Struktur des bestehenden Schulsystems zu suchen sind. Vor allem folgende Versäumnisse werden genannt: Es ist bis jetzt nicht gelungen, allen Bürgern gleiche Bildungschancen zu verschaffen. Die fortdauernden Sprachbarrieren und einseitig ausgewählte, oft unternehmerfreundliche Bildungsinhalte bevorzugen den Lernprozeß bei den Kindern der Mittelschicht und benachteiligen den der Unterschicht, so daß die Arbeiterschaft, obwohl sie 50 °/o der Gesamtbevölkerung stellt, mit etwa 5 bis 7 °/o bei Abiturienten und Studenten eindeutig unterprivilegiert ist 1). Unterprivilegiert ist auch noch immer die Stellung der Schülerin. Nur 36 °/o der Abiturienten sind Mädchen , nur 17 °/o der Hochschulabsolventen Studentinnen. Infolge alter gesellschaftlicher Vorurteile (starre Rollenfi bis 7 °/o bei Abiturienten und Studenten eindeutig unterprivilegiert ist 1). 2. Unterprivilegiert ist auch noch immer die Stellung der Schülerin. Nur 36 °/o der Abiturienten sind Mädchen , nur 17 °/o der Hochschulabsolventen Studentinnen. Infolge alter gesellschaftlicher Vorurteile (starre Rollenfixierung als Mutter und Hausfrau) erhalten Mädchen eine bei weitem schlechtere berufliche Ausbildung als Jungen; auch Bezahlung für die gleiche Arbeit sowie berufliche Aufstiegschancen sind geringer 2). 3. Die genannte schichtenspezifische Benachteiligung findet in der Erwachsenenbildung ihre Fortsetzung. Nur etwa 5 °/o der Volkshochschul-Besucher sind Arbeiter (in Großbritannien immerhin 25 °/o), weil bis jetzt hinsichtlich Unterrichtsstil und Bildungsangebot kein Konzept entwickelt worden ist, das der Bedürfnis-und Interessenlage einer Industriegesellschaft entspricht. Vielmehr begnügt man sich, ähnlich wie die Bildungspolitiker der Gewerkschaften, mit einer Imitation der bürgerlichen Bildungs-Inhalte und vertieft damit das vorhandene Bildungsgefälle 3). 4. Die Schule erblickt ihre Aufgabe primär darin, die Schüler in die Erwachsenenwelt zu integrieren. Als Haupttugenden gelten Fleiß, gutes Benehmen 4), Ausdauer, Disziplin, Gehorsam, Ordnungsliebe, Aufrichtigkeit und Sorgfalt; angesichts der sich abzeichnenden technologischen Veränderungen auch Mobilität, Abstraktionsvermögen, Reaktionsfähigkeit 5), also insgesamt die Elemente der Anpassung und Unterordnung, öffentliche Tugenden wie Kritikfähigkeit, Zivilcourage, Solidarität, Opposition oder Engagement hingegen sind nicht gefragt und werden, wo sie auftreten, meist negativ sanktioniert 5. In der schulischen Unterrichtsmethodik dominiert noch immer der Lehrervortrag. Der einseitige Informationsfluß vom Lehrer zum Schüler wird nur selten in umgekehrter Richtung unterbrochen. Wo es zu Diskussion und Arbeitsgemeinschaft kommt, bleiben sie auf den Lehrer konzentriert. Die meisten Pädagogen fühlen sich den Jugendlichen wissensmäßig überlegen, lebenserfahrener und positionsmäßig bevorrechtigt. Kritik am Unterrichtsstil des Lehrers gilt im Normalfall als Aufsässigkeit und Dissozialität. Sozialintegrative Lehrformen sind kaum bekannt. 6. Schülermitbestimmung wird somit kaum geübt, weder in methodischen, didaktischen noch personellen Fragen. Die Verfahrenheit der Situation zeigt sich besonders deutlich an der Einrichtung der Schülermitverwaltung: Wohl dürfen die Schüler Lehrer und Direktorat arbeitsmäßig entlasten, eine Mitgestaltung des Schulalltags außer Blumengießen und Geldkassieren jedoch ist nicht möglich. Der Umgang mit Demokratie erschöpft sich in schein-oder verbaldemokratischen Zugeständnissen und Sonntagsreden

Diese Skizzierung beweist, wie sehr das bestehende Schulsystem zur Aushöhlung des Demokratieverständnisses beiträgt. Wie sollen Schüler, die zehn oder mehr Jahre Subordination gelernt haben, selbstbewußte, sich dem Allgemeinwohl verantwortlich fühlende Demokraten werden? Wie sollen junge Menschen, die ihre Lehrer ständig als Vorgesetzte erlebt haben, sich von elitären Vorstellungen lösen und nicht an Begabung als Grundlage allen gesellschaftlichen Aufstiegs glauben? Wie sollen Jugendliche, denen schulische Mitbestimmung stets versagt war, von den Möglichkeiten einer Staatsform überzeugt werden, die auf der Fähigkeit des Mitregierens und -kontrollierens aller Staatsbürger in gleicher Weise aufbaut?

Die konkreten Ausführungen einer Schulverfassung, die Schülern, Eltern und Lehrern die Gestaltung einer demokratischen Schule gestattet und die Autonomie des einzelnen institutionalisiert, sind inzwischen vorgelegt worden Die Hoffnung scheint berechtigt, daß ein Schulsystem, das den Schüler zielbewußt zu Mündigkeit und Verantwortung erzieht und ihm die dazu notwendigen Übungsmöglichkeiten und Lernschemata anbietet, auch zur Demokratisierung der Gesellschaft beiträgt.

Als praktische Versuche können wir lediglich auf Erfahrungen der Halephagenschule in Buxtehude zurückgreifen. Die Oberstufenschüler haben hier die Möglichkeit, ihren Bildungsgang zum Abitur selbst zu bestimmen. Die Unterrichtsinhalte werden in offenen Arbeitsgruppen von Schülern und Lehrern gemeinsam zusammengestellt, und jedem Schüler bleibt überlassen, welcher Arbeitsgruppe er sich anschließt. Wer im Unterricht fehlt, braucht keine Entschuldigung vorzulegen, muß aber den versäumten Stoff nachholen. Paritätisch besetzten Ausschüssen obliegen Aufgaben, die bisher dem Schulleiter oder der Lehrerkonferenz zustanden. Konflikte werden nicht mehr harmonisiert oder autoritär entschieden, sondern offen ausgetragen. Jeder Schüler wählt sich anstelle des bisherigen Klassenlehrers einen Lehrer als Tutor, der ihm zur Seite steht. Und das Ergebnis: Trotz des fehlenden Lernzwanges gab es „kaum weniger” Ausfälle, aber der Arbeitsund Leistungswille hatte sich gesteigert, wahrscheinlich, weil der Lernprozeß kooperativ erfolgte und sich die starre Rollenfixierung von Lehrern und Schülern verringert hatte. Der Direktor der Schule, Johannes Güthling, stellte als vorläufiges Fazit fest:

„Die bisherigen Beratungen haben gezeigt, daß Sachverstand und Urteilsvermögen keineswegs immer an Lebensalter und bestandene Examina gebunden sind — soweit nur dem Schüler wirkliche Mitbestimmungsrechte eingeräumt werden."

So erfreulich die größere Selbständigkeit und Mitbestimmung der Schüler im Buxtehuder Modell auch sein mag, so wäre es doch verfehlt, bereits von einer demokratischen, antiautoritären Schule zu sprechen. Denn einmal bleibt der Reformansatz auf die Oberstufe beschränkt, und zum andern sind das alte Unterrichtsziel sowie die traditionellen Lehrinhalte in Form der Stunden-und Fächertafeln nicht geändert worden. Damit bleibt das Modell elitär und erfaßt die große Zahl der vorzeitigen Schulabgänger ebensowenig wie alle die Buxtehuder Schüler, die andere Schulen besuchen.

II. Das radikale Modell: Summerhill

Eine der wenigen Schulen, -die mit den herkömmlichen Unterrichts-und Erziehungspraktiken gebrochen hatten, ist die Privatschule des Engländers Alexander S. Neill in Summerhill. Großbritannien gilt ja als das „klassische" Land sozialer Utopien und hat auch eine Reihe pädagogischer Modelle und Schulversuche aufzuweisen Summerhill, seit Jahren Gegenstand einer weltweiten pädagogischen Diskussion, steht somit im Rahmen einer langen Tradition, und Neill wäre der letzte, der hinsichtlich der Umsetzung seiner Ideen in die Praxis Originalität beansprucht hätte. Dennoch stellt Summerhill auch in England alle ähnlichen Versuche an Kühnheit und Konsequenz in den Schatten, wie ein kurzer Blick auf Bertrand Russells Privatschule zeigt, die etwa zur gleichen Zeit wie Summerhill gegründet wurde.

