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Das Prinzip des demokratischen Zentralismus | APuZ 6/1971 | bpb.de

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APuZ 6/1971 Artikel 1 Zur Funktion des „entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus" in der DDR Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der DDR Das Prinzip des demokratischen Zentralismus

Das Prinzip des demokratischen Zentralismus

Ottmar Carls

/ 25 Minuten zu lesen

I. Enzyklopädisches Stichwort

Es ist ohne weiteres einsichtig, daß die verschiedenen politischen Systeme eine eigene Terminologie entwickeln. Verständlicherweise führt diese Entwicklung zu einer Anzahl von Worten und politischen Begriffen, die zwar gleich lauten, aber doch tiefgreifende Bedeutungsunterschiede aufweisen. Das Wort selbst wird somit zum politischen Instrument, zum Schlagwort, das eine bestimmte politische Grundrichtung umreißen, erklären und präzisieren soll.

Es ist nicht Aufgabe dieser Studie, eine Wertung darüber abzugeben, ob die „westliche" oder die kommunistische Interpretation und Begriffsdefinition eines politischen Schlagwortes richtig oder allein maßgebend ist. Vielmehr soll diese Auseinanderentwicklung von Bedeutungsinhalten nur aufgezeigt werden, um darzulegen, wie man sich bei der Betrachtung eines solchen Schlagwortes von einer eigenen, subjektiven Spracherfahrung lösen muß, um den Begriff in seiner ganzen Bedeutung möglichst objektiv erfassen zu können.

So bedeutet „Demokratie" in dem herkömmlichen „westlichen" Sinne „Volksherrschaft, eine Lebens-und Staatsgemeinschaft, die von der Gleichheit und Freiheit aller Bürger ausgeht und daraus die Forderung ableitet, daß nach dem Willen des Volkes regiert werde" Diese Interpretation der „Demokratie" würde auch für die kommunistische Ideologie akzeptabel sein, wenn in der Definition nicht der Begriff „Freiheit" enthalten wäre, der mit seinem ideellen wie politischen Gehalt bestimmend ist für die unterschiedliche Auffassung von der Demokratie Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff „Zentralismus", der dem herkömmlichen Sinn nach bedeutet: „Gestaltung des Gesellschaftsoder Staatskörpers, die jede soziale und politische Willensbildung beim Ganzen konzentriert und die Eigenständigkeit der Teile auslöscht."

Diese Interpretation offenbart den Bedeutungsunterschied zwischen der „kapitalistischen" und der kommunistischen Ideologie. Während nämlich nach „westlicher" Auffassung der negative Aspekt des Zentralismus, die Beschränkung des einzelnen in seiner Selbständigkeit, durchaus als impliziter Bestandteil des Zentralismus angesehen wird, muß dies nach der kommunistischen Ideologie nicht unbedingt damit verbunden sein.

Es gilt also, auch bei der Analyse des Prinzips „demokratischer Zentralismus" zu beachten, daß es sich hier um einen ideologisch begründeten und propagierten Terminus handelt, der leicht zu Doppeldeutungen führen kann, wenn man ihn nicht zunächst wertfrei betrachtet. Es geht darum, den Begriff in seiner Funktion innerhalb der Ideologie zu sehen, ihn in das Selbstverständnis dieser Ideologie einzuordnen und ihn nicht mit „westlichen" Bedeutungen anzureichern. Anderseits ist es wichtig zu wissen, daß die „Parteisprache" durchaus auch auf überkommene Inhalte zurückgreift, diese aber im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung durch weiterreichende Bedeutungsinhalte überdeckt.

Aus dieser Erkenntnis heraus wird zunächst die Entwicklungsgeschichte des Begriffes „demokratischer Zentralismus" zurückverfolgt, um das Wesen dieses wichtigen Grundprinzips der sozialistischen Staaten aufzuzeigen. Im zweiten Teil der Darstellung wird dann seine Anwendung in der DDR untersucht. Es handelt sich hierbei zunächst um eine rein formale, dann um eine funktionale Deutung des Prinzips des demokratischen Zentralismus. Dabei wurde als wesentliches Kriterium die Tatsache berücksichtigt, daß man diese Begriffe nur verstehen kann, wenn man sie mit anderen funda-mentalen Lehrsätzen des Marxismus-Leninismus verbindet. Diese Betrachtungsweise schließt von vornherein eine Erklärung des demokratischen Zentralismus aus, wie sie beispielsweise in dem Taschenbuch „A bis Z" formuliert worden ist: „Der demokratische Zentralismus ist der untaugliche Versuch, die Herrschaft einer Minderheit oder sogar eines einzelnen demokratisch zu verbrämen."

Gewiß steht außer Frage, daß man in seiner Grundhaltung der kommunistischen Ideologie und dem mit ihr verbundenen System negativ gegenüberstehen kann. Doch wenn eine solche Betrachtungsweise zu einer undifferenzierten Definition eines Funktionsbegriffes führt, so ist sie abzulehnen, da sie nicht genügend zur Erkenntnis des Systems beiträgt. Aus diesem Grund wurde hier weitgehend darauf verzichtet, eine Analyse des Prinzips des demokratischen Zentralismus in der Polarität zum kapitalistischen System oder zur praktischen Ausübung in der DDR zu geben.

Das bedeutete gleichzeitig einen Verzicht auf ideologiekritische Stellungnahmen und die Verlagerung des Schwerpunktes auf die Begründung des demokratischen Zentralismus in der Selbstdarstellung der SED. Der Verfasser bezieht also nicht in programmatischer Weise Stellung im Sinne einer Ablehnung oder Befürwortung des Prinzips des demokratischen Zentralismus; der Gegenstand der Untersuchung interessiert vielmehr hauptsächlich im Hinblick auf die offizielle Auslegung des Prinzips durch die Ideologen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.

Mit dieser Darstellungsweise soll jedoch nicht eine kritische Betrachtungsweise ausgeschlossen werden, sondern im Gegenteil durch die „objektive" Darstellung eines ideologischen Begriffes die Grundlage für eine sachlich fundierte Diskussion geschaffen und dem politisch Interessierten Material für eine rationale Analyse der Differenz zwischen theoretischer Aussage und praktischem Vollzug im kommunistischen Gesellschaftssystem in die Hand gegeben werden. Nach Meinung des Verfassers ist es nur mit Hilfe dieses Verfahrens möglich, die grundsätzlichen Problem-zusammenhänge zu erkennen. So dient die vorliegende Arbeit primär dem Zweck der Information und nicht so sehr einer kritischen Analyse.

