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Chile vor den Präsidentschaftswahlen Westliche Demokratie und sozialer Wandel in Lateinamerika | APuZ 35-36/1970 | bpb.de

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APuZ 35-36/1970 Nordirland zwischen Bürgerkrieg und Reformen Chile vor den Präsidentschaftswahlen Westliche Demokratie und sozialer Wandel in Lateinamerika

Chile vor den Präsidentschaftswahlen Westliche Demokratie und sozialer Wandel in Lateinamerika

Dieter Nohlen

/ 56 Minuten zu lesen

Am 4. September 1970 wählt Chile den Nachfolger von Eduardo Frei Montaiva, dem ersten christlich-demokratischen Präsidenten Lateinamerikas. Die Wahl gilt als besonders bedeutungsvoll nicht für die weitere Entwicklung Chiles, sondern auch für die Politik der anderen lateinamerikanischen Staaten. Diese Signifikanz erhält die chilenische Präsidentenwahl wesentlich aus dem — mittlerweile gewiß etwas verblichenen — Anspruch, mit dem die Christdemokratie in Lateinamerika und besonders in Chile aufgetreten ist. Ihr Ziel war und ist, eine „Revolution in Freiheit" (Jaime Castillo Velasco) herbeizuführen; ihr Konzept der kommunitarischen Gesellschaft soll die erfolgreiche Alternative zur kommunistischen Revolution bilden.

Abbildung 7

Die Fragen, die uns im folgenden besonders beschäftigen sollen, sind enger abgesteckt, um zu prüfen, inwieweit in Chile in sechs Jahren Regierungszeit das christdemokratische Programm von 1964 erfüllt wurde; sie weiten sich jedoch auf allgemeine politisch-institutionelle und Entwicklungsprobleme aus, besonders auf den Zusammenhang beider, die letztlich den gesamten lateinamerikanischen Länderbereich betreffen. Sie lauten: — Wie vollzieht sich die angekündigte und im Gang befindliche Sozialrevolution in Chile unter den Bedingungen des konstitutionell-liberalen Systems? — Welche Rolle spielt die politische Verfassung im Prozeß des sozialen und ökonomischen Wandels allgemein? Ist sie selbst Bestandteil des Wandels, indem sich ihre Struktur ändert, um den Anforderungen zu genügen? — Inwieweit verändern sich die Begriffe und die Kriterien der Bewertung politischer Systeme in Entwicklungsländern?

Wahl vom 4. September 1964

Zur Beantwortung dieser Fragen versucht der nachfolgende Beitrag, einige Materialien zusammenzutragen.

I. Demokratische Institutionen und sozialer Wandel

Tabelle I Ergebnisse der Wahlen zum chilenischen Abgeordnetenhaus 1961 bis 1969 nach Stimmen und Mandaten

Veränderung der wissenschaftlichen Fragestellung Die politische Entwicklung der lateinamerikanischen Länder, speziell ihrer Verfassungen, ist traditionellerweise Unter dem Gesichtspunkt betrachtet worden, ob und in welcher Weise es gelänge, ein den Verfassungsprinzipien der westlichen Welt konformes politisches System zu errichten. Diese Perspektive prägte bereits die Studien des vorigen Jahrhunderts, und sie ist weit davon entfernt, heute veraltet zu sein. Wie viele Demokratien es in Lateinamerika gibt, die sich auf den in periodisch stattfindenden Wahlen geäußerten Konsens der Bevölkerung gründen und wie viele Diktaturen ihnen gegenüberstehen, stellt noch immer eine Frage dar, die einen ersten Zugang zu der lateinamerikanischen Verfassungswelt verschafft. Sie eröffnet zudem die tiefergehende Frage nach der Legitimität der jeweils bestehenden politischen Ordnung und der die Regierungsgewalt gerade ausübenden politischen Gruppe, die auch in modernen methodologischen Studien zu den politischen Systemen Lateinamerikas eine unverändert wichtige Kategorie darstellt

Tabelle III Einschätzung der Regierung Frei

Die Legitimität der politischen Ordnung hat dabei nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht Bedeutung. Ihre Anzweiflung ist — in geschichtlicher Perspektive — ein charakteristisches Merkmal der Verfassungsentwicklung der lateinamerikanischen Länder selbst. In keinem anderen Gebiet der Welt ist die bestehende politische Ordnung so oft in Frage gestellt und verneint worden. In Lateinamerika hat sich geradezu dauerhaft ein Kampf um die politische Grundordnung abgespielt, weil in bezug auf eine legitime Verfassung — als „Anregung und Schranke" (Rudolf Smend) der Politik — kein Konsens der an der Politik Beteiligten erzielt werden konnte. Die große Zahl der Putsche und Revolutionen und der hohe Verfassungsverschleiß legen hiervon ein beredtes Zeugnis ab

Tabelle IV Die Zusammensetzung des Kongresses nach den Kandidaturen zur Präsidentenwahl 1970

Wie wissenschaftlich berechtigt einerseits und historisch relevant andererseits die obige Fragestellung also ist, so muß doch deutlich ins Auge gefaßt werden, daß unser politisches Interesse an Lateinamerika und unsere Studien zur Verfassungsgeschichte der einzelnen Staaten über ein Jahrhundert lang von der Diffusionsidee demokratischer Verfassungsmodelle, namentlich der britischen und nordamerikanischen politischen Institutionen, getragen gewesen ist. In Verfolg dieser Grundidee, der Ausbreitung der westlichen politischen Kultur und ihrer Verfassungsmodelle, hat die Frage der sozialen und ökonomischen Entwicklung des lateinamerikanischen Länder-bereichs vornehmlich als Funktion der Verfassungsfrage gedient. Diese Betrachtungsweise treffen wir vor allem in jenen Studien an, die vom Phänomen der Instabilität der politischen Verfassungen in Lateinamerika ausgehen, sie beschreiben und analysieren und schließlich auf sozio-ökonomische Tatbestände rekurrieren, um Erklärungen für die Adaptationsschwierigkeiten westlicher Verfassungsmodelle und -mechanismen in Ländern andersartiger kultureller, sozialer und ökonomischer Strukturen zu finden.

Freilich hat sich die wissenschaftliche Fragestellung inzwischen verfeinert, vor allem durch Denkanstöße der Entwicklungspolitik. So wurde etwa die Frage stärker in den Vordergrund gerückt, unter welchen Bedingungen die Übertragung westlicher Demokratiemodelle auf kulturell, sozial und ökonomisch von den Herkunftsländern der politischen Institutionen sehr verschiedene Staaten gelingen kann. Der Forderung, zu prüfen, „welche objektiven Vorbedingungen für die Rezeptivität’ einer politischen Ideologie vorhanden sein müssen, damit in einer Nation ein politisches System (wie es der auf bestimmte Ideologien aufbauende parlamentarische Verfassungsstaat darstellt) innerlich Fuß fassen kann" sind vor allem nordamerikanische Soziologen und Politologen in einer Reihe ausgezeichneter ländervergleichender Untersuchungen nachgekommen. Hier ist vor allem auf Karl W. Deutsch und seine systemtheoretischen Arbeiten sowie auf jene Studien zu verweisen, die den „civic-culture" -Ansatz von Gabriel A. Almond und Sidney Verba verwirklicht haben.

Die neueren Arbeiten messen den sozialen und ökonomischen Phänomenen sowohl der „area" Lateinamerika als auch denen der einzelnen Länder erheblich mehr Gewicht bei. Sie haben zudem manche Akzente neu gesetzt. Beispielsweise ist die Kategorie der Stabilität der politischen Institutionen mit der „output" -Funktion des betreffenden politischen Systems und anderen Fragerichtungen verknüpft und dadurch relativiert worden. Stabilität der Verfassungsverhältnisse stellt keinen absoluten Wert mehr dar. Geht sie Hand in Hand mit der Verschleppung ökonomischer und sozialer Probleme, hindert sie die Anpassung des politischen Systems an die Anforderungen der Umwelt, so erweist sie sich als leere Größe. „Stabilität ist nicht mehr, wie früher, eindeutig dominierender Mittelpunkt der Forschungsproblematik." Indes, das praktisch-politische Interesse an den Entwicklungsländern, das zum Aufschwung der Entwicklungspolitik geführt hat, ist bei aller sozio-ökonomischen Orientierung der Intention nach ein solches an der Ausbreitung politischer Ordhungsmodelle und — umfassender — der Kultur der Westlichen Länder geblieben. Aus ihr resultiert nach wie vor der Vorrähg des Vergleichs der politischen Forme etwa der lateinamerikanischen Länder mit denen der westlichen VerfäsSungSwelt. Eine weitere Konsequenz, die für unseren usammenhang Wichtig ist, liegt darin, daß die Beurteilung der Politik und der Entwicklung der politischen Systeme in den Ländern der Dritten Weit auf Kriterien fußt, die nicht den eigenen gesellschaftlichen Voraussetzungen dieser Länder Und auch dicht den speziellen Erforderhissen des sozialen Und ökonomischen Wandels entstammen.

Es muß deshalb gefragt werden, ob wir den Ansatz unserer Studien nicht noch weiter verändern müssen. Es scheint, daß die Fragestellung nicht länger von außen an die Sache her-angetrageh werden kann, sondern daß sie sich aus der politischen, ökonomischen und sozialen Problematik der Entwicklungsländer selbst ergeben muß. Notwendigerweise verändert sich dann der leitende Gesichtspunkt. Nicht Entwicklung der politischen Systeme in der Zielrichtung der westlichen Demokratien, sondern Wandel entsprechend den diesen Ländern eigenen Voraussetzungen, ihren sozialen und ökonomischen Notwendigkeiten, den geforderten Problemlösungen, scheint in der Folge die vorrangige Frage zu sein. Der Bezug zur sozialen Umwelt wird in den Maßstäben; die der Bewertung der Verfassungsentwicklung in den Ländern der Dritten Welt zugrundegelegt werden, stärkere Beachtung finden müssen.

Diese Forderung negiert nicht den grundsätzlichen Wert, den vergleichende Studien der heutigen politischen Problematik der Entwicklungsländer mit jener der europäischen Länder im Verlaufe der letzten anderthalb Jahrhunderte haben. Hier lassen sich viele Analogien feststellen und aus dem Vergleich systematische Gesichtspunkte gewinnen Wie fruchtbar dieser Ansatz sein kann, macht vor allem der Aufsatz deutlich, den Gabriel A. Almond zum Thema „Political Systems and Political Change" im Jahre 1963 veröffentlichte und der jetzt auch dem deutschen Sprachraum zugänglich gemacht wurde Aufgrund der vergleichenden Analyse der Entwicklung europäischer politischer Systeme kommt Almond zu sehr hilfreichen theoretischen Formulierungen der Probleme des politischen Wandels in den Ländern der Dritten Welt.

Almond versucht eine Typologie politischer Systeme in Begriffen des politischen Wandels zü liefern, wobei er unter politischem Wandel die Fähigkeit politischer Systeme versteht, sich selbst zu yerändern, ^Kapazitäten Zu entwickeln; die sie vorher nicht besäßen" Der Begriff umfaßt also den Wachstumsaspekt und -prozeß oder die „Lernfähigkeit und Innovationsleistung" politischer Systeme. Almond unterscheidet vier Wachstümskapazitäten: Integrations-, Anpassungs-, Beteiligungsund Umverteilungskapazitäten. Die Länder der Dritten Welt sind heute in aller Regel gezwungen, in ihren politischen Systemen diese Kapazitäten simultan zu entwickeln und stehen somit unter dem „Druck kumulativer Revolutionen" wählend etwa Großbritannien das Musterbeispiel dafür ist, wie sich der Wachstumsprozeß eines politischen Systems schrittweise vollziehen könnte. Die Typen politischer Systeme, die Almond entwickelt, ergeben sich aus den Beziehungen zwischen den verschiedenen Kapazitäten. Almond leitet diese Theorien wesentlich aus der vergleichenden Analyse der politischen Entwicklung der europäischen Länder England, Frankreich, Deutschland und Italien her. Sie sind jedoch nicht abhängig von der westlichen Kultus, Und darin liegt ihr Wesentlicher Gewinn.

Andererseits beinhaltet die geforderte Sicht der Verfassuhgsprobleme und -entwicklungen in den Ländern Lateinamerikas keineswegs eine grundsätzliche Aufgabe der liberal-demokratischen Wette des westlichen Verfassungs-staates. Vielmehr soll durch Rekurs aüf die sozialen und kulturellen Ümweltbedingungen Verständnis dafür gewonnen werden, daß sich manche . Frage, manches Prinzip, manche Methode unter dem „Druck kumulativer Revolutionen", unter den enormen Wachstumsanforderungen, die die Problemlösungen in den Entwicklungsländern erfordern, einfach anders ausnimmt und beweglicher interpretiert werden muß als unter den sozialen und kulturellen Voraussetzungen der westlichen Demokratien.

Wandel der Begriffe und Kriterien Es zeigt sich zudem, daß in den Entwicklungsländern eine Evolution der politischen Begriffe im Gange ist, die wir rechtzeitig erkennen und im Zusammenhang ihrer sozio-kulturellen Umwelt verstehen sollten — und nur so verstehen können. Beispielsweise muß unterschieden werden zwischen der traditionellen Legitimitätskrise lateinamerikanischer Regierungen und dem durch das dringliche Postulat der Veränderung der Gesellschaftsstrukturen auftretenden qualitativen Wandel des Begriffs der Legitimität. Symptomatisch dafür ist, daß auf die Frage, was legitim sei, westliche Demokraten und Lateinamerikaner heute teilweise sehr unterschiedliche Antworten formulieren. In Lateinamerika wird die Anwendung von Gewalt inzwischen vielfach als legitime Methode angesehen, notwendige Änderungen herbeizuführen, was nur unter den in Lateinamerika obwaltenden sozialen Verhältnissen recht verstanden werden kann Diese Entwicklung, die sich bereits in einigen wichtigen Zeugnissen manifestiert kann nicht weiter als herkömmliche „Legitimitätskrise" beschrieben und damit abgetan werden.

