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Innenpolitische Blockbildungen am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Gewidmet Hans Herzfeld zum 80. Geburtstag | APuZ 20/1972 | bpb.de

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APuZ 20/1972 Innenpolitische Blockbildungen am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Gewidmet Hans Herzfeld zum 80. Geburtstag Zur politischen Relevanz historischer Theorien. Die Imperialismus-Diskussion im Schatten des Kalten Krieges Mason, Czichon und die historische Wahrheit

Innenpolitische Blockbildungen am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Gewidmet Hans Herzfeld zum 80. Geburtstag

Gustav Schmidt

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Zusammenfassung

Eine Blockbildung bezeichnet die Polarisierung der gesellschaftlichen Kräfte in Freund-Feind-Formationen. Der Begriff kann zum Verständnis der innenpolitischen Situation in Deutschland in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg insofern beitragen, als er sowohl auf den tendenziellen Klassenkampfcharakter in der Politik des wilhelminischen Deutschland wie auch auf das Scheitern der Reformbewegungen hinweist. In methodischer Hinsicht ist die Begriffskonstruktion „Blockbildung — Blockieren" vielleicht geeignet, das schwierige Problem zu lösen, wie man den Stellenwert der gesellschaftlich organisierten Interessen einerseits und zum anderen der traditionellen Führungsgruppen in der politischen Gesamtkonstellation vor 1914 analytisch bestimmen kann. Die Konzeption der Blockbildung setzt die politisch-taktischen Zusammenschlüsse im Reichstag in der Endphase des Bismarck-Reiches mit der Entstehung von wirtschaftlichen und sozialen Interessenkonflikten und den ihnen entsprechenden Gruppenbildungen in eine Beziehung. Sie stützt sich auf die Beobachtung, daß die sozialen Spannungen schärfer ausgeprägt waren als die politischen Gegensätze, daß aber die soziale Polarisation offenbar nicht unmittelbar in den politischen Bereich hinein verlagert werden konnte. Die Darstellung untersucht die Machtchancen der jeweiligen Blöcke, ihre Nähe oder Ferne zu den dominierenden Machteliten, den Einfluß der Blöcke auf das politische Verhalten der Reichsleitung und die Möglichkeiten der Blöcke, ihren Willen zur Macht durch die Mobilisierung einer breiten Anhängerschaft zu legitimieren.

Vor einigen Jahren lenkten Bücher wie Eycks „Das persönliche Regiment Wilhelms II." oder Görlitz’ „Regierte der Kaiser" die Diskussion auf das Thema, wer eigentlich in Deutschland am Vorabend des Weltkrieges regierte. Fischers Analysen der politischen und gesellschaftlichen Machtstrukturen, die seine Deutung der Kriegsziele des deutschen Imperialismus als Griff nach der Weltmacht stützen sollen, und Studien aus seiner Schule (Böhme, Witt, Stegmann) über die Phasen der Sammlungspolitik, die eine Kontinuität der Träger-schichten einer Politik der Anmaßung und Maßlosigkeit vor Augen führen wollen, beanspruchen zwar, die Machteliten und Entscheidungsträger in Deutschland beim richtigen Namen zu nennen, leisten das aber tatsächlich nicht

Selbst die DDR-Literatur, die bis Anfang der 60er Jahre mit eindeutigen Antworten auf die Frage, wer die deutsche Politik im Wilhelminischen Reich bestimmte, aufwartete, zeigt in den letzten Jahren durch eine nuancenreichere Beurteilung der herrschenden Klassen eine gewisse Unsicherheit an. Statt zur fadenscheinigen These vom Verrat oder von der Kor-rumpierung der sogenannten Arbeiteraristokratie, der Revisionisten und Reformisten, der Gewerkschaftsführung und des Parteizentrums Zuflucht zu nehmen, spricht die neuere DDR-Literatur fast durchweg vom Gegensatz zwischen den älteren Industrien (Montanindustrien) und den jüngeren Aufschwungindustrien (Maschinenbau, Elektroindustrie, chemische Industrien, Fertigwarenexport-Industrie); sie bringt die Reichsleitung in Verbindung mit der zweiten Gruppierung. Sie bescheinigt dieser Gruppierung geschickte soziale Operationskünste und eine erfolgreiche Ködertaktik. Die Konstruktion eines Kräftefeldes Regierung— Aufschwungindustrien — Arbeiteraristokratie soll die Zugeständnisse des Staates an die Gewerkschaften im Ersten Weltkrieg und die Bündnisse Ebert—Groener und Stinnes—Legien in der Gründungsphase der Weimarer Republik erklären. In der Auswertung der in der DDR befindlichen Quellen unterscheidet sich diese neuere Forschungsrichtung wesentlich von den polemisch-primitiven Verratsthesen, mit denen die DDR-Historiographie in den Jahren 1956— 64 zu erklären versuchte, warum die Entwicklung der Produktionsverhältnisse gerade nicht zum offenen und verschärften Klassenkampf geführt hatte; die neuere Forschung entdeckt Mittel und Wege, mit denen es dem „Kapitalismus" gelang, Kräfte im Gegenlager freizusetzen und sein Dasein mit deren Hilfe zu retten oder zu verlängern

Machteliten und Entscheidungsträger sind also noch nicht eindeutig bestimmt. Im Unterschied zu Fischer und der DDR-Literatur muß die Analyse vor allem über die Frage, wer in Deutschland mächtig war, hinausführen zur Analyse der politischen Verfassungsstruktur, und zwar unter dem Aspekt, ob Macht und Einfluß besitzen bzw. ausüben identisch ist mit „Regieren". Jede Neuaufnahme des Themas wird sich in erster Linie mit den methodischen Kalküls der genannten Forschungsrichtungen auseinandersetzen müssen, da diese nahezu voraus haben. ein Quellenmonopol Meine Darlegungen erheben nicht den Anspruch einer detaillierten, umfassenden Gegen-analyse, sondern sind in erster Linie darauf gerichtet, die methodischen Ansätze Fischers kritisch zu beleuchten und ihnen eigene Beobachtungen und Denkansätze entgegenzustellen. Den Anstoß zur Wiederaufnahme dieser in der Forschung seit langem behandelten Thematik bildet die Frage, die sich nach der Lektüre dieser Arbeiten aufdrängt, nämlich die nach dem Wirkungszusammenhang zwischen der wechselseitigen Blockierung der Einflußgruppen und den innenpolitischen Blockbildungen: „(Die) Lage (wurde) in den letzten Vorkriegsjahren erst dadurch so kritisdi, daß sich die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte bei den zahlreichen Reformversuchen immer wieder gegenseitig blockierten und aufgrund ihrer jeweiligen Position im Machtgefüge des Reiches blokkieren konnten."