Ber'tran*d. Russell als Schuldirektor • Russell verabscheute für die Erziehung seiner eigenen Kinder jede Art sexueller Prüderie und religiöser Belehrung beanspruchte jedoch Freiheit und individuelle Selbständigkeit in einem höheren Maße, als die Public Schools sie damals anboten. Andererseits schreckte Russell davor zurück, seine Kinder auf eine der progressiven Privatschulen zu schicken, in denen, wie er meinte, auf jegliche Disziplin verzichtet würde. So entschloß er sich 1927, die Erziehung von John und Kate mit zusammen 20 anderen Kindern selbst in die Hand zu nehmen. Die Schwierigkeiten und Hindernisse erwiesen sich von Anfang an als unüberwindlich. Da die erhobenen Schulgelder zur Bestreitung der entstehenden Kosten bei weitem nicht ausreichten, mußten Russell oder seine Frau ständig auf Vortragsreisen gehen oder sich mit der Herausgabe neuer Bücher beschäftigen, so daß wenig Zeit für die Leitung des Schulbetriebs übrigblieb. Unter diesen Umständen hielten sich die pädagogischen Mitarbeiter nur äußerst unzureichend an die vom Initiator der Schule aufgestellten Erziehungsgrundsätze. Zudem fanden sich, ähnlich wie in Summerhill, vorwiegend „Problem" -Kinder ein, die voller Ag-gressionsund Destruktionstriebe waren. Es kam zu Tätlichkeiten und Anfeindungen unter den Schülern, wie es bei bisher unterdrückten Kindern zu erwarten ist, und Russell sah sich offensichtlich außerstande, die persönlichen Spannungen anders als durch permanente Aufsicht und Disziplin zu überbrücken. Rückblickend stellte er fest: „Eine Schule ist wie das Leben überall auf der Welt: nur durch Lenkung kann brutale Gewalt verhindert werden." Er postuliert damit Einsichten, die durchaus konservativ und rückschrittlich, ja autoritär und lebensfeindlich klingen und den vorher ausgestellten Anspruch auf Freiheit unglaubwürdig werden lassen. „Kleine Kinder in einer Gruppe", so schreibt er später, „können ohne ein gewisses Maß an Ordnung und Routine nicht glücklich sein. Sich selbst überlassen langweilen sie sich und wenden sich der Tyrannei oder der Zerstörung zu. In ihrer Freizeit sollte ihnen ein Erwachsener zur Verfügung stehen, der ihnen ein vernünftiges Spiel vorschlägt und sie zu einer Initiative anregt, da kleine Kinder dazu kaum in der Lage sind."

Russell gelang es nicht, Freiheit im Alltag der Kinder zu verwirklichen. Bezüglich Gesundheit und Sauberkeit bestanden feste Vorschriften: Die Kinder mußten sich regelmäßig waschen, die Zähne putzen, zur vorgeschriebenen Zeit ins Bett gehen usw. Der große Humanist und Menschenfreund hielt das Recht auf Selbstbestimmung, was das tägliche Verhalten betrifft, für unerheblich. Die höheren Werte lagen außerhalb der Sachwelt des Kindes, und offensichtlich verstand Russell, im Gegensatz zu Neill, nur wenig von Psychologie und Psychotherapie.

Zwar hatten Russell und Neill die gleiche Zielsetzung: Die Kinder sollten zu Selbständigkeit, Mündigkeit und Freiheit erzogen werden. Während jedoch der eine, von Freud inspiriert, als der geborene Erzieher wirkte, handelte der andere rein spekulativ, ohne fundierte Kenntnis der Individuallage des Kindes. „Ich bewundere", schrieb Neill an Russell, „daß zwei Männer, die von so verschiedenen Positionen ausgehen, zu genau den gleichen Schlußfolgerungen finden . . . Während Ihr Kind Sie über die Sterne fragt, wollen meine Schüler etwas über Muttern und Schrauben wissen." Und vorsichtig deutet Neill im weiteren Verlauf des Briefes an, daß er sich nicht als Wissenschaftler oder Philosoph, sondern als Pragmatiker versteht. Die Unterschiede werden deutlich, wenn man sieht, was den Schülern Neills in Summerhill alles erlaubt war.

Das Leben in Summerhill 1. Neill ging davon aus, daß die Fähigkeit zu freier, individueller Lebensführung sich nicht von selbst einstellt oder durch Willensstärke erzwungen werden kann, sondern wie jede an-dere Verhaltensweise erlernt werden muß, und zwar in einer Umwelt, die radikal auf Zwang, Unterdrückung und Bevormundung verzichtet, auch in Form des freundlichen Zuredens und Belohnens. So erhielten die Schüler in Summerhill Freiheit ohne Lenkung in einem Umfang, wie sie Russell anarchistisch erschienen wäre. Den Jungen und Mädchen stand es nicht nur frei, die Schulfächer zu wählen, die sie interessierten, sondern auch der Besuch der Stunden selbst war freiwillig. Niemand wurde zum Unterricht gezwungen, genötigt oder überredet. Viele Kinder lernten erst mit acht, neun Jahren lesen und schreiben, in einem Fall sogar erst zu Beginn der Pubertät, weil Neill die Auffassung vertrat, daß jeder Lernprozeß unter Zwang, ohne die innere Zustimmung und Bereitschaft des Lernenden, zu seelischer Verkrüppelung, Unterwürfigkeit und Lebensangst führe. „Daseinszweck des Kindes ist es, sein eigenes Leben zu führen — nicht das Leben, das es nach Ansicht der besorgten Eltern führen sollte oder das den Absichten des Erziehers entspricht, der zu wissen glaubt, was für das Kind am besten ist. Solche Einmischung und Lenkung von Seiten Erwachsener hat lediglich eine Generation von Robotern zur Folge. — Man kann Kinder nicht dazu zwingen, ein Instrument zu spielen oder etwas zu lernen, ohne sie damit in einem gewissen Ausmaß zu willenlosen Erwachsenen zu machen. Man macht sie zu Konformisten — eine gute Sache für eine Gesellschaft, die gehorsame Diener an trübseligen Schreibtischen und hinter Ladentischen braucht..."

Auch in der Freizeit konnten die Schüler fast immer tun, was sie wollten, nämlich vor allem spielen. Aufsichten gab es nur beim Schwimmen im offenen Meer, und den Lehrern war ein Eingreifen nur erlaubt, wenn Gesundheit oder Leben der Betreffenden gefährdet schien. Wie die Kinder sich anzogen, frisierten, die Mahlzeiten zu sich nahmen, ob und wie sie grüßten, aufstanden, sich wuschen usw. wurde in keiner Weise vorgeschrieben. Auch Fluchen, Schimpfen, Schreien wurde nicht bestraft oder sonstwie negativ sanktioniert, was zur Folge hatte, daß die meisten Schüler diese Freiheiten bald nicht mehr mißbrauchten und zu sozialem Verhalten fanden. Selbst Diebstähle gingen oft straffrei aus, wobei Neill immer dann, wenn das Stehlen einer Zwangshandlung entsprach, das Kind sogar zum Stehlen ermutigte oder selbst daran teilnahm. Dasselbe wird über Bettnässen und notorisches Lügen berichtet. So konnte ein Schüler ein Fenster nach dem anderen einschlagen, ohne daß Neill einschritt, weil ihm die seelische Entlastung in Form des Aggressionsabbaus wichtiger war als der entstandene Schaden. 2. Neill hatte sich immer wieder gegen den Vorwurf wehren müssen, die von ihm praktizierte Nichteinmischung in die Bedürfnisse seiner Schüler sei gleichbedeutend mit Zügellosigkeit und Anarchie. „Den Unterschied zwischen Freiheit und Zügellosigkeit können viele Eltern nicht begreifen. In einem Heim, in dem Disziplin herrscht, haben die Kinder keine Rechte. In einem Heim, in dem sie verwöhnt werden, haben sie alle Rechte. In einem guten Heim haben Kinder und Eltern jedoch gleiche Rechte. ... Es muß immer wieder darauf hingewiesen werden, daß Freiheit nichts mit Verwöhnen zu tun hat."

Die Freiheit eines normalen, also nicht neurotisierten Kindes fand natürlicherweise dort ihre Grenzen, wo die Interessen anderer verletzt wurden. Neill erlaubte es nicht, daß Schüler ihn bei der Arbeit störten oder seine frisch gepflanzten Kartoffeln herausrissen. Er schloß auch das Handwerkszeug ein und verbot, auf seiner Schreibmaschine zu hämmern oder auf dem Eßtisch spazierenzugehen. Andererseits aber achtete er die Eigentumsrechte der Schüler ebenso sehr, und wenn ihn der 5jährige Billy bat, seine Geburtstagsfeier zu verlassen, zu der er nicht eingeladen war, so befolgte er diesen Wunsch. „Niemand darf sich auf den Konzertflügel stellen, und ich kann auch nicht einfach das Fahrrad eines Jungen benutzen, ohne ihn um Erlaubnis zu bitten. In einer Schulversammlung hat die Stimme eines 6jäh-rigen ebenso viel Gewicht wie meine." Da die Begrenzung des Freiheitsdranges durch die Ansprüche der Umwelt einzusehen war und das Recht des Kindes dem des Erwachsenen als ebenbürtig galt, stießen die beschriebenen Persönlichkeitseinschränkungen im Normalfall auf keinerlei Widerspruch oder Unverständnis, zumal der Gleichheitsgrundsatz zwischen Lehrern und Schülern nicht gepredigt, sondern vorgelebt wurde

Neill achtete darauf, daß die Respektierung des Freiheitsraumes der Mitschüler und Lehrer nicht durch Drill und Strafe anerzogen, sondern im täglichen Umgang erfahren wurde. Wer sich lediglich unter Zwang sozial integrieren läßt, wird diese Haltung leicht aufgeben, sobald der Zwang gelockert wird oder fortfällt Neuankömmlinge, die auf anderen Schulen zu „guten Manieren" erzogen worden waren, benahmen sich in Summerhill anfangs „wie junge Wilde". Da sie ihren bis dahin unterdrückten Regungen und Wünschen freie Bahn lassen durften, tobten sie sich zunächst rücksichtslos aus.