Tatsächlich erwachsen aus dem Erfordernis des sozialen Wandels neue Kriterien, nach denen die politischen Institutionen, Verfahren und Methoden der westlichen Demokratie bei ihrer Anwendung in Entwicklungsländern zu befragen und zu beurteilen sind. Um die veränderte Sichtweite deutlich zu machen, genügen zwei Beispiele. Mit ihrer Thematik hat es die Untersuchung in den nachfolgenden Abschnitten zu tun. Sehen wir zunächst auf die politischen Parteien. Die Dialektik des sozialen Wandels erfordert, daß demokratische Parteien revolutionäre Parteien sind. Aufgabe einer demokratischen Partei in den Entwicklungsländern kann es nicht, bzw. nicht mehr sein, den Ausgleich der bestehenden, gewissermaßen fixierten Interessenlagen der verschiedenen sozialen Schichten unter Wahrung der Systemstrukturen herbeizuführen, was durchaus als Aufgabe einer normalen Regierung in den westlichen Demokratien angesehen werden kann. Demokratische Parteien in den Ländern der Dritten Welt stehen primär unter der Anforderung der Entwicklung, unter einer Leistungserwartung. Sie haben neue Strukturen an die Stelle heute untauglicher überkommener zu setzen, die Ausdruck der Nicht-Entwicklung und Hindernis des Wandels sind. Sie haben Problemlösungen zu erarbeiten, in die Wege zu leiten, zu beschleunigen, durchzusetzen; Aufgaben, die Veränderungen in der Grundstruktur ihres politischen Handels implizieren können. Es gilt, der Unbeweglichkeit auszuweichen, der eine revolutionäre Politik nur allzu oft erliegt, wenn sie sich im Rahmen antiquierter politischer Institutionen und Mechanismen vollziehen soll.

Ein zweites Beispiel, das wir nennen wollen, um die neuen Akzente zu verdeutlichen, die bei der Bewertung von Institutionen, Verfahren und Methoden der westlichen Demokratie in Lateinamerika gesetzt werden müssen, ist das Institut der Wahl. Auch politische Wahlen müssen nach ihrem Stellenwert im notwendigen Prozeß des sozialen Wandels in Entwicklungsländern befragt werden. Wir kön-nen es nicht dabei bewenden lassen, die formale Einhaltung der Wahlrechtsprinzipien zu untersuchen. Es ist auch nicht besonders sinnvoll, die Wahlen vorrangig danach zu bewerten, ob in ihnen die Chance des Regierungswechsels gegeben ist und somit die Möglichkeit eines demokratischen Wechselspiels vorliegt. Wahlen müssen in Entwicklungsländern auf andere Funktionen hin überprüft und klassifiziert werden als in den westlichen Demokratien Es sind auch hier die besonderen Anforderungen zu bedenken, die von der sozio-kulturellen Umwelt gestellt werden.

Ohne daß bereits ein Fragenkatalog aufgeführt werden soll, der Anspruch auf Umsicht und Vollständigkeit erheben kann ist zu fragen, ob in Wahlen Probleme des ökonomischen Wandels und der sozialen Entwicklung angesprochen und zur Entscheidung gestellt werden und in welchem Verhältnis dies zur jeweiligen Anforderung des Wandels geschieht. Es ist zu fragen, ob Wahlen zur politischen Bewußtseinsveränderung und zum sozialen und ökonomischen Mentalitätswandel beitragen; ob Programme des sozio-ökonomischen Wandels die Chance haben, eine Mehrheit der Wähler zu vereinigen; ob die notwendige Sozialrevolution mittels des Stimmzettels in Gang gesetzt und fortlaufend beschleunigt werden kann.

Die Bewertung des Wahlphänomens ist in Entwicklungsländern mit von der Erfüllung dieser Funktionen abhängig zu machen, die in beweglichem Bezug zu den sozio-ökonomischen Voraussetzungen und geforderten Problemlösungen stehen. Konsens in der Stagnation, in der Aufrechterhaltung des Status quo der freilich in Wahlen erzielt werden kann, gefährdet nicht nur in der allgemeinen Revolutionsatmosphäre das Weiterbestehen demokratischer Einrichtungen, sondern läuft auch den — richtig verstandenen — Funktionen zuwider, die Wahlen in Entwicklungsländern haben.

Die praktisch-politische Frage der demokratischen Parteien in den Entwicklungsländern, die auf Wahlen nicht verzichten wollen, stellt sich zumeist jedoch anders. Eine demokratische Entwicklung sieht sich der Schwierigkeit gegenüber, ein Gleichgewicht zu halten zwischen Konsens, mehrheitlicher Stützung durch die Wählerschaft einerseits, und rationaler Politik des ökonomischen und sozialen Wandels andererseits, die weniger an der Befriedigung gegenwärtiger Konsumbedürfnisse der Bevölkerung orientiert ist als an der Grundlegung einer sicheren Zukunft. Diese diffizile Situation hält ständig die Frage wach, „ob die Entwicklung die demokratischen Spielregeln einhalten will oder nicht", oder — grundsätzlicher — ob „beschleunigte Entwicklung und Demokratie überhaupt vereinbar sind"

Zur Untersuchung dieser Frage drängt sich das Beispiel Chile geradezu auf. Chile ist eines der wenigen Länder, die eine kontinuierliche liberale Verfassungstradition besitzen und heute zu den unterentwickelten Ländern zählen. Während das Land fähig war, die Organisationsform westlicher politischer Systeme zu übernehmen und (nach formalen Kriterien) erfolgreich zu praktizieren, hat Chile die ökonomische und soziale Entwicklung der heute entwickelten Länder nicht mit-oder nachvollziehen können. Neben der Information über die gegenwärtige innenpolitische Situation Chiles versuchen die folgenden Kapitel eine erste Sichtung des Problems, mit dem sich der Verfasser in einer breiter angelegten Studie: „Wahlen und Parteien in Chile" intensiver beschäftigen wird. Die christdemokratische Regierung des Präsidenten Frei hat in Chile ein sozialrevolutionäres Programm begonnen, über dessen Fort-führung und Intensivierung die chilenische Wählerschaft am 4. September zu entscheiden aufgerufen ist.

II. Das politische System Chiles

Die Linksgravitation des chilenischen Parteiensystems 1961 -1969

Verfassungsorgane und Verfassungsstruktur Die gegenwärtige chilenische Verfassung stammt aus dem Jahre 1925 Nach einem — seit 1891 — wenig erfolgreichen, durch hohe Regierungsinstabilität und Untätigkeit vor allem in ökonomischen Fragen gekennzeichneten Adaptationsversuch des reinen Parlamentarismus französischer Prägung wurde mit der bisher einzigen Verfässung dieses Jahrhunderts die chilenische Vhrfassungstradi-tion des 19. Jahrhunderts (Verfassung von 1833) wieder ausgenommen und der Präsident der Republik in den Mittelpunkt des Regierungssystems gestellt.

Das chilenische Verfassungssystem ist gewaltenteilig angelegt. Der Präsident ist der Chef der Exekutive. Er beruft die Minister, die ihm verantwortlich sind. Regierungsamt und Parlamentsmandat sind unvereinbar. Der Kongreß, bestehend aus Senat (50 Mitglieder) und Abgeordnetenhaus (150 Mitglieder), teilt sich mit dem Präsidenten in die Gesetzesinitiative. Das Parlament beschließt die Gesetze und kontrolliert die Regierung. Dazu steht dein Kongreß neben der Haushaltsdebatte vor allem das Mittel der Verfassungsklage zur Verfügung, das gegen die Minister und gegen den Präsidenten angewandt und zur Entsetzung der angeklagten Person führen kann. Die Ministeranklage ist ein nicht selten angewandtes Instrument Alle Mandatsträger werden vom Völk in allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlen gewählt: der Präsident auf sechs Jahre ohne das Recht der direkten Wiederwahl, das Abgeordnetenhaus auf vier Jahre, der Senat auf acht Jahre bei Halberneuerung dieser Kammer alle vier Jahre gleichzeitig mit der Neuwahl des Abgeordnetenhauses.

Zwei Grundtendenzen weist die Verfassungsentwicklung Chiles seit 1925 auf: Ausweitung des Wahlrechts und Stärkung der Macht des Präsidenten. Während im Jähr 1925 nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung das allgemeihe Wahlrecht besaßen, sind es heute 33, 5 Prozent. Diese Zahl ist im Vergleich zum Erfahtungssat 2: von über 60 Prozent, die die Wahlberechtigten in europäischen Ländern bei allgemeinem Wahlrecht ausmachen, gering. Sie erklärt sich aus'der demographischen Struktur Chiles, das eine sehr junge Bevölkerung hat Bemerkenswert ist jedoch die nur langsame Steigerung der Zahl der Wahlberechtigten nach 1949, nachdem mit Einführung des Frauenwahlrechts auch für die Kongreß-und Präsidentenwahlen — auf kommunaler Ebene besaßen die Frauen das aktive Wahlrecht bereits 1935 — seit den Wahlen von 1952 ein allgemeines Wahlrecht bestand.

Der Partizipationswille der Bevölkerung an der Bestellung der politischen Machtträger ist der formalrechtlichen Fixierung der politischen Beteiligungsrechte sehr nachgehinkt, obwohl das Wahlgesetz die Eintragung in die Wählerlisten zur Pflicht erhebt. Federico G. Gil hat die Differenzen zwischen an sich Wahlberechtigten und eingeschriebenen Wahlberechtigten für den Zeitraum von 1952 bis 1965 wie folgt geschätzt Betrug 1952 das Verhältnis der eingeschriebenen Wahlberechtigten zu der insgesamt wahlberechtigten Bevölkerung 38 Prozent, so waren es 1965 etwa 83 Prozent. Vor allem die Frauen haben zunächst das ihnen zuteil gewordene Recht nur zögernd wahrgenommen. Noch bei den Wahlen von 1961 stellten die Frauen nur 36, 2 Prozent der in die Wählerlisten eingetragenen Wahlberechtigten. Erst bei den letzten ParlamentsWahlen von 1969 besaßen die Frauen einen etwa gleichen Anteil der effektiv Wahlberechtigten (49, 6 Prozent).

Die zweite Tendenz der chilenischen Verfassungsentwicklung, die Stärkung der Macht des Präsidenten, ist mit erheblichen politischen Auseinandersetzungen zwischen den Verfassungsorganen einhergegangen und hat viel politische Initiative und Reformwillen gebunden, ohne daß sie sich bis 1969 recht durchsetzen konnte Sie ist entwicklungspolitisch von größter Bedeutung, da erst durch eine Reform der Verfassung, die die Stellung des Präsidenten stärkt, die Handlungsfähigkeit der Regierung in legislatorischer und exekutiver Hinsicht gewährleistet ist, die den Entwicklungsprozeß zu steuern und zu beschleunigen vermag. Die Präsidenten Carlos Ibanez und Jorge Alessandri scheiterten mit ihren Verfassungsreformplänen, weil sie den Widerstand des Parlaments nicht überwinden konnten.

Die Reformen, die die christdemokratische Regierung des Präsidenten Frei auf ihr Programm schrieb und schließlich im Dezember 1969 durchsetzen konnte, betreffen zentral diese zweite Entwicklungstendenz der chilenischen Verfassung. Die neuen Verfassungsartikel erlangen allerdings erst mit Regierungsantritt des neuen Präsidenten Gültigkeit. Die Reform beschneidet die Rechte des Kongresses vor allem im Bereich der Gesetzgebung und des Haushaltsrechts. Ähnlich den Vorkehrungen des Bonner Grundgesetzes kann der Kongreß nun weder den Haushaltsplan noch einzelne Gesetzentwürfe der Regierung derart verändern, daß höhere Ausgaben damit verbunden sind. Der neugefaßte Artikel 53 der Verfassung präzisiert, daß jedwede Änderung, die in keiner direkten Verbindung mit dem Leitgedanken einer Gesetzesnovelle steht, ausgeschlossen ist. Damit wird die Praxis unterbunden, die Reformgesetze der Regierung entweder ökonomisch zu gefährden, indem der Kongreß eine Erhöhung der Ausgaben zur Befriedigung partikularer Interessen beschließt, oder zu verwässern, indem nebensächliche Regelungen in das Gesetzes-werk ausgenommen werden, die teilweise seinem Grundgedanken widersprechen oder seine allgemeine Gültigkeit einschränken oder seine Durchschlagskraft aufheben.

Eine Beschneidung der Rechte des Parlaments liegt auch den weiteren Reformen zugrunde, die vorrangig demokratisch zu nennen sind. Und zwar wird zum einen das Wahlrecht erneut erweitert: Wahlberechtigt werden nun alle Chilenen beiderlei Geschlechts im Alter von 18 Jahren, auch die Analphabeten und die Blinden. Zum anderen wird das Instrument des Verfassungsreferendums geschaffen. Verfassungsänderungen, die der Präsident auf dem normalen Gesetzgebungswege einbringt und denen der Kongreß die Zustimmung verweigert, kann der Präsident einem Volksentscheid unterwerfen. Das Parlament, das über Jahrzehnte mit großem Erfolg gegen Verfassungsänderungen opponierte, kann jetzt durch Einschaltung der Wählerschaft überspielt werden. Diese Tatsache läßt den Verfassungsplänen der jetzigen Präsidentschaftskandidaten sehr viel mehr Bedeutung zukommen als bei früheren Wahlen. Der Kongreß ist in dieser Frage als Gegengewicht weitgehend entfallen. Das politische System hat sich seiner eigenen Entwicklung bei Anwendung demokratischer Techniken selbst geöffnet. Erwähnenswert ist auch die Schaffung eines Verfassungsgerichts, das ähnliche Funktionen wie das Bundesverfassungsgericht des Bonner Grundgesetzes erhalten hat

Das Parteiensystem Will man das Parteiensystem eines Landes charakterisieren, so ist zunächst auf die Anzahl der Parteien, ihre historische Entwicklung, ihre relative Größe und ihr Verhältnis zueinander — auf etwa mögliche Koalitionen — zu sehen. Das chilenische Parteien-system ist ein Vielparteiensystem, dessen Wurzeln hinsichtlich der Anzahl der politischen Gruppierungen (vor allem von Parlamentsgruppen) ins vorige Jahrhundert zurückreichen. Das 19. Jahrhundert war allerdings vornehmlich durch einen Dualismus bestimmt, durch den Parteigegensatz von Konservativen und Liberalen, die sich aus der Oberschicht des Landes rekrutierten und ihre Herrschaft auf ein beschränktes Wahlrecht gründeten. Die Konservativen repräsentierten die landbesitzende Oberschicht. Zentrale Punkte ihres politischen Programms waren die Verteidigung des Katholizismus und der Staatsautorität In Form der Macht der Exekutive. Die Liberalen hingegen stützten sich auf Banken und Handel; sie waren antiklerikal orientiert und der Übermacht der Exekutive im politischen System abgeneigt. Beide Gruppen, in sich wenig kohärent und stets durch die Exekutive manipulierbar, hatten sich recht frühzeitig nach anfänglich großen Verfassungswirren auf eine politische Grundordnung geeinigt. Späterhin verstanden sie es, die Grundlinien der Verfassung von 1833 zu verteidigen und die sich neu bildenden, teilweise revolutionären Parteien in das bestehende politische System einzufügen