Im Zeitalter des durch die Ausbildung eines komplizierten Systems der Gruppenpolitik gekennzeichneten Interventionsstaates im allgemeinen und begünstigt durch die nach Bismarcks innenpolitischer Wendung von 1878/79 gezeitigten Folgewirkungen der Verwirtschäftlichung der Politik im besonderen bestand in Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs eine verfassungspolitische Situation, in der nahezu jeder politische Machtfaktor die anderen Formationen gesellschaftlich-politischer Interessen blockieren konnte, ohne sich für den dadurch bedingten Gesamtzustand verantwortlich zu fühlen oder für ihn verantwortlich gemacht werden zu können. Der mannigfach bedingte Ausfall der Reichsleitung in der Erfüllung ihrer zentralen Rolle im Bismarck-sehen Verfassungssystem verhalf einem allgemeinen europäischen Trend in Deutschland vorzeitig und nachhaltig zum Durchbruch.

Unbestrittene und unbestreitbare Aussagen des wie die, daß die Aktionen Reiches auf innen-und außenpolitischem Gebiet verworren und planlos erscheinen oder daß es in der Ära Bethmann Hollweg offenbar keine zentralen Streitfragen oder Themen gab, aber auch die Vielfalt der einander suchenden und wieder abstoßenden gesellschaftlichen Kräfte und Interessen legen die Vermutung nahe, daß das Wortspiel von „Blockbildung" und „Blockieren" den Schlüssel zum Verständnis der deutschen Politik in den letzten Vorkriegsjahren bieten könnte. In dem Bezugsrahmen „Block— Blockieren" kann man sowohl den tendenziellen Klassenkampfcharakter der Politik des Wilhelminischen Deutschland als auch das Bewußtsein, in einer Sackgasse zu stecken, sowie das Scheitern der Reformkonzeptionen und Reformbewegungen erfassen. Der Blockgedanke suggeriert die Polarisierung der gesellschaftlichen Kräfte in Freund-Feind-Formationen, denen schon die Zeitgenossen die verschiedensten Namen gaben, aber auch die Unfähigkeit, zielgerichtete Bewegung ins politische Leben zu bringen. Das Begriffspaar „Blockbildung— Blockieren" vermag vielleicht den Unterschied zwischen einer schleichend-schwelenden Verfassungskrise und einer vorrevolutionären Situation zu erklären. Das Begriffspaar stützt sich auf die Beobachtung, daß die sozialen Spannungen schärfer ausgeprägt waren als die politischen Gegensätze und daß die soziale Polarisation offenbar nicht unmittelbar in den politischen Bereich hinein verlagert wurde. In methodischer Hinsicht ist die Behelfskonstruktion „Blockbildung—Blockieren" vielleicht am ehesten geeignet, das schwierige Problem zu lösen, wie man den Stellenwert der organisierten Interessen (Parteien und Verbände) sowie der formellen und informellen zivilen und militärischen Gremien in der politischen Gesamt-konstellation vor 1914 mit analytischen Mitteln bestimmen könne Denn sie berücksichtigt die Funktion des Reichstags als Spiegelbild und Forum der Gegensätze zwischen den Beharrungskräften und den Demokratisierungsbestrebungen (Reformtendenzen) und trägt zugleich den organisierten gesellschafts-politischen Interessen Rechnung, die teils wie der Bund der Landwirte oder der Centralverein Deutscher Industrieller unter Ausnutzung der Einflußchancen, die das konstitutionelle System bot, — d. h. durch direkte Einwirkung auf Regierung und Öffentlichkeit Politik machen und der Parlamentarisierung der Reichsverfassung entgegenwirken wollten -—, teils wie die bürgerlichen Reformer, die Reformisten in der SPD oder auch der Hansabund den politischen Auftrag und die politische Verantwortung der Parteien und des Parlaments wiederhergestellt sehen wollten.

Die Konzeption „Blockbildung—Blockieren" geht davon aus, daß die hinter den Etiketten „Preußen", „Kaiser", „Militär" und „Bürokratie" verborgenen sozialen Kräfte und Einflüsse, die sogenannten staatstragenden Schichten,, einen Machtvorsprung innehatten; sie berücksichtigt aber ebenso die Entwicklung, daß — nach Bismarcks Abgang vollends sichtbar — gesellschaftliche Kräfteformationen angesichts der Ressortkonflikte und der Unsicherheit unter den Führungskräften mit dem Anspruch auftraten, den Kurs des führungslosen Staats-Schiffes bestimmen zu müssen.

Die Konzeption der Blockbildung setzt die politisch-taktischen Zusammenschlüsse im Reichstag in der Endphase des Bismarck-Reiches (Bülow-Block; Schwarz-Blauer Block, Linksblock anläßlich der Reichsfinanzreform) mit den wirtschaftlichen und sozialen Interessenkonflikten (im Bereich der Steuer-und Zollpolitik, der Gewerbegesetzgebung, der Handelsbeziehungen etc.) und den ihnen entsprechenden Gruppenbildungen in eine Beziehung. Es besteht damit die Hoffnung, von diesem Interpretationsansatz her über die stagnierende Diskussion, ob die Parlamentarisierungsbestrebungen die schwächere Politik gegenüber der Politik der rechten Sammlungsbewegungen (so Fischer), der konterrevolutionären, präfaschistischen Tendenzen (so Stegmann, Wehler, Stürmer) bzw.der präventiven Konterrevolution (so Puhle) darstellten, zu der Ausgangsfrage zurückzugelangen, wo in Deutschland Politik gemacht wurde und wer an den entscheidenden Weichenstellungen beteiligt war.

Berücksichtigt man, daß unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts kein Parlament „Politik machen kann", daß auf der anderen Seite aber auch im kaiserlichen Deutschland die „alten" Machtträger (Kaiser, preußische Bürokratie, Militär) nicht mehr in der Lage waren, die Bedingungen eines Arrangements mit anderen gesellschaftlichen Kräften nach eigenem Gutdünken und zur Kompromittierung ihrer bürgerlichen Verbündeten zu diktieren, so wird die Relevanz der Frage nach den Blockbildungen, d. h. nach den politischen Kraft-feldern und deren Stellenwert im Gesamtspektrum der deutschen Politik einsichtig.

Die folgende Skizzierung der Blockbildungen ist ein erster Schritt zur Bestimmung des Stellenwerts der gesellschaftlich-politischen Kräfte, ihrer Interessen, ihrer Prioritäten und Präferenzen, ihrer Zugehörigkeit zu einem der Lager, die politisch wirksam sein wollten. Eine ausführliche Behandlung dieser Frage wäre nicht zu trennen von der Einschätzung der Machtchancen dieser Blöcke, ihrer Nähe oder Ferne zu den bislang dominierenden Macht-eliten, des Einflusses der Blöcke auf das politische Verhalten der Reichsleitung und der Möglichkeiten für die Blöcke, ihren Willen zur Macht durch Mobilisierung einer breiten Anhängerschaft demokratisch zu legitimieren.