II. Die ideologische Grundlage

1. Die Entwicklung des Begriffs „demokratischer Zentralismus"

Der Begriff „demokratischer Zentralismus" erschien zuerst in einer Erklärung, die anläßlich der Konferenz der bolschewistischen Linken zu Tammerfors im Dezember 1905 veröffentlicht wurde Im Rahmen dieser Resolution wurde festgestellt, daß das Prinzip des demokratischen Zentralismus die unbestreitbare Basis der kommunistischen Organisation sei.

Von Lenin wurde der Begriff zuerst in seiner Arbeit „Staat und Revolution" angewandt. Doch ist nicht eindeutig zu erkennen, welche Vorstellungen er damit verbindet, wenn es heißt: „ . . . wenn aber das Proletariat und die arme Bauernschaft die Staatsgewalt in ihre Hände nehmen, sich vollkommen frei in Kommunen organisieren und das Wirken aller Kommunen vereinigen . . . wird das etwa kein Zentralismus sein? Wird das nicht der konsequenteste demokratische Zentralismus sein? Und dazu proletarischer Zentralismus?"

Dieser Formulierung ist eigentlich nichts anderes zu entnehmen, als daß Lenin den demokratischen Zentralismus für gegeben hält, wenn sich die Kommunen zu einem Staat zusammenschließen. Uber das Wesen oder das Wirkungsprinzip des demokratischen Zentralismus läßt sich an dieser Stelle noch nichts ablesen. Erst im Zusammenhang mit anderen Äußerungen über die Organisation der kommunistischen Partei lassen sich bestimmte Wesensmerkmale feststellen

Es wird aber schon in diesem Zitat deutlich, daß die Prinzipien des demokratischen Zentra-lismus ihren Ursprung im revolutionären Kampf um die Erhebung der Arbeiterschaft haben. Lenin war der Meinung, daß die Arbeiterschaft nicht aus sich selbst heraus in der Lage sein werde, die politische Macht zu erringen. Deshalb hielt er die zentrale Leitung der Arbeiter und Bauern für ein unabdingbares Erfordernis zur Durchführung einer siegreichen Revolution. Um die Wechselbeziehung zwischen Führern und Geführten zu erfassen, betonte er die unlösbare Beziehung zwischen Demokratie und Zentralismus, die sich seiner Auffassung nach durch folgende Merkmale kennzeichnen ließ:

1. Strenge Disziplin, die es ermöglicht, daß die von der Führung gestellten Aufgaben durch die Organisation erfüllt werden können.

2. Vertrauen der Parteimitglieder durch Wahl der Führungsorgane durch die Parteimitglieder. 3. Herstellung von Verbindungen mit der Masse der Arbeiter und Einbeziehung der realen Erfahrungen der schaffenden Werktätigen in die Führungsarbeit.

4. Bewußtseinsbildung als Erziehungsauftrag der Partei, um eine einheitliche Front zur Errichtung der neuen sozialistischen Ordnung zu erreichen

Hauptelement des demokratischen Zentralismus ist also die historische Rolle der Volks-massen, seine Basis die schöpferische und bewußte Initiative und Mitarbeit der Werktätigen; deshalb kann und darf der demokratische Zentralismus nicht isoliert betrachtet werden. Er ist eng verbunden mit der Lehre der Entwicklung vom Klassenkampf zur Diktatur des Proletariats. Diese Herausbildung zur selbstbewußten Klasse ist nach der kommunistischen Ideologie nur unter der Führung der Partei und auf der Grundlage des demokratischen Zentralismus möglich: „Wie anders sollten sonst die Produktionsmittel in den Händen der Arbeiterklasse zentralisiert und die Produktivkräfte rasch vermehrt werden? Das kann nur durch eine planmäßige, die gesamtgesellschaftlichen Interessen durchsetzende, zentralisierte Leitung, die von der örtlichen Initiative ausgeht und diese bewußt organisiert, erreicht werden."

In der Theorie ist es demnach ein wesentliches Kriterium des demokratischen Zentralismus, den Individualismus zu überwinden. Er impliziert also die wachsende Teilnahme der Volks-massen an der gesellschaftlichen und staatlichen Leitung unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer Organisation, der kommunistischen Partei. Dieser enge Zusammenhang zwischen Zentralismus und Demokratie wurde von Lenin besonders betont: „Nach unseren Begriffen ist es die Bewußtheit der Massen, die den Staat stark macht. Er ist dann stark, wenn die Massen alles wissen, über alles urteilen können und alles bewußt tun."