Freiheit und Selbstregulierung wird aber ebensowenig verwirklichen können, wer als Kind verzogen und verwöhnt worden ist und die Rechte anderer nicht zu beachten brauchte. Nachgiebigkeit in jedem Fall, Liebe und Zärtlichkeit auch dort, wo sich kein frühkindliches Bedürfnis, sondern ein unkontrolliertes Besitz-und Machtstreben regt, verwechselt Erziehung mit Schwäche. Darum mahnt Neill zu Recht: „Man sollte einem Kind nicht alles geben, was es haben will. Im allgemeinen bekommen Kinder heutzutage viel zuviel, so daß sie es gar nicht mehr zu schätzen wissen, wenn man ihnen etwas schenkt. Eltern, die ihre Kinder mit Geschenken überhäufen, lieben sie häufig nicht. Sie möchten ihr Versagen kompensieren, indem sie ihre Elternliebe demonstrativ zur Schau stellen. Sie handeln damit ähnlich wie der Mann, der seine Frau betrogen hat und ihr nun großzügig einen Pelzmantel schenkt, den er sich eigentlich nicht leisten kann." Die Verwechslung von Freiheit und Verwöhnung zählt zweifellos zu den gravierendsten Mißverständnissen, die Summerhill gegenüber gemacht worden sind. 3. Bis auf einige wenige Punkte (z. B. Einstellung und Bezahlung der Lehrkräfte, Verwaltung der Küche, Kontrolle der Einnahmen und Ausgaben) verwalteten die Schüler in Summerhill ihre Anliegen selbst. Einmal in der Woche trafen sich Lehrer und Schüler, um die für das gemeinsame Zusammenleben notwendigen Beschlüsse zu fassen, um Strafen für gemeinschaftsschädigendes Verhalten auszusprechen oder um über allgemeine Schulprobleme zu diskutieren und nachzudenken. Die Sitzungen wurden stets von einem Schüler geleitet, der als amtierender Vorsitzender am Ende der Aussprache den Leiter der nächsten Sitzung bestimmte.

Nach den Erfahrungen Neills waren diese Schulversammlungen außerordentlich beliebt und gut besucht und funktionierten nahezu reibungslos. Da Lehrer wie Schüler jeweils nur eine Stimme besaßen, fühlten sich die Schüler nie bevormundet und stimmten gemäß ihrer jugendlichen Bedürfnislage und ohne Ressentiment nach irgendeiner Richtung. Die vom Plenum erlassenen Verordnungen (z. B. Rauchverbot im Schlafzimmer) fanden Anerkennung bis zum nächsten, oft entgegengesetzten Erlaß. Bei Verstößen fällten die Schüler Urteile, die nicht den Täter strafen, sondern das begangene Unrecht aus der Welt schaffen sollten. Wer beispielsweise andere beim Schlafen störte, wurde eine Woche lang eher ins Bett geschickt. Jungen, die andere mit Erdklumpen beworfen hatten, mußten Erdlöcher auf dem Hockeyplatz ausfüllen; drei Mädchen, die in der Speisekammer geplündert hatten, wurden zur Abgabe ihres Taschengeldes verurteilt, (als sie die Diebstähle wiederholten, allerdings mit 10 Pf. „belohnt") Da sich die jugendlichen Richter leicht in die Lage des Täters versetzen konnten, gelangen ihnen vielfach gerechtere Urteile, als es Erwachsenen möglich gewesen wäre. Als ein Junge einmal einem anderen Schüler die Fahrradpedale gestohlen hatte, da seine eigenen kaputt waren und er unbedingt auf eine Radtour mitwollte, das wöchentliche Taschengeld der Eltern aber ausgeblieben war, beschlossen die Schüler, eine Geldsammlung durchzuführen und auf jede Strafe zu verzichten. „Der Gerechtigkeitssinn von Kindern", so urteilte Neill, „setzt mich immer von neuem in Erstaunen. Auch ihre administrative Begabung ist bemerkenswert. . . . Schon oft habe ich erlebt, daß ein Junge, der gerade eine lange Strafhandlung hinter sich hatte und verurteilt worden war, am Ende der Versammlung zum Vorsitzenden für die nächste Sitzung bestimmt wurde."

Anarchistische Regungen blieben nicht völlig aus, wurden aber nach kurzer Zeit durch die Schüler, nicht durch Neill oder seine Lehrer, aufgefangen. Als z. B. die jüngeren Schüler unter Anführung einer neuen Schülerin, für die das freie Zusammenleben auf Grund fehlender Erwachsenenautorität verwirrend war, die Anarchie ausriefen, sich Sägen aus der Werkstatt holten, um alle Obstbäume zu fällen, da war die Begeisterung schon nach zehn Minuten verflogen, und noch am gleichen Tag wurde eine neue Schulversammlung einberufen. Der Gesamtschaden des anarchistischen Zustandes war ein zersägter Garderobenständer

Ais Voraussetzung für das Funktionieren einer Schülerselbstverwaltung nennt Neill allerdings die Anwesenheit einiger älterer Schüler. „Kinder unter zwölf . . . können sich allein nicht organisieren, weil sie noch zu jung sind, als daß sie gemeinschaftsfähig wären. Trotzdem versäumen in Summerhill selbst Siebenjährige nur selten eine Schulversamm-lung." 4. Der Fächerkanon Summerhills sah weder Religionsunterricht noch irgendeine Unterweisung in Moral oder Sittenlehre vor. Hätten die Schüler danach verlangt, so wäre ihrem Wunsch entsprochen worden, doch ist dieser Fall nach den Aussagen Neills nie eingetreten. Die Schule setzte sich zur Aufgabe, die jungen Menschen realistisch, das heißt, den Problemen und Schwierigkeiten des Lebens zugewendet, zu erziehen und nicht mit bestimmten moralischen Normen zu belasten. Begriffe wie Sünde, schmutzig oder sauber spielten in Summerhill keine Rolle. Alle Erscheinungen der Lebenswirklichkeit, auch die der Sexualität, des Stehlens oder Fluchens, wurden weder als gut noch als böse klassifiziert, sondern als Fakten behandelt. Neill ermutigte seine Schüler, über ihre sexuellen Probleme offen zu sprechen, und wo er unterdrückte Triebregungen (z. B. Onanieverbot) feststellte, versuchte er, sie zu lösen, indem ei’ die Ursachen der Unterdrückung besprach. Wer in Summerhill als Schüler oder Lehrer nackt baden wollte, konnte dies tun, ohne Aufsehen zu erregen. Ebensowenig war das Zeigen pornographischer Werke verboten, es stellte jedoch in den Augen der Schüler, die bereits länger auf der Schule waren, keinerlei Anreiz dar. 5. Neben dem Besuch normaler Unterrichtsstunden hatten die Schüler Gelegenheit, bei Neill Privatstunden zu nehmen. Diese Einrichtung war in erster Linie für seelisch gestörte Kinder gedacht, die im Einzelgespräch durch therapeutische Betreuung von ihren Zwangshandlungen und einseitigen Moralvorstellungen geheilt werden sollten. Da Summerhill stets eine Reihe von Kindern aufnahm, die infolge der bisher genossenen autoritären Erziehung neurotisch geworden waren und sich mit der Rolle des Schulversagers, Bummelanten oder notorischen Störenfrieds abgefunden hatten, stellte ein fundierte psychologische Behandlung oft die einzige Möglichkeit zur Persönlichkeitsfindung bzw. Resozialisierung dar. Neill half den seelisch erkrankten Schülern, indem er ihren Zwangs-oder Ersatzhandlungen freien Lauf ließ oder sie in ihren Triebwünschen noch unterstützte, etwa indem er einem zum Diebstahl neigenden Jungen Tips gab, die Eisenbahn um das Fahrgeld zu prellen, einen Lügner „belohnte", indem er auf fingierte Telefonanrufe einging und erschwindelte Geldbeträge aus eigener Tasche bezahlte; die Wonne eines Mädchens an Schmutz und Unsauberkeit durch den Vorschlag stärkte, das Gesicht mit Kohlenstaub zu schwärzen