Die Blockbildung im Urteil der Zeitgenossen

Abbildung 1

Die Blockbildung wurde von den Kritikern des Wilhelminischen Deutschland bzw.den Reformkräften in den letzten Vorkriegsjahren positiv gewertet. Ebenso wie Naumann begrüßten L. Frank oder die Jungliberalen, aber auch Befürworter einer liberal-konservativen Politik wie die Historiker Oncken und Meinecke jedes Anzeichen einer Neugruppierung oder der gegenseitigen Annäherung zwischen verwandten Meinungs-und Interessengruppen. Die als Drohung gemeinte Ankündigung aus Kreisen der Zentrumsführer (Hertling, Spahn, aber auch Erzberger), die parlamentarisch ausschlaggebende Partei würde sich mit den Konservativen gegen den „Großblock" von Bebel bis Bassermann verbünden, erschien ihnen wie der Auftakt zur langersehnten Flurbereinigung im deutschen Parteienspektrum. Denn das Zusammengehen der konservativen Kräfte im „Schwarz-Blauen Block" hätte das Bürgertum zur Parteinahme gezwungen und denjenigen liberalen Politikern Rückendeckung verschaffen müssen, die spätestens seit derAuflösung des Bülow-Blocks infolge der Krise um die Reichsfinanzreform die Regierung zu einer sozialliberalen Politik drängten. Würde die Konfrontation „Großblock" -,, Schwarz-Blauer Block" zustande kommen, so sahen sie die Stunde nicht mehr fern, in der das Bürgertum begreifen würde, daß die Gefahr weniger von der SPD als von den Konservativen drohe. Hatten die Gewerbestatistiken die Revisionismus-Debatte in der SPD angeregt und das Plädoyer der Reformisten für eine flexible Partei-Strategie begründet, so wirkte die Diskrepanz zwischen der sinkenden Bedeutung der Landwirtschaft und der bleibenden Positionen der „Krautjunker" in der politischen Machtstruktur als Ansporn für bürgerliche Reformer, den Stellungskampf gegen die agrarischen Konsevativen zu organisieren. Das erfolgte zumeist über Hansabund und Bauernbund und durch Zusammenwirken der liberalen Fraktionen untereinander und mit dem Zentrum oder der SPD. Die Reformer wurden nicht müde, bestimmte Thesen in immer neuer Abwandlung zu verbreiten: daß die Bürgerlichen stärker seien als sie dächten und daher aufhören sollten, die Macht der Konservativen zu überschätzen; daß die Konservativen in sich uneinig und nervös seien; daß selbst ein Bismarck heute (um 1912) nicht mehr in der Lage sein würde, einen Verfassungskonflikt erfolgreich für Krone und Heer zu beenden In den Jubiläumsreden bürgerlicher Honoratioren (1913) hatte das Herausstellen des Blockgedankens die Aufgabe, gleichgesinnte Interessen und Meinungsgruppen der Mitte und der Linken zur Sammlung aufzurufen und damit die überfällige Wachablösung in der deutschen Politik einzuleiten Gemeint war damit in erster Linie eine Liberalisierung der Personalpolitik und Verwaltung und das Unterbinden von Gesetzgebungsverfahren, die mit materiellen Konzessionen an die Besitzenden abschlossen.

Die Macht-und Einflußchancen der Blöcke in den letzten Friedensjähren

In Übereinstimmung mit dieser zeitgenössischen Lagebeurteilung geht auch meine Deutung der politischen Konstellation von der Beobachtung aus, daß sich in Deutschland nach 1912, wie in der frühen Caprivizeit, annähernd gleiche Startbedingungen für einen Rechts-wie für einen Linksblock als Partner bzw. soziale Stützmacht der Regierung abzuzeichnen begannen Aufgrund der zunehmenden politischen Isolierung der Deutsch-Konservativen Partei im Reich (zumindest aber im Reichstag) und der Richtungskämpfe zwischen Agrar-und Industrieverbänden und innerhalb des Centralverbandes Deutscher Industrieller sowie aufgrund der Spannungen zwischen Reichsleitung und „nationaler Opposition" be-stand für die Rechte in steigendem Maße die Notwendigkeit, sich durch Zusammenschluß und organisierte Macht Einflußkanäle zu schaffen bzw. offenzuhalten. Denn den Amtsträgern in Preußen-Deutschland, vor allem der Reichsleitung Bethmann Hollweg—Delbrück war die Rücksichtnahme auf die Konservativen als staatstragende Schicht nicht mehr so selbstverständlich wie vor 1912 Das heißt aber noch nicht, daß die Regierung gewillt war, die Brükken nach rechts abzureißen oder Anlehnung nach links zu suchen: lediglich die Chance, daß die Reichsleitung sich bereitfinden würde oder aufgrund des Wahlergebnisses von 1912 und des gespannten Verhältnisses zwischen Zentrum und Konservativen bereitfinden müsse, mit einem Linksblock statt mit einer Sammlung der Rechten zu regieren, erhielt einen höheren Realitätsgehalt als zur Zeit Caprivis. Mein Deutungsschema beruht auf der Beobachtung, daß die konservativen Elemente ihren Startvorsprung in der preußisch-deutschen Politik zu verlieren begannen oder diesen zumindest ernsthaft gefährdet sahen. Eine Analyse, die sich — wie die Arbeiten Fischers und seiner Schüler — auf die Beziehungen zwischen Regierung und Rechtskartell konzentriert, aber dabei deren Differenzen in innenpolitischen Fragen unterschätzt, und glaubt, dadurch Träger und Gestalter deutscher Politik vorstellen zu können, übersieht Anzeichen für bedeutsame Änderungen im Verhältnis zwischen den politischen Parteien und Verbänden, besonders zwischen Bürgertum und agrarischen Konservativen. Man darf darüber hinaus von einer Hoffnung oder Selbstverpflichtung der Reformgruppen der Mitte und Linken sprechen, die Lücke in dem von Bismarck hinterlassenen Verfassungssystem zu ihren Gunsten schließen zu können, die durch die offenkundige Schwäche der Reichsleitungen nach Bismarck entstanden war. Die Für-Sprecher einer politischen Neuorientierung — abzulesen an Änderungen der Geschäftsordnung des Reichstags und des preußischen Wahlrechts, die sicherstellen sollten, daß die Regierung im Einvernehmen mit der Reichstagsmehrheit regierte und daß die Mehrheitskoalition ihre Politik mit dem Kurs der Regierung identifizierte — zogen freilich den kürzeren im Konflikt mit den wenigen Interessen, die den Nachholbedarf gegenüber anderen sozialen Schichten den Reformzielen der Linken überordneten. Die Diskrepanz zwischen dem Bestreben, die Regierung auf programmatische und materielle Forderungen der Mehrheitsparteien im 1912 gewählten Reichstag festzulegen, und dem fehlenden Willen zur Macht, d. h. zur Übernahme der Regierungsverantwortung im Sinne der Parlamentarisierung, für das die Reformgruppen in den Mittel-und Linksparteien stritten, wurde in dieser Phase ausgeprägt. Sie fand ihre Fortsetzung in den unglücklich verlaufenden Parlamentarisierungsvorstößen des Interfraktionellen Ausschusses 1917/1918 und in der Gründungsphase der Weimarer Republik.