Die traditionellen Parteien des 19. Jahrhunderts sahen sich jedoch nicht in der Lage, die sozialen und ökonomischen Interessen der unteren Bevölkerungsschichten zu artikulieren. Dahingehende Versuche der Konservativen Partei in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts scheiterten sehr bald. Inzwischen waren andere Parteien entstanden, die sich zunächst das Postulat politischer Partizipation breiterer Bevölkerungsschichten und sodann soziale Forderungen zu eigen gemacht hatten und die traditionellen Parteien politisch in die Verteidigung der Vorrechte der sozial und ökonomisch privilegierten Schicht zurückdrängten. Wenn man so will, ist dies die unveränderte Situation der Konservativen und Liberalen in Chile heute, mit dem einzigen Unterschied, daß beide Parteien in den sechziger Jahren die schon lange bestehende Gleichartigkeit ihrer Interessen aufgriffen und aus ihrer empfindlichen Wahlniederlage von 1965 die Konsequenz zogen, indem sie sich zu einer Partei, zur Nationalpartei (PN), zusammenschlossen. Zu den zunächst neuen Parteien zählten die Radikalen (PR) und die Demokraten, die beide sehr bald parlamentarische Bedeutung erlangten. Zumal die Radikalen stiegen nach den Wahlen von 1918 zur zweitstärksten Partei auf, überflügelten die Liberalen aber erst bei den Wahlen von 1941. Sie verbanden die bürgerliche Mittelschicht mit dem politischen System, bemühten sich aber auch um die Arbeiterschaft. Ihr reformerischer Elan (allgemeines Wahlrecht, Sozialgesetzgebung, Laizismus, Wirtschaftsreform) war jedoch wesentlich der eines parteiinternen linken Flügels. Ein umfassendes Reformprogramm vermochten sie vor allem deshalb nicht zu entwickeln, weil die Radikalen zu den Repräsentanten einer Mittelschicht wurden, der es an jenen Werten fehlte, die zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung eines Landes entscheidende Voraussetzungen sind.

Claudio Veliz hat in seinem Aufsatz „Obstacles to Reform in Latin America" den Konservatismus der Mittelschicht, den Respekt vor hierarchischen Werten, die Bewunderung für die Aristokratie und den Wunsch nach Anerkennung durch die vermeintlich bessere Schicht hervorgehoben. Die politischen Bündnisse der Radikalen sind sehr wechselhaft gewesen: Sie haben mit den Kommunisten ebenso koaliert (Präsident Gonzales Videla) wie mit der Rechten (Präsident Jorge Alessandri). Gründeten sie 1964 zunächst mit den Konservativen und Liberalen ein „Frente Democratico", aus dem sich die Rechtsparteien jedoch noch vor dem Wahltag wieder zurückzogen, so bilden sie gegenwärtig mit Kommunisten und Sozialisten die „Unidad Populär". Erstaunlich ist — wie Heino Froehling treffend bemerkte —, daß die öffentliche Meinung der Partei keineswegs Mangel an politischer Orientierung vorwirft. Allerdings hat sich nach der nun entschiedenen Linksorientierung der Partei der rechte Flügel abgespalten und die Radikal-Demokratische Partei gegründet, die bei den kommenden Präsidentschaftswahlen den Kandidaten der Rechten unterstützt. Die Sozialisten erzielten 1915 ihre ersten Stimmengewinne, spielten aber bis 1932 kaum eine Rolle. Ihnen und den Kommunisten gelang der Durchbruch erst bei den Wahlen von 1941, im Nachhall der Wahl des ersten Volksfrontkandidaten Pedro Aguirre Cerda zum Präsidenten der Republik, wo sie 19, 2 respektive 14, 6 Prozent der Stimmen erhielten. Seit der Regierungserfahrung der vierziger Jahre haben sich beide marxistischen Parteien sehr unterschiedlich entwickelt. Abgesehen vom Verbot der Kommunistischen Partei in den Jahren von 1948 bis 1958 haben die Kommunisten kontinuierlich an Stimmen und an politischem Einfluß gewonnen, letzteres vor allem mittels der von ihr beherrschten Gewerkschaft CUT Die Partei hat ihre Einheit in ideologischer und organisatorischer Hinsicht bewahrt. Ihre Taktik besteht darin, innerhalb der Spielregeln des bestehenden politischen Systems in Koalition mit den Sozialisten und anderen Linksgruppen an die Macht zu kommen und ihr unverändert streng an Moskau ausgerichtetes politisches Programm durchzusetzen.

Demgegenüber haben die Sozialisten ihren Stimmenanteil von 1941 nicht wieder erreichen können. Sie sind zumeist in verschiedene Parteien gespalten aufgetreten. Ihre wichtigste, die PS (Sozialistische Partei von Chile), ist sich unklar über den Weg, der zur Durchsetzung ihres Leitbildes von der demokratischen, sozialistischen, humanitären Gesellschaft einzuschlagen sei. Sie beteiligt sich zwar an den Wahlen; es ist ihr auch gelungen, ihr Parteimitglied Salvador Allende nun zum vierten Mal als Präsidentschaftskandidaten der Lin--ken zu präsentieren. Sie favorisiert indes immer mehr die gewaltsame Methode, um an die Macht zu kommen. Ein Teil der Partei unter Führung des Senators Carlos Altamirano steht nicht mehr auf dem Boden der Verfassung

inwieweit Verbindung zur revolutionären Untergrundorganisation MIR (Bewegung der revolutionären Linken) besteht, ist fraglich.

Es ist anzunehmen, daß eine erneute Nieder-lägevon Salvador Allende die Anti-System-Linie der Partei fördern wird

Die jüngste der fünf Parteien, die die heutige Basis des chilenischen Parteiensystems bilden, ist die Christlich-Demokratische Partei (PDC). Sie ist aus der Falange Nacional (FN) hervorgegangen, die ihrerseits der Konservativen Partei entstammt. Die heutigen PDC-Führer gehörten größtenteils der konservativen Parteijugend an. Sie entwickelten zunächst in den Reihen dieser Partei in Anlehnung an die christliche Soziallehre und die demokratische, christlich-humanistische Lehre des katholischen Sozialphilosophen Jacgues Maritain soziales Verantwortungsgefühl und Vorstellungen einer neuen Gesellschaftsordnung. Sie gerieten aber bald — selbst der Oberschicht des Landes nahestehend — in scharfen politischen Gegensatz zu den Vertretern dieser Schicht. Die Trennung der Falange von den Konservativen erfolgte 1938, als sie den konservativen Bewerber um das Präsidenten-amt nicht unterstützte. Die Partei blieb zunächst an Mitgliedern und Wählerschaft klein, festigte jedoch in diesen Jahren ihre ideologische Position. Erst Mitte der fünfziger Jahre setzte ihr geradezu stürmischer Aufstieg zur heute größten chilenischen Partei ein

Zum detaillierteren Vergleich der Parlamentswahlen, der auch die weiteren Parteien mit einschließt, führt Tabelle I die Ergebnisse der drei Wahlen zum chilenischen Abgeordnetenhaus der sechziger Jahre auf, und zwar nach Stimmen und Mandaten, absolut und prozentual. Aus dieser Zusammenstellung ist zu entnehmen, daß das bestehende Wahlsystem keine Proportionalität von Stimmen und Mandaten zuläßt. Kleine Parteien unter 3, 5 Prozent der Wählerstimmen haben kaum Chancen, ein Mandat zu gewinnen. Aber auch mittelgroße Parteien schneiden im Mandats-anteil in aller Regel schlechter ab als im Stimmenanteil. Damit korrespondiert der Vorteil, den große Parteien besitzen. Die Christlichen Demokraten konnten bei den Wahlen von 1965 mit 43, 6 Prozent der Stimmen 55, 8 Prozen 6 Prozent der Stimmen 55, 8 Prozent der Mandate erreichen. Das Wahlsystem besitzt also eine erhebliche mehrheitsbildende Wirkung, obwohl die Verfassung „eine wirkliche Verhältnismäßigkeit in der Vertretung der Meinungen und politischen Parteien", also das Repräsentationsmodell der Verhältniswahl postuliert 42). In den 29 Wahlkreisen werden die Mandate nach dem Entscheidungsmaßstab der Verhältniswahl (Methode d'Hondt) vergeben 43). 14 Wahlkreise wählen jedoch weniger als fünf Abgeordnete und nur vier Wahlkreise mehr als sieben Abgeordnete, so daß vor allem die bestehende Unterteilung des Wahlgebietes in Wahlkreise eine proportionale Repräsentation verhindert. Das Wahlsystem erschwert somit den Erfolg von Parteineugründungen, indem es eine Hürde setzt, Parlamentsmandate zu gewinnen Uber die Struktureigenschaften des chilenischen Vielparteiensystems sagt es jedoch nicht viel aus; zumindest ist seine Wirkung für das Regierungssystem nicht entscheidend.

Das chilenische Parteiensystem ist, sowohl was die kurzfristige (von Wahl zu Wahl) als auch was die langfristige Perspektive von Jahren anbelangt, von erheblichen Schwankungen gekennzeichnet. Andererseits ist eine erhebliche Reduktion der Zahl der politischen Parteien zu beachten, und zwar sowohl derjenigen, die Parlamentsmandate erringen konnten, als auch der sich bewerbenden Parteien (von 1925 über 25 Parteien bis gegenwärtig weniger als zehn). Läßt sich daraus eine Tendenz zur Parteienkonzentration herleiten?

Eine vertiefte Analyse der Entwicklung des Parteiensystems zeigt, wie labil und ungleich-gewichtig das Kräfteverhältnis der chilenischen Parteien unverändert bis in die Gegenwart ist. Die prozentualen Abweichungen der Parteien vom jeweils bei den vorhergehenden Wahlen erzielten Stimmenergebnis liegen bei den fünf größeren Parteien öfter über als unter fünf Prozent zum vorhergehenden Wahlergebnis, eine Variationsbreite, welche das chilenische Vielparteiensystem im Gegensatz zum belgischen, niederländischen, eidgenössischen oder italienischen Vielparteiensystem 45) als in sich politisch labil ausweist. Jede der größeren Parteien hat zumindest einmal im Stimmenanteil um mindestens 6, 8 Prozent geschwankt. Zieht man nur die letzten fünf Wahlen seit 1953 zum Vergleich heran, so zeigt sich etwa bei den Christlichen Demokraten, daß der Stimmenanteil dieser Partei stets um mindestens 6, 5 Prozent, als Mittelwert sogar um 10, 7 Prozent variiert hat. Wenn sich auch Unterschiede zwischen den Parteien in der tatsächlichen (und daraus abgeleitet: möglich erscheinenden) Variationsbreite in den Stimmenanteilen feststellen lassen — bei der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei etwa ist eine größere Festigkeit zu bemerken —, so ist doch insgesamt zutreffend, daß das chilenische Parteiensystem ausgesprochen beweglich ist. Das Wahlsystem kann hier noch verstärkend wirken.

Es ist also hervorzuheben, daß anläßlich von Parlamentswahlen erhebliche Wechsel in den Parteipräferenzen der Wählerschaft eintreten können. Damit scheint das chilenische Parteiensystem unverändert offen für politische Durchbrüche neuer Parteien, neuer Ideologien, neuer Programme. Als ein solcher Durchbruch muß — retrospektiv — der rapide Aufstieg der Christlichen Demokraten in Chile angesehen werden. Von einer Wahl des Abgeordnetenhauses zur anderen gelang es dieser Partei, ihren Stimmenanteil um 27, 6 Prozent, ihren Mandatsanteil um 40, 1 Prozent zu erhöhen.

Diese Beweglichkeit im Parteiensystem könnte als Ausdruck der politischen Nähe der Parteien interpretiert werden. Die Geschichte der Radikalen Partei, ihre Praxis wechselweiser Koalitionen mit der Rechten und der Linken, könnte diese These stützen. So stellt sich nun zunächst die Frage nach möglichen konstanten Tendenzen im chilenischen Parteien-system und sodann danach, wie sich das Verhältnis der chilenischen Parteien in jüngster Zeit entwickelt hat.

Eine allgemeine längerfristige Tendenz des chilenischen Parteiensystems scheint die einer kontinuierlichen Linksentwicklung. Dieses Phänomen der Linksgravitation müssen wir, wenn wir es richtig und unmißverständlich kennzeichnen wollen, von zwei Seiten her beleuchten: zunächst von den Parteipräferenzen der Wählerschaft her, was sich in den Stimmenstärken der nach den Kategorien Rechte, Mitte, Linke untergliederten Parteien ausdrücken läßt; sodann im Hinblick auf die innerparteiliche Entwicklung der Parteien, das Gewicht der innerparteilichen Flügel, vor allem auf ihre programmatische Veränderung und auf ihr Verhältnis zu den konkurrierenden Parteien.

Was unsere erste Perspektive anbelangt, so ist zunächst festzustellen, daß sie auch die — oben kurz dargestellte — Gründung und Entwicklung immer neuer Parteien der Linken, von den Radikalen bis zu den Kommunisten, mit einschließt. Diese politischen Parteien haben, der allgemeinen sozialen Entwicklung folgend, begünstigt durch die Ausbreitung des allgemeinen Wahlrechts, neuen Bevölkerungsschichten Partizipation an der politischen Macht in Form der Beteiligung an der Wahl der Regierenden und an der Formulierung der Politik zu verschaffen versucht und sodann Forderungen nach gerechter Verteilung des Sozialprodukts, nach Reform der Besitzverhältnisse, der traditionellen Gesellschaftsstruktur etc. erhoben. Für die Gegenwart lautete somit die Frage, wie sich die Linksparteien weiterentwickelt haben.

Die folgende Graphik gibt ein Bild von der stimmenmäßigen Linksgravitation der Parteien in den sechziger Jahren. Für diese drei Wahlen läßt sich eine halbwegs unproblematische Einteilung der Parteien nach dem Rechts-Mitte-Links-Modell vornehmen.