Darüber hinaus wurden neurotisierte Kinder wegen ihrer Fehlhandlungen und Schwächen nicht gerügt oder bestraft, auch wenn schwere antisoziale Wirkungen auftraten. Neill stellte sich vielmehr stets auf die Seite des jugendlichen Übeltäters und versuchte, das schlechte Gewissen, die Fixierung des Kindes auf eine bestimmte Handlung, durch Beteiligung am Delikt abzubauen. „Ich hatte einmal einen dick-liehen Jungen, der auf der psychischen Stufe eines Drei-oder Vierjährigen stand. Er stahl im Geschäft. Ich beschloß, mit ihm in ein Geschäft zu gehen und in seinem Beisein zu stehlen (nachdem ich vorher das Einverständnis des Ladenbesitzers eingeholt hatte). Für diesen Jungen war ich Vater und Gott.. .. Meine Überlegung war, daß er sein Gewissen betreff Stehlen revidieren müßte, wenn er seinen Vater-Gott stehlen sah." 6. Die Erziehung zu freiem, spontanem Verhalten beruhte weitgehend auf dem Verzicht aut autoritäre Strukturen. Neill wußte, daß Jugendliche keinen „Chef" in ihm oder anderen Lehrern sehen wollten, wohl aber den väterlichen Freund und Vertrauten. Zwar genoß Neill, den die Kinder stets scheinbar respektlos mit seinem Familiennamen und nie mit „Sir" anredeten, hohes Ansehen, doch beruhte diese Achtung nicht aufgrund seines Amtes als Schulleiter, sondern in den Fähigkeiten und Haltungen, die er vorlebte. Die Zurückweisung religiöser, mystischer und moralischer Ansprüche trug ebenfalls zum Abbau von Autorität und Führung wesentlich bei. Die Kinder mußten kein höheres Wesen als letzte Instanz und Befehlsträger verinnerlichen und fürchten, und da lebensfeindliche Moralgebote fehlten, konnte kein Uber-Ich entstehen, das permanent Gewissensbisse produziert. Weisungen und Vorschriften auszusprechen lag allein in der Kompetenz der Schulversammlung, doch da jeder Summerhill-Bewohner an diesen Aussprachen teilnahm, waren auch die dort erlassenen Gesetze nicht autoritär, sondern Ergebnis einer transparenten und demokratischen, dem Individuum Mitsprache und Einfluß gewährenden Lebensordnung.

Die herrschaftsfreie Atmosphäre hatte sich auf allen Ebenen des sozialen Zusammenlebens durchgesetzt. „Besucher sagen immer wieder", so berichtet Neill, „sie könnten in Summerhill Schüler und Lehrer nicht auseinanderhalten. Diese Beobachtung ist richtig: denn in einer Schule, in der die Kinder anerkannt werden, bilden Lehrer und Schüler tatsächlich weitgehend eine Einheit. Es gibt keine Ehrerbietung den Lehrern gegenüber. Lehrer und Schüler bekommen das gleiche Essen. Es gelten für sie dieselben Regeln der Gemeinschaft. Die Kinder nähmen es übel, wenn die Lehrer Vorrechte hätten."

III. Die anthropologische Konzeption in Summerhill

Der Praxis in Summerhill liegt ein theoretisches Konzept von der Natur des Menschen sowie der Aufgabe der Erziehung zugrunde, ohne deren Kenntnis die von Neill eingeführten Methoden in der Tat verwirren und bestürzen müssen.

Neill hat sich immer wieder auf die Psychoanalyse Sigmund Freuds sowie auf das Werk seines Freundes Wilhelm Reich berufen. Summerhill ist der erste Versuch, die psychologi-Einsichten der letzten 50 Jahre pädagogisch konsequent umzusetzen, wobei außerdem noch die Erfahrungen Homer Lanes bei der Gründung der Gemeinschaftskolonie „Little Commonwealth" auf einer Farm in Dorset Berücksichtigung fanden.

Freiheit und Selbstbestimmung stellen nach Neill die höchsten Werte dar, deren sich Erzieher anzunehmen haben. Gemäß seiner Auffassung vom Leben kommen Kinder nicht als gute oder schlechte Menschen auf die Welt, sondern werden erst durch die Prägung ihrer sozialen Umwelt gut oder schlecht. Deshalb liegt es an der Erziehung, welche soziale Entwicklung der einzelne nimmt.

Freud, hatte erstmals den Beweis angetreten, daß die zunehmende Verletzung humaner Inhalte im Zuge der technischen Zivilisation Folge einer übergroßen Triebunterdrückung sei: indem man dem Menschen überhöhte Kulturleistungen (in Wissenschaft, Kunst und vor allem in der Wirtschaft) zugunsten der Allgemeinheit auferlege, würde den sexuellen oder lebensbejahenden Bedürfnissen eine spontane Befriedigung verwehrt. Nichtbefriedigung oder Aufschub der Lust führten jedoch, sofern ein bestimmtes Ausmaß überschritten sei, zu schweren Schädigungen im Triebhaushalt. Das Gleichgewicht zwischen Eros-oder Lebenstrieb und Todes-oder Destruktionstrieb werde beeinträchtigt mit der Folge, daß die unterdrückten Bedürfnisse an anderer Stelle pervertiert zum Durchbruch gelangen und Nervosität, Lebensangst, Haß und Aggression hervorrufen. „Die Schicksalsfrage der Menschheit", so schloß Freud seine Abhandlung über das Unbehagen in der Kultur, „scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kultur-entwicklung gelingen wird, der Zerstörung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressionsund Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden.. . . Die Menschen haben es in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist zu erwarten, daß die andere der beiden . himmlischen Mächte’, der ewige Eros, eine Anstrenung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner (= der Todestrieb, T. C.) zu behaupten."

Ganz ähnlich beurteilt Neill die allgemeine Lage: „Unsere Erziehung, unsere Politik, unser Wirtschaftssystem führen zum Krieg. Unsere medizinische Wissenschaft hat mit den Krankheiten nicht aufgeräumt. Unsere Religion hat weder Wucher noch Raub aus der Welt geschafft. . . . Neue Weltkriege drohen auszubrechen, weil das soziale Gewissen der Welt noch immer primitiv ist. — Stellen wir ein paar unangenehme Fragen! Warum haben Menschen offensichtlich sehr viel mehr Krankheiten als Tiere? Warum hassen und töten Menschen im Krieg, während Tiere das nicht tun? Warum gibt es immer mehr Krebskranke? Warum geschehen so viele Selbstmorde, so viele Sexualverbrechen? Warum gibt es den Haß, der Antisemitismus heißt? Warum werden Neger gehaßt und gelyncht? Warum Bosheit und Verleumdung? Warum gilt alles Sexuelle als obszön und muß für schmutzige Witze herhalten? Warum ist es ein gesellschaftlicher Makel, ein uneheliches Kind zu sein? . . . Warum, tausend Warums zu dem gepriesenen Zustand unserer Zivilisation, die es so herrlich weit gebracht hat!"

Aus den Untersuchungen Reinhard und Anne-

Marie Tauschs geht sehr deutlich hervor, daß der Unterrichts-und Erziehungsstil der meisten Lehrer unserer Schulen als autokratisch, nicht aber als sozialintegrativ bezeichnet werden muß. Die Anzahl der autoritär vorgehenden Lehrkräfte wird auf über 90 0/0 angegeben. Als Merkmale autokratischer, führerzentrierter Verhaltensformen gelten dabei: „Häufige Befehle oder Anordnungen — Vorwürfe, Ungeduld, Kritik, Tadel, Setzen von Bedingungen — Verwarnungen, Drohungen, Strafen — Großes Ausmaß des Redens und Fragens — Geringe Respektierung von Wünschen und Belangen sog. untergebener Personen — Ungleiche Rechte von Führenden und Untergebenen — Überzeugung des Leiters von der Notwendigkeit häufiger Kontrolle der Geführten — Geringe Akzeptierung anderer Menschen — Geringes echtes Verständnis für sog. Untergebene durch den Leiter — Eindeutige Determinierung der Aktivität der Geführten durch Erfahrungen, Urteile und Entscheidungen des Leiters — Geringe Möglichkeit der Nachahmung des Verhaltens des Leiters durch sog. Untergebene."

Neben Konzentrationsschwäche, häufiger Frustration, Unfähigkeit zu individueller Problemlösung, geringer Lernmotivation und vorwiegend rezeptivem Verhalten führt der autoritäre Unterricht nach Tausch vor allem auch zur Übernahme von Vorurteilen beim Schüler sowie zu konformistischem Denken: „Konformismus steht somit in positivem Zusammenhang mit autoritärem Verhalten und in entgegengesetzter Beziehung zu Toleranz, sozialer Teilhabe, Verantwortlichkeit sowie effektivem, intelligentem Verhalten. Bei weiteren Untersuchungssituationen zeigten sich bei Personen mit größerer Tendenz zu Konformismus folgende weitere Merkmale: submissives, gefälliges Verhalten gegenüber Autorität, genaues Befolgen von Vorschriften, geringe Breite des Interesses, Überkontrolle eigener Impulse und Hemmungen, Unfähigkeit, Entscheidungen ohne Zögern oder Verzögerungen zu treffen, Streben nach klarer Symmetrie, Intoleranz gegenüber Doppeldeutigkeiten .. . Sie zeigten ferner weniger Spontaneität und produktive Originalität sowie mehr Vorurteile. Hinsichtlich der Erziehung ihrer eigenen Kinder waren konformistische Personen mehr restriktiv."

