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Slums -soziale Probleme der Verstädterung | APuZ 11/1971 | bpb.de

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APuZ 11/1971 Artikel 1 Slums -soziale Probleme der Verstädterung Kein Platz für Menschen

Slums -soziale Probleme der Verstädterung

Gerhard D. Lindauer

/ 33 Minuten zu lesen

I. Einleitung

Don Widener Kein Platz für Menschen ..................... S. 17

überall in der Welt wachsen die Großstädte in einem vorher nie gekannten Tempo zu immer größeren Siedlungsgebieten an. Seit 1800 hat sich die Weltbevölkerung etwa verdreifacht; die Zahl der Städter in der Welt hat sich in der gleichen Zeit jedoch um mehr als das Zwanzigfache erhöht. Am rapidesten läuft dieser Prozeß heute in den Entwicklungsländern ab Angelockt von den Industrielöhnen, den Erziehungs-und Gesundheitseinrichtungen und den großen, strahlenden Bogenlampen, die die Städte bei Nacht erleuchten, ziehen Millionen und Abermillionen in die Städte der südlichen Hemisphäre. Indien wird voraussichtlich Ende dieses Jahrhunderts Städte von 60 Mil-lionen Einwohnern haben. In den nächsten 40 Jahren wird der Zuwachs der Stadtbevölkerung allein doppelt so groß sein wie der Zuwachs der gesamten Weltbevölkerung in den letzten 6000 Jahren.

Was steckt hinter diesem Prozeß, der landläufig als „Urbanisation" bezeichnet wird? Gerade die Benutzung eines solchen allgemeinen Begriffes verschleiert den Blick für die Unterschiedlichkeit der zahlreichen Einzelprozesse, die er umfaßt. Erst eine detaillierte Erfassung dessen, was die Urbanisation ausmacht, läßt aber Linderungsmöglichkeiten für die negativen Seiten dieses Prozesses erkennen.

II. Urbanisation

Der Begriff . Urbanisation" wird für eine ganze Reihe von Teilprozessen benutzt, die im folgenden kurz charakterisiert werden sollen 1-„Urbanisation" bedeutet Wachstum der Stadtbevölkerung, das sich in wesentlich schnellerem Ausmaß vollzieht, als dies bei der Gesamtbevölkerung eines Landes der Fall ist. So wuchs z. B. die Stadtbevölkerung des Deutschen Reiches zwischen 1875 und 1925 um 24 Millionen, das heißt um 169 0/0; die Gesamtbevölkerung wuchs dagegen in der gleichen Zeit nur um rund 100 %.

Von 1800 bis 1970 ist die Bevölkerung fast aller europäischen Städte um ein Vielfaches angewachsen: Hamburg wuchs von 130 000 aut 1, 8 Millionen, Neapel von 350 000 auf 1, 2 Millionen, Leeds von 53 000 auf 509 000, Glasgow von 77 000 auf 1 Million, München von 38 000 auf 1, 3 Millionen, Zürich von 12 000 auf 439 000, Köln von 42 000 auf 855 000.

Die Verwaltung der Großstädte wird von dieser Entwicklung im allgemeinen völlig überrollt. Trotz aller Anstrengungen gelingt es ihr in fast keinem Fall, für den Zustrom an Menschen ausreichende Infrastruktur-und Erzie-hungseinrichtungen sowie eine genügende Wasser-und Energieversorgung zur Verfügung zu stellen. 2. „Urbanisation" bedeutet auch Landllucht. Diese Wanderung vom Land in die Stadt ist die wichtigste Ursache für das rapide Wachstum der Städte. Warum ziehen die Menschen plötzlich vom Land in die Stadt? Was zieht sie in die Städte? Die Städte bieten bessere Arbeitsmöglichkeiten und höhere Löhne. Sie bieten die Möglichkeit einer besseren Ausbildung ebenso wie die Aussicht auf ein zumindest abwechslungsreicheres Leben. Für viele Stadtwanderer ist die Stadt das Symbol einer Freiheit von hergebrachten Beschränkungen. Sie ist der Ort, wo man ein völlig neues Leben beginnen kann; „Stadtluft macht frei".

Die starken Stadtwanderungen sind jeweils die Folge wirtschaftlicher Entwicklung, politischer Veränderungen und einer „Revolution steigender Erwartungen". Das Angebot gewerblicher Arbeitsplätze in den Städten findet Widerhall in Dörfern, die mehrere tausend Kilometer von der Stadt entfernt sein können. Das Resultat ist eine Auswanderung aus den ländlichen Gebieten. Zuerst ziehen die jungen, arbeitsfähigen Männer ab, später die Frauen, Kinder und die Älteren.

Diese Abwanderung hat ernste sozialökonomische Folgen. Sie führt dazu, daß zahlreiche ländliche Gebiete entvölkert werden oder nur noch dünn besiedelt sind. Außerdem läßt sie nur diejenigen zurück, die unfähig oder nicht willens sind, in die Stadt zu ziehen. Mit anderen Worten, die Landflucht läßt die Alten und die der Tradition Verhafteten in den ländlichen Gebieten zurück. Die Landbevölkerung verliert ihre progressiven Teile und wird immer mehr zu einem konservativ eingestellten Bevölkerungsteil. Dies hat oft zur Folge, daß auch die regionalen Verwaltungsgremien stark traditionalistisch eingestellt sind, wodurch der Fortschritt der ländlichen Gebiete gehemmt wird.

Außerdem wird durch die Abwanderung das Arbeitspotential der Landwirtschaft stark verringert —-sowohl quantitativ wie qualitativ. Der Verlust an Arbeitskräften zwingt zwar zur Rationalisierung, andererseits sind aber vielfach die jungen Leute, -die Neuerungen in die Landwirtschaft einführen könnten, in die Städte abgezogen. Auch dadurch findet der technische Fortschritt nicht so schnell Eingang in die ländliche Produktion, wie es für eine volle Konkurrenzfähigkeit beispielsweise gegenüber Handel und Industrie wünschenswert wäre. 3. „Urbanisisation" bedeutet auch, daß die größte Stadt eines Landes — gewöhnlich seine Hauptstadt — sehr viel größer ist als die nächstgrößere Stadt. Dieses Phänomen wird gewöhnlich Megalopolis- oder Primate-City-Effekt genannt. Er ist heute besonders gut in Lateinamerika zu beobachten. Aber auch in verschiedenen europäischen Ländern ist er, wenn auch in geringerem Maße, zu erkennen.

Das Vorhandensein einer übergroßen Stadt im Lande hat zur Folge, daß sowohl Bevölkerung, Industrie, Handel und Dienstleistun gen als auch die politische und wirtschaft. liehe Macht sowie Erziehungseinrichtungei — das heißt alle sozialen und standortlichen Vorteile — an einem einzigen Ort des Landes zentralisiert sind. In Europa findet sich dies in abgeschwächter Form in Ländern mit einer traditionell zentralistisch angelegten Verwaltung (Paris könnte z. B. als Primate. City in diesem Sinne angesprochen werden). In Ländern mit historisch mehr föderativer Struktur wie Deutschland ist es nie zu dieser Erscheinung gekommen, sondern es haben sich immer mehrere gleichrangige und gleichbedeutende Zentren herausgebildet, so daß der regionale Ausgleich viel eher gewährleistet war. 4. „Urbanisation" bedeutet auch, daß die Zahl von kleinen Städten und Versorgungszentren wesentlich schneller wächst als die Zahl anderer Siedlungen. Die Zahl der gewöhnlichen Siedlungen kann sogar gleichzeitig kleiner werden, da Dörfer entweder in kleine Städte umgewandelt oder aber im Zuge der Landflucht völlig verlassen werden. Um 1800 lebten z. B. in Rußland 92 % der Bevölkerung auf dem Lande, heute sind es nur noch 40 °; in den USA waren es 1820 72 %, heute sind es noch rund 5 °/o; in Frankreich waren es 1850 70 °/o, heute etwa 18 °/o.