In einer zweiten Welle der „Realpolitik"

wollten die verfassungspolitisch orientierten Kräfte der linken Mitte die „couleur" der Regierung den eigenen Wünschen annähern, aber die Fehler ihrer Vorgänger, d. h.der National-liberalen in den 70er Jahren und der Freisinnigen in der Caprivi-Ära, wettmachen bzw. vermeiden. Die in jenen Epochen aufgezeigten, aber verpaßten Chancen einer institutionalisierten Zusammenarbeit zwischen Reichskanzler und gemäßigt linker Reichstagsmehrheit bildeten für die Reformer den Ansatzpunkt, den verfassungspolitischen Nachholbedarf zu dekken, und für die Rechte das Trauma, daß eine schwache Regierung — so beurteilte sie das Regiment Wilhelms II. und Bethmann Hollwegs — den Durchbruchserfolg der latenten Reichstagsmehrheit zulassen könnte Im Spannungsfeld dieser Stimmungen erscheint ein Deutungsschema, das mit dem Begriff der Blockbildung (Polarisierung) und der gegenseitigen Blockierung der Macht-und Einflußchancen von rechts und links unter einer schwachen Regierung operiert, als die adäquateste Methode. Sie setzt eine richtige Bestimmung der innenpolitischen Blockbildungen vor-aus und verlangt einen Vergleich des Zusammenhalts und der Aktionsfähigkeit der verschiedenen Blöcke. Das Bild der deutschen Politik um 1913 kann sich nur durch eine Analyse erschließen, die den Blick auf die von Interessenkonflikten, gruppeninternen Problemen, in verschiedene Stoßrichtungen zielenden Operationstaktiken und die durch den Vereinspatriotismus der in den Blöcken versammelten Mitgliederverbände hervorgerufene Krisenanfälligkeit lenkt, die für die Reform-und Emanzipationsbewegungen ebenso kennzeichnend sind wie für die Abwehrstrategie des Rechts-kartells. Die Stärke der Blöcke war sowohl vom eingebrachten politischen und organisatorischen Machtpotential der einzelnen Mitgliederverbände abhängig als auch von der Frontstellung gegen einen gemeinsamen Gegner sowie der Verbindlichkeit und Integrationsfähigkeit der Stiftungsideologie

Brüche im Parlamentarismus-Verständnis

Die Kräfte, die vor 1914 eine stärkere Beteiligung der Parteien an der Regierungsverantwortung gefordert und die Blockbildung als geeignetes Mittel zur Parlamentarisierung und Demokratisierung betrachtet hatten, äußerten in der Situation des Übergangs von der konstitutionellen Monarchie zur „konstitutionellen Demokratie" im Herbst 1918, ihre Befürchtung vor dem Zweiparteiensystem Das ist um so erstaunlicher, als einige der geistigen Väter der Weimarer Verfassung (wie Hugo Preuß, Max Weber, Friedrich Naumann, Conrad Haussmann, FriedrichMeinecke) vor 1914 in Anlehnung an angelsächsische Vorbilder von der Wandlung des deutschen Parteiengefüges zum System (mit) regierender und opponierender, aber regierungsfähiger Parteien den erfolgreichen Eintritt Deutschlands ins Zeitalter der Weltmächte und Weltpolitik erhofft hatten. Mit anderen Worten: sie brandmarkten in der entscheidenden Phase der Verfassungsreform das, was ihnen als Symbol eines modernen leistungsfähigen Verfassungsstaates gegolten hatte, als Gefahr für die künftige deutsche Entwicklung. Während Naumann nach dem sich abzeichnenden Erfolg des Linksblocks bei den Reichstagswahlen von 1912 noch einmal die Parole ausgegeben hatte: „Die Liberalisierung, der Parlamentarismus in Richtung auf das englische Vorbild hin ist das eigentliche Thema des neuen Reichstags" warnten seine Mitstreiter — Preuß, Weber, Meinecke — in den Revolutionsmonaten 1918/1919 vor der Errichtung eines uneingeschränkten parlamen-tarisch-demokratischenRegierungssystems, vor dem, was sie mit dem Etikett „umgekehrte Klassenherrschaft" hinreichend diskreditierten. Man mag die Befürchtung, daß die Machtergreifung der politischen Stiefkinder des Wilhelminischen Reichs eine Unterdrückung der bisherigen herrschenden Klassen nach sich ziehen könnte als Äußerung einer schmalen Gruppe der bürgerlichen Mitte abtun, die vor 1914 vergebens nach der Auflockerung des verkrusteten Machtgefüges gerufen hatte, 1918/1919 nun aber hoffen durfte, bei einem Teil der neuen Machthaber und Amtsträger, vor allem bei Ebert und David, Gehör zu finden. Die im Gefolge des Weltkriegs eingetretenen Veränderungen, vor allem die im Zusammenhang mit dem militärischen Zusammenbruch des Zarenreichs und den russischen Revolutionen erfolgende Ausschaltung der „gewählten demokratischen" Repräsentationsorgane mögen einen hinreichenden Erklärunggrund für die neu auftretenden Brüche im deutschen Verständnis des Parlamentarismus abgeben, dessen Durchsetzung von 1914 als Mittel zum friedlichen Machtwechsel angesehen worden war.