Den Ausweg aus diesem Zustand der selbst-verschuldeten Unmündigkeit und Unfreiheit sieht Neill ebenso wie Freud allein in der bewußten Stärkung des Libidooder Lustprin-zips. Erst wenn Zwang und Unterdrückung bei der Erziehung von Kindern und Jugendlichen konsequent überwunden und die spontanen Bedürfnisse des Heranwachsenden, auch und vor allem in den ersten Lebensjahren, ohne Verzögerung befriedigt werden, kann eine neue Generation heranreifen, die dem Leben uneingeschränkt positiv gegenübersteht. Neill war davon überzeugt, daß zwischen einer strengen, den individuellen Regungen des Kindes keinen Raum lassenden Erziehung in Familie und Schule und den antihumanitären Handlungen faschistischer oder technokratischer Staaten ein zwingender Zusammenhang besteht. Das gegenwärtige westliche Schulund Erziehungssystem ist seiner Überzeugung nach dazu angetan, feige, gefügige Untertanen und konformistische Staatsbürger zu erzeugen.

„Die Erziehung des kleinen Kindes ähnelt sehr der Dressur eines Hundes. Das geschlagene Kind wird wie das geschlagene Hündchen zu einem folgsamen, duckmäuserischen Wesen. Und wie wir einen Hund zu unseren eigenen Zwecken abrichten, so erziehen wir auch unsere Kinder. Im Kinderzimmer wie im Zwinger: die menschlichen Hunde müssen reinlich sein, sie dürfen nicht zuviel bellen, sie müssen der Pfeife gehorchen, sie müssen essen, wann es uns paßt. — Ich sah, wie 1935 hunderttausend folgsame, kriecherische Hunde auf dem Tempelhofer Feld in Berlin mit dem Schwanz wedelten, als der große Trainer Hitler seine Befehle pfiff."

Aus diesem Grunde ermöglichte Neill seinen Schülern jede Form der Glücksentfaltung und verbannte harte Arbeit sowie Lernen unter Zwang. Die Verlagerung des Schwerpunktes vom Realisationsprinzip zugunsten des Lust-prinzips werde, so hoffte er, die spontane Befriedigung der kindlichen Bedürfnisse anregen und Zufriedenheit, Lebensbejahung, Kreativität und Originalität hervorrufen. Die freie Entwicklung des Trieblebens, nur dort eingeschränkt, wo die Interessen anderer tangiert werden, bewirken seiner Überzeugung nach eine offene, optimistische Einstellung zum Leben und gleichzeitig Immunität gegen Haß, Sadismus, Brutalität und Unterwürfigkeit. Nur wer seine Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen realisieren und aus der Befriedigung der vorhandenen Triebenergien Lust ziehen könne, werde das Leben lieben. „Ein glücklicher Mensch hat sich noch nie zum Störenfried hergegeben, Krieg gepredigt oder einen Neger gelyncht. . .

Die beschriebenen ungezwungenen, unkontrollierten Lebensformen in Summerhill dienten somit einem doppelten Ziel. Einerseits sollten freie, nichtautoritäre Charaktere erzogen werden, die ihrer eigenen Existenz sowie der Umwelt lebensbejahend gegenüberstehen. Nicht die Fülle der verinnerlichten Dressuren, Wissenspensen oder aufoktroierten Verhaltensweisen machte den Inhalt der Erziehung aus, sondern allein das Maß der freigesetzten Lebensenergie und spontanen Aktivitäten.

Andererseits sollte eine Erziehung in Freiheit und Selbstbestimmung zur Abwehr faschistoider, antisozialer und ideologisch verkrusteter Strukturen beitragen und zu politischer Mündigkeit führen. Denn Konformismus, Freude an Grausamkeit, Unterdrückung und Herrschaft, im familiären wie im gesellschaftlichen Bereich, waren für ihn stets Folge autoritärer Erziehung als Nichtbeachtung der seelisch-geistigen Bedürfnisse und Ansprüche des jungen Menschen.

Dieses anthropologische Konzept ist durch die Ergebnisse der Sozialwissenschaften voll bestätigt worden. So erblickt beispielsweise Erich Fromm in der Förderung „spontaner Aktivität" den einzigen Weg zur persönlichen Freiheit, hingegen in Bevormundung und autoritärer Führung den Ursprung aller Minderwertigkeitskomplexe, Lebensschwäche, Selbst-

vernichtung und Aggression. Demokratie als Lebensform verlangt seiner Ansicht nach „die volle Bejahung der Einzigartigkeit des Individuums", die nur so zu erreichen sei, daß dem einzelnen von Anfang an, schon im Säuglings-alter, eigenes Fühlen, Wollen und Denken gestattet werden. Begriffe wie Freiheit, Selbstbestimmung, Initiative, Spontaneität, soziale Verantwortung, Demokratie, Vernunft und individuelles Glück erscheinen ihm als Synonyma, ebenso Friedfertigkeit, Altruismus und Liebe Entsprechend interpretiert er den Nationalsozialismus als Endzustand einer Erziehung, die den „Individuations-Prozeß" systematisch verhindert Ganz ähnlich deutet Herbert Marcuse Phänomene wie „Konzentrationslager, Massenvernichtung, Weltkriege und Atombomben" nicht als „Rückfall in Barbarei", sondern als äußersten Anspruch auf Herrschaft von Menschen über Menschen, hervorgerufen durch übergroßen Triebverzicht und daraus resultierender Lebensangst und pervertierter, weil versagter Liebe Und auch Marcuses theoretischer Entwurf zur Überwindung von Gewalt und Repression entspricht Neills Praxis. Denn wenn Marcuse, unter Bezug auf das philosophische Werk Friedrich Schillers, den menschlichen Spieltrieb als „Vehikel der Befreiung" ansieht und für eine Versöhnung der „Gesetze der Vernunft." (= technische Welt) mit den „Interessen der Sinne" (= Trieb-und Bedürfnisstruktur des Menschen) eintritt so finden sich diese Forderungen in Summerhill in ihrer ganzen Tragweite berücksichtigt.

IV. Die Erfolge von Summerhill

Die in Summerhill erzielten Ergebnisse haben Neill und der von ihm vertretenen Theorie weitgehend recht gegeben. Trotz des fehlenden Lernzwanges lernten auch seelisch gestörte Kinder nach einer gewissen Übergangszeit aus freien Stücken gern und intensiv. Der gewährte Vorschuß an Vertrauen und Anerkennung bewirkte in den meisten Fällen, daß vorher sozial verwahrloste und aufsässige Kinder, für die es nur noch den Weg in dissoziale Verhaltensweisen zu geben schien, geheilt und lebenstauglich gemacht wurden, nicht durch Überredung, geschicktes Taktieren oder pädagogische Manipulation, sondern durch die Bereitstellung von Freiheitsund Spielräumen.

Wirklich große Persönlichkeiten sind nach Neills eigenen Angaben aus der Schule nicht hervorgegangen. „Ein paar schöpferische Menschen vielleicht, die noch nicht berühmt sind, einige hervorragende Künstler, einige gute Menschen, noch kein Schriftsteller, soweit ich weiß."

Entscheidender ist sicherlich die Tatsache, daß die Summerhill-Absolventen gegen dissoziale Entwicklungen gefeit waren. Neill versichert, keiner seiner Schüler habe sich später gemeinschaftsschädlich verhalten oder sei wegen krimineller Delikte ins Gefängnis gekommen Da die Schüler ihre Aggressionen und egoistischen Antriebe ohne Angst vor Strafen austragen konnten, fiel es ihnen im Erwachsenenalter nicht schwer, sich altruistisch zu verhalten oder asoziale Neigungen zu kontrollieren Allerdings betont Neill, daß diese positiven Wirkungen mit Sicherheit nur eintreten, wenn die Methoden der freien Erziehung bei Kindern unter zwölf Jahren begonnen haben.

Der Bericht der Schulinspektoren über Summerhill vom Juni 1949 bestätigt das positive Bild. Zwar wird die Qualität des Unterrichts als zum Teil altmodisch und nicht genügend effektiv bezeichnet und die Entscheidungsfreiheit der Schüler beim Lernen und Wählen der Fachgebiete kritisiert, doch zollen die Inspektoren dem Schulbetrieb in zahlreichen Punkten ihre Anerkennung:

Keine Langeweile, stets Aktivität und Leben, vor allem außerhalb des Unterrichts (Spiel, Theater, Sport, handwerkliche Arbeiten); Ausgezeichnetes Benehmen, Unbefangenheit der Schüler im Umgang mit Erwachsenen; Große Initiative, Verantwortungsgefühl und Solidarität;

Erfreuliche Erfolge der Schulabsolventen; Günstige Arbeits-und Lernatmosphäre, ohne Prüfungsangst und Leistungsdruck.