Der demokratische Zentralismus ist demnach eine objektive Gesetzmäßigkeit in der Entwicklung zum Kommunismus in bezug auf die revolutionäre Partei selbst und die Durchsetzung ihrer führenden Rolle in der gesellschaftlichen Entwicklung. Nur durch seine konsequente Verwirklichung ist die kommunistische Partei in der Lage, „die Arbeiterklasse für die Eroberung der politischen Macht vorzubereiten, die politische Macht zu erobern und sie zu behaupten" Hieraus ist klar ersichtlich, daß der demokratische Zentralismus nicht nur für Organisationsund Strukturprobleme von Bedeutung ist, sondern in erster Linie darauf ausgerichtet ist, die Schaffung einer einheitlichen und revolutionären Bewegung unter einer konsequenten Führung zu ermöglichen. 2. Die Bedeutung für die Parteiorganisation Das Prinzip des demokratischen Zentralismus wurde zum erstenmal auf dem VI. Parteikongreß im Jahre 1917 als für die KPdSU verbindlich in die Parteistatuten aufgenommen Das gleiche Prinzip wurde 1920 von der Komintern auf ihrem zweiten Kongreß übernommen und gleichzeitig für alle kommunistischen Parteien als Voraussetzung für ihre Aufnahme und Zugehörigkeit zur kommunistischen Internationale erklärt. Artikel 12 der von diesem Kongreß gebilligten „Einundzwanzig Bedingungen für die Zulassung" legte fest, daß die „der kommunistischen Internationale angehörenden Parteien auf der Grundlage des Prinzips des demokratischen Zentralismus aufgebaut werden müssen" Dabei lag der Akzent auf dem zweiten Teil dieses Begriffes. Es hieß nämlich in dem Artikel 12 weiter, daß „in der gegenwärtigen Epoche des verschärften Bürgerkrieges die kommunistische Partei nur dann imstande sein wird, ihrer Pflicht zu genügen, wenn sie auf möglichst zentralistische Weise organisiert ist..." Es ist nur zu natürlich, daß die Partei unter den politischen Bedingungen, unter denen sie zu arbeiten hatte, den Zentralismus mehr begünstigte als die demokratische Verfahrensweise. Verstärkt wurde diese Entwicklung nach der Revolution noch durch die veränderte Situation, die unweigerlich die Struktur und die Arbeitsweise der Partei beeinflußte: Sie wandelte sich von einer revolutionären Organisation zum Umsturz der bestehenden Ordnung in den Kern der Regierungsmaschine. Lenin sah sich daher vor die Aufgabe gestellt, dieser Partei ein noch stärkeres Profil zu verleihen, das sie befähigte, den gestellten Aufgaben nachzukommen. Seiner Meinung nach mußte sich die politische Partei der Arbeiterklasse von allen anderen Parteien unterscheiden, da sich auch die Arbeiterklasse selbst prinzipiell von allen anderen Klassen unterscheidet. Hieraus ergab sich die Forderung nach einer konkreten Zielsetzung und einem vielschichtigen Organisationsaufbau

Während Marx und Engels die Notwendigkeit einer eigenen Partei noch nicht gesehen und nur von einer Organisation der gesamten Arbeiterschaft gesprochen hatten sah Lenin die Hauptkraft der kommunistischen Bewegung in einer elitären Partei: „Und nun behaupte ich: 1. Keine einzige revolutionäre Bewegung kann ohne eine stabile und die Kontinuität wahrende Führerorganisation Bestand haben: 2. je breiter die Masse ist . . ., um so dringender ist die Notwendigkeit einer solchen Organisation und um so fester muß diese Organisation sein; 3. eine solche Organisation muß hauptsächlich aus Leuten bestehen, die sich berufsmäßig mit revolutionärer Tätigkeit befassen. . . ." Diese Vorstellung von einer Elite-Partei implizierte bei Lenin noch nicht die „zwangsläufige" Annahme, daß die Partei in ihren Entscheidungen unfehlbar sei. Dennoch begründete er durch seine pragmatische Einstellung die führende Rolle der Partei in der Arbeiterbewegung, formulierte ihre Organisationsprinzipien, die Normen des innerparteilichen Lebens sowie die prinzipiellen Grundlagen für die Politik und die Taktik der Partei. Lenin verstand die Partei als Vortrupp der Arbeiterklasse: „Durch die Erziehung der Arbeiterpartei erzieht der Marxismus die Avantgarde des Proletariats, die fähig ist, die Macht zu ergreifen und das ganze Volk zum Sozialismus zu führen, die neue Ordnung zu leiten und zu organisieren, Lehrer, Leiter, Führer aller Werktätigen und Ausgebeuteten zu sein ..

Diese hervorragende Stellung der kommunistischen Partei innerhalb der Arbeiterbewegung bedingt eine besondere Organisationsform, für die Lenin den Begriff „demokratischer Zentralismus" prägte. Als ideologische Grundlage für dieses Prinzip dient den kommunistischen Parteien heute der Hinweis Lenins, „daß unbedingte Zentralisation und strengste Disziplin des Proletariats eine der Hauptbedingungen für den Sieg über die Bourgeoisie sind" Nach dem theoretischen Konzept vermag also nur die zentralisierte Leitung alle Kräfte zum Sieg zu vereinen. Im Gegensatz zum bürokratischen Zentralismus gehört aber zur Anwendung des Prinzips unbedingt die demokratische Komponente, durch die eine gemeinsame Beschlußfassung und der Einbezug der Parteimitglieder in die Fragen des revolutionären Kampfes garantiert wird. „Demokratischer Zentralismus" bedeutet demnach in der Praxis:

1. Wählbarkeit aller leitenden Organe der Partei von unten bis zur Spitze, 2. periodische Rechenschaftslegung der Parteiorgane an ihre Parteiorganisationen, 3. strenge Parteidisziplin und Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit, 4. unbedingte Verbindlichkeit der Entscheidungen der höheren Organe für die niederen

Somit hatte das Prinzip wesentlich an Ausdruckskraft gewonnen. Der zunächst nur als Schlagwort und als Antithese zum bürgerlich-bürokratischen Zentralismus verwandte Be-griff war durch die Einbeziehung in die Partei-verfassung zu einem Struktur-und Entwicklungsprinzip ausgeformt worden. Nach der siegreichen Revolution erwies es sich als Notwendigkeit, einen Staats-und Verwaltungsapparat zu schaffen. Um eine scharfe Abgrenzung gegenüber dem alten Regierungssystem zu erreichen, wurden die Prinzipien des Aufbaus und der Arbeit der Partei offiziell auch zu Grundsätzen des Staatsaufbaus erklärt, das Prinzip des demokratischen Zentralismus auf den Staatsapparat übertragen. 3. Die Übertragung auf den Staatsapparat Diese Übertragung wird im allgemeinen notwendig und erfolgt in dem Augenblick, wenn die kommunistische Partei die Suprematie errungen hat, das heißt, im Besitz der Staatsmacht ist. In dem schon erwähnten Aufsatz , Staat und Revolution" betonte Lenin, daß eine staatliche Autorität auch unter der Führung der kommunistischen Partei notwendig ist. Er forderte, daß das Prinzip des demokratischen Zentralismus auch auf der Staatsebene angewandt werden sollte, denn „das Proletariat braucht die Staatsmacht, eine zentralistische Organisation der Macht, eine Organisation der Gewalt sowohl zur Unterdrückung des Widerstandes der Ausbeuter als auch zur Leitung der ungeheuren Masse der Bevölkerung ..