Blockbildung oder Zweiparteiensystem: Konzeption der Mitte

Die widersprüchlichen Meinungsbekundungen der reformwilligen Kräfte des Kaiserreiches vor 1914 und 1918/19 verdeutlichen, daß sie die Parlamentarisierungsfrage — zu verstehen als Symbolwort für Verfassungsreformen — unter dem Aspekt werteten, ob ein verändertes politisches Instrumentarium ein wirksameres Integrationsvermögen und eine größere Stabilität der Staats-und Gesellschaftsordnung verbürgen könne. Sie waren sich darüber im klaren, daß der Funktionswert der von ihnen bevorzugten Institutionen und verfassungsrechtlichen Instrumente von der Breite der sozialen Trägerschichten und deren Machtwillen abhing. Sie betrachteten in diesem Zusammenhang die Blockbildung als Zwischenstufe zur Integration des deutschen Nationalstaats: sie wollten mit der Sammlung der reformwilligen Meinungs-und Interessengruppen zuerst die soziale Basis schaffen, um mit dieser Legitimation Druck und Einfluß auf die Regierung ausüben und eine bessere Koordination von Regierungs-und Volkswillen erzwingen zu können, als es den bislang in der konstitutionellen Monarchie dominierenden Kräften gelingen konnte.

In ihrem Wunschdenken, daß sich die richtigen Kräfte zusammenfinden und die überfällige Wachablösung durchführen würden, hatten sie jedoch den inhärenten Widerspruch in ihrer Konzeption der Blockbildung als Schritt zur Integration der sozialen Kräfte zum handlungsfähigen nationalen Machtstaat übersehen. Die Aversion gegen das Zweiparteiensystem stellte sich prompt in den Momenten ein, in denen die Sammlung und Umgruppierung der politischen Kräfte sich zu einer Konfrontation ausweitete, wobei „Reaktion" und „FortschrittRevolution" unter Ausschluß der reformwilligen, sozialliberalen Kräfte die Konfliktsituation zu bestimmen schienen. Die Reformer hatten vor 1914 die Frage der Blockbildung bzw.

Koalitionsbildung als Machtfrage verstanden;

die Polarisierungstendenzen im Weltkrieg und erst recht in der Phase der Novemberrevolution weckten die Erinnerung an die unfruchtbaren, jedesmal mit dem Sieg der Reaktion endenden Konflikte in den deutschen Verfassungskrisen des 19. Jahrhunderts (1815— 1819, 1848, -1850, 1863).

Die „Mitte" suchte nach einer Form des Regierungssystems, die den Einfluß der extremen Flügelparteien reduzierte, und fand diese in der „konstitutionellenDemokratie" wie sie sich in der Weimarer Verfassung niederschlug. Wie die Fürsprecher des Zusammenwirkens von sozialer und liberaler Demokratie (Mitte-, Linksblock) versuchten auch die radikale Linke mit ihren Aufrufen zur revolutionären Aktionsgemeinschaft von Proletariat und Klein-bauerntum und die Katastrophenstrategen des Kartells der schaffenden Stände auf ihre Art die Einsicht in die Tat umzusetzen, daß Verfassungsfragen Machtfragen und diese ein Problem der Koalitions-Blockbildung seien.

In stärkerem Maße als die Beharrungskräfte auf der Rechten und die Bannerträger des revolutionären Gedankens auf der Linken, die ihr Trachten auf die ungeteilte Herrschaft — notfalls durch Anwendung von Gewalt (Revolution oder Staatsstreich von oben) — richteten, fühlten sich die Reformbewegungen jedoch zum Interessenausgleich veranlaßt, waren aber dadurch in ihrer Aktionsfähigkeit beeinträchtigt und gegenüber den Flügelgruppen benachteiligt. Ihre Zurückhaltung vor 1914, den Über-gang zum parlamentarischen System im Sinne der Regierungsführung durch die Mehrheitsparteien — durch Anwendung der verfügbaren Druckmittel (Budgetrecht) — zu erzwingen, beruhte hauptsächlich auf der Ansicht, daß die Verankerung ihrer Reformziele'nur Abschluß einer Wandlung in den politischen Machtverhältnissen sein könnte.

Gerade die entschiedenen Reformer mit der besten Einsicht in die Funktionsbedingungen eines parlamentarischen Regierungssystems wie Hugo Preuß, Haussmann, Naumann, Erzberger, Bernstein, L. Frank wußten, daß Verschiebungen im Herrschaftsgefüge nur eine Folge von tatsächlichen Machtverschiebungen, genauer: der Bildung einer reformbereiten und regierungsfähigen Koalition der linken und

Mittelparteien sein konnten Die Appelle, mit denen sie den Zusammenschluß bewirken wollten, blieben jedoch vor 1914 ohne die nötige Resonanz. Sie stützten ihre Kalkulationen auf die nicht zu leugnende Fluktuation im Parteiengefüge vor 1914. Die Unsicherheit der Führungsgruppen der bürgerlichen Parteien wie der Reformisten in der SPD über die Standfestigkeit der öffentlichen Meinung und über die Beständigkeit des Wähler-Partei-volkes in Krisensituationen sorgte jedoch dafür, daß die Parteien vor verfassungspolitischen Initiativen zurückscheuten und damit allem Anschein nach alles beim alten blieb. Den gleichen Eindruck erweckten die Erfolge der Flügelparteien, vor allem der Rechten, die es immer wieder vermochten, durch demagogische Meinungsmache Mitläufer aus den bürgerlichen Mittelparteien (Zentrum, National-liberale) zu gewinnen bzw. das Mißtrauen gegen die bürgerlichen Sozialreformer in der Arbeiterpartei wachzuhalten (s. u.).

Nachdem die Formulierung eines Reformblocks von Bebel bis Bassermann wegen einer primär an der Erhaltung der Parteieinheit orientierten Strategie und Taktik der Führungsgruppen der in Betracht kommenden Mitte-Linksparteien nicht zustande kam und damit die Ausbildung des erwünschten Zweiparteiensystems als Basis für die Parlamentarisierung der Reichsverfassung und eines friedlichen Machtwechsels im Ansatz scheiterte, gewann die Konzeption der Mitte eine breitere Resonanz.

Auf dem Hintergrund des allgemeinen, durch den Begriff des Sozialdarwinismus und Imperialismus gekennzeichneten Trends zum Freund-Feind-Denken, und aufgrund des Polarisierungsprozesses, der in Deutschland durch die Vorgänge um die Reichsfinanzreform und den Zabernkonflikt seine konkrete Ausprägung erhielt, bildete sich eine Meinungsformation heraus, die ihre Aufgabe darin erblickte, eine Plattform für die Überwindung des Gegensatzes zwischen den Alternativen: Klassenstaat militant-reaktionärer oder revolutionär-republikanischer Observanz anzubieten, die beide eine Ausschaltung des Parlaments bedeutet hätten. Durch die in den Vorkriegsjähren gesammelte Erfahrung, daß die nationalistische Rechte und die radikale Linke jeden Kompromiß als Weg ins Verderben geißelten und die Alleinherrschaft zu Lasten ihrer Gegner, vor allem aber zu Lasten der Reformer und unentschiedenen Mitte, anstrebten, entstand jene Aversion der reformbereiten Mitte gegen das Zweiparteienschema Die ständig aufgebotenen Formeln vom Kampf gegen die Sozialdemokratie, mit denen der Rechtsblock auf die Verlängerung der Ghetto-Situation der Arbeiterpartei hinzuwirken trachtete, oder das Motto der radikalen Linken vom Kampf der „Republik gegen die Monarchie", unter das sie ihre Kampagne gegen Militarismus und Imperialismus stellte waren für die Reformkräfte Indizien, die das Hineingleiten in eine ausweglose Konfliktsituation anzeigten.