Der Bericht enthält einige Bedenken hinsichtlich der praktizierten Grundsätze und Methoden, läßt jedoch in der Gesamtbeurteilung keinen Zweifel daran, „daß in Summerhill faszinierende und wertvolle erzieherische Forschungsarbeit geleistet wird, die zu beobachten für alle Pädagogen von Nutzen wäre"

V. Die Anerkennung Summerhills durch die Gesellschaft

Das Experiment in Summerhill hat bei Sozial-psychologen und Psychotherapeuten, zumindest soweit sie sich als Nachfolger Freuds fühlen, einhellige Zustimmung gefunden. „Ich glaube", schrieb Erich Fromm in seinem Vorwort zur amerikanischen Erstausgabe, „Neills Werk ist Saat, die aufgehen wird. In einer neuen Gesellschaft, in der der Mensch und seine Entfaltung im Mittelpunkt aller Anstrengungen stehen, werden Neills Gedanken allgemeine Anerkennung finden."

Der Widerhall in England In England selbst genießen Summerhill und ihr Begründer ein hohes Prestige. Diese Achtung basiert allerdings nicht so sehr auf der Erkenntnis, Neills Experiment führe zu einer neuen Gesellschaft, zu größerer sozialer Gerechtigkeit und individuellem Glück, sondern vorwiegend auf dem Gefühl, daß es unfair wäre, einem Mann die Anerkennung zu versagen, der für seine Ideen mit bewundernswerter Energie eingetreten ist. Lediglich einige engagierte britische Erzieher haben Summerhill als konkreten Ansatzpunkt zur Veränderung der Gesellschaft erkannt und gutgeheißen, während sich die breite Öffentlichkeit dem eigentlichen Ziel der progressiven Erziehung gegenüber außerordentlich reserviert verhält

Solange Summerhill bestand, steckte Neill in finanziellen Nöten, was kaum möglich gewesen wäre, wenn die britischen Schulbehörden die Bedeutung seines Schulversuchs richtig eingeschätzt hätten. Sie bewiesen jedoch im Gegenteil oft ein völliges Unverständnis bezüglich der praktizierten Lehrmethoden, so daß sich Neill wiederholt gezwungen sah, die wahren Intentionen und psychologischen Begründungen zu verschleiern, um unnötige Einmischungen und Konfrontationen zu vermeiden

Wie wenig die gegenwärtige englische Gesellschaft von der Notwendigkeit einer freien, repressionslosen Erziehung überzeugt ist, hat in jüngster Vergangenheit das beschämende Ende von „Risinghill" gezeigt, einer Comprehensive School in den Slums von Islington, London. Was man Neill als Leiter einer Privatschule noch nachsah, wurde Michael Duane, dem Direktor einer staatlichen Schule, als Versagen und Ungehorsam gegenüber der Schulverwaltung ausgeiegt. Schon kurze Zeit nach der Gründung von Risinghill, 1960, gerieten die Erziehungsmethoden Michael Duanes — Verzicht auf jegliche Form körperlicher und psychischer Gewalt; Nachsicht und Güte auch bei jugendlichen Delinquenten; regelmäßige Aussprachen zwischen Schülern und Lehrern; Vollversammlungen am Morgen ohne Gebets-rituale; individuelle Schülerbehandlung; unbegrenzte Möglichkeiten für Unterrichtsversuche; offene Gespräche über sexuelle Probleme — in Verruf. Gerüchte kursierten, die Schüler hätten freie Hand und tyrannisierten ihre Lehrer nach Gefallen, was der nicht emanzipierten Öffentlichkeit als erneuter Beweis für die Richtigkeit der alten, „bewährten" Methoden erschien. Nachdem sich Duane 1962 geweigert hatte, die körperliche Züchtigung sowie Schuldemission als Strafmittel wieder einzuführen, wurde er 1965 auf Betreiben autoritärer Lehrer sowie mit Hilfe der Schulverwaltung und zahlreicher Politiker wegen Unfähig-keif seines Amtes enthoben und Risinghill, zur Abschreckung ähnlicher Versuche, aufgelöst

Die Rezeption Neills in Deutschland Die traditionelle Pädagogik in der Bundesrepublik Deutschland hat bis jetzt von Neill und seinen Beobachtungen kaum Notiz genommen. Da sich die Erziehungswissenschaften in unserem Land überwiegend als affirmatives, nicht jedoch als kritisches Ferment der Gesellschaft verstehen, paßt Summerhill nur schwer in ihr System. Das gleiche gilt für die Mehrzahl der westdeutschen Lehrer und Erzieher, die einem etwaigen partnerschaftlichen, antiautoritär strukturierten Lehrund Lernprozeß angstvoll und ablehnend gegenüberstehen und sich als Funktionsträger der bestehenden Leistungskultur, nicht aber einer humaneren Gegenposition begreifen Neill wird deshalb, soweit man überhaupt von seiner Existenz weiß, als Utopist, Schwärmer oder Psychopath bezeichnet oder aber als geschickter Taktiker abqualifiziert, der nur scheinbar demokratische Formen geschaffen habe, in Wirklichkeit der unangefochtene Führer der Schule bleibe. „Diese Führung wird dem Schüler weniger bewußt, und sie beruht auf der pädagogischen Autorität, die den Schüler zugleich zu Gehorsam führt", argumentierte beispielsweise G. O.

Schudrowitz bei der Beurteilung von Summerhill, da ihm offensichtlich Erziehung als Selbstbestimmungsprozeß des Schülers unvorstellbar ist.

Ganz anders war die Reaktion unter der Jugend. Die meisten derjenigen Schüler, die von Summerhill Kenntnis haben, zeigen sich begeistert und sehen sich in ihrer Ablehnung des bestehenden Schulsystems bestärkt. So forderte eine Schülerarbeitsgemeinschaft in Mannheim 1968 eine „kritische Schule" analog zu Summerhill Bei dem Schülerkongreß in Nürnberg Anfang 1969 stand das Konzept Neills im Mittelpunkt der Diskussion, wobei die Jugend-liehenihre Forderungen nach freier Wahl der Lehrkräfte, Mitbestimmung bei der Stoff-und Stundenplangestaltung, Einführung einer neuen, von Lehrern und Schülern gemeinsam entworfenen Schulordnung, Schaffung paritätisch besetzter Schlichtungsstellen für Schulkonflikte sowie Abschaffung der Noten und Zeugnisse durch Hinweise auf die Praxis in Summerhill stützten

Auch Hannes Graetz bezeichnete Summerhill „als das wohl kühnste und konsequenteste Schulmodell seit den Versuchen der Wera Schmidt in der Sowjetunion zu Beginn der zwanziger Jahre" und stellte sich bis auf die Frage der Eigentumsregelung voll hinter die von Neill postulierten Erziehungsziele Generell läßt sich sagen, daß zwischen den Vorstellungen der progressiven Jugend bezüglich der Humanisierung und Demokratisierung des Schulwesens sowie der Veränderung der Gesellschaft allenfalls graduelle Unterschiede bestehen Auch das schulische Mitbestimmungsmodell der IG-Metall, wie es Fritz Vilmar vorgelegt hat, weist Punkte auf, die in Summerhill längst verwirklicht sind

Das Wirken Neills hat indessen nicht nur die Diskussion über eine Reform von Schule und Gesellschaft unter der jüngeren Generation beflügelt, sondern auch die Gründung neuer antiautoritärer Schulen erleichtert. Es ist uns nicht bekannt, ob das 1967 in Oslo von Schülern initiierte Gegengymnasium ideell an Summerhill orientiert war; auf jeden Fall erinnert es in seiner Struktur an das Neillsche Konzept, da die Schüler — in der wöchentlich tagenden Vollversammlung und über den Schüler-Lehrer-Rat die schulischen Angelegenheiten selbst regulieren; — zum Besuch des Unterrichts sowie zur Anfertigung von Hausaufgaben nicht gezwungen werden, sondern auf der Basis der Freiwilligkeit arbeiten; — keinem Noten-, Zeugnis-oder Versetzungszwang unterliegen

Auch die Auswirkungen waren in Oslo ganz ähnlich wie in Summerhill. Der Fortfall des Schulzwanges, die Aufhebung des hierarchischen Lehrer-Schüler-Gefälles führten nicht ins Chaos, sondern zu einem intensiveren Lernen, zu größerer Initiative und einer positiven Einstellung zur Schule. „Wir erlebten", so berichtet Mosse Jorgensen, die Schulleiterin, „daß die meisten Jugendlichen völlig imstande sind, Verantwortung zu übernehmen, wenn sie nur dürfen. Und wir erlebten, daß die Grenze zwischen Vernunft und Un$vernunft keine Al-tersgrenze ist... . Wir erleben das kleine Wunder, daß der Gegensatz, den man zwischen Lehrern und Schülern erwartet, in Wirklichkeit nicht existiert. Er existiert nur in einer künstlichen Prestigegewalt, die davon ausgeht, daß sich die Menschen primär schlagen wollen."