Das Aufkommen neuer Städte bedeutet im allgemeinen eine schwere Last für die Zentralregierung eines Landes. Die Gemeindeverwaltungen der neuen Zentren brauchen Geld für sehr viele Einrichtungen zu gleicher Zeit. Die Abgeordneten einer solchen Region sind zumeist besonders bemüht, — vor allem im Hinblick auf die große städtische Wählerschaft-die Interessen der neuen Stadt verstärkt durchzusetzen. Die Notwendigkeit vieler Investitionen der öffentlichen Hand zur gleichen Zeit und die intensiven Bemühungen der Abgeordneten um die neuen Zentren zwingen die Zentralregierung oft zu unvorhergesehenen Ausgaben. 5. Der Ausdruck „Urbanisation" wird auch benutzt, um die statistische bzw.demographis^ Stabilisierung der Bevölkerungsstruktur einer Stadt zu beschreiben. Zu Beginn der Stadtwan derung verlassen zuerst die jungen Männer die ländlichen Gebiete. Wenn sie einen -bungsunterhalt gefunden haben, holen 515 ihre Frauen und Kinder nach oder gehen zu rüde in ihre Heimatdörfer, heiraten dort und kommen mit ihren Frauen in die Städte zurüde. Eine kleine Anzahl von Frauen entdeckt außerdem die Chancen, die ihnen die Stadt für ihre persönliche Unabhängigkeit bietet. Der Zustrom dieser Frauen gleicht allmählich die Geschlechterstruktur in der städtischen Bevölkerungspyramide aus. Gleichzeitig bringt die Zuwanderung von Kindern sowie die Geburt von Kindern und die spätere Zuwanderung von Alten eine Normalisierung der Bevölkerungs-bzw.der Alterspyramide mit sich. 6, „Urbanisation" bezeichnet auch einen Vorgang, den man besser als Detribalisation bezeichnen könnte, das heißt für die allmähliche Lockerung der traditionellen Stammesbande und Stammesabhängigkeiten. Verhaltensmuster und Wertskalen, die bisher durch die traditionelle Gesellschaft aufrechterhalten wurden, werden allmählich aufgegeben, und Wertvorstellungen der Industriegesellschaft nehmen ihren Platz ein. Dieser Prozeß wird manchmal auch als „Verwestlichung" oder „Westernisierung" bezeichnet.

Detribalisation ist nicht notwendigerweise schon genau das gleiche wie die volle Übernahme städtischer Werte. Ein Händler, der seine Heimatregion verlassen und die Wertvorstellungen seines Stammes aufgegeben hat, sich aber noch nicht in einer Stadt, sondern z. B. an einer durchgehenden neuen Straße angesiedelt hat, ist zwar schon detribalisiert, aber noch lange nicht voll urbanisiert. 7. „Urbanisation" meint dementsprechend auch die Übernahme städtischer Werte. Dieser Vorgang wird manchmal auch als „Urbanismus" oder „Urbanisierung" bezeichnet. Dies ist mehr als Detribalisation, die jedoch eine unabdingbare Voraussetzung für den Urbanismus ist. Hier werden traditionelle Normen durch neue Wertvorstellungen ausgetauscht. Hochachtung vor persönlicher Leistung anstelle von Herkunft oder sozialem Status, Wertschätzung von üchtigkeit statt von hohem Alter, von Einommen statt von Freizeit, von moderner statt paditioneller Erziehung, von Bargeld statt der ezahlung in Gütern und von hygienischen m sanitären Einrichtungen sind einige der arakteristika dieser neuen städtischen Werthaltung. 8-„Urbanisation" bedeutet ferner — vor allem msndustrie-, in schwächerem Maße in Ent1 ungsländern — die Verstädterung länd licher Gebiete. Die städtischen Ideen und Verhaltensweisen breiten sich von den Städten her zu den ländlichen Gebieten hin aus. Dieser Innovationsprozeß ist der gegenläufige Prozeß zum Vorgang der „Urbanisierung". Dort ziehen die Menschen in die Stadt und werden urbanisiert; hier gibt die Großstadt-kultur ihre sozialen, politischen und ökonomischen Leitgedanken an die ländlichen Gebiete weiter und urbanisiert so allmählich die Land-bevölkerung.

Bei der „Urbanisierung" wird der Neuankömmling in der Stadt sofort mit dem ganzen Komplex der ihm fremden Wertungen und Verhaltensweisen konfrontiert und muß diese neuen, anderen sozialen und ökonomischen „Spielregeln" annehmen, wenn er in der Stadt leben will. Bei der Verstädterung ländlicher Gebiete erreichen dagegen die einzelnen Komponenten dessen, was man als „Großstadtkultur" bezeichnet, den Bewohner dieser Regionen zu ganz verschiedenen Zeitpunkten. Außerdem kann der Landbewohner in den meisten Fällen auch noch selbst auswählen, welche von den Leitbildern, die sein Dorf bereits erreicht haben, er übernehmen will und welche nicht. Er kann sogar in seiner gewohnten Umgebung und sozialen Verflechtung weiterleben, ohne irgendeine der „modernen Ideen" zu akzeptieren.

Eine Folge dieses „Hinausstrahlens" der Städte in die Dörfer ist der physlognomische Wandel Jener Siedlungen, die im Einflußbereich der Großstadtkultur liegen. Sie nehmen städtische Züge an, obwohl sie offiziell nicht als „Städte" gelten. So entstehen „stadtähnliche Dörfer", und es wird auf die „freiere, unabhängigere Geistesart" der Bewohner solcher Siedlungen, auf das andere Aussehen des Häuser-und Straßenbildes und andere nicht näher faßbare Eigenschaften hingewiesen. 9. „Urbanisation" bedeutet schließlich auch — und dies ist mit allen geschilderten Prozessen eng verflochten — das Entstehen von Slums. Diese Slums stellen besonders in Entwicklungsländern eine deutliche Übergangsstufe dar. Ihre Bewohner haben zwar nicht mehr die Möglichkeit, völlig traditional zu bleiben wie der eigentliche Landbewohner; sie sind aber auch noch nicht dem vollen psychologischen Anprall der anderen sozialen und ökonomischen Denkweise des Großstädters ausgesetzt. Ähnlich wie bei der Verstädterung ländlicher Gebiete erlauben die Slums eine allmähliche Anpassung an die städtische Lebensweise.

III. Slums

Slums bilden heute das wichtigste und hartnäckigste Problem neu entstehender Städte in Entwicklungsländern. Ebenso waren sie das soziale Hauptproblem unserer Städte während der Industrialisierung Europas, und sie sind es zum Teil heute noch in vielen Großstädten vor allem der USA und Großbritanniens.