Die Formation der Mitte, die sieb in der Weimarer Koalition und zum Teil bereits im Interfraktionellen Ausschuß der Weltkriegszeit konstituierte, zeichnete sich bereits in der Vorkriegszeit ab. Sie wuchs mit dem Verdruß der Mittel-und Linksparteien über die Unehrlichkeit und den demagogisch manipulativen Nutzwert der Freund-Feind-Ideologie für die reaktionären und links-militanten Gruppen. Indem sich auf der einen Seite die bürgerlichen Parteien von der Sammlungsideologie des Kartells der schaffenden Stände absetzten — ein Prozeß, der mit den Namen Rießer (Hansabund), Stresemann und Bassermann sowie Erzberger verbunden ist — und auf der anderen Seite sich eine Reformgruppe in der Reichstagsfraktion der SPD unter deutlicher Distanzierung von den Methoden der Enthaltsamkeitsstrategie des Parteizentrums (Kautsky) und der Revolutionsgymnastik der Radikalen (R. Luxemburg) herausbildete, wurde eine Annäherung zwischen den Kräften begünstigt, die in verschiedener Intensität den Gedanken einer zur Verantwortung drängenden Koalition verfolgten, um wenigstens in Teilbereichen eine Verfassungsreform durchzuführen (Mitregierung der Mehrheitsparteien) oder die von Rechtskoalitionen getroffenen Entscheidungen im Be-reich der Zoll-und Steuerpolitik zu revidieren. Es ist gerade dieser Vorgang der Abgrenzung des Bürgertüms, genauer: der bürgerlichen Parteien (Nationalliberale und Zentrum), von den konservativen Kräften, den Fritz Fischer und die DDR-Literatur in ihren Skizzen der Machteliten und regierenden Kräfte in Deutschland ignorieren. Sie operieren mit einem Zweiparteienschema, das sich an die ideologischen Formationen des Freund-Feind-Denkens hält und dem Lager der Rechten (Fischer) bzw.der Linken (DDR-Literatur) unkritisch Gruppen zuordnet, die weder ihrer sozialen Herkunft nach noch von ihrer Ideologie her zu den Beharrungs-bzw.den revolutionären Kräften gehörten, sondern als soziale Stützgruppen einer Politik der mittleren Linie in Betracht kommen

Das Jahr 1913: ein Jahr der Bestandsaufnahme

Die Kritik an Fischers Einschätzung der politischen Machtkonstellation in Deutschland kann davon ausgehen, daß er den Anlaß, den das Jubiläumsjahr 1913 zur Selbstbestimmung und Selbstbesinnung bot, einseitig unter dem Aspekt der Bekundung des Willens zur Weltpolitik und nationalen Machtpolitik ausdeutet. Was den Zeitgenossen zur Selbstverständlichkeit geworden war, daß nämlich nach den Nationalliberalen und dem Zentrum auch Fortschrittspartei und schließlich SPD ins nationale Pathos einstimmten, registriert er mit moralisierender Kritik oder mit Verwunderung. Darüber entgeht ihm ganz, daß die Bestimmung des Parteiinteresses und des Standorts der sozialen Kräfte im politischen Herrschaftsgefüge nur selten von außenpolitischen Fragen ausgeht, daß aber innenpolitische Kontroversen durchaus auf dem Hintergrund einer Übereinstimmung in der nationalen außenpolitischen Phraseologie ausgetragen werden können Fischer übersieht fast völlig, daß gerade das Jubiläumsjahr 1913 den Reformisten in der SPD und der bürgerlichen Mitte Gelegenheit bot einerseits ihre teilweise Saturierung im Kaiserreich zu begründen und ihren Anhängern glaubhaft zu machen, andererseits aber durch Verweise auf die preußische Reformzeit („ 1813") den staatspolitischen Nachholbedarf der Stiefkinder der zweiten Reichsgründung anzumelden und das politische Emanzipationsstreben des dritten und vierten Standes anzufachen In Naumanns Suggestivfrage ob der nächste Aufruf „An die drei Klassen meines Volks" gerichtet sein sollte, wird der Denkansatz der Reformer zu einem Symbolwort verdichtet: ihre Parole hieß, daß es an der Zeit sei, in der politischen Struktur (Wahlrechtsänderung in Preußen) nachzuholen, was mit der allgemeinen Wehrpflicht und dem Anteil aller Volksschichten am Produktionsprozeß längst vorgezeichnet wäre.

Gewiß lassen sich diese mit Vergleichsbildern operierenden Bekundungen eher mit Diagnosen einer kritischen Situation als mit Anzeichen einer reformerischen Verständigungsideologie oder gar einer reformbereiten Aktionsgemeinschaft der Zu-Kurz-Gekommenen vergleichen. Dennoch zeigen sie eine Distanzierung der bürgerlichen Mitte von den nationalen Sammlungsparolen. Die bürgerlichen Partei-und Verbandsführer (Bassermann, Stresemann, Schiffer, Rießer) verschlossen sich nach der Erfahrung mit dem Bülow-Block nicht länger der Einsicht, daß Maßnahmen, die gegen die Sozialdemokratie wirken sollten, den Einfluß der preußischen Konservativen zementierten und Änderungen im Machtgefüge zugunsten des Bürgertums verhinderten. Sie behaupteten nun, daß das große Werk der Integration des vierten Standes nur gelingen könne, wenn der Einfluß des Bürgertums auf die Staatsgeschäfte steige. Indem die „linke Mitte" ihrerseits nationale Notwendigkeiten anerkannte, wollte sie der Rechten die zugkräftige „nationale" Parole entziehen und die Auseinandersetzung mit den Beharrungsparteien, entkleidet vom Ballast der Diffamierungskampagnen gegen die rote, goldene oder schwarze Internationale (SPD, Fortschrittspartei, Zentrum) auf der richtigen Ebene, dem innenpolitischen Streitfeld, ansiedeln und austragen. Indem sie die Verketzerung der SPD als Reichsfeinde und vaterlandslose Gesellen aufgab, wollte sie ein politisches Klima schaffen, in welchem sie ihr Verlangen nach einer Änderung der politischen Gewichtung im Kaiserreich mit größerer Glaubwürdigkeit vortragen konnte.