Summerhill ist für alle diejenigen, die auf die Verbesserung der Verhältnisse hoffen, von unüberschätzbarer Bedeutung. Alexander S. Neill hat mit seinem pädagogischen Versuch bewiesen, daß Freiheit in der Erziehung nicht nur denkbar, sondern auch realisierbar ist. Der Traum von einem Leben in Glück und sozialer Gerechtigkeit, ohne Aggressionsund Herrschaftsansprüche hat damit das Stadium der Reflexion und Spekulation verlassen und den ersten Schritt zur „konkreten Utopie" (im Sinne Herbert Marcuses) getan.

VI. Antiautoritäre Erziehung und Leistungsdenken

überprüft man, mit welchen Argumenten progressive Schulversuche wie in Summerhill oder Oslo von konservativer Seite abgewertet werden, so stößt man bald auf die Behauptung, ein Wegfall von Zwang, Führung und Gehorsam in Schule und Familie gefährde den Fortbestand der Zivilisation. Junge Menschen, die nicht von früh an gelernt hätten, möglichst viel Wissen in sich aufzunehmen und sich ihren Eltern und Lehrern unterzuordnen, seien später außerstande, im Betriebsleben ihren Mann zu stehen und im beruflichen Wettbewerbskampf mitzuhalten. Freizügigkeit und Freiwilligkeit machten zwar Kindheit und Jugendzeit angenehm, verdürben aber die Chancen im Erwachsenenalter und erzögen letztlich zu Lebensschwäche und Untüchtigkeit. Eine Schule, die den Jugendlichen freie Lehrer-und Fächerwahl, außerdem einen auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruhenden Unterrichtsbesuch sowie Mitbestimmung in Lehrstoff und -methodik zubillige, vergehe sich an den wahren Interessen und Bedürfnissen der Heranwachsenden.

Mag man als Vertreter des traditionellen Schulsystems die von Neill und seinen Mitarbeitern beanspruchten und größtenteils auch bewiesenen Erfolge als bloße Behauptung abtun, so kann man jedoch kaum an den Ergebnissen der Effektivitätsmessungen an Schulen mit autoritärem und sozial-integrativem Unterrichtsstil vorbeigehen. Z. B. konnte Reinhard Tausch in einer Untersuchung feststellen, daß bei Rechtschreibund Rechenleistungen die Schüler bei einem freundlichen, verständnisvollen und hilfsbereiten Lehrer eben-soviel lernten wie bei einem autokratischen Pädagogen. Diese und ähnliche Erfahrungen führten Tausch zu dem Schluß: „Unter der Voraussetzung sonst gleicher Unterrichtsbedingungen kann man insgesamt annehmen, daß auf Grund des besseren Beziehungsverhältnisses Schüler — Lehrer die Leistungen der Schüler von Lehrern mit mehr sozialintegriertem Unterricht im allgemeinen zumindest nicht schlechter sein werden als von Lehrern mit mehr autokratischen und intensiv lenkenden Verhaltensformen. Sieht man auch das Lernen sozialer Verhaltensformen von Schülern als ein Leistungsergebnis des Unterrichts und der Tätigkeit von Lehrern an, so steht das Ausmaß autokratischer und häufig dirigierender Verhaltensformen von Lehrern mit größerer Wahrscheinlichkeit in negativer Beziehung zu der bei den Schülern erreichten Leistungseffektivität."

Zahlreiche Untersuchungen im Industriebereich (so von Elton Mayo, C. R. Rogers, W. Metzger) kamen ebenso zu dem Ergebnis, daß autoritär geführte Unternehmen ihre Mitarbeiter zu Mittelmäßigkeit, Verantwortungsscheu und Desinteresse führten, wenn sie ihnen individuelle Entfaltungsmöglichkeit, Selbständigkeit und „kreatives Denken" verwehrten „Leistungen, Arbeitshaltungen und Arbeitsermüdung von Arbeitenden", so fassen R. und A. M. Tausch diese Ergebnisse jedenfalls zusammen, „sind abhängig von der Art des zwischenmenschlichen Beziehungsverhältnisses und der Art der sozialen Interaktion, die Vorgesetzte gegenüber Arbeitenden, so auch Lehrer gegenüber Schülern, verwirklichen. Bestimmte Merkmale des Beziehungsverhältnisses hängen mit Steigerungen, andere mit Verminderungen der Leistungen zusammen. Sozialintegrierte Interaktionsformen von Erziehern führen nicht zu geringeren Leistungen der Schüler als mehr autokratische Formen, vorausgesetzt, daß unter sozialer Integration nicht Weichheit, Passivität und mangelndes Verhalten der Erzieher verstanden wird. Darüber hinaus vermuten wir, daß Arbeiten, die individuelles, schöpferisches, verantwortungsbewußtes und kooperatives Verhalten erfordern, sozialintegrierte Interaktionsformen der Leitenden und ein angemessenes emotionales Klima häufig als effektive Bedingungen voraussetzen."

Es kann zum Schluß festgestellt werden, daß die vorurteilsbehaftete Argumentation der konservativen Erzieher, denenzufolge der Mensch durch Schwäche, Egoismus und den Wunsch, geführt zu werden, gekennzeichnet ist und die dann konsequenterweise Schüler als von Natur aus faul, uninteressiert und unselbständig einstufen, lediglich die am eigenen Leib erfahrenen, Spontaneität, Kreativität und Verantwortung unterdrückenden Erziehungspraktiken widerspiegelt. Daß vor diesem seelischen Hintergrund eine freiheitliche Pädagogik Furcht einflößt und zu verständnissperrenden, irrationalen Abwehrmechanismen führt, ist nur allzu verständlich.

Keine Furcht vor einer Schule mit Selbstbestimmung und Eigenverantwortung haben hingegen die meisten Schüler, selbst wenn sie schon seit Jahren dem Druck des bestehenden Schulsystems ausgesetzt sind. Die Frage: „Führt nach Ihrer Überzeugung mehr Freizügigkeit in der Schule für die Schüler (z. B. Lehrerwahl, freiwilliger Unterrichtsbesuch, freie Fächerwahl) zu besseren oder schlechteren Leistungen?" beantwortete der überwiegende Teil der von mir befragten Schüler mit der festen Überzeugung, daß an einer solchen Schule bessere Leistungen möglich wären. Als eine Stimme von vielen hier die Antwort einer 16jährigen Schülerin, die wie alle anderen von Summerhill nichts wußte und dennoch das Wesen der freiheitlichen Erziehung intuitiv erfaßt hatte: „Leider gehen die meisten Schüler heute ungern in die Schule, weil vor allem die älteren die Bevormundung satt haben und selbst entscheiden wollen. Auch werden durch den Zwang viele Schüler zu Unehrlichkeiten erzogen. Gefälschte Unterschriften und Entschuldigungen usw. sind keine Seltenheit. — Viele Lehrer glauben, daß sich durch Freizügigkeit die Leistungen verschlechtern und noch mehr Nachlässigkeit hervorgerufen würde. Auch ich glaube, daß viele Schüler, wenn plötzlich mehr Freiheit gewährt würde, erst einmal gründlich von ihren neuen Rechten Gebrauch machen würden. Aber ich meine, daß dies die normale Reaktion auf den jahrelangen Zwang wäre und sich nach kurzer Zeit wieder legen würde. Wenn mehr Freiheit in der Schule schon bei den ABC-Schützen ge-gewährt würde, gäbe es diese Probleme wahrscheinlich nicht, weil die Schüler dann wesentlich selbständiger wären. Ich glaube auch, daß bei mehr Freizügigkeit in der Schule die Leistungen besser wären, da man ohne Zwang lieber lernt."

Ob es möglich sein wird, die Schule noch lange gegen die Interessen und Bedürfnisse der Schüler zu organisieren, muß auf Grund solcher Äußerungen ernstlich bezweifelt werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Ralf Dahrendorf, Arbeiterkinder an deutschen Universitäten, Tübingen 1965.

  2. Vgl. Helge Pross, über die Bildungschancen von Mädchen in der Bundesrepublik, Frankfurt 1969.

  3. Vgl. Hans G. Schachtschnabel, Automation in Wirtschaft und Gesellschaft, Reinbek 1961, S. 145 ff.

  4. Vgl. Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1968; Kapitel: Öffentlichkeit oder Die Not der schönen Tugenden, S. 327 ff.

  5. Vgl. dazu: Demokratisierung der Schule — Die Stellung des Schülers in der Schule und die Rolle der Schülermitverantwortung, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 81, Bonn 1969.

  6. Modell einer demokratischen Schulverfassung, Sonderdruck des Instituts für staatsbürgerliche Bildung in Rheinland-Pfalz, Neuwied 1970.