Entsprechend den im vorigen Abschnitt genannten Kriterien bedeutet diese Übertragung des Prinzips des demokratischen Zentralismus einerseits die Leitung des Staates durch das Volk, andererseits aber auch die Leitung des Volkes durch den Staat. Um dieses Verhältnis näher analysieren zu können, muß man sich die kommunistische Auffassung vom sozialistischen Staat und der sozialistischen Gesellschaft vergegenwärtigen. Einer der wesentlichen Grundzüge ist, daß die kommunistische Partei eine bestimmende Funktion im Staat ausübt, wenigstens so lange, bis eine einheitliche kommunistische Gesellschaft geschaffen worden ist. In diesem Sinne bedeutet die Herrschaft des Volkes bzw. die Leitung durch das Volk, daß nur das von der Partei geführte und organisierte Volk gemeint ist. Ebenso ist, wenn von der Herrschaft des Staates gesprochen wird, der durch die kommunistische Partei, geleitete und verkörperte Staat gemeint. Auch hier kommt das im demokratischen Zentralismus enthaltene Grundprinzip der Entwicklung zum Tragen, da die weitere Vervollkommnung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung mit der Notwendigkeit der Errichtung der zentralen Gewalt der Arbeiterklasse in Gestalt ihrer eigenen sozialistischen Staatsmacht verbunden ist Lenin selbst stellte zur Begründung des Prinzips des demokratischen Zentralismus fest: „Wir sind für den demokratischen Zentralismus. Und man muß sich eindeutig darüber klarwerden, wie sehr sich der demokratische Zentralismus einerseits vom bürgerlichen Zentralismus, andererseits vom Anarchismus unterscheidet . . .der Zentralismus, in wirklich demokratischem Sinne verstanden, setzt die . . . Möglichkeit völliger und unbehinderter Entwicklung nicht nur der örtlichen Besonderheiten, sondern auch der örtlichen Initiative, der Mannigfaltigkeit der Wege, Methoden und Mittel des Vormarsches zum gemeinsamen Ziel voraus."

Die Anwendung des demokratischen Zentralismus ist also ein unabdingbares Erfordernis für das Funktionieren der Staatsmacht im sozialistischen Staat. Nach der Auffassung der Ideologen stellt er „die Leitung der gesamtstaatlichen Angelegenheiten von einem Zentrum aus" dar und bedeutet folgerichtig die „Unterordung der örtlichen Organe unter das Zentrum" Dabei wird aber auch hier die Wählbarkeit aller Machtorgane und die Rechenschaftspflicht vor dem Volk als eine bedeutsame Komponente bei der Anwendung des Prinzips hervorgehoben. Dadurch sei gewährleistet, daß die Arbeiterschaft umfassend in die Leitung des Staates einbezogen werde.

Diese Prinzipien lassen den kommunistischen Demokratiebegriff transparent erscheinen. Die Diktatur des Proletariats ist nach Auffassung des Marxismus-Leninismus echte Demokratie, weil unter ihr die Mehrheit über die Minderheit herrscht. Nur die proletarische Demokratie bedeutet wahre Volksherrschaft, weil sie den Interessen der Werktätigen dient, das heißt den Interessen der Mehrheit der Gesellschaft. Die Besonderheit der Diktatur des* Proletariats liegt darin, daß sie durch die kommunistische Partei ausgeübt wird. Diese praktische Seite wird zwar in den Lehren über den Staat nicht ausdrücklich formuliert, ergibt sich aber aus der Tatsache, daß in der Lehre von der Partei über diese gesagt wird, daß sie allein weiß, worin das Interesse des Volkes liegt, und daß sie das Volk zu führen hat Die Ausübung der Diktatur des Proletariats durch die Partei kommt dadurch zustande, daß die Macht durch die Organe der Partei übernommen wird.

Diese führende Rolle der kommunistischen Partei im sozialistischen Staat bedeutet sowohl Lenkung des Staates als auch der Gesellschaft: „Die Hauptaufgabe der Partei ist es, die Richtung der gesamten Tätigkeit des Staates festzulegen und seine Politik zu bestimmen .. . Dieses Prinzip wendet die Partei auch gegenüber den gesellschaftlichen Organisationen an." Das erfordert konsequenterweise die Anwendung des Prinzips des demokratischen Zentralismus auch auf wirtschaftlichem, sozialem und kulturellem Gebiet

III. Demokratischer Zentralismus in der DDR

Schon 1945 begann der demokratische Zentralismus als Entwicklungsprinzip in der sowjetischen Besatzungszone zu wirken, indem „die Arbeiterklasse sich unter der Führung der marxistisch-leninistischen Partei vereinigte" und den Aufbau neuer Staatsorgane zuerst in den Städten und Kreisen, dann in den Ländern durch die Bildung von Provinzial-und Länderverwaltungen begann. Mit der Bildung der deutschen Wirtschaftskommission 1948 setzte sich der demokratische Zentralismus auch als Prinzip für die Gestaltung der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung durch. Mit der Gründung der DDR 1949 wurde durch die Bildung der Volkskammer, des Ministerrates, der Ministerien und anderer zentraler Organe die Struktur der gesamtstaatlichen Leitung ausgebaut. Infolgedessen steigerte sich auch die örtliche Initiative und die Verantwortung der Staatsorgane für die Verwirklichung der gesellschaftlichen Aufgaben. Es wurde — nach dem Selbstverständnis der Partei —-deutlich, „daß die weitere Vervollkommnung des demokratischen Zentralismus die wichtigste Voraussetzung zur Lösung der politischen, ökonomischen und kulturellen Aufgaben ist" Der weitere Prozeß „der bewußten Führung der Menschen auf dem Wege des Aufbaus des Sozialismus" vollzog sich über folgende Etappen 1. Gesetz über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe in den Ländern der DDR (23. 7. 1952), 2. Gesetz über die örtlichen Organe der Staatsmacht (17. 1. 1957), 3. Gesetz über die Vervollkommnung und die Vereinfachung der Arbeit des Staatsapparates (11. 2. 1958), 4. Beschluß des Politbüros der SED über die weitere Qualifizierung der Arbeit der Organe des Staatsapparates (12. 7. 1960), 5. Bildung des Staatsrates (12. 9. 1960), 6. Erlaß des Staatsrates der DDR zu den Ordnungen über die Aufgaben und die Arbeitsweise der örtlichen Volksvertretungen und ihrer Organe (28. 6. 1961), 7. Neues Programm und Statut der SED (VI.