Die zweite Perspektive, die sich auf die innerparteiliche Entwicklung bezieht, verdient jedoch noch größere Beachtung. Sie untermauert die Linksgravitation des chilenischen Parteiensystems. Vor allem die Parteien der

Mitte, die Radikalen und die Christlichen Demokraten, haben eine Linksentwicklung genommen. Die Radikalen haben sich aus ihrer Verbindung mit der Rechten gelöst und haben als streng laizistisch orientierte Gruppe die durch die PDC gehaltene Mittelposition im Parteiensystem übersprungen und sich der Linken zugewandt. Innerhalb der Christlichen Demokraten hat der linke Flügel während der Regierungszeit der gemäßigten „Oficialistas" an Einfluß gewonnen und bestimmt gegenwärtig das Regierungsprogramm des PDC — Präsidentschaftskandidaten Radomiro Tomic.

Die Distanz zur Rechten, zur Nationalpartei, hat sich entschieden vergrößert. Jegliche Basis für ein faktisches gemeinsames Operieren von PDC und PN ist geschwunden. Die Distanz der PDC zur Linken hat sich jedoch nur bedingt verringert. Innerhalb der eigentlichen Linken wird der Klassengegensatz und die revolutionäre Situation heute stärker denn je empfunden und herausgestellt. Das bestehende politische System wird offener negiert, obwohl man sich noch bereit findet, die Spielregeln einzuhalten, um zu versuchen, legal an die Macht zu kommen

Damit hat sich eine stärkere ideologische Polarisierung des Parteiensystems ergeben, die sich teilweise in den Kandidaten personifiziert, die 1970 als Bewerber um das Präsidentenamt auftreten. Die ideologische Spaltung der chilenischen Gesellschaft hat sich derart akzentuiert, daß die Frage zu stellen ist, ob die Spielregel , Wahl‘ auch noch als gültig akzeptiert wird, wenn der eigene Kandidat nicht siegt. Es ist ungewiß, ob ein möglicher Wahlsieger Salvador Allende tatsächlich dahin gelangt, die Präsidentschaft zu übernehmen, oder ob nicht ein Putsch des Militärs dies verhindert. Anhänger der „Unidad Populär" verkünden die Parole: entweder Wahlsieg oder Revolution.

Für die Klassifizierung der Parteien in Rechte, Mitte und Linke, wie die Graphik zeigte, haben wir die Parteienbündnisse zu den Präsidentschaftswahlen herangezogen. Tatsächlich stellen die Präsidentschaftswahlen einen der wichtigsten Bestimmungsfaktoren des chilenischen Parteiensystems dar. Das Regierungssystem bestimmt die Struktur und die Eigenheiten des Parteiensystems entscheidend mit.

Präsidentenwahlen und Parlamentswahlen Im politischen System Chiles werden sowohl das Parlament als auch der Präsident der Republik unmittelbar vom Volk gewählt. Beide Organe können sich somit auf das direkte Mandat der Wählerschaft stützen, was durchaus problematisch sein kann Die Verfassung sieht nur für den Fall, daß kein Kandidat im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen erreicht, die Entscheidung der Wahl im zweiten Wahlgang durch den Kongreß vor. Da die Wahlperiode beider Organe verschieden lang ist, finden Präsidentschaftsund Parlamentswahlen nicht im gleichen Jahre statt.

Die terminliche Differenz von zumindest einem Jahr verhindert aber nicht, daß die Wahlen zu den beiden Organen stets in enger Verbindung gesehen werden. Man könnte zunächst meinen, daß die Bestellung eines Parlaments, das traditionellerweise eine Vielparteienstruktur hat, wenig zu tun hat mit der Verbindung einer Person mit einem politischen Mandat, wie es das Präsidentenamt darstellt. In Wirklichkeit wirken beide Wahlen erheblich aufeinander ein. Der gegenseitige Einfluß verstärkt sich gerade dadurch, daß der chile-nische Wähler bei Präsidentenwahlen und Parlamentswahlen vor eine gänzlich andere Entscheidungssituation gestellt ist.

Auszugehen ist hier vom — bereits beschriebenen — Vielparteiensystem Chiles. Seit der Verfassung von 1925 trat kein Bewerber um das Präsidentenamt als Kandidat einer Mehrheitspartei des Parlaments auf. Die Präsidentschaftskandidaten sind zumeist Kandidaten von Parteienkoalitionen jener politischen Gruppen, die das Parlament beherrschen. Präsidentenwahlen verlangen eine Konzentration der politischen Kräfte auf wenige Kandidaten —-eine der wenigen Anregungen der Verfassung zu Zusammengehen und Zusammenarbeit der Parteien. Die Erfahrung zeigt, daß sich das Vielparteiensystem derart gruppiert, daß die großen Alternativen der Politik in der Kandidatur nur weniger Bewerber deutlich werden. Am klarsten kam dies bislang in der Alternative: Frei — Allende bei den Wahlen von 1964 zum Ausdruck, zumal in der Gegenüberstellung der beiden Revolutionsthesen: Revolution in Freiheit oder kommunistische Revolution.

Die Einigung der Parteien auf wenige Kandidaten erfolgt zumeist nicht ohne einen beachtlichen desintegrierenden Nebeneffekt, der auf die Parlamentsparteien zurückwirkt. Die großen Alternativen beinhalten zumeist eine Reihe von Unvereinbarkeiten für innerparteiliche Minderheiten. Dieses Phänomen tritt vor allem bei den Parteien der Mitte auf, wenn die Einigung auf einen Kompromißkandidaten mit einer Links-oder Rechtsorientierung der Partei verbunden ist. Dann kommt es leicht zu Abspaltungen und Neugründungen von Parteien. So ist etwa bei der Festlegung der Parteien auf die Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen von 1970 zunächst die Ab-spaltung der MAPU (Bewegung für die Einheitsfront des Volkes) von der PDC und sodann die Abspaltung der Democracia Radical von den Radikalen erfolgt.

Der die Parteienzersplitterung fördernde Einfluß der Präsidentenwahlen ist besonders groß, wenn sich Kandidaten bewerben, die als nationale, unabhängige oder Einheitskandidaten auftreten. Je nachdem, wie sehr der Aufruf zur Sammlung von politischen Kräften aus allen Lagern zur Stützung einer Kandidatur Aufnahme findet, kann sich das Parteien-spektrum erheblich verändern und eventuell eine Neugruppierung des Parteiensystems erfolgen. Hier ist vor allem das Beispiel des Präsidenten Carlos Ibanez del Campo (1952 bis 1958) zu nennen.

Andererseits kann auch die Wahl eines Präsidenten bei den nachfolgenden Parlamentswahlen eine Konzentration der Wählerstimmen auf die Partei (oder Parteiengruppe) herbeiführen, der der Präsident entstammt. So nahmen die Kommunistische und die Sozialistische Partei nach dem Wahlsieg des Volksfrontkandidaten Aguirre Cerda bei den Präsidentenwahlen von 1938 in den nachfolgenden Parlamentswahlen erheblich an Stimmen zu. Das beste Beispiel für diesen Effekt im Verhältnis von Präsidenten-und Parlamentswahlen ist der große Wahlsieg der PDC des Jahres 1965. Auch hier ist wieder das Regierungssystem äußerst relevant. Im politischen System Chiles bestimmt sich der politische Aktionsradius des Präsidenten nach den parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen, und zwar nach denen des Abgeordnetenhauses und des Senats. Der Kongreß kann einen Präsidenten politisch völlig lahmlegen. So ist es nur natürlich, daß jeder Präsident versucht, auf die Wahl des Kongresses Einfluß zu nehmen. Dies geschieht in aller Regel durch Attacken gegen die kooperationsunwilligen Parteien und durch Hinweise darauf, daß das Regierungsprogramm, welches das Mandat des Volkes habe, nur durch veränderte Mehrheitsverhältnisse im Parlament durchgeführt werden könne. Diese Taktik hat auch Präsident Frei eingeschlagen und „die Christlich-Demokratische Partei profitierte als Partei des Präsidenten Carlos Ibanez del Campo (1952 bis fang an der gegen die Parteien gerichteten Malaise"

Tatsächlich ist die Parteienwirklichkeit Chiles und Lateinamerikas allgemein von einem starken Antiparteieneffekt geprägt, der als historisch verfestigt gelten kann. Er fußt auf radikal-demokratisch zu nennenden Vorstellungen, deren Wurzeln weniger bei Rousseau als im politischen Denken des mittelalterlichen und spätmittelalterlichen Spanien liegen. Danach werden die Parteien als Vertreter von Gruppen-, Cliguen-, Familien-, auf jeden Fall von Sonderinteressen angesehen. Von ihnen wird a priori angenommen, daß sie gegen das Interesse der Gesamtheit das Gemeinwohl aller agieren, daß sie zumindest weniger geeignet sind, dem übergeordneten nationalen Interesse gerecht zu werden, als eine Einzel-persönlichkeit. Als Folge der mittelalterlichen Vorstellung von einem Herrscher, der nach den Prinzipien des natürlichen Rechts und der christlichen Gerechtigkeit regiert, hat sich die Fiktion von der Einzelpersönlichkeit als unabhängiger Person, die sich über die engen Parteiinteressen erhebt, die die „politigueria" beseitigt und die dem Allgemeinwohl zum Durchbruch verhilft, bis in die Gegenwart erhalten.

Die Parteien entsprechen in ihrer Struktur der in den lateinamerikanischen Ländern allgemein größeren Identifizierung der Politik mit einer Einzelperson; sie sind viel stärker von Personen geprägt, die die politische Linie und das politische Programm . ihrer'Partei bestimmen. Die Spielbreite reicht vom „personalismo" bis zum „caudillismo". Organisatorische Festigkeit erlangen solche Parteien kaum.

Der lockeren Struktur der chilenischen Parteien entspricht ein sehr fluides Wählerverhalten. Es fußt auf einer sehr niedrigen politischen Gebundenheit des chilenischen Wählers. Eine Analyse des CEDOP-Instituts besagt, daß nur etwa dreißig Prozent der chile-nischen Wählerschaft als Stammwählerschaft bezeichnet werden kann Sie wählt bei Präsidentenwahlen den von der Parteispitze empfohlenen Kandidaten, folgt der von ihr ausgegebenen politischen Richtlinie. Der Rest der Wählerschaft richtet seine Stimmabgabe am jeweiligen Bild des Kandidaten aus, — ein sehr vager Bestimmungsfaktor. Schichtenspezifisches Wahlverhalten ist kaum dominant. Sozialpsychologische Distanzen werden durch das Assimilationsbedürfnis unterer an höhere Schichten, durch die Neigung zur Übernahme ihrer Gewohnheiten, auch ihrer politischen Präferenzen abgeschwächt. Interessant wäre hier eine Fallstudie zum Wählerverhalten der großen Zahl von Dienstmädchen und Hausgehilfen. Es ist somit deutlich geworden, wie groß und vielfältig die Zahl der Faktoren ist, die auf das Parteiensystem einwirken und seine Struktur, seine Eigenschaften und seine Bewegungsabläufe bestimmen. Die Präsidentenwahlen von 1970 können erneut große Auswirkungen auf das politische Kräftefeld haben, aus dem sich drei Kandidaturen formiert haben.

III. Die Präsidentschaftswahlen 1970

Tabelle II Ergebnisse der chilenischen Präsidentschaftswahlen 1952 - 1964

Ausgangslage Die besondere Ausgangsposition der bevorstehenden Präsidentenwahlen kann gekennzeichnet werden:

1. durch den Vergleich u früheren Präsident-Schaftswahlergebnissen, 2. durch die Regierungsarbeit des Präsidenten Frei und die Anerkennung der Leistungen dieser Administration in der Wählerschaft, 3. durch den Prozeß der Herausbildung der einzelnen Kandidaturen und 4. durch die relative Stärke der sich bewerbenden Kandidaten.

Frühere Präsidentschaftswahlen Wir haben zunächst auf die vorhergehenden Wahlergebnisse von Präsidentschaftswahlen in Chile zu sehen und besonders die Wahl-Situation von 1964 zu charakterisieren. Tabelle II führt die Ergebnisse der letzten drei Präsidentschaftswahlen auf, wobei auch die unterschiedlichen Stimmpräferenzen von Männern und Frauen angegeben werden, deren Distanz beachtlich groß ist. Bei den letzten Wahlen gelang es Eduardo Frei hauptsächlich aufgrund des großen Stimmenvorsprungs bei der weiblichen Wählerschaft, einen überwältigenden Wahlsieg davonzutragen. Ob er erwartet werden konnte oder unerwartet war, möchte ich dahingestellt sein lassen -Eduardo Frei vereinigte 56, 1 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen auf sich und erzielte damit als erster Präsidentschaftskandidat nach 1942 wieder die absolute Mehrheit der Wählerstimmen

Wesentlicher Faktor des so großen Stimmen-vorsprungs und wichtigstes Charakteristikum der Wahlen von 1964 war, daß keine eigentliche und zugkräftige Rechtskandidatur bestand. Die Liberalen und Konservativen hatten zunächst im „Frente Democratico" den Kandidaten der Radikalen Partei Julio Duran, unterstützt. Die Rechtskandidatur verlor jedoch alle Möglichkeiten einer aussichtsreichen Bewerbung, als es bei Nachwahlen zum Kongreß in der Provinz Curico im März 1964, die als Test für die September-Wahl betrachtet wurde, entgegen allen Erwartungen in einem bislang von der Rechten beherrschten Wahl-gebiet zum Sieg des Volksfrontkandidaten kam und der Rechtskandidat nur die dritte Position hinter der PDC einnahm. Liberale und Konservative zogen sich aus dem „Frente Democratico" zurück und gaben ihre Unterstützung dem Kandidaten der PDC, ohne daß diese Partei sich zu einer förmlichen Wahl-absprache bereitfand. George W. Grayson hat die wesentlichen Konsequenzen der Wahl von Curico in folgendem gesehen: 1. im erheblichen effektiven Stimmenzuwachs des christlich-demokratischen Kandidaten, 2. in der Öffnung der Kommunikationsmedien für die PDC und 3. in der Beibehaltung der von Jaime Castillo Velasco definierten Position des „purismo", des Freibleibens für Kompromisse mit anderen Parteien Man kann hinzufügen, daß die Frei-Kandidatur nach Curico auch die Unterstützung des ausländischen Kapitals in Chile erhielt und im Hinblick auf die Finanzierung des Wahlkampfes mit dem vom internationalen Kommunismus unterstützten Allende gleichziehen konnte.