Die Anpassungserscheinungen im außenpolitischen Vokabular symbolisieren keine Unterwerfung der Linksparteien unter die Herrschaftsansprüche des konservativen Establishment, im Gegenteil: sie sind Auftakt für eine Herausforderung, allen sozialen Schichten der Nation das Recht und die Möglichkeit der politischen Mitbestimmung zu sichern. Die Rechtskräfte ahnten sehr wohl, daß die sogenannte nationale Wendung der Linksparteien weder ein Nachlassen des Emanzipationsstrebens anzeigte noch für ein geschlossenes Auf-treten in der Weltpolitik in der von der Rechten gewünschten Richtung bürgte Da sie einen nachdrücklichen Vorstoß gegen ihre politische Vorrangstellung befürchteten, gin-gen die nationalen Verbände immer mehr dazu über, unter die vaterlandslosen Gesellen alle jene — von Bethmann Hollweg bis zu den Reformisten in der SPD — zu subsumieren, die mehr oder weniger offen Veränderungen in der politischen Machtstruktur (z. B. Änderung des preußischen Wahlrechts) gegen die Privilegien der Konservativen guthießen und das mit nationalen Interessen rechtfertigten.

Zur Kritik an Fischer

Die Kritik an Fischer läßt sich in folgenden Punkten zusammenfassen:

Die methodische Inkonsequenz, auf der einen Seite den Erfolg zum Gradmesser seiner Einschätzung der innenpolitischen Machtverhältnisse zu wählen, ohne den Maßstab auf der politischen Gegenseite anzulegen, hindert Fischer an einer überzeugenden historischen Urteilsbildung. Während er die Bedingungen oder das Zustandekommen der „Erfolge" der Rechten nicht näher prüft, schließt er aus dem Scheitern der Reformansätze auf die Halbherzigkeit der Reformer oder bestreitet, daß sie im politischen Geschehen überhaupt eine Rolle spielten. Dabei enthalten seine Zitate oder Querverweise auf Arbeiten seiner Schüler Witt und Stegmann selbst unzählige Hinweise darauf, daß die Beharrungskräfte ihren Angriff auf die vermittlungswilligen Kräfte in der Regierung und in den bürgerlichen Mittelparteien richteten, weil sie eine stärkere Einflußnahme der „Reformer" auf die deutsche Politik befürchteten. (Ähnliches gilt für die Anklagen der Radikalen gegen die Organisationsstrategen in der SPD-Führung). Man kann sogar behaupten daß die Aufrufe zur Sammlung der Rechten stets in den Momenten erfolgten und organisatorische Folgen hatten, in denen die Regierungen unter den Einfluß der Linken oder der Verfassungsreformer zu geraten drohten. Stegmann spricht in diesem Zusammenhang sehr richtig von einem Caprivi-Trauma und führt die Konfrontation in den letzten Vorkriegsjahren darauf zurück, daß den bürgerlichen Parteien die Unzulänglichkeiten und die Gefahren der Kompromisse mit dem „Preußentum" bewußt wurden, sahen die bürgerlichen Kräfte doch die Ursache für ihre Mandatsverluste und für den Aufstieg der Sozialdemokratie in der Unzufriedenheit der Wähler besonders mit den liberalen Mittelparteien. Die Attraktivität der Linksblock-Idee für die bürgerlich-liberalen Parteien lag in der Absicherung ihrer Fraktionsstärke durch Stichwahlabkommen zunächst untereinander und Dämpfungsabsprachen mit der SPD und/oder dem Zentrum; vor allem würde der Links-block jene Drohung mit der Reichstagsauflösung entschärfen, mit der die Regierungen bislang den Umfall der gefährdeten Mittelparteien nach rechts zu bewirken gewußt hatten. Das von Naumann propagierte und in Baden, aber auch zum Teil im Reichstag in einzelnen Bereichen und bestimmten Situationen (Wehrvorlagen) praktizierte Zusammenwirken zwischen den bürgerlichen Parteien und einer sich zur sozialen Reformpartei entwickelnden Sozialdemokratie veranlaßte die Wirtschaftsverbände, ihrerseits die Reihen zu schließen und eine Abwehrfront gegen den erwarteten Angriff auf die Verfassung (d. h. die Minderung der kaiserlichen Regierungsgewalt und des konservativen Einflusses auf die Personalpolitik und die Verwaltungspraxis) oder die sie begünstigenden Gesetze (Schutzzollsystem, Wahlrecht, etc.) aufzubauen. Das alles zeigt, daß die Konservativen ihrer Herrschaft nicht mehr sicher waren, zumal Abwanderungen aus dem Lager der Rechten erfolgten: Sowohl die Nationalliberalen als auch das Zentrum stellten Bedingungen für die weitere Zusammenarbeit mit den Konservativen und traten Mehrheitsbildungen ohne bzw. gegen die Konservativen bei. Insbesondere stand ihr Parteiinteresse im Gegensatz zur Agitation des Rechtskartells gegen „Sozialduselei" und „Versicherungsseuche", wenn auch die Rücksichtnahme auf die Belastbarkeit der Wirtschaft mit sog. unökonomischen sozialen Abgaben dem Eintreten der bürgerlichen Parteien für eine verständige Fortführung der Sozialpolitik deutliche Grenzen steckte. Diese nachweisliche Entwicklung hindert Fischer nicht daran, den Frondeuren der Rechten — im Fall der DDR-Literatur: der revolutionären Linken — zu bescheinigen, sie hätten die Zukunft für sich gehabt, obwohl er an keiner Stelle seiner Werke exakte, d. h. nachprüfbare Auskunft über Trägergruppen und Mitläufer der militanten Rechten liefert. Die von ihm betonte Kontinuität der Konfrontation zwischen dem „Kartell der raffenden Hände" und den entschiedenen Demokraten von den Vorkriegsjähren über die Krisensituationen des Weltkriegs und die Revolution 1918/19 bis hin zur Endphase der Weimarer Republik gibt noch keinen Aufschluß über die Einflußund Machtchancen der Kräfteformationen in Wirtschaft und Gesellschaft auf die deutsche Politik, die keineswegs geradlinig vom Rechtskartell über die Diktatur der OHL zum Hitler-Regime verläuft. Das wird an der Beweisführung deutlich, mit der Fischer seine unterschiedliche Bewertung der Durchschlagskraft der Blöcke untermauert. So muß man ihm zwar in einigen Punkten zustimmen: daß am Scheitern der Gesetzesinitiativen der Liberalen oder des Linksblocks im Reichstag die Ohnmacht der Reformer gegenüber den regierendenherrschenden Klassen und Institutionen (Kaiser, Militär, Bürokratie, preußisches Staatsministerium, Bundesrat, Herren-und Abgeordnetenhaus) abzulesen sei, oder daß die Regierung den Machtfaktor Reichstag, den sie fürchtete, umging, wo immer sie auf den Verordnungsweg ausweichen konnte (z. B. in einer so wichtigen Frage wie der Wiederaufhebung der 1911/12 im Reichstag beschlossenen Zollsenkung zur Erleichterung der Fleischeinfuhr). Aus diesen Indizien aber die Schlußfolgerung abzuleiten, die konservativen Kräfte hätten freie Bahn gehabt, ihre Interessen wahrzunehmen und die Regierung zum Vollstrecker ihrer Willensbekundungen zu bestellen, ist nur angängig, wenn man die Gegenprobe macht: welche Verstöße der Rechten parierte die Regierung?, welche reaktionären Gesetzesinitiativen scheiterten an bürokratischen Bedenken?, usw.