Parteitag 1963), 8. Sozialistische Verfassung der DDR (6. 4.

1968). 1. Die Einführung des demokratischen Zentralismus Das Jahr 1952 bedeutete einen entscheidenden Schritt bei der Herausbildung sozialistischer Organe der Staatsmacht auf der Grundlage der weiteren Entfaltung des demokratischen Zentralismus. Die gesellschaftliche Entwicklung wurde zunehmend geprägt durch die führende Rolle der Partei in Staat und Wirtschaft. Der demokratische Zentralismus wurde dabei zu einem immer wichtigeren Funktionsprinzip. In diesem Zusammenhang beschloß die SED auf ihrem 2. Parteitag, den „planmäßigen Aufbau der Grundlagen des Sozialismus" weiter fort-zuführen Diese neue Aufgabenstellung verlangte notwendigerweise eine stärkere Qualifizierung der Staatsorgane. „Es galt, die Organe der Staatsmacht in die Lage zu versetzen, die neuen Aufgaben insbesondere durch eine engere, unmittelbare Zusammenarbeit mit der Bevölkerung durchzuführen."

Da die bisherige Gliederung des Staates in Länder dieser Entwicklung nicht entsprach, wurde eine grundlegende Änderung durch das „Gesetz über die weitere Demokratisierung" herbeigeführt. Es hatte zum Ziel, die demokratische Entwicklung der DDR im Sinne des Prinzips des demokratischen Zentralismus durch die größtmögliche Annäherung der Organe der Staatsgewalt an die Bevölkerung und deren Einbeziehung in die Leitung des Staates voranzutreiben Begründet wurde diese Neugliederung mit der Feststellung, daß die übernommene administrative Gliederung in Länder die Lösung der gestellten Aufgaben nicht gewährleiste. Im Gesetz wurde weiter ausgeführt, daß die Länder eine Neugliederung ihrer Gebiete in Kreise durchzuführen haben und mehrere Kreise zu Bezirken zusammenfassen sollten. Doch dieses Gesetz beseitigte die Länder nicht ausdrücklich, auch der Text der Verfassung von 1949 wurde nicht geändert. Erst 1958 erfolgte die Auflösung der Länder. Der demokratische Zentralismus war durch Gesetz zur Grundlage der Tätigkeit aller Teile der Staatsmacht geworden, obwohl der Begriff „demokratischer Zentralismus" in dem Gesetz selbst noch nicht expressis verbis benutzt wurde. 2. Die Weiterentwicklung des Prinzips Die endgültige — als Prinzip gekennzeichnete — Durchsetzung des demokratischen Zentralismus erfolgte durch die Gesetze vom 17. 1. 1957 (Gesetz über die örtlichen Organe der Staatsmacht) und vom 11. 2. 1958 (Gesetz über die Vervollkommnung des Staatsapparates). In diesen beiden Gesetzen heißt es „Der Aufbau der Organe der Staatsmacht in der Deutschen Demokratischen Repu-blik beruht auf dem Prinzip des demokratischen Zentralismus" (§ 5 Abs. 1 im Gesetz von 1957). „Für die Tätigkeit aller Organe der Staatsmacht, besonders für die Planung und Leitung der Volkswirtschaft, gilt das Prinzip des demokratischen Zentralismus" (§ 2 Abs. 2 Ziffer 1 im Gesetz von 1958).

Durch die beiden Gesetze sollte die nach der Ansicht der Parteiführung in der Zwischenzeit vollzogene Entwicklung des gesellschaftlichen Bewußtseins zum Sozialismus berücksichtigt werden. An die Stelle der vertikal-ressort-mäßigen Leitung trat eine vertikal-territoriale Die staatliche Leitung der Wirtschaft in Form der Staatlichen Plankommission wurde durch ein System ersetzt, in dem durch Schaffung von Wirtschaftsräten in den Bezirken, Ausweitung der Plankommissionen in den Kreisen und Auflösung der zentralen Industrie-ministerien eine regionale Dezentralisation erreicht wurde. Diese Maßnahmen waren möglich geworden, nachdem es sich nicht mehr als notwendig erwies, die in den ersten Jahren praktizierte Leitung der unteren Organe durch den obersten Apparat durchzuführen, da sich eine gewisse Eigenverantwortlichkeit herausgebildet hatte. Insofern stellen die Gesetze nicht nur einzelne Verbesserungen dar, sondern weisen vielmehr auf eine tiefgreifende Änderung in der Struktur und Arbeitsweise der Staatsorgane hin.

Walter Ulbricht verband mit dem Gesetz von 1958 die folgenden politischen Vorstellungen: „Mit der klaren Herausarbeitung des Grundsatzes des demokratischen Zentralismus, d. h.der Führung der Massen auf den Weg des sozialistischen Aufbaus durch unsere einheitliche Staatsmacht . . . oder, wie es in der Präambel in dem Gesetz vom 11. Februar dieses Jahres heißt, — durch die immer konsequentere Verwirklichung der . Einheit von straffer zentraler Planung und Leitung und größtmöglicher Teilnahme der Werktätigen an der Leitung von Staat und Wirtschaft', . .. steigerten (wir) die Macht und Kraft unseres Staates als das Instrument der Arbeiterklasse und ihrer Partei zur Durchführung . . .der bewußten Leitung von Staat und Wirtschaft" Ein weiterer Schritt zur Entfaltung des demokratischen Zentralismus wurde mit der Bildung des Staatsrates am 12. 9. 1960 vollzogen. Seine Aufgabe liegt darin, „die sozialistischen Beziehungen zwischen der Bevölkerung und den Staatsorganen und die Rechte der Bürger auszubauen sowie die Einbeziehung der Bevölkerung in die Grundlagen der Politik in breitestem Umfange zu entwickeln"

Die durch die Bildung des Staatsrates erfolgte politische Stärkung der gesamtstaatlichen zentralen Leitung bedingte auch eine höhere Wirksamkeit der anderen Staatsorgane. Unter diesem Gesichtspunkt wurden 1961 die Verordnungen über die Aufgaben der örtlichen Volksvertretungen erarbeitet, um es möglich zu machen, die örtlichen Volksvertretungen und Organe der Staatsmacht konsequenter mit der gesamtstaatlichen Leitung zu verbinden. Durch das Prinzip des demokratischen Zentralismus sollte die Einheitlichkeit der Führungsorgane sowie die Selbständigkeit der einzelnen Bezirke (örtlichen Organe) gewährleistet werden. In den Präambeln wird über dieses System grundlegend festgestellt: „Die sozialistische Staatsmacht ist das Hauptinstrument des werktätigen Volkes beim Aufbau des Sozialismus. Die Volkskammer . . . und deren Organe, die vom Vertrauen des Volkes getragen sind, bilden das einheitliche System der Staatsmacht. . ."