Es gibt verschiedene Typen und Formen von Slums: Bombay hat seine vollgepackten mehrstöckigen Slumgebäude, New York hat sein Harlem und seine Lower East Side, Chicago den Black Belt und London sein East End; in Bangkok drängen sich die Menschen in Pfahlsiedlungen längs der Gewässerzüge. Wir kennen die Slums als Ansammlung von Blech-, Bambus-oder Strohhütten längs der schmalen Straßen von Kalkutta, Djakarta, Dakar, Lagos oder Accra. In Kanton, Schanghai, Hongkong und Singapur leben außerdem Tausende von Familien in schwimmenden Slums auf Haus-booten. Trotz dieser Unterschiedlichkeit in Form, Typ und Aussehen der Slums gibt es doch einige gemeinsame Merkmale — vor allem sind es die niedere Qualität der Wohnstätten und eine viel zu hohe Bevölkerungsdichte. Soziologisch gesehen ist jeder Slum eine besondere Lebensweise, eine Subkultur mit einer festen sozialen Ordnung, wo schlechte sanitäre und gesundheitliche Verhältnisse und viele Verbrechen als „normal" gelten. Alle Slums besitzen weiterhin die gemeinsame Eigenschaft, daß ihre Bewohner vom allgemeinen politischen Leben abgeschnitten sind und als „minderwertig" betrachtet werden. Die Slumbewohner ihrerseits betrachten die Welt „draußen" meist mit großem Mißtrauen. Innerhalb ihrer eigenen Welt besitzen sie aber in der Regel eine genauso fest gefügte Ordnung wie unsere Dörfer — nur daß eben andere Verhaltensweisen als Norm gelten wie im Dorf. 1. Kennzeichen der Slums Wohnverhältnisse Von allen Kennzeichen der Slums werden die physischen Lebensbedingungen am meisten hervorgehoben. Im allgemeinen werden Slums definiert als diejenigen Teile einer Stadt, in denen die Häuser zu dicht stehen und deren Bauzustand völlig vernachlässigt ist, wo die Beleuchtung ungenügend und die Luftzirkulation schlecht ist und sanitäre Einrichtungen weitgehend fehlen. Definiert man einen Slum mit Hilfe dieser physischen Umweltbe dingungen, so ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß diese Definition nur vergleichender, relativer Natur sein kann und jeweils nur im Hinblick auf den allgemeinen Lebensstandard desselben Landes gelten kann. So würden beispielsweise Slumgebiete in New York oder Chikago in vielen anderen Teilen der Welt als durchaus angemessene — wem nicht sogar gute — Wohngegenden angesehen werden. Auch ein nur beschränktes Vorhandensein von fließendem Wasser, Elektrizität und Kochgelegenheiten gilt in vielen Entwick. lungsländern bereits als Zeichen einer mittelständischen — wenn nicht gar vornehmen-Wohngegend. Die Tendenz, die physischen Aspekte der Slums hervorzuheben und aus ihnen dann andere Probleme dieser Wohngebiete abzuleiten, ist allgemein verbreitet. So wird beispielsweise in einer Studie über die Slums in Houston (Texas) hervorgehoben, daß in den fünf Zählbezirken mit der höchsten Verbrechensrate 65, 5 °/o der Wohngelegenheiten stark reparaturbedürftig waren. Die fünf Zählbezirke mit der geringsten Verbrechensrate wiesen dagegen nur 9 0/0 reparaturbedürftige Häuser auf 3). Die Erklärung der hohen Verbrechensrate aus den Wohnverhältnissen allein dürfte jedoch nicht ausreichend sein, so sehr eine solche vordergründige Korrelation naheliegt. Vielmehr ist es wohl auch die Lebensauffassung der Slumbewohner, die sowohl die schlechten Wohngelegenheiten bedingt, als auch hinter der hohen Verbrechens rate steht; das heißt Verbrechen gelten hier nicht als Verbrechen, und gute Häuser im europäisch-mittelständischen Sinne gelten als etwas völlig Unnötiges und Unwesentliches.

Daher kann man auch nicht ohne weiteres davon ausgehen, daß ein soziales Wohnungsbauprogramm sozusagen „automatisch" den Slum beseitigt. Neue Häuser allein bewirken noch keine neuen Wertvorstellungen im Menschen. Dies hat sich beispielsweise bei verschiedenen Programmen in Großbritannien gezeigt: nachdem die neuen Regierungsbauprojekte fertig-gestellt waren, ging die Verbrechensrate nicht im geringsten zurück Dies bedeutet aber doch, daß die äußeren Kennzeichen des Slums keinen direkten Einfluß auf sein soziales Leben haben. Eine Verbesserung der physischen Bedingungen allein wird deshalb noch nicht zur Verbesserung der sozialen Bedingungen führen. Mit anderen Worten, die Slums einer Stadt sind jeweils so groß wie die soziale „Problembevölkerung".

Hohe Bevölkerungsdichte Slums sind Gebiete, die entweder durch viel zu dicht stehende Gebäude, durch Gebäude mit viel zu vielen Menschen pro qm oder durch beides gekennzeichnet sind. Wäre beispielsweise die Bevölkerungsdichte von ganz New York so hoch wie jene in den schlimmsten Teilen von Harlem, so hätte die gesamte Bevölkerung der USA in drei Stadtteilen von New York Platz. In den Slums von Bombay leben im allgemeinen zehn Menschen in einem Raum von rund zwölf qm, in Singapur Und Hongkong leben mindestens fünf bis sechs Menschen auf einen Raum gleicher Größe.

Dadurch hat der einzelne Bewohner innerhalb des Hauses keine Bewegungsfreiheit und keinerlei Privatsphäre. Für Kinder sind solche Räume die reinsten Gefängnisse. Es wird sich nie ermitteln lassen, wieviele Familienkonflikte in den Slums dadurch entstehen, daß sich die Menschen einfach durch die hohe Bevölkerungsdichte gegenseitig auf die Nerven gehen. Dies wird zum Teil allerdings gemildert durch die stärkere Benutzung von Außenflächen wie Gehwegen, Alleen, Gassen und Hofeinfahrten als . Lebensraum'. Die meisten Untersuchungen über Slums haben gezeigt, daß gerade diese Außenräume wichtig sind für die Herausbildung sozialer Gruppen in den Slums — als Treffpunkt, Spielplätze, Orte zum Plaudern und Trinken. Es ist bekannt, daß nicht so sehr von den SlUmbewohnern, als vielmehr von der bürgerlichen Mittelschicht der Mangel an einer Privatsphäre negativ beurteilt wird.

Unzureichender Anschluß an die öllentlichen Versorgungseinrichtungen Die schlechte Unterbringung der Slumbewohner ist überall verbunden mit unzureichenden Einrichtungen im Sanitär-und Hygienebereich. Ebenso sind die Schulen — soweit es welche gibt — von schlechter Qualität, und andere öffentliche Einrichtungen fehlen oft ganz. Straen und Gehwege werden nicht repariert. Müll " ird nur unregelmäßig — wenn überhaupt — igeholt. Wassermangel, Fehlen von Elektri21 at und sanitären Einrichtungen sind an der Tagesordnung. Besonders in den Slums der Entwicklungsländer teilen sich oft einige hundert Menschen einen einzigen Wasserhahn, so daß es praktisch unmöglich ist, das Wasser, das dann meistens über lange Strecken getragen werden muß, rein zu halten. Die sanitären Verhältnisse bieten ein noch schwierigeres Problem, denn die Abfuhr menschlicher Exkremente ist in den Slums praktisch nicht zu bewältigen. Die oft einzige vorhandene Latrine besteht aus einem nur äußerst selten gereinigten Graben, den hunderte von Familien benutzen. Die dadurch bedingte Beschmutzung wird als unausweichlicher Bestandteil des Lebens akzeptiert.

Schmutz und Unreinlichkeit haben hohe Sterbe-und Krankheitsraten zur Folge. Ratten und Ungeziefer komplizieren das Gesundheitsproblem noch zusätzlich. Nach amerikanischen Schätzungen weisen Slums, die etwa 20 °/o der Bevölkerung einer Stadt beherbergen, rund 50 % aller Krankheitsfälle auf

Abweichendes soziales Verhalten Stark abweichendes soziales Verhalten, wie Kriminalität (vor allem Jugendkriminalität), Prostitution, Trünksücht, Rauschgiftkonsum, Geisteskrankheiten, Selbstmord und ungeordnete Familienverhältnisse, ist ein weiteres Charakteristikum der Slums. In Slums, wo etwa 20 °/o einer Stadtbevölkerung wohnen, kommen etwa 50 0/0 aller Verhaftungen, 45 0/0 aller bekanntwerdenden größeren Verbrechen und 60 0/0 der Jugendkriminalitätsfälle vor.