So bestand 1964 eine eindeutige Alternative zwischen nur zwei Kandidaten, Eduardo Frei und Salvador Allende. Beide Bewerber sprachen von Revolution mittels des Stimmzettels und versprachen entscheidende Strukturreformen Chiles, weshalb manche Beobachter diese Wahl zu den großen Wahlentscheidungen Chiles im 20. Jahrhundert zählten Die Wahl der „Revolution in Freiheit" verdankt der stillen Unterstützung durch die Rechte viel. Wer glaubte, damit sei der Weg Chiles in den nächsten Jahrzehnten in Form der Durchführung einer friedlichen Sozialrevolution bestimmt, sieht sich gegenwärtig getäuscht. Im Jahre 1970 ist die Fortführung der begonnenen „Revolution in Freiheit" zumindest weniger sicher als ihr Beginn, über den die Wahlen von 1964 entschieden.

Die Regierung Frei: Leistung und Bewertung Die christlich demokratische Regierung hat in sechs Jahren eine große Arbeitsleistung vollbracht. Sie hat vielfältige Reformen in Angriff genommen, die für das Land einen großen Fortschritt bedeuten. Ihre wichtigsten Erfolge liegen: a) im wirtschaftlichen Bereich:

1. in der ausgehandelten Nationalisierung (Nacionalizaciön Pactada) des Kupferbergbaus und der zugleich damit erreichten Finanzierungsbasis für eine erhebliche Ausweitung der Kupfererzeugung, die eine Erhöhung der jährlichen Kupferproduktion von 390 000 Tonnen (1965) auf 750 000 Tonnen zuläßt 2. im Beginn einer durchgreifenden Agrarreform (Gesetz von 1967), die neben der Land-aufteilung — und zwar vpn brachliegendem wie bewirtschaftetem Großgrundbesitz — an die Campcsinos (bisher 3 200 000 Hektar; Zahl der neuen Landeigentümer 1965: 2061; 1966: 2109; 1967: 4218; 1968: 5644; 1969: 6404; insgesamt 20 436) auch die Vermittlung technischer Kenntnisse und die Organisation in sog. Asentamientos (autonomen Kollektiven, erste kommunitarische Einrichtungen) vorsieht. Die Zahl der Asentamientos hat sich von 26 im Jahre 1964 (1718 Mitglieder) auf 222 im Jahre 1969 (30 034 Mitglieder) erhöht. Technische Ausbildung und Hilfe erhielten 1965 9944 Campesinos und 72 153 im Jahre 1969. b) Im sozialen Bereich: 1. im Wohnungsbau: In der Periode 1959 bis 1964 wurden jährlich 29 600 Wohnungseinheiten gebaut, 1965— 1969 dagegen jährlich 44 000. Während in der erstgenannten Periode jährlich 29 638 Familien der unteren Volks-schicht eine annehmbare Wohnung beziehen konnten, betrug der Mittelwert für diese sog. Soluciones Habitacionales (Wohnungsnot-lösungen) in der zweiten Periode 76 458 im Jahr. Dazu kommt noch das von der Regierung sehr geförderte Programm der sog. Autocon-strucciön (1959— 1964: 346; 1965— 1969: 6344; jeweils jährlicher Mittelwert), der Selbstinitiative im Bauen, die vor allem auf den Asenta-mientos einsetzte; 2. in der gewerkschaftlichen Organisation der Campesinos (1964: 24 gewerkschaftliche Verbände mit 1658 Mitglieder; 1969: etwa 400 mit mehr als 100 000 Mitgliedern), im Gesetz über die Nachbarschaftsverbände und Mütterzentren, die der Integration der unteren Bevölkerungsschichten in die chilenische Gesellschaft dienen und die Eigenverantwortlichkeit bei der Veränderung ihres eigenen Lebensbereiches, von Arbeitsplatz und Nachbarschaft, stärken sollen; 3. in der Ausweitung der Angestellten-und Krankenversicherung und der Unterstützung kinderreicher Familien. c) Im Erziehungsbereich:

1. im Schulhausbau (eine Verdoppelung der Neubauten in den Jahren 1965 bis 1970 gegenüber den Jahren 1959 bis 1964); 2. in der Erhöhung der Zahl der Kinder, die die Schule besuchen können (1964: 1 840 100; 1970: 2 689 300); 3. in der erheblichen Steigerung der Schulspeisen (Milchfrühstück 1964: 350 000, 1970: 1 300 000; Tagesmahlzeiten 1964: 130 000, 1970: 580 000); 4. in der Erhöhung der Zulassungen zu den Universitäten (1964: 35 000, 1970: 82 437 Universitätsstudenten) ; 5. in der Senkung des Analphabetismus innerhalb von sechs Jahren von 1964 16, 4 Prozent auf 1969 11, 0 Prozent der erwachsenen Bevölkerung; d) in der Verbesserung der Infrastruktur des Landes, der Verkehrswege, Verkehrsmittel und der Kommunikation; e) in der Durchsetzung der Verfassungsreform an der die zwei vorhergehenden Präsidenten gescheitert waren.

Diesen Leistungen der Regierung Frei stehen natürlich auch Mißerfolge gegenüber. Vor allem konnte die Inflation nicht gebannt werden. Die jährliche Inflationsrate des Landes liegt bei 30 Prozent. Auch muß gefragt werden, ob die Leistungen den Jahr um Jahr sich steigernden Anforderungen gerecht wurden. Statistische Vergleiche müssen die Zieldaten mit einschließen, die sich aus den bestehenden Problemen berechnen und für kommende Jahre projektieren lassen. Dadurch erst ergibt sich ein Bezug, der den Prozeß der Entwicklung in relativen Werten einschätzen läßt.

Für unsere Frage nach der Ausgangsposition der Wahlen von 1970 kommt es aber nicht so sehr darauf an, hier und jetzt eine objektive Bewertung der Regierungsarbeit zu erreichen. Viele Reformen der Regierung Frei werden erst in den Jahren nach Ablauf des Mandats Früchte tragen können oder ihr Scheitern aufzeigen. Für den politischen Prozeß in Chile ist gegenwärtig die Frage wichtiger, wie die Bevölkerung die Leistungen der ersten christlich-demokratischen Regierung einschätzt. Unter diesem — letztlich etwas vordergründigen — Aspekt wurde auch die obige Zusammenstellung der Leistungen der Regierung Frei unternommen. Sie nimmt in etwa schon vorweg, was die Mehrzahl der Stimmen in der öffentlichen Meinung der Regierung Frei an Leistungen zuschreibt.

Die Regierung Frei und mit ihm die Regierungspartei haben den Tiefpunkt in der Gunst der öffentlichen Meinung des Vorjahres überwunden, der nach den Parlamentswahlen vom März 1969, nach den parteiinternen Auseinandersetzung, der Abspaltung der MAPU — Gruppe und der Nominierung von Radomiro Tomic zum Präsidentschaftskandidaten, eintrat. Zumal sich die Regierung Frei — trotz der durch den Wahlkampf sehr angeheizten Atmosphäre — einer bemerkenswert großen Popularität erfreut.

Die folgende Tabelle III zeigt die Einschätzung der Regierung Frei durch die Wählerschaft von Santiago, die 35 Prozent der Gesamt-wählerschaft des Landes ausmacht, wenige Monate vor Ablauf der Regierungszeit. Dabei ist zu bedenken, daß die Reformtätigkeit der Regierung in Santiago selbst weniger sichtbar ist als auf dem Lande. Zwischen den beiden Erhebungen, die von zwei voneinander unabhängigen Meinungsforschungsinstituten durchgeführt wurden, liegen drei Monate. Die zweite Umfrage ermittelte auch die Bewertung der Regierung Frei, die die Anhänger der drei Präsidentschaftskandidaten von 1970 vornahmen. gebaut". An vierter Stelle folgt: „war besser als vorhergehende Regierungen", das heißt, besser auch als die Regierung von Jorge Alessandri, der sich 1970 wieder um das Mandat bewirbt und den die Befragten am 4. September wählen wollen. Die positiven Bewertungen der Anhänger von Tomic und Allende gleichen denen der Anhänger von Alessandri, bis auf die jeweils an dritter Stelle erfolgende Einfügung, daß die Regierung Strukturreformen herbeigeführt habe. Die Kritik der Unzufriedenen bezieht sich vor allem auf die Unfähigkeit der Regierung, die Inflation und die Steigerung der Lebenshaltungskosten zu drosseln. Die Kritik der Linken, auch der unzufriedenen Tomic-Wähler, an der Frei-Regierung fußt auf der Meinung, daß die Regierung zu Beide Meinungsumfragen, wiewohl sie voneinander abweichende Ergebnisse bringen, weisen aus, daß ungünstigstenfalls auf einen mit der Regierung Frei unzufriedenen Wähler zwei zufriedene Wähler entfallen. Die positiven Bewertungen gründen vor allem auf der Meinung, daß die Regierung „viele Dinge erreicht hat". Unter den Alessandrtsten, die die Regierung positiv beurteilen, überwiegen in der nachfolgenden Reihenfolge die Wertungen: „hat viel für das Volk getan; hat ihr Programm erfüllt; hat Fortschritte erzielt, mehr Schulen, mehr Straßen, mehr Häuser wenige und zu langsame Fortschritte erzielt habe.

Insgesamt herrscht jedoch über die Regierung Frei in der öffentlichen Meinung das mehrheitliche Urteil vor, daß sie eine „Regierung der Leistungen" (gobierno realizador) gewesen sei.

Kandidaturen 1970 Allessandri Bereits bei der Übernahme des Präsidenten-amtes durch den Christdemokraten Eduardo Frei im Jahre 1964 rief eine Gruppe unter den Tausenden von Anwesenden „Alessandri volver" (Alessandri wird wiederkommen). Der damals scheidende Präsident Jorge Alessandri Rodriguez entwickelte sich in den folgenden Jahren zur großen Hoffnung der Rechten, die Präsidentschaft bei den Wahlen von 1970 wiederzugewinnen. Sie baute darauf, daß das Volk die Unfähigkeit seiner Regierung der „hinter ihm stehenden Parteikoalition von Konservativen, Liberalen und Radikalen zu-schrieb" und weniger seiner Person. Obwohl Alessandri in mehr als fünf Jahren sich jeder öffentlichen Stellungnahme zur Kritik an seiner Regierung und zur Politik der Regierung Frei enthielt, war schon sein Name politisches Programm genug, um aussichtsreich erneut die Präsidentschaft anzustreben. Sein fortgeschrittenes Alter (Jahrgang 1896) wurde als nicht hinderlich angesehen. Konservative und Liberale, zur Nationalpartei vereinigt, führten bereits den Wahlkampf für die Parlamentswahlen von 1969 mit dem Namen Alessandris und mit dem Versprechen, daß sie den ehemaligen Präsidenten, der im Volk durchaus verehrt wird, als ihren Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen von 1970 ansehen würden und seine Bewerbung herbeiführen wollten. Der Stimmengewinn der PN wird mit auf die von der Rechten so frühzeitig eröffnete Wahlperspektive für das Jahr 1970 zurückzuführen sein. Tatsächlich rangierte Alessandri im Jahre 1969, wie alle Meinungsumfragen zeigen, mit weitem Vorsprung vor allen anderen möglichen Präsidentschaftsbewerbern, weit höher auch als der — nicht direkt wiederwählbare — gegenwärtige Präsident.

Ohne daß Alessandri öffentlich ein Wort zu einer erneuten Kandidatur hatte verlauten lassen, begannen Nationalpartei und Unabhängige bereits mit der Gründung von Alessandri-Komitees und Unabhängigen Wählervereinigungen, die Alessandri zur Bewerbung um das Präsidentenamt aufforderten, und mit der Sammlung von Unterschriften, die das Wahlgesetz bei Bewerbung eines unabhängigen Kandidaten vorschreibt

Tatsächlich steht und fällt die Kandidatur von Alessandri mit seinem Prestige als Unabhängiger. Eine ausschließlich auf die PN begründete Kandidatur hätte keine Chance. Dies ist der zweite Aspekt, den der Stimmenzuwachs der PN von 1969 besitzt. Bei einer Wahl, in welcher die Regierung Frei starker Kritik ausgesetzt war, ist es der PN nicht möglich gewesen, mit dem Namen Alessandri mehr als 20 Prozent der Stimmen zu erreichen.

Tomic Die Christlichen Demokraten haben auf der Junta Nacional vom 15. August 1969, mehr als ein Jahr vor dem Wahltermin, Radomiro Tomic Romero, einen der Gründer der Falange und eine der politisch profiliertesten Persönlichkeiten der Partei zum Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen erhoben. Diese Entscheidung ist der Partei und dem Kandidaten selbst nicht leicht gefallen.

Als Tomic zu Beginn des Jahres 1969 von seinem Botschafterposten in Washington nach Chile zurückkehrte, propagierte er zunächst eine Verbindung der Christdemokratie mit der chilenischen Linken einschließlich der Kommunisten für die Präsidentenwahlen. Er weigerte sich, als Kandidat einer anderen Formation und auch als Bewerber nur der Christdemokraten aufzutreten. Das Bündnis mit der Linken in einer „Unidad Populär" ließ sich aber nicht verwirklichen, zum einen, weil die Kommunisten sich einer solchen Verbindung widersetzten, zum anderen, weil auch innerparteilich die PDC in dieser Frage gespalten war und auseinanderzubrechen drohte. Die erste Jahreshälfte 1969 war vom Kampf der Parteigruppen der Christdemokratie gekennzeichnet, der schließlich nicht ohne die Ab-spaltung des extremen linken Flügels der Partei unter dem Gründungsmitglied der Falange, dem Senator Rafael A. Gumucio, ab-lief. Als sich die sog. Oficialistas der Partei mit 233 gegen 215 Stimmen auf dem Parteikongreß vom 2. bis 4. Mai 1969 für die Kandidatur eines eigenen Kandidaten der Partei durchsetzten, begann der Austritt einer Reihe von PDC-Parlamentariern aus der Partei (Gumucio, Jerez, Silva), denen sich Jacques Chon-chol, Vorsitzender der CORA, der Institution für die Agrarreform, und ein Großteil der Parteijugend anschlossen

Die Auseinandersetzungen um die Wahlbewerbung der PDC bedeuteten somit eine grundsätzliche Bestimmung der politischen Linie, die die Partei in den folgenden Jahren einnehmen sollte. Siegten die Oficialistas in der Frage einer Parteienkoalition oder ungebunden PDC-Kandidatur, so bedeutete die Entscheidung zugunsten von Tomic und die Annahme der ihm angetragenen Kandidatur einen Sieg der sog. Terceristas, des linken Flügels der Christlichen Demokraten.