Dabei ist es jedoch für das Verständnis wesentlich, daß die Tätigkeit der örtlichen Organe in der gesamtstaatlichen Leitung und Planung „in Erfüllung der Politik des ZK der SED, der Volkskammer, des Staatsrates und der Regierung" fundiert ist.

Die führende Rolle der SED war lange Zeit nur ein Bestandteil der Verfassungswirklichkeit. Erstmalig im Gesetz vom 11. 2. 1958 fand die Machtposition der Partei indirekt ihren Ausdruck im Artikel 1: „Die vom Zentralkomitee der SED und vom Ministerrat der DDR vorgelegten Materialien zur Vervollkommnung und Vereinfachung der Arbeit des Staatsapparates werden gebilligt." Noch deutlicher wurde der Stellung der SED in den Präambeln der Gesetze von 1961 Ausdruck verliehen: „In der DDR . . . übt die Arbeiterklasse zusammen mit den Genossenschafts-bauern, der Intelligenz und den anderen werktätigen Schichten unter Führung der SED die politische Macht aus . .

Die in der Zwischenzeit vollzogene Entwick. lung der Staatsorgane in der DDR ermöglichte es, daß die SED ihre Rolle und ihre Stellung gegenüber Staat und Gesellschaft auf ihrem VI. Parteitag 1963 deutlich hervorhob: „Die Partei ist die führende Kraft aller Organisationen der Arbeiterklasse und der Werktätigen der staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen." Außerdem wurde in dem neuen Statut, das sich die SED auf diesem Parteitag gab, genau festgelegt, wie die SED die Durchführung ihrer Beschlüsse im Staatsapparat erreichen will: Jedes Parteimitglied wurde verpflichtet, „seine Arbeit ... entsprechend den Beschlüssen der Partei im Interesse der Werktätigen zu leisten: Die Partei-und Staatsdisziplin zu wahren, die für alle Parteimitglieder in gleichem Maße bindend ist" Noch deutlicher kommt die beherrschende Rolle der SED zum Ausdruck, wenn ausgeführt wird, daß „das ZK die Arbeit der gewählten zentralen staatlichen und gesellschaftlichen Organe und Organisationen durch die in ihnen bestehenden Parteigruppen lenkt" Dieses Statut beinhaltet im wesentlichen nichts anderes als die Vervollkommnung des Prinzips des demokratischen Zentralismus in der Selbstinterpretation der Partei. Die SED, als der „organisierte Vortrupp der deutschen Arbeiterklasse und des werktätigen Volkes" übernahm nun endgültig im Zeichen des umfassenden Aufbaus des Sozialismus in der DDR die Suprematie. 3. Die sozialistische Verfassung Als Folge der hier kurz aufgezeigten Gesamtentwicklung ergab sich schließlich, daß „in den letzten Jahren die entscheidenden und charakteristischen Bestimmungen des Verfassungsrechts der DDR in einer Vielzahl von Gesetzen außerhalb der Verfassung vom 7. 10. 1949 zu finden waren" Als Ursache für diese Verfassungsentwicklung kann die Tatsache angeführt werden, daß die Verfassungswirklichkeit sich ständig entsprechend den Veränderungen der gesellschaftlichen und ökonomischen Basis wandelt. Das führt häufig zu neuen gesetzlichen Regelungen einzelner Gebiete der Verfassungsordnung, ohne einen formellen Niederschlag in der gültigen Verfassung zu finden. Die auf diese Weise entstandenen Diskrepanzen zwischen dem Verfassungsrecht und der Verfassungswirklichkeit wurden durch die neue Verfassung vom 6. 4. 1968 beseitigt. In diesem Sinne bedeutet die neue Verfassung nur eine Angleichung der formellen Verfassung an die in der Zwischenzeit entwickelte materielle Verfassungsnorm. Wesentlich ist jedoch, daß in die neue Verfassung auch ideologische Gesichtspunkte mit aufgenommen wurden.

Die weltanschauliche Bindung und die marxistisch-leninistische Auffassung vom Wesen und der Funktion des Staates läßt sich schon daran erkennen, daß die neue Verfassung in der Präambel als sozialistische Verfassung bezeichnet wird. In diesem Zusammenhang erscheint auch das Prinzip des demokratischen Zentralismus als Verfassungsnorm, wodurch die seit 1949 außerhalb der geschriebenen Verfassung geschaffenen organisationsrechtlichen Bestimmungen in die formelle Verfassungsurkunde übernommen wurden. Während in der Verfassung von 1949 lediglich das Prinzip der Gewaltenvereinigung (Artikel artikuliert worden war, enthält die neue Verfassung jetzt auch das zweite Organisations-und Entwick-lungsprinzip, den demokratischen Zentralismus. Was das für die staatliche Leitung im Sozialismus bedeutet, formuliert Klaus Sorgenicht in seinem Kommentar zur Verfassung folgendermaßen: „Die bewußte Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch das im Staat organisierte Volk nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus führt zur Einheit von zentraler staatlicher Leitung mit der Eigeninitiative der Bürger, ihrer Gemeinschaften und der örtlichen Staatsorgane." 50)

Wenn auch der demokratische Zentralismus ausdrücklich nur im Artikel 47 als „das tragende Prinzip des Staatsaufbaus" erwähnt — wird, so wird doch aus dem vorher über das Wesen des Prinzips Gesagten deutlich, daß es auch in anderen Teilen der Verfassung wirksam ist. Schon der Artikel 1, in dem die Herrschaft der marxistisch-leninistischen Partei der Arbeiterklasse als wichtigstes Strukturmerkmal verankert ist — und somit das ideologisch motivierte Machtmonopol der SED, die alle Organisationen und den gesamten Staatsapparat lenkt, rechtlich normiert wird —, beinhaltet das Prinzip des demokratischen Zentralismus.