Es ist in mancher Hinsicht von Bedeutung, daß sich dieses Bild beispielsweise in den Slüms von Chicago sowohl 1900 wie 1920 bot, obwohl die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung zu diesen beiden Zeitpunkten völlig verschieden war. Der Slum war nacheinander vorwiegend von Schweden, Deutschen, Polen und Italienern bewohnt; die Kriminalitätsrate war dauernd hoch. Genauso hoch ist sie heute, wo die gleichen Slums vorwiegend von Negern und einer spanischsprechenden Bevölkerung bewohnt werden. Ähnliche Ergebnisse liegen für acht andere Metropolen und elf Großstädte der USA vor

Stärke und Härte werden in Slums oft als „männlich" und „gut" angesehen, und häufig nimmt man Zuflucht zu Gewalttätigkeiten, um Dispute zu regeln. Vor allem aber gibt es eine größere Toleranz gegenüber kriminellem Ver-halten gegen die Außenwelt. Die Außenwelt selbst ist von vornherein verdächtig. Darin eingeschlossen sind Regierung, Organisationen der sozialen Wohlfahrt und die Ober-und Mittelschichten der Gesellschaft. Staatliche Einrichtungen werden oft als „Störenfriede" des alltäglichen Slumlebens gefürchtet. Vielfach rührt diese Furcht aus Mißverständnissen über den eigentlichen Zweck öffentlicher Einrichtungen (z. B. Erziehungsoder Gesundheitsinstitutionen) her. „Apathie“ und soziale Isolierung Der Slum hat auch ein ganz bestimmtes . Image'in den Augen der Gesamtgesellschaft. Der außenstehende Betrachter wird oft durch das Aussehen und die schwierigen Lebensbedingungen des Slums zu der Ansicht verleitet, daß die Slumbewohner von Natur aus Menschen zweiter Klasse seien. Dadurch ist es für die Slumbewohner besonders schwer, mit Außenstehenden menschlichen Kontakt zu finden. Die Slumbewohner sind daher auch in der Kommunalpolitik im allgemeinen fast ohne Einfluß und kaum in der Lage, ihrer Stimme Gehör zu verschaffen.

Unvermeidlich kommt daher der Slumbewohner auch zu einer besonders negativen Vorstellung von sich selbst. Slumbewohner werden sich irgendwann der Tatsache bewußt, daß sie unter Lebensbedingungen stehen, die bei der für die öffentliche Meinung maßgeblichen Mittelklasse als geringwertig gelten. Im allgemeinen akzeptieren sie diese Situation, wie sie ist, und versuchen kaum, daran etwas zu ändern. Als eine Folge davon werden sie oft von Angehörigen der Mittelklasse als „apathisch" bezeichnet.

Diese „Apathie" hat ihren Grund aber vielfach in der Tatsache, daß den Slumbewohnern die Meinung der Außenstehenden gleichgültig ist und sie sich gar nicht zurückgestoßen oder geringwertig fühlen. Studien unter den italienischen Slumbewohnern Bostons und in anderen Slums haben gezeigt, daß die Bewohner recht zufrieden mit ihrer Nachbarschaft waren und nicht umziehen wollten. Die widrigen äußeren Lebensumstände werden nämlich oft mehr als aufgewogen durch die subjektivenVorteile, mitLeuten gleichen Hintergrunds, gleicher Lebensauffassung und gleicher Erziehung zusammenzuwohnen. Auf diese Art wird der Slum vor allem für Einwanderer auch eine Art Außenstation der ursprünglichen Heimat Lebensauflassung Die meisten Slums besitzen einen hohen Grad an innerer sozialer Organisation, wiewohl für einen Außenstehenden eher der gegenteilige Eindruck entsteht. Das Verhalten der Slum-bewohner kann jedoch durchaus ähnlich organisiert und die soziale Kontrolle genauso wirksam sein wie in den vor der Mittel-schicht bewohnten „besseren" Wohnvierteln, Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und niedrige Löhne sind die Regel in den Slums. Die Bevölkerung steht in ständigem Kampf um ein angemessenes Einkommen. Man geht nur unregelmäßig der Arbeit nach und es gibt keine oder kaum feste Beschäftigungsverhältnisse. Ersparnisse fehlen fast völlig und auch der Wunsch zu sparen ist kaum vorhanden. Meist ist die Fähigkeit, für die Zukunft zu planen, noch gänzlich unausgebildet. Nahrungsmittel-reserven sind nicht vorhanden und die persönlichen Besitztümer werden oft verpfändet.

Den Slum deshalb nur als Stätte der Armut zu behandeln, hieße jedoch, das Problem allzu sehr vereinfachen, zumal diese Armut nur relativ ist. Ein Slumbewohner der westlichen Welt hat nämlich oft wesentlich mehr materielle Güter als der Bewohner eines „besseren" Viertels in Indien. Eine arme städtische Familie im Slum hat heute wesentlich mehr technische Güter und eine bessere Erziehung als sogar die sozialökonomische Oberschicht im 18. Jahrhundert; mit anderen Worten: Diese Armut läßt sich nur definieren in bezug auf die allgemeinen Erwartungen, die eine Kultur in ihren Mitgliedern erzeugt, und im Hinblick auf die Fähigkeit einer Gesellschaft, diese Erwartungen ihrer Mitglieder zu befriedigen. 2. Die Funktionen des Slums In der Geschichte der Industrialisierung haben die Slums auch einige sinnvolle und nützliche Funktionen für die Slumbewohner erfüllt. Vor allen Dingen stellt der Slum billige Unterkünfte für die armen Neuzuwanderer zur Verfügung. Er ermöglicht es Neuzuwanderern außerdem, sich in eine soziale Gruppe zu integrieren; er erzieht sie zu städtischem Verhalten, er ist zugleich ein Ort, “ o jeder Anonymität finden kann. Behausung für die ländlichen Zuwanderer Slums waren immer Zufluchtstätten für die völlig armen, bargeldlosen ländlichen Zuwanderer, die zuerst eine Wohnstätte in der Stadt zu möglichst niederem Preis benötigten, überall finden und fanden die Stadtwanderer nach Beginn der Industrialisierung ihre erste Behausung in Slums. Das Leben in den Slums machte es im Laufe der Zeit für viele möglich, sich soviel zu ersparen, daß sie ein eigenes Geschäft gründen konnten oder — wie im Fall der indischen Zuwanderer in Ostafrika — daß sie ihre gesamte Familie nachkommen lassen und dann fast ohne Startkapital einen Familienbetrieb eröffnen konnten.

Ort sozialer Geborgenheit Slums dienen in vielen Ländern als der Ort, wo man auf der Basis alter, dörflicher Grupbenbeziehungen weiterleben kann. Hier trifft man Menschen, die man von früher bereits kennt: aus demselben Dorf oder Stamm, aus derselben Gegend, aus derselben Großfamilie oder Sippe.

Der mittelständische Beobachter sieht nur eine Siedlung aus Schmutz, zerfallenen Häusern und überbevölkerten Unterkünften. Der Slum-bewohner betrachtet dies oft mit ganz anderen Augen: Hier hat er einen Lebenskreis, wo Menschen wohnen, die ihn verstehen und die er versteht. Niedrige Mieten, Zusammengehörigkeitsgefühl und zum Teil enge Verwandtsdiaftsbeziehungen stellen eine Bindung des Slumbewohners an den Slum dar, die ein außenstehender Beobachter vermutlich wohl nicht voll in ihren Konsequenzen erfassen kann. Der Slum wird zu einer Exklave der Heimat; er macht Heimatnähe in der Fremde möglich.

Erziehung zum städtischen Leben Der Slum erfüllt weiterhin die Funktion einer Art Schule, die die Neuzuwanderer zu Städtern erzieht. Er bietet ihnen einen Platz, wo sie zunächst unterkommen und sich langsam orientieren können. Von hier aus können sie ihre ersten Jobs finden und sich als Städter zu veralten lernen. Diese Funktion ist heute besoners wichtig in Entwicklungsländern, wo der egensatz zwischen Dorf und Stadt ausgesprochen groß ist.