Mit der Wahl von Tomic ist die Partei zunächst in wenig aussichtsreicher Position in den Wahlkampf gegangen. Zum einen wurde die Entscheidung für Tomic im gemäßigten Flügel der Partei nicht recht anerkannt, zum anderen war Tomic, obwohl einer der führenden Köpfe der Partei, im Lande noch wenig bekannt, vor allem im Vergleich mit den seinerzeit mutmaßlichen Gegenkandidaten Alessandri und Allende. Diese Publicity-Lücke haben Tomic und die PDC jedoch noch im Vorjahr zu schließen vermocht. Tomic hat bis zu seiner offiziellen Einschreibung als Präsidentschaftskandidat Anfang 1970 an mehr als 1000 Veranstaltungen teilgenommen, die wahlkampfartigen Charakter besaßen; er hat jede der 29 Provinzen zumindest einmal besucht und sich intensiv um Kontakt mit der Bevölkerung, vor allem auf dem Lande, bemüht.

Diese erfolgreiche Kampagne, die sich bald in den Meinungsumfragen widerzuspiegeln begann, hat Tomic, wenn man so will, auch die Kandidatur gesichert. Denn es war nach der Entscheidung vom August 1969 nicht ausgemacht, daß Tomic der Kandidat der Christ-demokratie bleiben würde. Es boten sich andere Parteimitglieder an, die vielleicht mehr als Tomic in der Lage gewesen wären, die verschiedenen Flügel der Christdemokratie Chiles zu repräsentieren. Es ist kein Geheimnis, daß viele gemäßigte Christdemokraten der Tomic-Kandidatur abgeneigt sind und sie nicht zu unterstützen bereit waren. Unter diesen PDC-Anhängern wurde die folgende Rechnung aufgemacht: gewinnt 1970 der Rechts-kandidat Alessandri (eventuell mit den Stimmen der gemäßigten Christdemokratie), dann hat der jetzige Präsident, Eduardo Frei, die besten Chancen, 1976 wiedergewählt zu werden. Dieses Raisonnement erhebt ein dualistisches Wechselspiel zwischen traditioneller Rechten und der PDC unter Führung ihres gemäßigten Flügels zum Kern der politischen Entwicklung. Mit Tomic und durch Tomic wurden die Akzente indes anders gesetzt.

Die PDC erkannte, daß eine Koalition mit der Rechten oder ein Taktieren mit ihr ebenso unmöglich ist wie der Weg der Verbindung mit der extremen Linken. Durch beide Verbindungen würde die Christdemokratie höchst unglaubwürdig. Wie 1964 der „purismo", hat sich 1970 der „camino propio" durchgesetzt. Daran ändert nichts, daß der PDC-Kandidat die Unterstützung der PADENA, der kleinen Nationaldemokratischen Partei, erhalten hat.

Allende Die „Unidad Populär", der sechs Parteien angehören hat sich auf einen Kandidaten geeinigt, der bereits dreimal versucht hat, die Präsidentschaft zu gewinnen, den Sozialisten Salvador Allende Gossens Diese Entscheidung ist nach monatelangem Tauziehen der Volksfrontparteien zustande gekommen, ein Kompromiß, der bereits die Spannung im Bündnis aufgezeigt hat.

Motor der Unidad Populär war und ist die Kommunistische Partei. Sie hat bereits lange vor den Parlamentswahlen von 1969 die Notwendigkeit einer Volksfront betont und dafür Gehör bis in die Reihen der Christdemokratie gefunden. Wie bereits erwähnt, hat der christ-demokratische Präsidentschaftskandidat zunächst eine solche Unidad Populär unter Einschluß der Sozialisten und Kommunisten angestrebt. Den Kommunisten ging es aber darum, die führende Rolle im Bündnis nicht zu verspielen.

Anders als bei früheren Volksfronten war es für die PC nun eine Bedingung, daß die Basis der neuen Unidad Populär die Verbindung der Kommunistischen und der Sozialistischen Partei sein würde und folglich der Kandidat einer solchen Parteienverbindung aus einer der beiden großen marxistischen Parteien hervorzugehen habe. Zwar rechneten die Kommunisten auch die nun linksorientierte Radikale Partei zu der Gruppe von Parteien, die die Unidad Populär zu bilden hätten, um ihr Aussicht auf den Wahlsieg zu geben. Einen radikalen Kandidaten aber wollten sie auf keinen Fall zulassen.

Die Radikalen glaubten ihrerseit an die Durchsetzbarkeit ihres Kandidaten Baltra. Sie haben sich darin sehr getäuscht. Ihre Begeisterung für die Unidad Populär ist merklich zurückgegangen. Sie sehen sich zudem vor einer schwierigen innerparteilichen Situation. Die Linksorientierung der Partei hatte bereits die Abspaltung der Democracia Radical zur Folge. Der Verlust der Kandidatur hat das Problem der Parteiführung vertieft, für die Masse ihrer Wählerschaft kaum noch repräsentativ und ihres Votums immer weniger sicher zu sein.

Die Volksfrontparteien schlossen zunächst (26. Dezember 1969) ein Bündnis (Pacto de la Unidad Populär) und einigten sich zugleich auf ein Wahlprogramm (Programa Basico de la Unidad Populär) ehe sie die Frage der geeigneten Person angingen, die im Wahlkampf herausgestellt würde. Dabei wurde die Bedeutung der die Unidad Populär führenden Person heruntergespielt. Tatsächlich ging aus den Beratungen des Koordinierenden Ausschusses der Unidad Populär ein Regierungsmodell der Volksfront hervor, das dem Präsidenten noch unter der bestehenden Verfassung erheblich weniger Rechte einräumt. Einem Präsidenten Allende würde gleich mit seiner Wahl ein Politisches Komitee zur Seite gestellt, dem die Parteien der Unidad Populär angehören und das hauptsächlich koordinierende Funktionen haben soll. In diesem Politischen Komitee liegen alle Möglichkeiten, von der kommunistischen Revolution auf kaltem Wege bis zur Lahmlegung jeglicher Regierungsentscheidung. Denn wie bereits die Wahl des Präsidentschaftskandidaten der Unidad Populär zeigte, stehen sich in ihr zwei Gruppen gegenüber: auf der einen Seite die PS, PC und MAPU, auf der anderen API, PSD und PR. Die Gefahr der Unbeweglichkeit der Institutionen des Bündnisses läßt dann letztlich doch nach dem Gewicht der einzelnen Partner fragen, nach dem ideologisch und organisatorisch sowie auch dem nach Wählerstimmen stärksten Verbündeten. Es ist sehr zu bezweifeln, ob die neue Volksfront, in der die Kommunisten in den drei aufgeführten Belangen dominieren, erneut in ihrer Politik wie in den früheren chilenischen Volksfrontregierungen auf die Linie ihres gemäßigten Partners einschwenken wird, eine These, die man als historischen Erfahrungssatz von vielen Chilenen hört.

Wahlalternativen und Wahlchancen Die Wahl von 1970 zeichnet sich durch drei klar umrissene Kandidaturen aus, die sich ideologisch und programmatisch deutlich voneinander abheben, ähnlich wie dies 1964 mit der Alternative Frei — Allende der Fall war. Der chilenischen Wählerschaft bieten sich drei Wegrichtungen für die weitere Entwicklung Chiles an:

1. Die Fortführung, Vertiefung und Beschleunigung der von Frei begonnenen „Revolution in Freiheit", das heißt des evolutionären Weges, Staat und Gesellschaft auf eine neue Grundlage zu stellen. Die Zielrichtung ist die „kommunitarische Gesellschaft"

2. Die radikale, marxistische Lösung durch Sofortmaßnahmen, die die Basis der herkömmlichen Politik und des gesellschaftlichen Systems revolutioniert. Die Zielrichtung ist die sozialistische Gesellschaft.

3. Die Reform des bestehenden politischen Systems und der Gesellschafts-und Wirtschaftsordnung durch Ausbau und Verbesserung, das heißt Lösung der sozialen und politischen Probleme des Landes unter Wahrung der Strukturen des politischen Systems. Die Zielrichtung ist die Verteidigung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung.

Die Differenzen in den Programmen der drei Kandidaten zeigen sich am deutlichsten in den jeweiligen Verfassungsreformplänen. Reformabsichten können auf zwei voneinander zu unterscheidenden Meinungen beruhen. Die Frage ist, ob die gegenwärtige Verfassung als in sich ungeeignet angesehen wird, oder ob angenommen wird, daß die politischen Gruppen die theoretisch sehr geeignete Verfassung mißbrauchen Tomic und Allende negieren die Eignung der gültigen Verfassung und wollen deshalb eine umfassende Verfassungsreform herbeiführen, Alessandri verwirft die herrschenden politischen Praktiken, die es nach seiner Meinung vor allem zu ändern gelte.

Alle drei Kandidaten gehen von dem Grundgedanken einer stärkeren Beteiligung des Volkes im politischen Entscheidungsprozeß aus. Motivierung und Gehalt dieses Gedankens sind jedoch jeweils sehr verschieden. Alessandri will mittels einer stärkeren Beteiligung des Volkes das Regierungssystem operationabler machen, mittels Volksentscheid und Plebiszit die mögliche Opposition des Parlaments niederhalten Tomic versteht darunter Mitbestimmung im Betrieb, in der Gemeinde, auf nationaler Ebene und sieht in der Tatsache als solcher ihren entscheidenden Wert. Allende versteht unter Volk primär die Klasse, die im Kampf gegen die Privilegierten die Macht übernimmt. Diese grobe Analyse zeigt bereits an, welche spezifischen Unterschiede und Nuancen bei gleicher Wortwahl und gleicher Absichtserklärung der Kandidaten mitgedacht werden müssen. Der gegenwärtig schillerndste Begriff der politischen Sprache in Lateinamerika ist der der Revolution.

Alessandri will im großen und ganzen die Entwicklungslinie der Verfassungsreformen seit 1925 fortführen und eine weitere Stärkung der Macht des Präsidenten herbeiführen. Dem Präsidenten als der entscheidenden Verfassungsfigur soll ein mehr deliberierender und — im nachhinein — kontrollierender Kongreß gegenüberstehen. In Streitfällen zwischen Präsident und Kongreß soll die Wählerschaft entscheiden. Dem Präsidenten soll das Mittel der Parlamentsauflösung zur Verfügung stehen.

Das Verfassungsprogramm der Unidad Populär ist ganz am Modell der Versammlungsregierung ausgerichtet, das in der kommunistischen Staatenwelt als Basis für die Herrschaft einer Partei dient. Eine Kammer, „Asamblea del Pueblo" (Volkskammer), soll alle Gewalt in sich vereinigen. Ihre Mitglieder sollen ein imperatives Mandat besitzen und abwählbar sein (recall-system). Zwar wird betont, daß alle demokratischen Grundrechte beibehalten und garantiert werden; indes, die Verfassung selbst gibt sämtliche Gewaltenbeschränkung und Gewaltenkontrolle auf, die für die Durchsetzung der Grundrechte eine wesentliche Voraussetzung ist. Auch die richterliche Gewalt soll von der Volkskammer abhängig werden.

Wie Alessandri will auch Tomic das Präsidentenamt mit weiteren Vollmachten versehen. Es soll die ausschließliche Gesetzesinitiative in allen die Wirtschaft betreffenden Angelegenheiten erhalten. Ihm zur Seite soll ein Wirtschafts-und Sozialrat treten, der den Präsidenten in ökonomischen und sozialen Fragen berät. Der Kongreß soll nur noch aus einer Kammer bestehen, um vor allem die Gesetzes-verabschiedung zu beschleunigen. Es wird beabsichtigt, das einfache Gesetzesreferendum einzuführen, um Streitfälle zwischen Präsident und Parlament durch das Volk entscheiden zu lassen. Der eventuell erforderliche zweite Wahlgang bei Präsidentenwahlen soll statt vom Parlament vom Volk ausgeübt werden. Insgesamt erscheint das Verfassungsprogramm an den de Gaulleschen Verfassungsideen angelehnt zu sein: starker Präsident, schwaches Parlament und Einschränkung seines legislativen Zuständigkeitsbereichs, Abschaffung des Senats, Einführung eines Sozial-und Wirtschaftsrats, Dialog Präsident — Volk mittels Plebiszit in Form von Gesetzesreferenden.

In den ökonomischen und sozialen Fragen gleichen sich die Programme, wenn man sie primär unter entwicklungspolitischen Gesichtspunkten betrachtet: Steigerung der Erträge der Landwirtschaft, der Kupfererzeugung und des Kupferexports, Erhöhung des Sozialprodukts, des Lebensstandards, Bekämpfung der Armut etc. Natürlich verbergen sich dahinter die erheblich differierenden Auffassungen über Gesellschaftsstruktur und Wirtschaftssystem. Kapitalistisches System, Schutz des Eigentums und Vorrang der Privat-wirtschaft bei Alessandri, Verstaatlichungen, Agrarreform, Unternehmensreform, Mitbestimmung etc. als Stichworte bei Tomic und Allende. Tomic hebt sich in konkreten Programmpunkten vor allem durch die Betonung der freiheitlich-pluralistischen Komponente seiner Reformen von Allende ab.

Alle drei Kandidaten haben etwa gleich große Chancen, die relative Mehrheit der Wählerstimmen auf sich zu vereinigen. Vier Wochen vor dem Wahltag kann über den Wahlausgang nur das eine mit allergrößter Sicherheit gesagt werden: kein Kandidat wird die absolute Mehrheit der Wählerstimmen erreichen. Jeder Kandidat könnte bestenfalls 40 Prozent der Stimmen erzielen, eigentlich müßten alle auf zumindest 30 Prozent der Stimmen kommen. Diese Zahlen machen deutlich, wie knapp der Wahlausgang sein kann, und auch, daß am 4. September wahrscheinlich nicht von der Wählerschaft selbst entschieden werden kann, wer der neue Präsident Chiles für die Zeit von 1970 bis 1976 sein wird.