Auch innerhalb des sozialistischen ökonomischen Systems wirkt dieses Prinzip, wenn es im Artikel 9, 3 heißt: „Die Volkswirtschaft . . . verbindet die zentrale staatliche Planung und Leitung der Grundfragen der gesellschaftlichen Entwicklung mit der Eigenverantwortung der sozialistischen Warenproduzenten und der örtlichen Staatsorgane." Dieselbe Grundkonzeption findet sich auch in Artikel 12, 2, nach dem die Nutzung des Volks-eigentums mit dem Ziel des höchsten Ergebnisses für die Gesellschaft durch den sozialistischen Staat gewährleistet werden soll.

Ebenso bedeutet die Ausübung der politischen Macht durch die örtlichen Volksvertretungen, wie sie im Artikel 81 festgelegt ist, eine konsequente Anwendung des Prinzips des demokratischen Zentralismus auch bei den untersten Organen der staatlichen Verwaltung.

Man kann also feststellen, daß dieses Prinzip in allen Bereichen des ökonomischen, gesellschaftlichen und staatspolitischen Lebens verankert ist. Ulbricht hatte dementsprechend bereits bei der Begründung des Entwurfs der neuen Verfassung vor der Volkskammer erklärt: „Die neue Verfassung wird sich von der bisher gültigen dadurch unterscheiden, daß sie alle jene Normen enthält, die darauf hinwirken, die schöpferischen Impulse der Bürger zu fördern, um das entwickelte gesellschaftliche System des Sozialismus in der DDR zu schaffen."

Doch auch für diese Verfassung gilt, daß die sozialistische Gesellschaft noch kein Endstadium, sondern nur eine zeitlich begrenzte Durchgangsperiode auf dem Weg zum Kommunismus sein soll und sich somit auch den Veränderungen der gesellschaftlichen Bedingungen anpassen muß.

IV. Pragmatismus contra Ideologie

Die Ausführungen über die theoretische Ausgestaltung des Prinzips des demokratischen Zentralismus lassen den Eindruck einer „vollkommenen" Demokratie entstehen. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus: Bei objektiver Betrachtung der realen Machtausübung in der DDR — auch wenn ihre Form mit dem immer noch nicht voll entwickelten gesellschaftlichen Bewußtsein der Bevölkerung erklärt wird — ist die unterschiedliche Verwendung der Begriffe in Theorie und Praxis zu erkennen. So wird durch die Proklamierung der führenden Rolle der Partei (Art. 1) die formal gegebene Möglichkeit der Mitarbeit der Bevölkerung in den örtlichen Organen faktisch in ihr Gegenteil verkehrt. Die Bevölkerung arbeitet zwar an der Durchführung der zentral gestellten Aufgaben mit, hat aber keine Möglichkeit einer grundsätzlichen Einflußnahme oder Kritik. Die Teilnahme der Bevölkerung am Staatsgeschehen ist somit beschränkt auf die Verwirklichung der Grundkonzeption, die von der „Zentrale" bestimmt wird. Dieses Zentrum der Macht in der DDR aber bildet, auch nach der im April 1968 in Kraft getretenen neuen „sozialistischen" Verfassung, noch immer das Politbüro. Aufgrund dieser Tatsache ist es auch nicht möglich, tiefgreifende Veränderungen der Machtverhältnisse aufzuzeigen. Lediglich einige der durch die sozioökonomische Weiterentwicklung anachronistisch gewordenen Bestimmungen wurden aufgehoben. Auch hat sich, und das wird in der Gesamtentwicklung des Kommunismus in den osteuropäischen Ländern deutlich, die Technik der Machtausübung in einzelnen Teilbereichen verändert. Vor allem in der Wirtschaft wird der Eigenverantwortlichkeit und der persönlichen Initiative ein gewisser Entfaltungsraum zugestanden. Im Ganzen betrachtet ist aber das, was die SED unter Demokratie versteht, weit entfernt von einer Regierung durch repräsentative, demokratisch gewählte Organe; vielmehr handelt es sich hier um ein festgelegtes Ritual von Aussprachen und Diskussionen über bereits festgelegte Parteibeschlüsse.

Von den eigenen weltanschaulichen und politischen Bedürfnissen geleitet, könnte man diese Diskrepanz als Ausgangspunkt für weitere Auseinandersetzungen auf dem ideologischen Kampffeld benutzen. Auf diese Weise ließe sich bestimmt aus der Mehrzahl kommunistischer Erklärungen ein umfassender „Kem-glauben" destillieren, dessen Widerlegung genügte, um den weltanschaulichen Gegner in seiner Gesamtheit zu disqualifizieren. Dock wie schon einleitend bemerkt, führt eine solche Betrachtungsweise weder zu einer Klärung des Selbstverständnisses des Kommunismus noch zu einer Aufdeckung der Funktion der Ideologie als einer Form der Selbstdarstellung.

Es ist wohl allgemein anerkannt, daß die marxistisch-leninistische Ideologie insbesondere seit Lenin als ein Mittel der Erringung der Macht aufgefaßt wird. Doch galt sie Lenin nicht nur als Anleitung zum Handeln, sondern auch als plausible Erklärung der politischen Welt. Nach dem Ausbau und der Verfestigung der kommunistischen Herrschaft wurde aus diesem Instrument zur Erringung der Macht ein solches zu ihrer Erhaltung und Legitimierung. Zugleich aber wurde die Macht selbst in zunehmendem Maße von der Staatsräson und vom Sicherheitsbedürfnis des Staates her bestimmt. In dieser Entwicklung dient die Ideologie der Rechtfertigung einer Gesellschaftsform. Innenpolitisch führte die Ideologisierung des gesamten politischen Lebens zur Proklamation des „Übergangs der SED zur Partei des ganzen Volkes"

Dieser nur kurz skizzierte Transformationsprozeß hatte eine gewisse Entdogmatisierung der Ideologie zur Folge, abgestimmt auf den praktischen Nutzen für das reibungslose Funktionieren der Gesellschaft und die Geschlossenheit der kommunistischen Bewegung. Das bedeutet aber letztlich, daß die Ideologie als Mittel der politischen Macht in den Versuchen zur Umformung der Gesellschaft immer wieder mit den realen Bedingungen und Möglichkeiten eben dieser Gesellschaft konfrontiert wird und sich den Gegebenheiten anpassen muß.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der neue Brockhaus, Bd. 1, Berlin, Wiesbaden 19653, S. 520.