Wie die zahlreichen Zuwanderer in unserer ergangenheit im Industrialisierungsprozeß bevor m Slums lebten, sie in die sogenannten „besseren" Wohnviertel weiterzogen, so beherbergen heute die Slums der Entwicklungsländer die Zuwanderer aus den ländlichen Gebieten. Hier findet der Zuwanderer Lebensbedingungen, die mehr mit dem verwandt sind, was er aus seinem Heimatdorf gewöhnt ist, als mit dem eigentlichen Stadtleben. Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit spielen im Slum noch keine so große Rolle wie im eigentlichen Stadtleben. Wo die großstädtische Reglementierung fehlt, besteht für den Zuwanderer am ehesten die Chance, verstanden und anerkannt zu werden.

Neuere Untersuchungen haben dies deutlich für einige Städte des Nahen Ostens erwiesen Es konnte gezeigt werden, daß Zuwanderer zu den neuen Industriestädten, die schon aus älteren Kleinstädten kommen, direkt in das alte Stadtzentrum, in die Medina, gingen — das heißt, sie wagten sich sofort in die eigentliche Stadt hinein, denn sie hatten ja schon gelernt, wie man sich als Städter bewegt und benimmt. Diejenigen Zuwanderer, die aus ländlichen Gebieten kommen, gehen dagegen ohne Zögern in die Slums an den Außenrändern der Städte, in die „Schule des Städters".

Die Suche nach Anonymität Eine wichtige Funktion des Slums ist die Gewährung von Anonymität. Im Slum haben schon immer diejenigen auf dem Weg zum sozialen Abstieg genauso gewohnt wie die auf dem Weg zum sozialen Aufstieg, und dieser Doppelcharakter des Slums sollte nicht übersehen werden. Der Slum nimmt alle Menschen auf, die in der übrigen Gesellschaft zurückgewiesen werden. Da er auch viele jener Menschen beheimatet, die sich mit den übrigen Stadtbewohnern nicht vertragen, leistet er — so gesehen — einen Beitrag zum sozialen Frieden der gesamten Stadtgesellschaft.

Nur in der Stadt, die sich stets in einem raschen Wandel befindet, und manchmal nur in den Slums der Städte, können Menschen mit abweichendem sozialen Verhalten leben, ohne Anstoß zu erregen, und sogar Anerkennung finden. Die Anhäufung verschiedener „anomal" reagierender Gruppen und Menschen ist nicht unbedingt, als Negativum zu betrachten, denn solche Gruppen mit abweichendem Ver-halten können eine wichtige Rolle bei der Einführung von Neuerungen in die Gesamtgesellschaft spielen.

Kreditgelegenheit Viele kleine Werkstätten und Produktionsbetriebe hätten nie gegründet werden können, gäbe es nicht die informellen Kreditquellen im Slum. Persönliche Wertschätzung, alte Familienbande und von der Slumbevölkerung als „gut" betrachtetes Verhalten machen eine Person kreditwürdig, die sonst nirgends in der Lage wäre, Kredit zu bekommen. Welche offizielle Bank wollte schon jemandem aus dem Slum einen Personalkredit gewähren? Dingliche Sicherheiten kann der Kreditsuchende aber auf der anderen Seite nicht anbieten — also ist er darauf angewiesen, daß ihm kleine und kleinste „Freundschaftskredite" als Starthilfe zur Verfügung stehen. 3. Typen von Slums Ein Slum kann entweder durch das Absinken einer früher „guten" Wohngegend entstehen, nachdem eine neue Schicht von Leuten hineingezogen ist, oder er kann das Resultat einer Ansammlung neu errichteter Hütten sein. Nach dem Alter der Unterkünfte lassen sich somit zwei Typen von Slums festhalten: 1. alte Slums (früher „bessere" Wohngegenden), 2. neue (erst kürzlich entstandene) Slums.

Die alten Slums finden sich mehr im oder in der Nähe des Stadtzentrums und sind in den industrialisierten Ländern häufiger als in Entwicklungsländern. Die neuen Slums sind vorwiegend an den Rändern neu entstehender Städte in Entwicklungsländern zu finden. Dies ist natürlich keine strenge Regel, sondern nur die Mehrheit der Fälle.

Vom soziologischen Gesichtspunkt her betrachtet gibt es Slums, in denen überwiegend neu zugewanderte Menschen wohnen, die entschlossen sind, den sozialen Aufstieg zu bewältigen und solche, deren Bewohner überwiegend das Streben nach sozialem Aufstieg schon aufgegeben haben, die voller Resignation sind, die bereits durch den städtischen Integrationsprozeß gegangen und gescheitert sind.

Wir könnten diese zwei Typen nennen: 3. Slums der Hoffnung, 4. Slums der Resignation.

Betrachtet man die beiden hier angesprochenen Typologien näher, so findet man, daß eine Kombination von 1. und 4. in Industrie-ländern überwiegt. Nur wo ein großer Zustrom ausländischer Zuwanderer vorhanden ist, wie z. B. Mexikaner und Portorikaner in den Vereinigten Staaten oder Inder, Pakistani und Westinder in Großbritannien, finden wir auch Kombinationen von 1. und 3. In Entwicklungsländern ist die typische Kombination dagegen 2. und 3., das heißt, in diesen Slums überwiegen Menschen, die vorwärts kommen wollen, die an eine bessere Zukunft glauben, und dies ist an sich eine gute Motivation für eine Mitarbeit bei Verbesserungsmaßnahmen von staatlicher oder privater Seite.

IV. Für und wider die Urbanisation

Die meisten Phänomene des Urbanisationsprozesses — das wurde zu zeigen versucht — haben einerseits wünschenswerte und andererseits unerwünschte Effekte. Die Schwierigkeit für den Sozialplaner und Verwaltungsfachmann ist es nun, „das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten", das heißt, die negativen Effekte zu unterdrücken oder zumindest zu minimieren, ohne gleichzeitig die positiven Effekte auszuschließen. In manchen Fällen muß sich der Politiker sogar damit zufrieden geben, daß er die kurz-oder mittelfristigen negativen Effekte nicht vermeiden oder überwinden kann, wenn er nicht will, daß die langfristigen guten und positiven Effekte eines solchen Prozesses ebenfalls verlorengehen.

Betrachtet man unter diesem Aspekt erneut den Katalog der Urbanisationsphänomene, so schälen sich einige Urbanisationsprozesse heraus, die kaum negative Effekte hervorbringen. Eine Reihe weiterer Prozesse zeigt eine gewisse Balance zwischen negativen und positiven Effekten, und nur einer ist im Grunde als völlig negativ anzusprechen.

Prozesse, die kaum negative Effekte aufweisen, sind: die zunehmende Anzahl kleine'Städte und Versorgungszentren, die statisti- sehe und demographische Stabilisierung der Stadtbevölkerung und schließlich der Urbanismus. Eine zunehmende Anzahl kleiner Städte und Versorgungszentren erleichtert die Vermarktung und die Versorgung der ländlichen Bevölkerung sowohl mit lokalen wie importierten Gütern. Außerdem erleichtert sie einen schnelleren und dichteren Informationsfluß und die Verbreitung neuer, moderner Ideen. Daneben fängt eine solche Entwicklung in gewissem Maße die negativen Effekte der Landflucht und des Primate-City-Effekts auf. Die Tatsache, daß die Industrieländer während ihrer Industrialisierungsphase niemals so schwer unter dem Primate-City-Effekt gelitten haben wie heute vor allem die meisten lateinamerikanischen, zum Teil aber auch viele asiatische Länder, läßt sich mit großer Sicherheit darauf zurückführen, daß viele kleinere Städte gleichzeitig entstanden.

Die statistische und demographische Stabilisierung trägt zum Zustandekommen einer ausreichenden und statistisch . normalen'Bevölkerungsstruktur bei, sie ermöglicht außerdem eine politische, soziale und geistige Stabilisierung der neuen Stadtbevölkerung.

Im oder Urbanisierungsprozeß Urbanismus erlernt der neue Stadtbewohner alle diejenigen Verhaltensweisen und Einstellungen, die notwendig sind, um die Entwicklung und Industrialisierung seines Landes vorwärts zu treiben. Neben dieser positiven makro-ökonomischen Wirkung hat der Urbanisierungsprozeß einen weiteren, individualpsychologischen Effekt: sie befreit den Menschen, der dabei ist, sich in die städtische Gesellschaft einzugliedem, von seiner psychischen und sozialen Unsicherheit und gibt ihm ein neues, verläßliches Wertesystem, an dem er sich in seinem neuen sozialökonomischen Verhalten orientieren kann.