Erreicht kein Kandidat die absolute Mehrheit der abgegebenen Wählerstimmen, so wird die Wahl im zweiten Wahlgang durch den Kongreß entschieden. Der Kongreß wählt den Präsidenten unter den zwei stimmstärksten Kandidaten des ersten Wahlganges. Seit abzusehen war, daß der Kongreß diese Entscheidung herbeizuführen habe, steht diese Verfassungsregel in der öffentlichen Diskussion. In der chilenischen Verfassungsgeschichte hat der Kongreß bislang immer den Kandidaten zum Präsidenten gewählt, der im ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhielt

Dies ist aber keine Norm: die Entscheidung durch den Kongreß ist keine formale Bestätigung, sondern eine originäre Wahl. So hat es auch immer Gegenstimmen gegeben. Der Sinn der Bestimmung liegt darin, daß kein Kandidat als Folge der Zersplitterung der politischen Kräfte mit nur relativer Mehrheit zum Präsidenten gewählt werden kann Die Wählerschaft der unterlegenen Kandidaten ist sich möglicherweise politisch so nahestehend, daß sie insgesamt als eine absolute Mehrheit gegenüber der nur relativen Mehrheit des im ersten Wahlgang siegreichen Kandidaten angesehen werden kann — ein altes Problem in der Lehre von den Wahlsystemen. Die Entscheidung des Kongresses kann dann als Surrogat einer erneuten Wählerentscheidung verstanden werden.

Aus dieser Praxis, immer den stimmstärksten Kandidaten zu wählen, wird jedoch auch gefolgert, daß sie sich inzwischen zur Verfassungsnorm entwickelt habe: der Kongreß sei nicht frei in seiner Entscheidung, sondern habe die relative Mehrheit der Wählerstimmen im ersten Wahlgang zu respektieren. Es besteht damit eine große Diskrepanz in der Interpretation eines Verfassungsartikels, dem für den Wahlausgang entscheidende Bedeutung zukommt. Die einzelnen Kandidaturen verstär--ken die Unstimmigkeit. Ihre Stellungnahme zu der Frage richtet sich fast ganz nach dem Stimmenrückhalt, den die Kandidaten im Kongreß haben. Die Unterschiede in der Auslegung der politischen Spielregeln können sich 1970 zu einer großen Verfassungskrise aus-wachsen. Es könnte sein, daß der Kongreß unter dem Druck von rechts oder von links stehend tatsächlich keine selbständige Entscheidung treffen kann. Es kommt nicht von ungefähr, daß sich zur Interpretation der Verfassung auch das Militär zu Wort gemeldet hat. Während sein gegenwärtiger Chef, der General Rene Schneider, ausgeführt hat, daß das Militär die Entscheidung des Kongresses als verfassungskonforme Entscheidung respektieren werde, wie sie auch immer ausfallen sollte, hat der General i. R. Roberto Viaux, um den sich Putschgerüchte ranken, erklärt, daß das Parlament die relative Mehrheit der Wählerstimmen zu respektieren habe

Ob sich der Kongreß gegen Allende oder auch gegen Alessandri entscheiden kann, wenn auf diese Kandidaten die relative Mehrheit der Stimmen entfiele und Tomic in beiden Fällen den zweiten Platz einnehmen würde, ist inzwischen aufgrund der Zuspitzung der politischen Auseinandersetzung mehr als fraglich geworden. Zumal eine Entscheidung gegen Allende könnte revolutionäre Unruhen und damit einen Putsch von Teilen des Militärs nach sich ziehen. So hat die gegenwärtige Zusammensetzung des Kongresses, die Tomic als den letztlich doch in der Mitte stehenden Kandidaten begünstigt, auf den sich die Alessandristen zur Abwehr von Allende und die Unidad Populär zur Abwehr von Alessandri noch einigen könnten, nur eine bedingte Aussagekraft. Der Wahlkampf Die Beweglichkeit des chilenischen Wähler-verhaltens, die Ausrichtung der Stimmenpräferenz am Bild des Kandidaten und die offensichtliche Nähe aller Kandidaten im Stimmen-anteil lassen natürlich den Wahlkampf eine große Bedeutung für den Ausgang der Wahlen gewinnen. Dennoch muß wohl deutlich hervorgehoben werden, daß vor allem die internationalen Interessen, die im chilenischen Wahlkampf involviert sind, die Auseinandersetzung in Umfang und Stil wesentlich mitbestimmen. Es ist in der Tat zu fragen, ob der geführte Wahlkampf noch in einem vertretbaren Verhältnis zu den sozialen und ökonomischen Möglichkeiten und zur Entwicklungssituation des Landes steht. Von Rationalisierung und Ausgabenbeschränkung in der politischen Propaganda kann keine Rede sein Aus den den Parteien zur Verfügung stehenden eigenen Einkünften könnte ein so aufwendiger Wahlkampf nicht geführt werden. Diese Mittel reichen kaum aus, eine Parteiorganisation aufzubauen und zu unterhalten. So sind es die aus dem Ausland einfließenden Gelder, die den Wahlkampf im wesentlichen finanzieren.

Da die Presse durchweg parteipolitisch orientiert ist, ist ein großer Teil der Berichte und Kommentare ebenfalls Propaganda. Der sog. unabhängige „El Mercurio", das auflagen-stärkste Blatt mit einer monopolartigen Stellung in den ökonomischen Kleinanzeigen, ist das Organ einer teilweise groben, teilweise subtilen Alessandri-Propaganda. „La Naciön", das Regierungsorgan, wirbt für Tomic, ebenso das Nachmittagsblatt „La Tarde". Allende stützt seine Pressekampagne auf das kommunistische Blatt „El Siglo“ und die Neugründung „Puro Chile".

Im Rundfunk werden fortlaufend, im Wettstreit mit der kommerziellen Werbung, zumindest zu jeder Viertelstunde Werbespots der Kandidaten gebracht. Dazu kommen neben besonderen Sendezeiten für die Parteigruppen von täglich mehr als zehn Minuten noch die den verschiedenen Journalisten eingeräumten Sendezeiten, die in ihren Kommentaren ebenfalls handfeste Parteipolitik treiben; des weiteren Programme wie „Chile Joven" (Junges Chile) und „Acciön Mujeres de Chile" (Aktion Frauen von Chile), die in ihren Kommentaren und Meinungen nicht direkt einen Kandidaten empfehlen, in ihrer Argumentation aber die Kandidatur von Alessandri fördern. Diese Organisationen, die ausschließlich vom Ausland finanziert werden, werben auch durch halb-seitige Anzeigen in der Presse. Ihre gezeigten Photos sprechen für Absicht und Stil der Werbung: sowjetische Panzer in Prag, Berliner Mauer, Jugend in Uniform etc.

Interessant ist, daß die drei Kandidaten den chilenischen Wähler als solchen sehr unterschiedlich ansprechen. Alessandri sieht in ihm vor allem den Verbraucher, den „consumidor". Er betont die „output" -Funktion des politischen Systems. Autorität, Ruhe, Ordnung, Befriedigung der Konsumerwartung ist die suggerierte Gedankenfolge. Tomic sieht im chilenischen Wähler den campesino, den poblador, den Jugendlichen, die Frau und spricht deren gesellschaftliche Funktion an. Er berücksichtigt den Lebensbereich des Wählers und motiviert sein aktives Mitwirken bei der Entwicklung des Landes in Form von Arbeitseinsatz durch Mitbestimmung an der politischen Entscheidung. Er untergliedert die Wählerschaft nach den von der ersten christ-demokratischen Regierung geschaffenen pluralistischen Organisationen: „Centros de Ma-dres" (Mütterzentren), „Juntas de Vecinos" (Nachbarschaftsverbände), „Asentamientos de campesinos" (Kollektivbetriebe der Bauern), etc.

Allende verficht das klassische marxistische Modell vom Klassengegensatz, wenigstens ist dies die Sicht des Programms der Unidad Populär. Für ihn ist der Chilene entweder „Momio" (Reicher) und Privilegierter oder „Obrero" und Campesino. In den Wahlen gehe es darum, dem Obrero die Macht zu verschaffen und die Herrschaft einer Minorität des Volkes, der Besitzenden abzulösen.

Die Wahlentscheidung vom 4. September 1970 wird erst eine exakte Antwort darauf geben können, welches Modell vom chilenischen Wähler die gesellschaftliche Situation besser getroffen hat.

Fussnoten

Fußnoten

  1. So fanden im Jahre 1970 bereits fünf Präsidentenwahlen in Lateinamerika statt: in Costa Rica am 26. Januar, in Guatemala am 1. März, in Kolumbien am 1. April, in der Dominikanischen Republik am 10. Mai und in Mexiko am 5. Juli. Die chilenischen Wahlen sind die letzten lateinamerikanischen Präsidentenwahlen in diesem Jahre.

  2. Siehe Horacio H. Godoy/Carlos Fortin, Some suggestions for a typology of latin american political Systems, Estudios ELACP, Nr. 3, Santiago 1968, S. 5 ff.

  3. Vor allem im karibischen Raum hat es eine Unmenge von Verfassungen gegeben. So zählt Venezuela 23 Verfassungen, die Dominikanische Republik 22, Haiti 18, etc. Chile gehört zu den wenigen Ländern, die eine größere Verfassungsstabilität besitzen. Seit 1833 weist Chile nur zwei verschiedene Verfassungen auf, wobei sich die Verfassung des Jahres 1925 auf die von 1833 beruft.

  4. Ernst Fraenkel im Geleitwort zu Karl Loewenstein, Beiträge zur Staatssoziologie, Tübingen 1961, S. XV. Siehe im übrigen den einen Beginn setzenden Aufsatz von Richard Loewenthal, Staatsfunktionen und Staatsform in den Entwicklungsländern, in: Demokratie im Wandel der Gesellschaft, hrsg. vom Otto-Suhr-Institut, Berlin 1963, S. 190 ff.

  5. Siehe dazu zunächst seinen Aufsatz: Soziale Mobilisierung und politische Entwicklung, in: PVS, 2, 1961, S. 104 ff. Sodann seine höchst einflußreiche Schrift: The nerves of government (1963), die jetzt auch ins Deutsche übersetzt wurde: Karl W. Deutsch, Politische Kybernetik. Modelle und Perspektiven, Freiburg 1969.

  6. Gabriel A. Almond/Sidney Verba, The civic culture. Political attitudes and democracy in five nations, Princeton (University Press) 1963, und die nachfolgend erschienenen Bände der Reihe „Studies in Political Development", vor allem: Joseph La Palombara/Myron Weiner (Hrsg.), Political parties and political development, Princeton (University Press) 1966.

  7. Gerhard Lehmbruch, Politische Innovation. Begriff und Fragestellung, Arbeitspapier für die Arbeitsgruppe „Vergleichende Politische Systemforschung", Berlin (Jahrestagung der deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft), 1969, S. 1.

  8. Siehe etwa vergleichend die Verfassungsproble-matik Spaniens im 19. Jahrhundert; in: Dieter Noh-len, Spanischer Parlamentarismus im 19. Jahrhundert. „Regimen parlamentario" uhd parlamentarische Regierung, Meisenheim/Glan 1970.

  9. In: The American Behavioral Scientist, 6, 1963, S. 3 ff.

  10. Gabriel A. Almond, Politische Systeme und politischer Wandel, in: Theorien des sozialen Wandels, hrSg. v. Wolfgang Zapf, Reihe NWB, Köln-Berlin 1969, S. 211 ff.

  11. Ebenda, S. 216.

  12. Begriffe von Karl W. Deutsch, Politische Kybernetik, a. a. O., passim.

  13. Gabriel A. Almond, Politische Systeme..., a. a. O, S. 216.

  14. Wie vorherrschende soziale Verhältnisse die Gewaltanwendung gerechtfertigt erscheinen lassen, so können andere sie strikt ausschließen. Die Entfachung von Tupamaros-Aktionen in europäischen Großstädten ist genauso wenig verständlich wie die grundsätzliche Verdammung dieser Gewaltanwendung in Lateinamerika.

  15. Siehe etwa die Erklärung der lateinamerikanischen Bischofskonferenz von Mendellin, 1968. Dort wurde der Begriff von der institutionalisierten Gewalt in den politischen Wortschatz der Kirche ausgenommen. Interessant in diesem Zusammenhang ist eine Rede des Rektors der Katholischen Universität von Santiago de Chile, Fernando Castillo Velasco, der im übrigen dem Porgramm-ausschuß des christlich-demokratischen Präsidentschaftskandidaten Radomir Tomic angehörte, zum Thema „Universität und Gewalt": „Es gibt Situationen, in denen der Rückgriff auf die Gewaltanwendung sich als letztes Mittel aufzwingt, um weiter vorwärts zu schreiten. Niemand wählt mit Freude den Ernst der Gewalt. Man wählt den Weg der Gewalt. .. weil in der Wirklichkeit keine andere wirksame Möglichkeit besteht, seine sich gesetzte Aufgabe zu erfüllen . .. Die Anwendung von Gewalt verlangt freilich einen hohen Grad von Verantwortungsbewußtsein: sie als Mittel zu verwenden, um Veränderungen einer Situation

  16. Zu den Funktionen von Wahlen in den westlichen Demokratien im Vergleich zu denen kommunistischer Länder siehe Dieter Nohlen, Begriffliche Einführung in die Wahlsystematik, in: Die Wahl der Parlamente und anderer Staatsorgane. Ein Handbuch, hrsg. von Dolf Sternberger und Bernhard Vogel, Red. v. Dieter Nohlen, Band I: Europa, Berlin 1969, I. Halbband, S. 1 ff., hier besonders S. 12 ff.

  17. Erst eine empirische Bestandsaufnahme der Wahlphänomene in den Ländern der Dritten Welt, die gegenwärtig am Institut für Politische Wissenschaft an der Universität Heidelberg die Forschungsgruppe „Wahl der Parlamente" (Leitung: Dieter Nohlen und Klaus Landfried) zu unternehmen versucht, wird zu einer systematischen Erarbeitung des Gegenstandes führen. Die Heidelberger Untersuchungen werden das Werk: Die Wahl der Parlamente und anderer Staatsorgane, a. a. O., fortsetzen.

  18. Zur Definition dessen, was Status quo im Entwicklungsprozeß Lateinamerikas bedeutet, siehe Rudolf Schloz, Die Problematik der Veränderung der lateinamerikanischen Gesellschaft. Revolution, Reform oder Verteidigung des Status quo, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochen-zeitung Das Parlament, B 23/70, S. 3 ff., hier S. 17.

  19. So Claudio Orrego Vicuna in einem ersten Versuch, die christlich-demokratische Regierungserfahrung als Orientierungshilfe für die weitere Entwicklung der Christdemokratie in Chile auszuwerten; siehe Solidaridad o violencia. El pro-blema de Chile, Santiago 1969, S. 160.