  2. In der kommunistischen Ideologie liegt der Cnwerpunkt mehr auf „Freiheit zu" als auf „Frei-neit von". Dieses Problem sei hier nur skizziert, um die Fragestellung näher zu erläutern. Vgl. dazu: Klaus Westen, Demokratie und Freiheit, in: moderne weit, 6 (1965), Heft 1, S. 5— 30.

  3. Der neue Brockhaus, a. a. O., Bd. 5, S. 597.

  4. A bis Z. Ein Taschen-und Nachschlagebuch über den anderen Teil Deutschlands, 11. überarb. und erw. Aufl., Bonn 1969, S. 140.

  5. Wolfgang Leonhard, Sowjetideologie heute, Bd. 2, Frankfurt 1962, S. 31.

  6. W. I. Lenin, Ausgewählte Werke, Bd. II, Berlin 1963*, S. 315— 420. Der Aufsatz stammt aus dem Jahre 1917. Zitate von Lenin im folgenden zit. als LAW.

  7. LAW Bd. II S. 362.

  8. Vgl. dazu den folgenden Abschnitt.

  9. Die Thesen sind im wesentlichen zusammengefaßt aus dem Aufsatz „Was tun?". Hier besonders das Kapitel IV: „Die Handwerklerei der Okono-misten und die Organisation der Revolutionäre", in: LAW Bd. I, S. 229— 279.

  10. Rudi Rost, Der demokratische Zentralismus unseres Staates, (Ost-) Berlin 19621, 1S. 98.

  11. LAW Bd. II, S. 534.

  12. Rudi Rost, a. a. O., S. 23.

  13. Wolfgang Leonhard, a. a. O., S. 39. — In der Folgezeit wurde das Prinzip von allen kommunistischen Parteien zur Grundlage für die Struktur und die Entwicklung der Partei erklärt.

  14. Utopie und Mythos der Weltrevolution. Zur Geschichte der Komintern 1920— 1940, hrsg. von Theo Pirker, München 1964, S. 27.

  15. Utopie und Mythos, a. a. O., S. 27.

  16. Wolfgang Leonhard, a. a. O., S. 33 ff.

  17. Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei, Leipzig o. J., S. 42.

  18. LAW Bd. I, S. 252.

  19. LAW Bd. II, S. 338.

  20. LAW Bd. III, S. 396.

  21. Grundlagen des Marxismus-Leninismus (im folgenden zit. als GML), Berlin 1960, S. 391.

  22. Verständlich wegen der evolutionären Grund-xonzeption des Kommunismus.

  23. LAW Bd. II, S. 338.

  24. Gerhard Schüßler, Der demokratische Zentralismus als Grundprinzip der sozialistischen Staatsmacht, in: Staat und Recht 7 (1958), S. 728.

  25. Zit. nach GML, S. 607 f.

  26. GML S. 607.

  27. GML S. 607.

  28. GML S. 386 ff.

  29. GML S. 610 f.

  30. Das folgende Kapitel konzentriert sich auf eine Darstellung der Anwendung des demokratischen Zentralismus auf das Gebiet des Staatsaufbaus, um einen Einblick in die konkrete Anwendung des Prinzips zu geben.

  31. Rudi Rost, a. a. O., S. 7.

  32. Die Punkte 1— 6 entsprechen einer Aufstellung bei Rudi Rost, a. a. O., S. 7.

  33. Rudi Rost, a. a. O., S. 101.

  34. Rudi Rost, a. a. O„ S. 101.

  35. Vgl. Präambel des Gesetzes vom 23. 7. 1952. Abgedruckt bei Siegfried Mampel, Die Entwicklung der Verfassungsordnung in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands von 1945 bis 1963, Tübingen 1964, S-576.

  36. hauptsächlich betrifft es den Artikel 1, 2.

  37. Zit. nach Siegfried Mampel, a. a. O., S. 528.

  38. Rudi Rost, a. a. O., S. 120.

  39. Walter Ulbricht, Die Staatslehre des Marxismus-Leninismus und ihre Anwendung, in: Staat und Recht 7 (1958), Heft 4, S. 332.

  40. Rudi Rost, a. a. O., S. 155.

  41. Zit. nach Siegfried Mampel, a. a. O., S. 572.

  42. Rudi Rost, a. a. O., S. 166.

  43. Zit. nach Siegfried Mampel, a. a. O., S. 529.

  44. Präambel des Gesetzes vom September 1961; zit. nach Siegfried Mampel, a. a. O., S. 530. Hervorhebung v. Verf.

  45. Zit. nach Siegfried Mampel, a. a. O., S. 530.

  46. Statut der SED, zit. nach Siegfried Mampel a. a. O., S. 574 f.

  47. Ebenda.

  48. Statut der SED vom VI. Parteitag 1963, zit. nach Siegfried Mampel, a. a. O., S. 572.

  49. Ulbrichts Grundgesetz. Mit einem einleitenden Kommentar von Dietrich Müller-Römer, Köln 1968, S. 16.

  50. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Dokumente, Kommentar, hrsg. von Klaus rorgenicht, Bd. II, (Ost-) Berlin 1969, S. 239 f.

  51. In: Neues Deutschland vom 1. Februar 1968, S. 5. - Zit. nach Dietrich Müller-Römer, a. a. O., S. 33.

  52. Vgl. dazu Arno Lange und Rainer Altmann, Die Entwicklung der DDR zum Staat des gesamten Volkes, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 13 (1965), Heft 5, S. 549— 563.

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Ottmar Carls, geb. 1944 in Rostock/Mecklenburg, Übersiedlung nach Hamburg 1955. Seit 1968 Studium der Germanistik und Geschichte an der Universität Hamburg.