Es sind mehr die Übergangsstadien der Urbanisation, wie die Detribalisierung und Landducht, das Wachstum von Slumgebieten, das städtische Bevölkerungswachstum generell, und die Verstädterung ländlicher Gebiete, bei enen man Zweifel haben muß, in welcher eise sie sich auswirken werden.

re Detribalisierung hinterläßt den Menschen 0 ne eine psychische und moralische Orientierung. Er hat seine alten Wertvorstellungen ? on mindestens teilweise verloren und noch eine neuen gewonnen. Dies ist ein Zustand yon extremer psychischer Belastung und Ruhesigkeit. Aufgrund seines Strebens nach Orientierung ist der werdende Städter in diesem Zustand in Gefahr, extremen und radikalen politischen Ideen anheimzufallen. Andererseits muß ein Individuum durch diesen mehr oder weniger langen Prozeß der Unsicherheit und geistigen Hilflosigkeit gehen, da die Detribalisierung eine unumgängliche Vorbedingung der an sich erwünschten Urbanität ist. Die Sozialplanung kann hier nur versuchen, diesen Prozeß möglichst abzukürzen; ganz umgehen oder vermeiden kann sie ihn nicht.

Die städtische Entwicklung ist notwendig, da nur Städte die Standortvorteile bieten können, die viele Industrien brauchen. Dies gilt sowohl unter dem Aspekt des Arbeitskräfteangebots in den Städten als auch bezüglich der Konzentration der Nachfrage und der Differenzierung des Geschmacks und der Konsumentenpräferenzen. Außerdem sind Städte eher in der Lage, ausreichendes Sozialkapital in Form von Transportwegen, Energie, Wasserversorgung usw. zur Verfügung zu stellen. Diese Voraussetzungen aber bringen ein immer stärkeres Anwachsen der Städte mit sich. Wenn die Städte — insbesondere junge Städte — wachsen sollen, ist Zuwanderung aus ländlichen Gebieten notwendig, da die Arbeitsnachfrage der Industrie oft schneller wächst als die Zahl der in der Stadt Geborenen.

Die Verstädterung der ländlichen Gebiete bedeutet die Einbeziehung des ländlichen Raums in moderne Wirtschafts-und Lebensformen. Wir wünschen diese Einbeziehung der ländlichen Gebiete in die städtisch-industriell geprägte Lebensweise heute jedoch nicht im Sinne einer Zersiedlung, sondern in der Schaffung von zentralen Orten und der Konzentration der Mittel auf sogenannte „Förderungsgebiete“

Zwar wird im Verlaufe dieses Verstädterungsprozesses viel „organisch Gewachsenes" zerstört, das Siedlungsbild der Dörfer wird unruhiger, und ältere Dorfbewohner stehen oft etwas hilflos der — wie sie es empfinden — über sie hereinbrechenden „Sturzflut" von Neuerungen gegenüber. Dennoch hat hier jeder die Möglichkeit, in der ihm gewohnten Geborgenheit sich jene Neuerungen auszusuchen, die er übernehmen will. Ja sogar seine Weigerung, überhaupt irgendwelche Neuerungen zu uvernehmen, wird ihn nicht außen. alb der gewohnten Dorfgesellschaft stellen. Die negativen Effekte dieses Prozesses — vor allem soziale Spannungen zwischen den stärker neuerungswilligen und den mehr traditionalistisch eingestellten Teilen eines Dorfes — sind im allgemeinen minimal. Die einzigen ins Gewicht fallenden negativen Effekte dieses Phänomens sind die sogenannte „Sozialbrache", also die Aufgabe landwirtschaftlichen Kulturlandes zugunsten einer Beschäftigung im Industrie-und Dienstleistungssektor und die „Zersiedelung der Landschaft": die vor allem in Industrieländern immer stärker einsetzende Abwanderung der Städter auf das Land, sei es zum dauernden Wohnen, sei es nur für einige Tage im Wochenendhaus In den Entwick. lungsländern dagegen genießt das „In-der Stadt-Wohnen" höchstes soziales Ansehen, und dadurch wird dort die Landflucht noch zu zätzlich beschleunigt.

Bei dem Urbanisationsprozeß ist eindeutig negativ zu bewerten der sogenannte Primate-City-Effekt. Diese Überkonzentration der politischen, sozialen und ökonomischen Kräfte eines Landes in einer einzigen Stadt schafft eine übergroße Bürde für die Entwicklung des gesamten Landes. Außerdem steigen die Kosten für die Infrastruktur.

V. Bisherige Maßnahmen

Bisher wurden in verschiedenen Ländern bereits eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um negative Urbanisationseffekte zu neutralisieren oder mindestens abzuschwächen. Dabei ist es grundsätzlich so, daß von der Stadt selbst zumeist nur kurz-oder mittelfristige Maßnahmen ergriffen werden können. Hier ist das Feld der Gemeindepolitiker, der Stadtverwalter, Sozialplaner, Soziologen, Architekten und Psychologen Sie können allerdings kaum etwas gegen den Primate-City-Effekt tun, sie können kaum das Tempo des Stadtwachstums beeinflussen und genausowenig das Slum-wachstum. Sie können nur, wie schon erwähnt, versuchen, die negativen Effekte dieser Prozesse zu erleichtern oder zu neutralisieren. 1. Das sowjetische Beispiel Das extremste Beispiel einer bewußten Planung der Urbanisation im allgemeinen und des Slumwachstums im besonderen bietet Rußland zur Zeit Stalins. Jeder, der in einer Stadt Arbeit gefunden hatte, mußte sich mit einem Paß ausstatten lassen, einer Art Wohnerlaubnis für die Stadt, in der er die Arbeit gefunden hatte. Wer bei den häufigen Polizei-razzien in den Slums keinen derartigen Paß vorweisen konnte, wurde verhaftet und später zwangsweise in sein Dorf zurücktransportiert. Da aber diese Praxis auf die Dauer Polizei und Verwaltung zu stark belastete, ließen sich Stalins Planer noch ein weiteres Mittel einfallen, um unkontrolliertes Stadt-und Slumwachstum einzuschränken: Jede Stadt durfte jährlich nur soviel neuen „Schlafraum" (rd. 4— 5 qm Netto-Wohnraum je Kopf) bauen, wie benötigt wurde, um die laut Plan notwendigen zusätzlichen Arbeitskräfte unterzubringen. Dieses Steuerungsinstrument war ausgesprochen wirksam. Diejenigen nämlich, die zu Beginn des strengen russischen Winters keine Unterkunft gefunden hatten, waren gezwungen, von selbst in ihre Dörfer zurückzukehren. Mit diesen Maßnahmen konnte das Slumwachstum unter Kontrolle gehalten werden

Diese Methoden waren aber nur anwendbar unter den besonders harten stalinistischen Bedingungen, wo Menschen umhergeschoben wurden wie Güter, ohne Rücksicht auf irgend etwas anderes als auf die ökonomischen Notwendigkeiten der Entwicklungspläne. Sie sind nicht anwendbar in den heutigen Entwicklungsländern, da es kaum Regierungen gibt, die bereit wären, die Menschen derart rigoros und straff an die Planforderungen zu binden. Die einzigen Länder, die heute ähnliche Methoden benutzen, sind Südafrika und Tansania; Kenia scheint derartige Maßnahmen ernsthaft zu erwägen