  20. Verfassungstext und juristische Verfassungsanalyse bei Wolfgang Prieur Koelling, Die Verfassung von Chile, in: Die Staatsverfassungen der Welt, Bd. 6, Frahkfurt-Berlih 1964.

  21. Zur Typölbgie der Regierungstypeh, besonders des Parlamentarismus, siehe Karl Loewenstein, Verfassungslehre, Tübingen 19692, S. 81 ff.

  22. Im Jahre 1970 fanden zwei Ministeranklagen statt. Nach Zustimmung des Abgeordnetenhauses wurden die Minister von ihrem Amt suspendiert; der Senat jedoch verweigerte beide Male die Approbation.

  23. Was das Wahlrechtsprinzip „allgemein" anbelangt, muß eine Einschränkung erfolgen. Es sind alle Chilenen wahlberechtigt, die über 21 Jahre alt sind und lesen und schreiben können. Der Ausschluß der Analphabeten vom Wahlrecht bis zu den Wahlen von 1970 einschließlich hat jedoch faktisch mit der Abnahme des Analphabetismus sehr an Bededtüng verloren.

  24. Die Alterspyramide der Bevölkerung von Chile zeigt zwei gleichmäßige, ohne Brüche ansteigende Linien, die fast rechtwinklig aufeinander zulaufen. Die Hälfte der Bevölkerung ist unter 21 Jahre alt.

  25. Die wahlgesetzliche Grundlage stammt vom 8. Januar 1949, Gesetz Nr. 9292.

  26. Federico G. Gil, El sistema politico de Chile, Santiago 1969, S. 233.

  27. Die einzige Verfassungsänderung seit 1925, die verfassungsrechtlich die Macht des Präsidenten stärkte, ist die Reform vom 14. November 1943.

  28. Vergleiche GG Art. 112 f.

  29. Siehe dazu weiter unten S. 42 ff.

  30. Zu vergleichen sind die Artikel 78 der chilenischen Verfassung und 92 ff.des Grundgesetzes.

  31. In den Jahren 1810 bis 1833 wechselten acht Grundgesetze einander ab. Die Verfassungstexte sind am besten zugänglich in: Luis Valencia Ava-ria, Anales de la Repüblica, 2 Bde., Santiago 1951, Band I. Die Wahlgesetze in der Sammlung: Legis-laciön Electoral 1810— 1913, zusammengestellt von Luis Duran, CEDOP-Institut.

  32. Eine allgemeine Einführung in die chilenische Verfassungsgeschichte bietet: German Urzüa Valenzuela, Los partidos politicos chilenos, Santiago 1968.

  33. Zur Geschichte der Radikalen Partei siehe Florencio Duran Bernales, El partido radical, Santiago 1958.

  34. Erschienen in: The World Today, Januar 1963, S. 22 f. Zur Mittelklasse im besonderen und zu den politischen Eliten Lateinamerikas im allgemeinen siehe vor allem Seymour Martin Lipset/Aldo Solari, Elites in Latin America, New York 1967.

  35. Zu Genesis und Verlauf der vorgehenden Volksfront von 1938 zwischen Radikalen und Sozialisten, die von den Kommunisten gestützt wurde, siehe J. R. Stevenson, The Chilean Populär Front, University of Pennsylvania Press, 1942.

  36. Heino Froehling, Las elecciones parlamentarias chilenas del 2 de marzo de 1969, ILDIS - Estudios y Documentos (Friedrich Ebert Stiftung), 3, Santiago 1969, S. 22.

  37. Zur Geschichte der Kommunistischen Partei siehe Hernan Ramirez Necochea, Origen y formaciön del Partido Comunista de Chile, Santiago 1965. Zur ideologischen Entwicklung der Kommunistischen und Sozialistischen Partei siehe im übrigen: Klaus Eßer, Sozialismus und Kommunismus in Chile, in: Europa Archiv, 1, 22. Jg., 1967, S. 33 ff.

  38. Im Jahre 1952 als Kandidat der Sozialistischen Partei, bei den Wahlen von 1958 als Kandidat der „Frente de Accin Populär“ (FRAP) von Kommunisten und Sozialisten, 1964 als Kandidat der FRAP, bestehend aus Sozialisten, Kommunisten und Nationaldemokraten. Zu den jeweiligen Stimmenzahlen siehe Tabelle II, S. 35 f.

  39. Diese Meinung vertrat auch Präsident Frei in einem Interview, das die chilenische Presse Anfang Juli wiedergab. Siehe „El Mercurio" vom 10. 7. 1970.

  40. Zu einer kritischen Selbstanalyse des Sozialismus in Chile und seine Verhältnisse zum Kommunismus siehe die Schrift des Senators Raul Am-puero D., La Izquierda en punto muerto, Santiago 1969.

  41. Die Literatur zur Christlich Demokratischen Partei ist inzwischen umfangreich. Hier seien nur drei Titel genannt. Zunächst ist auf die Schrift des führenden Parteiideologen Jaime Castillo Velasco, Las fuentes de la democracia Cristiana, Santiago 19682, zu verweisen. Sodann die bislang beste Parteigeschichte: George W. Grayson, The Chilean Christian Democratic Party. Genesis and Development (1968), span. Ausgabe: El partido demo-crata Cristiano chileno, Santiago 1968. Schließlich zur christlichen Demokratie als lateinamerikanischer Bewegung: Peter Molt, Christliche Demokratie in Lateinamerika, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 18/70 S. 3 ff., dortselbst weitere Literatur-angaben.

  42. Zu den Begriffen Repräsentationsmodell und Entscheidungsmaßstab von Wahlsystemen siehe die Beiträge: „Verhältniswahl" und „Mehrheitswähl" von Dieter Nohlen im Handbuch des deutschen Parlamentarismus, hrsg. von Kurt Sontheimer und Helmut Röhring, das demnächst erscheinen wird; vgl. auch die „Begrifflichen Grundlagen", in: Bernhard Vogel /Dieter Nohlen /Rainer-Olaf Schultze, Wahlen in Deutschland. Theorie — Geschichte— Dokumente, Berlin 1970.

  43. Diese Hürde besteht faktisch erst seit den Wahl-reformen von 1958 und 1961. Seither ist es ausgeschlossen, daß kleine Parteien durch Wahlbündnisse, die sie auf Wahlkreisebene schließen konnten, mit geringer Stimmenzahl Parlamentsmandate erringen können. Siehe dazu: Carlos Fortin, La supresiön de los pactos electorales, Santiago 1961.

  44. Vergleiche die Beiträge des Handbuches: Die Wahl der Parlamente und anderer Staatsorgane, a. a. O., zu den genannten Ländern, die exakte Vergleichszahlen enthalten.

  45. Siehe dazu weiter unten die Programme der Parteien in Kurzreferierung, S. 42 ff.

  46. Diese Frage hat vor allem in parlamentarisch strukturierten Regierungssystemen große Bedeutung. Siehe dazu die Literatur zur Weimarer Verfassung, die ebenfalls die unmittelbare Wahl von Parlament und Präsident durch das Volk kannte.

  47. Siehe dazu weiter unten S. 40.

  48. Peter Molt, Sozialrevolution und Demokratie in Chile, in: Jahrbuch für Verfassung und Verfassungswirklichkeit, 1966, S. 150 ff., hier S. 166.

  49. Veröffentlicht in: „El Mercurio" vom 5. 4. 1970.

  50. Peter Molt spricht von eiem unerwarteten Wahlsieg (Sozialrevolution . . ., a. a. O., S. 166), so auch Raul Morodo, Politica y partidos n Chile, Madrid 1968, S. 24. Victor Jadresic, Psychologe der Wahlkampagnen Frei und Tomic, berichtet in seiner Veröffentlichung: Confidencias de la Revoluciön, Santiago 1969, S. 120, davon, daß Meinungsumfragen bereits drei Monate vor dem Wahltag einen klaren Stimmenvorsprung des PDC-Kandidaten von etwa 100 000 Stimmen erkennen ließen.

  51. Hier irrt Federico G. Gil, wenn er meint, daß Frei „einen Sieg erreichte, den kein Präsident dieses Jahrhunderts erzielte: die absolute Mehrheit der Stimmen", so in: El sistema politico . . ., a. a. O., S. 324. Bei den Wahlen von 1925, 1927, 1931, 1932, 1938 und 1942 verbuchten die siegreichen Kandidaten ebenfalls jeweils eine absolute Mehrheit der Wählerstimmen.

  52. George W. Graysen, El partido . . ., a. a. O., S. 348 f.

  53. So Federico G. Gil, El sistema politico . . ., a. a. O., S. 319; er führt als entscheidende Wahlen die von 1920 (A. Alessandri), 1938 (P. Aguirre Cerda) und 1964 (E. Frei) auf.

  54. Diese Zahlen wie auch die nachfolgenden sind dem Bericht des Präsidenten an den Kongreß vom 21. März 1970 entnommen. Ein umfangreiche wie detaillierte Bilanz der Regierung Frei enthält: Sexto Mensaje del Presidente de la Republica de Chile, Don Eduardo Frei Montaiva, al inaugurar el periodo de Sesiones Ordinarias del Congreso. Departemento de Publicaciones de la Presidencia de Chile, 2 Bde., Santiago 1970.

  55. In seiner Zusammenfassung der Leistungen der Regierung Frei erwähnt Peter Molt in seinem Aufsatz: Christliche Demokratie . . ., a. a. O., S. 19, die Verfassungsreform nur insofern, als er bemängelt, daß die „Erneuerung der chilenischen politischen und gesellschaftlichen Ordnung . . . nicht gelungen" sei. Die geplante Verfassungsreform hat stattgefunden.

  56. Peter Molt, Sozialrevolution ..., a. a. O., S. 165.

  57. Das Wahlgesetz Nr. 14852 vom 16. 5. 1962, Art. 18, bestimmt, daß unabhängige Kandidaten eine Unterschriftensammlung von 10 000 Unterschriften vorlegen müssen.

  58. Sie gründeten am 18. Mai 1959 den „Movimiento de Acciön Populär Unitario" (MAPU); diese Gruppe schloß sich, entsprechend ihrer Namengebung, der Einheitsbewegung der Linken an.

  59. Siehe dazu die kleine Schrift eines der führenden PDC-Politiker: Patricio Aylwin Azocar, Camino propio, Cuadernos de la politica y el espiritu, Nr. 1, 1969.

  60. Kommunisten (PC), Sozialisten (PS), Radikale (PR), Sozialdemokraten (PSD), Unabhängige Volks-aktion (API) und die Bewegung für die Einheit des Volkes (MAPU).

  61. Zu den früheren Stimmengewinnen von Allende siehe oben Tabelle II.

  62. Die entscheidende Position bei den Volks-fronten, die einen Sieg bei den Präsidentenwahlen davontrugen, hatte die Radikale Partei inne. Die Präsidenten Aguirre Cerda, Juan Antonio Rios und Gabriel Gonzales Videla entstammten der Radikalen Partei.

  63. Texte siehe: Ruben Corvolän Vera, Alessandri, Allende, Tomic. Tres alternativas para 1970. Analisis politico, (hekt.) Santiago 1970.

  64. Zum Modell der kommunitarischen Gesellschaft siehe Norberto Lechner, Planteamientos ideologicos de la Democracia cristiana en Chile, in: Nuevos Horizontes, Jan. -April, 1968, 3/4, S. 16 ff., Julio Silva/Jaques Chonchol, El desarrollo de la nueva sociedad en America Latina, Santiago 19692.

  65. Vgl. Alfredo Eric Calcagno/Pedro Sainz, Una metodologia para analizar algunos indicadores de desarrollo politico, in: Revista Latinoamericana de Ciencia Politica, publicada por FLACSO, Nr. 1 (1970), S. 80 ff., hier S. 84.

  66. Hier weiß sich Alessandri der Verfassungsreform von Frei zu bedienen. Er will sofort nach den Präsidentenwahlen, falls er gewählt würde, eine Auflösung des Parlaments herbeiführen aufgrund des Mandats der Wählerschaft. Siehe seine Anzeige in: El Mercurio v. 20. 7. 1970.

  67. In den Jahren 1946, 1952 und 1958 entschied der Kongreß die Wahl, wobei jeweils auch Stimmen auf den unterlegenen Kandidaten entfielen. So vereinigte etwa der konservative Cruz-Coke 1946 46 Stimmen auf sich, nachdem er in einem intensiven Kampf um die Kongreßabgeordneten die These von der freien Entscheidung der Kongreßabgeordneten vertreten hatte. Gonzales Videla als Sieger erhielt 138 Stimmen.

  68. Zu den Verfassungsberatungen von 1925 siehe: Proyecto de Nueva Constituciön Politica de la Repüblica, Actas Oficiales, hrsg. vom Ministerio del Inferior, Santiago 1925.

  69. Interview mit Rene Schneider in „El Mercurio" v. 8. 5. 1970; mit Roberto Viaux in „La Segunda“ V. 20. 7. 1970.

  70. Dies gilt um so mehr, als in Chile — ähnlich wie in anderen liberal-pluralistischen politischen Systemen auch — der Wahlkampf durch Gesetz beschränkt ist (Ges. vom 6. Januar 1965). Die dort festgelegten Normen — u. a. die Beschränkung der Wahlpropaganda auf einen Zeitraum von 45 Tagen; das Verbot von Werbung in Kinos und durch das Fernsehen — werden jedoch ständig verletzt.

Weitere Inhalte

Dieter Nohlen, Dr. phil., geb. am 6. November 1939; Studium der Politischen Wissenschaft und Geschichte, Promotion in Heidelberg mit einer Arbeit über den spanischen Parlamentarismus im 19. Jahrhundert. Gegenwärtig am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg Leiter des Forschungsprojektes „Die Wahl der Parlamente". Zur Zeit im Rahmen dieses Projektes zu Forschungszwecken in Santiago de Chile. Veröffentlichungen: Spanischer Parlamentarismus im 19. Jahrhundert, „Regimen parlamenta-rio" und parlamentarische Regierung, Meisen-heim/Glan 1970; zahlreiche Beiträge zur Wahl-forschung, vor allem innerhalb des ersten Bandes (Europa) des Handbuches „Die Wahl der Parlamente und anderer Staatsorgane", herausgegeben von Dolf Sternberger und Bernhard Vogel, Red. von Dieter Nohlen, Berlin 1969; gemeinsam mit Rainer-Olaf Schultze, Die Bundestagswahl 1969 in wahlstatistischer Perspektive. Materialien zur Diskussion des Wahlergebnisses, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 51— 52/69.