  7. Johannes Güthling, Versuch in Buxtehude, in: Die Deutsche Schule, 1969/Heft 1, S. 56.

  8. Vgl. dazu A. C. Stewart, W. P. McCann, The Educational Innovators 1750— 1880, Vol. I; 1881 bis 1967, Vol. II, 1968.

  9. Vgl. Bertrand Russell, Warum ich kein Christ bin, München 1963, insbes. S. 39 ff.

  10. Bertrand Russell, The Autobiography of Bertrand Russell, Vol. II, London 1968, S. 154.

  11. Ebenda, S. 155.

  12. Vgl. ebenda, S. 181 f.

  13. A. S. Neill, Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill, Reinbek 1969, rororo-Band 6707/08, S. 30. Der Titel der Originalausgabe lautet: A Radical Approach to Child Rearing, New York 1960. Vgl. auch: A. S. Neill, Selbstverwaltung in der Schule, Zürich 1950.

  14. Neill, a. a. O., S. 116 f.

  15. Neill, a. a. O., S. 27.

  16. Die empirische Sozialforschung spricht heute von der Notwendigkeit „sozialer Reversibilität": dem Schüler soll all das auch zugebilligt werden, was der Erzieher für sich beansprucht. Wie das Ehepaar Tausch gezeigt hat, verringert reversibles Lehrerverhalten die Ängste und Schwierigkeiten der Schüler und fördert gleichzeitig freie, spontane Stellungnahmen. Vgl. Reinhard u. Anne-Marie Tausch, Erziehungspsychologie — Psychologische Vorgänge in Erziehung und Unterricht, Göttingen 19683, S. 146 ff.

  17. Vgl. dazu William Golding, Lord of the Flies, deutsch: Herr der Fliegen, Frankfurt 1963. Golding beschreibt in diesem Roman, wie eine Gruppe englischer Schüler auf eine Insel im Pazifik verschlagen wird und in kurzer Zeit, da die bisher gewohnte, ordnende Autorität der „großen Leute" fehlt, die anerzogenen sozialen Verhaltensdressate ablegt. Die Jungen entwickeln sich zu machtgierigen, barbarischen Wilden, die sich einen Kampf auf Leben und Tod liefern. Als der Roman auf einer Insel verfilmt wurde, verfielen die jugendlichen Darsteller in die gleichen asozialen Verhaltensmuster.

  18. Neill, a. a. O., S. 280.

  19. Neill, a. a. O., S. 64.

  20. Neill, a. a. O., S. 65.

  21. Neill, a. a. O., S. 286.

  22. Neill, a. a. O„ S. 67.

  23. Die therapeutischen Bemühungen unter jugendlichen Straftätern zum Zwecke der Resozialisierung, wie sie zur Zeit auch in der Bundesrepublik in einigen Strafanstalten zu beobachten sind, gehen von den gleichen Überlegungen aus, die Neill bei neurotischen Summerhill-Schülern angewendet hat. Vgl. dazu Tilmann Moser/Eberhard Künzel, Gespräche mit Eingeschlossenen, Edition Suhrkamp 375, Frankfurt 1969.

  24. Neill, a. a. O„ S. 259.

  25. Neill, a. a. O., S. 29.

  26. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt 1953, S. 190 f.

  27. Neill, a. a. O„ S. 41.

  28. Tausch, Erziehungspsychologie. Psychologische Vorgänge in Erziehung und Unterricht, Göttingen 19683, S. 77, 110 f.

  29. Neill, a. a. O„ S. 110.

  30. Neill, a. a. O„ S. 20.

  31. Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, Zürich 1945, S. 240 ff.

  32. Ebenda, S. 203 ff.

  33. Vgl. Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt 1967, S. 9 ff.

  34. Ebenda, S. 184 ff. Zum Zusammenhang zwischen Triebunterdrückung und Politik vgl. auch Hermann Glaser, Eros in der Politik, Köln 1967.

  35. Neill, a. a. O., S. 50.

  36. Neill, a. a. O., S. 262.

  37. Vgl. dazu Moser/Künzel, Gespräche mit Eingeschlossenen, a. a. O., S. 17 ff. K. weist nach, daß die „wesentlichsten" Ursachen für Dissozialität in

  38. Zitiert nach Neill, a. a. O., S. 87— 97.

  39. Erich Fromm, Vorwort zu Neill, a. a. O., S. 18.

  40. Vgl. dazu Maurice Ash, In Defence of Progressive Education, in: Maurice Ash, Who are the Progressives Now? London 1969. Ash zitiert (S. 52) Elmslie Philip, der bezüglich der Wirksamkeit der Ideen progressiver Pädagogen wie Neill urteilte: „Let us not kid ourselves that the progressive schools have persuaded the mass of English people now to come forward, in a wave, in favour of comprehensive schools. The great British public doesn't give a damn about the ideas we have been talking about. But educationalists do."

  41. Russell in einem Brief an Neill: „I wonder whether you made the mistake of mentioning psycho-analysis in your application. You know, of course, from Homer Lane's case that policemen regard psycho-analysis as merely a cloak for crime ... Nobody is allowed to do any good in this country except by means of trickery and deceit.“ Und an Charles Trevelyan: „Neill is trying an experiment which everybody interested in education considers most important, and Whitehall is doing what it can to make it a failure ... I see no reason why intelligent people who are doing important work should submit tamely to the dictation of ignorant busybodies, such as the officials in the Ministry of Labour appear to be." Nach B. Russell, The Autobiography, a. a. O., S. 183, 186.

  42. Vgl. Leila Berg, Death of a Comprehensive School, Pelican Book A 883, Harmondsworth/Baltimore/Ringwood 1968.

  43. Vgl. Friedhelm Nyssen, Schule im Kapitalismus. Der Einfluß wirtschaftlicher Interessenverbände im Felde der Schule, Köln 1969.

  44. Erziehung zur Freiheit und differenzierte Demokratisierung der Schule, in: Wirtschaft und Erziehung, 1969/9, S. 398.

  45. Nach Ulf Preuss-Lausitz, Wege zur demokratischen Schule, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 1969/1, S. 47.

  46. Vgl. Thilo Castner, Schüler proben den Aufstand — Wege zur demokratischen Schule, in: Die Deutsche Berufs-und Fachschule, 1969/8, S. 612 ff.

  47. Hannes Graetz, Summerhill — Die Schule ohne Angst, in: Spontan, Nr. 1/1970, S. 30.

  48. Vgl. dazu Manfred Liebel/Franz Wellendorf, Schülerselbstbefreiung, Edition Suhrkamp Nr. 336, Frankfurt 1969; ferner: Hans-Jürgen Haug/Hubert Maessen, Was wollen die Schüler? Frankfurt 1969.

  49. Fritz Vilmar, Die Mitbestimmung der Schüler — Gundlagen und Umriß einer Schulbetriebsverfassung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 1969/1, S. 62 ff.

  50. Nach Manfred Liebel, Das norwegische Ver-suchsgymnasium, Modell einer demokratischen Gegenschule? in: Frankfurter Hefte, 1968/9, S. 630 ff.

  51. Zitiert nach M. Liebel, a. a. O., S. 636, 634.

  52. Vgl. dazu Ellen Key, Das Jahrhundert des Kindes, Berlin 1907. In diesem berühmten, hinsichtlich seiner Realisierbarkeit aber nicht sonderlich ernst-genommenen Buch „träumte" E. Key von der Schule der Zukunft, die bis in Details hinein Summerhill in vielen Punkten entspricht.

  53. Vgl. A. L. Morton, einen ehemaligen Summerhill-Lehrer: „People osten ask how Summerhill children are able to adapt to the hard outside world after their rather exceptional education. The fact is, they adapt, on the average, considerably better than most, and I believe the reason is that they have lived for years in a small but really functioning Society, all members of which they really come to see as having rights and interests that demand equal respect to their own." Zitiert nach: John Walsmsley, Neill & Summerhill — A Man and his Work, London 1969.

  54. R. u. A. M. Tausch, a. a. O., S. 116.

  55. Vgl. dazu Robert Jungk, Die Zukunft hat schon begonnen, Hamburg 1963, Kapitel: Seeleningenieure, S. 137 ff.

  56. Tausch, a. a. O., S. 155 f.

  57. Eine vom Verfasser durchgeführte Klassenbefragung im Schuljahr 1969/70 an einer Wirtschaftsschule. Unveröffentlichtes Manuskript.

Weitere Inhalte

Thilo Cast n er, Dr. rer. pol., Oberstudienrat im Dienste der Stadt Nürnberg und Dozent am Nürnberger Bildungszentrum, geb. 1935. Buchveröffentlichungen: Methodik der Erwachsenenbildung (Dissertation), Nürnberg 1963; Lehrmethoden der beruflichen Erwachsenenbildung (Ko-Autor), Braunschweig 1964; Schüler im Autoritätskonflikt, Neuwied-Berlin 1969; in Vorbereitung: Sexualrevolution und Schule (zusammen mit Hartmut Castner). Zeitschriftenveröffentlichungen in: Wirtschaft und Erziehung; Wirtschaft und Berufserziehung; Die Deutsche Berufs-und Fachschule; Der Merkur-Bote; Gegenwartskunde.