Selbst die heutige sowjetische Regierung ist von diesen Methoden abgerückt. Die Volkszählung des Jahres 1970 zeigte, daß in den letzten zehn Jahren eine wider Erwarten große Wanderung aus Sibirien, dem Ural und dem russischen Fernen Osten in den bereits überbevölkerten, aber attraktiveren Süden stattgefunden hat. Die daraus resultierende Arbeitskräfteknappheit in den entfernten Gegenden wird die Ausführung zahlreicher Industrie-projekte, die in dem jetzt laufenden 20-Jahres-Plan für Sibirien vorgesehen sind, gefährden. Trotz dieser Schwierigkeit hat die gegenwärtige Regierung aber — genauso wie die Regierung Chruschtschow schon früher — beschlossen, eher „kapitalistische" Methoden wie Subventionen, höhere Löhne, verschiedene Steuerprivilegien und andere Anreize zu benutzen, um die Menschen in die nur spärlich besiedelten Gebiete Sibiriens zurückzulenken 2. Wohnprogramme Verschiedene Städte sowohl in den Entwicklungs-wie in den Industrieländern versuchen, ihre Slumprobleme nicht mehr durch die sich zumeist als Fehlschlag erweisende zwangsweise Repatriierung oder gewaltsame Slum-sanierung zu beseitigen, sondern durch neue Wohnprogramme zu lösen. Dies ist durchaus sinnvoll — vorausgesetzt, daß die Häuser nach den Vorstellungen der Menschen errichtet werden, die später darin wohnen sollen und nicht ausschließlich nach den Vorstellungen der Planer, die meistens aus der Mittelschicht stammen. Besonders in Entwicklungsländern hat es sich gezeigt, daß, wo dieser Grundsatz nicht beachtet wurde, die Slum-bewohner sich im allgemeinen weigerten, in die neu errichteten Häuser einzuziehen. Deshalb ist für die Durchführung von sozialen Wohnungsbauprogrammen in Entwicklungsländern heute die Mitwirkung von Soziologen unabdingbar. 3-Städtisches Community Development Ein veränderter Slum — besonders mit äußerlich sichtbaren Verbesserungen wie z. B. neuen Häusern — wird im allgemeinen noch mehr Zuwanderer aus ländlichen Gebieten anziehen. Dies gilt besonders für die heutigen Entwicklungsländer. Wer also die Landflucht bremsen will, darf nicht gleichzeitig die Slums verbessern. Zumindest erscheinen Einrichtungen im Stile des Community Develop——-------ment eher empfehlenswert. Dabei ist im Grunde unwichtig, ob diese Maßnahmen als Programm ausgeführt werden oder als einzelne Aktionen und ob ihre Durchführung auf der Basis einer Community-Development-Ideologie stattfindet oder nicht. Ein gebündeltes Programm ist vielleicht erfolgreicher. Andererseits kann es aber sein, daß die Fähigkeit der Slumbewohner, zu verstehen, was eigentlich vorgeht, durch ein Programm überbeansprucht wird. Ungerechtfertigte Verdächtigungen und Mißtrauen werden geweckt, und der Wille zur Zusammenarbeit ist von vornherein gelähmt.

Nur das städtische Community Development scheint in der Lage zu sein, die Denkweisen der Slumbewohner positiv zu verändern. Deshalb sollte heute jedes Wohnungsbauprogramm mit einem städtischen Community-Development-Programm gekoppelt sein. In einigen Ländern, z. B. in Hongkong, hat sich dieses Vorgehen bereits als sehr erfolgreich erwiesen. Dabei geht es im wesentlichen um folgende Maßnahmen:

1. Einrichtung von Erziehungsgenossenschaften, die Schulen bauen und einen Lehrer finanzieren können. Dadurch sinkt die Jugendkriminalität, die Lernzeit der späteren Stadtbewohner wir besser ausgenutzt und viele Mißverständnisse über die Außenwelt können geklärt werden.

2. Die Slums erhalten eine Form politischer Repräsentation, z. B. Slumgemeinderäte. Die vikas mandals in Indien, die mohalas in Pakistan oder die Barrio-Räte auf den Philippinen scheinen erste vielversprechende Versuche in dieser Richtung zu sein.

Die städtische Community-Development-Organisation Pakistans hat für je etwa 10 000 Menschen, also rund 1300 Familien, je einen weiblichen und einen männlichen mohala-Fürsorger eingesetzt; die bisherigen Erfolge sind ermutigend. Ähnliche Ansätze finden sich bei den indischen vikas mandels. Auf den Philippinen werden die Barrio-Räte der Slums auf der Basis von Straßenblocks als Nachbarschaften organisiert. Die Blocks können frei wählen, welchem der umliegenden Stadtteile sie verwaltungsmäßig angegliedert werden wollen. Dadurch ist es ihnen möglich, sich in den Verhandlungen mit den Vertretern der einzelnen Stadtteile, die der Entscheidung vorausgehen, politische Vorteile von den Stadtteil-räten auszuhandeln. 3. Um Mißverständnisse über die Außenwelt und speziell über die Absichten der Regierung, über das, was „die da oben" wollen, auszuräumen, scheinen sich staatsbürgerliche Erziehungszentren zu bewähren. Sie sind mit mobilen Puppentheatern auf Lastwagen ausgestattet und versuchen, durch Spiele mit stereotypisierten Charakteren (z. B. traditionsverhafteter Vater, fortschrittlicher Sohn) städtische und staatsbürgerliche Werte zu lehren. Puppenspiele solcher Art lassen sich natürlich leichter durchführen in Ländern mit einer langen Tradition, wie z. B. in Indonesien oder China. Dieses Instrument läßt sich aber offenbar auch in anderen Ländern anwenden, wie beispielsweise erste gute Erfahrungen in Ghana bewiesen haben. 4. Gesundheits-und Sanitärgenossenschaften können gegründet und von staatlicher Seite subventioniert werden Sie können einen Gesundheitsposten im Slum errichten, der gleichzeitig Instruktionen über Mütter-und Kinder-versorgung, Hygienemaßnahmen usw. geben kann. Außerdem kann eine solche Genossenschaft eine regelmäßige Straßenreinigung sowie eine Müll-und Fäkalienabfuhr organisieren, wie dies beispielsweise die pakistanischen mohalas tun. 5. Genossenschaftlich geführte Läden für Güter des täglichen Bedarfs haben sich in manchen Gebieten ebenfalls bewährt. 6. Frauenverbände in Slums können stark zur sozialen Integration, zur Einführung sanitärer Maßnahmen und zur Weitung der Bildung in den Familien beitragen. 7. Unterstützungsmaßnahmen für Wohnungsbau-Programme in Eigeninitiative der Slum-bewohner haben sich als erfolgreich erwiesen. Slumbewohner werden bei solchen Programmen dazu angehalten, in Raten zu bauen, das heißt, sie sparen kleinere Beträge und kaufen dafür von Zeit zu Zeit Baumaterial, so daß das Haus in aufeinander folgenden Phasen errichtet wird. Bei anderen Programmen legt die Regierung ein Netz von Straßen und Versorgungseinrichtungen (Wasser-, Elektrizitätsleitungen etc.) für eine neue Siedlung an. Dann werden die Bauplätze gegen Zahlung niedrigster Jahresraten verkauft, und jeder kann sich auf seinem Platz ein Heim nach eigenen Vorstellungen errichten. 8. Sanierungsprogramme haben sich ebenfalls — besonders in dicht bevölkerten Slums — bewährt. Hier werden Dächer erneuert, Fenster vergrößert, die Häuser neu gestrichen und sanitäre Verbesserungen durchgeführt. Die Regierungen subventionieren im allgemeinen die Produktion wichtiger Haus-und Gebäudeteile, von Dachmaterial, von vorgefertigten Wänden und elementaren sanitären Einrichtungen. Verschiedene Kleinkreditsysteme oder Baugenossenschaften erleichtern den Erwerb solcher Teile.

9. Fürsorger können eine Art „dingliche" Einkommenspolitik durchführen, das heißt, beschränkte Mengen von Baumaterial werden unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Mit ihnen können die Slumbewohner ihre Häuser verbessern, Elektrizitäts-und Wasseranschlüsse in ihr Haus legen, ihre Straßen und ihre Gehwege verbessern usw. 4. Langfristige Maßnahmen Alle bisher aufgeführten Maßnahmen können nur dazu dienen, im Urbanisationsprozeß auftretende Engpässe zu mildern. Sie alle sind mehr kurativer als präventiver Natur. Die vorbeugenden, langfristigen Maßnahmen müssen fast alle nicht in den Städten, sondern in den ländlichen Gebieten ansetzen. Wirtschaftliche Förderung ländlicher Gebiete im weitesten Sinne, z. B. ländliche Elektrifizierung, Ausweitung der ländlichen Wasserversorgung und der ländlichen Industrialisierung, die Förderung ländlichen Gewerbes usw. binden wenigstens Teile der Landbevölkerung, hemmen dadurch die Landflucht und verlangsamen so das Wachstum der Städte, insbesondere der Slums, und beugen auch dem Entstehen einer Primate-City vor.

Unter kurz-bzw. mittelfristigen Aspekten ist diese regionale Ausgleichspolitik im engeren Sinne nicht wirtschaftlich — es kann wenigstens nicht bewiesen werden, daß sie wirtschaftlich ist, da ihr Verlangsamungseffekt auf das Stadtwachstum bisher nicht gemessen werden kann. Sie ist aber sicher effizient unter langfristigen Perspektiven, besonders da allem schon die Vermeidung oder Neutralisierung des Primate-City-Effekts auf lange Sicht einen großen wirtschaftlichen Vorteil darstellt. Allerdings kann nicht die Entwicklung aller ländlichen Regionen als Zielvorstellung geplant werden. Es müssen vielmehr bestimmte Gebiete und innerhalb dieser Regionen bestimmte Zentren ausgewählt werden, die intensiv gefördert werden sollen. Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, daß nur derartig konzentrierte Förderprogramme eine Erfolgschance haben. Mit den begrenzten finanziellen Mitteln, die den meisten Ländern zur Verfügung stehen, kann die Wirkung solcher Programme nur dann schnell und durchschlagend sein, wenn man sich auf gewisse Prioritätsregionen konzentriert. Die Frage, nach welchen Kriterien diese Regionen ausgewählt werden sollen, ist von Land zu Land verschieden und enthält eine Menge politischen Zündstoffs

VI. Offene Fragen

Es gibt noch viele offene Fragen in Verbindung mit der Urbanisation und der Abwanderung der ländlichen Bevölkerung in die Städte. Einige dieser Fragen wären: 1. Gibt es eine optimale Stadtgröße und wie läßt sie sich definieren? 2. Wie steigen die Kosten sowohl in Geld wie in „Human Wastage", wenn dieses Optimum überschritten wird? 3. Welche Industrien und Institutionen sind am besten geeignet, die Bevölkerung auf dem Land zurückzuhalten? 4. Welche Berufe, Dienstleistungs-und Versorgungseinrichtungen sind strategisch entscheidend, um eine ländliche Stadt genauso attraktiv zu machen für potentielle Abwanderer wie die großen Städte? 5. Welche anderen standortlichen und regionalen Faktoren sind strategisch wichtig, um erfolgreich eine neue Stadt zu schaffen, die die bereits bestehenden großen Städte aufwiegen kann? 6. Was sind die Motivationen der Wanderer? Welche ihrer Motivationen und Wertvorstel-lungen geben sie leicht auf, welche werden sie überhaupt nicht aufzugeben bereit sein? 7. Ist es möglich, soziale Wohnungsbauprogramme mit typisierten vorgefertigten Häusern durchzuführen, die finanziert werden mit Hilfe der Regierung und gesetzlich erzwungenen Beiträgen der Industrie (z. B. nach der Anzahl von Arbeitskräften)? Ist es möglich, autonome Körperschaften der Arbeiter (z. B. Gewerkschaften) für die Ausführung solcher Wohnungsbauprogramme zu interessieren? 8. Gibt es in der Stadt andere Orte außer den Slums, wo die Zuwanderer den Lebensstil aufrechterhalten können, den sie wünschen? Falls dies nicht der Fall ist, könnten solche Orte errichtet werden. Oder ist es besser, die Slums so zu lassen, wie sie sind, und nur zu versuchen, sie etwas mehr den modernen Standards von staatsbürgerlichem Verhalten und Hygiene anzupassen? Wie weit kann eine solche Anpassung gehen, bevor sie mit den traditionellen Standards der Slumbewohner in Konflikt kommt?

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. z. B. D. J. Dwyer, Urban Squatters: the somevanc v°f the Hong Kong experience, in: Asian nrVeY,' X, 1970, S. 607— 613; Gerhard Lindauer, vänonesiens Engpässe: Infrastruktur und Uberbeverung, in: Indo Asia, 1969, S. 337— 339.

  2. Vgl.auch Gerhard Lindauer, Beiträge zur Erfas-Stu. 0 er Verstädterung in ländlichen Räumen, S. 912ter Geogr. Studien, Bd. 80, Stuttgart 1970,

  3. Marshall B. Clinard, Slums and Communit{ Development. Experiments in Self-Help, New ior und London 1966, S. 5 f.

  4. Terrence Morris, The Criminal Area. Astu in Social Ecology, London 1957, passim.

  5. M. B. Clinard, a. a. O„ S. 9.

  6. M. B. Clinard, a. a. O., S. 9 f.

  7. Walter Firey, Land Use in Central Boston, Cambridge (Mass.) 1947, S. 179; William F. Whyte, Street Corner Society, Chicago 1943, S. XV.

  8. Eugen Wirth in einem Diskussionsbeitrag zu Christoph Borcherdt, Städtewachstum und Agrarreform in Venezuela, in: Deutscher Geographen-tag Bad Godesberg 1967, Wiesbaden 1969, S. 195— 198.

  9. Vgl. Gerhard Lindauer, Zur Problematik der Abgrenzung von Fördergebieten am Beispiel Baden-Württembergs, in: Archiv für Kommunalwissensdiaften, Jg. 9, 1970, S. 288— 295.

  10. Vgl. Steffan Helmfried, Zur Geographie einer mobilen Gesellschaft. Gedanken zur Entwicklung in Schweden, in: Geogr. Rundschau, 20. • S. 445— 451; Wolfgang Meckelein, Entwicklungstendenzen der Kulturlandschaft im Industriezeitalter, in: Techn. Hochschule Stuttgart, Reden un Aufsätze 32, 1965, S. 35— 38.

  11. Vgl. dazu ausführlich Albrecht Kruse — Rodene acker, Der sowjetische Wohnungsbau, Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, Sonderheft, N r Nr. 58, Berlin 1961, passim.

  12. John R. Harris u. Michael P. Todaro, Migration, Unemployment and Development: A Twotsectx Analysis, in: American Economic Review, Bd. 1 1970, S. 135.

  13. W. Perevedentschew, Migrazija naselenija i nPoIsowanje trudovich resursow, in: Woprosy Eko-nomiki, Bd. 9, 1970, S. 34.

  14. Vgl. dazu Wolfgang Tratzki, Gerhard Lindauer, u. a.: Wege der Dorfentwicklung, in: Schmöllers Jahrbuch, Bd. 86, 1966, S. 451— 453.

  15. Vgl. auch Gerhard Lindauer, Zur Problematik der Abgrenzung von Fördergebieten am Beispiel Baden-Württembergs, a. a. O., S. 288— 301.

Weitere Inhalte

Gerhard D. Lindauer, Dr. phil., geboren 1938 in Karlsruhe. 1962 Staatsexamen in Geographie, Englisch und Latein; postgraduateStudium am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik, Berlin. Seit 1966 wissenschaftlicher Assistent am Institut für Sozialökonomie der Universität Stuttgart, 1969 Promotion. Mehrere Forschungsaufenthalte in Entwicklungsländern. Veröffentlichungen: zahlreiche Zeitschriften-aufsätze vor allem zu Problemen der Raum-ordnung und der Bevölkerungsstruktur in Entwicklungsländern.