Erst wenn man die Fähigkeit der Rechten, Reformpläne der linken Mitte zu blockieren, mit dem Widerstand in der Regierung und im Reichstag gegen die Machtansprüche und Forderungen der sogenannten herrschenden Klassen an die Regierung vergleicht, kann man die Behauptung verifizieren, daß die Rechte das Herrschaftsmonopol innegehabt habe. Die Niederlagen der Regierung und erst recht die Niederlagen der Rechten bei ihren Versuchen, mit Gesetzen oder Verordnungen den ihnen unerwünschten sozialen Nebenfolgen des deutschen Eintritts in den Kreis der führenden Industrienationen entgegenzuwirken, müssen berücksichtigt werden, wenn man den Stellenwert der konservativen Kräfte im Regierungssystem vor 1914 bestimmen will. Man kann die Flucht der Konservativen und der „nationalen Opposition" (beispielsweise BdL, AdV, Preußenbund) in die Demagogie sowie die in die Öffentlichkeit getragenen Intrigen und Konspirationen gegen den Kaiser oder ein Phänomen wie die „Bethmann-soll-weg" -Kampagne doch wohl kaum anders denn aus dem Gefühl ihrer zunehmenden Isolierung erklären: Aus Verzweiflung über den drohenden Privilegien-und Machtverlust begann man, das Heil in einer konterrevolutionär-nationalistischen Massenbewegung zu suchen.

Der Widerspruch zwischen den unbestreitbaren Machtbastionen, die die Konservativen innehatten, und der Unsicherheit über ihre Zukunft, die einem Katastrophenstrategen wie z. B. Heydebrand vollauf bewußt war, ist der Punkt, den Fischer erhellen müßte, um seine Deutung aufrechterhalten zu können. Er übernimmt zwar — vor allem von Puhle — Thesen über den Gestalt-und Stilwandel der Konservativen, sieht aber das skizzierte Problem nicht; auch die von seinem Schüler Stegmann aufgezeigte Kontinuität, daß die Reichskanzler von Caprivi über Hohenlohe und Bülow bis zu Bethmann Hollweg, in zunehmendem Maße auch Wilhelm II., für eine konservative Gewaltpolitik (Staatsstreichpläne) nicht zu gewinnen waren die Staatsstreichpläne der Rechten sich also ebenso gegen die Regierung wie gegen die SPD und die bürgerlichen Reformer richten mußten und tatsächlich richteten, ist für Fischer kein Anlaß, die Einflußchancen der Konservativen auf die Regierung und auf die deutsche Politik genauer zu bestimmen.

Die Ambivalenz der Reformbewegungen Die Reformvorstöße scheiterten nicht nur, wie es Fischer behauptet, an der Halbherzigkeit der Reformer, — an ihren Hemmungen, den Konservativen zu nahe zu treten —, sondern mindestens ebenso an den taktischen Fehlern der SPD. Das Wort Reformisten, die Herrschaft der Konservativen dauere an, solange die stärkste Linkspartei an ihrer Abstinenzpolitik festhalte, enthält mindestens soviel Wahrheit wie die These von der Entpolitisierung und Assimilierung des Bürgertums an die Wert-weit des Junkertums. Bevor die Reformisten in der SPD und die Linkskräfte in den bürgerlichen Parteien ihre Einsichten durchsetzen konnten, mußten sie innerparteiliche Scherbengerichte in Kauf nehmen: Ihre Niederlage bei dem Versuch, gegen die Beharrungskraft, die jeder Organisation innewohnt, eine flexiblere Parteistrategie durchzusetzen, ist mit anderen Kategorien als dem Verzicht auf eine selbständige Rolle gegenüber den Machtansprüchen der Konservativen zu beurteilen. Die Sorge in der SPD vor einer ideologischen Aufweichung, die die Klassenkampfpartei ununterscheidbar vom bürgerlichen Sozialliberalismus machen würde, behinderte jeden Vorstoß, die Reformfähigkeit und die Chance zur Strukturverbesserung durch eine Zusammenarbeit mit bürgerlichen Reformen im System unter Beweis zu stellen.

Da die SPD, solange sie nicht zur Alleinherrschaft gelangte, nur in Koalitionen mit den bürgerlichen Parteien der Arbeiterschaft Verbesserungen sichern konnte, rückte der Zeitpunkt heran, an dem sie zwischen der Abwartetaktik und dem Risiko Wählen mußte, Wähler an die liberalsozialen Parteien zu verlieren; diese warben ja mit sozialen Parolen um Arbeiterstimmen, um den steigenden Stimmenanteil zu bremsen und die eindrucksvolle Organisationsmacht der SPD zu unterlaufen. Die Integrationsideologie des sogenannten Kautskyanismus sank in den letzten Vorkriegsjahren immer mehr zur Abwehrschlacht gegen den Sozialliberalismus herab, der die Arbeiterschaft mit dem Staat aussöhnen wollte. In der Praxis verlor der Kautskyanismus in dem Maß an Bedeutung, in dem klar wurde, daß die SPD die bürgerlichen Reformer nicht anspornen konnte, ihre Forderungen gegen die Konservativen durchzukämpfen und damit Vorarbeit für die SPD zu leisten, wenn die SPD während der Phase dieser Auseinandersetzung nicht zumindest wohlwollende Neutralität gegenüber den liberalen Reformern übte. Fischer erwägt nirgends die Möglichkeit, daß die Reformbewegung ins Stocken geraten konnte, weil die SPD die Sorge um ihre Identität und ihre organisierte Macht höher stellte als das Interesse an einer Reformkoalition, die bestenfalls punktuelle Fortschritte zu erzielen vermochte — aber dafür von der SPD Kompromißwilligkeit verlangte. Die Tatsache, daß Parteien genötigt sind, ihre Interessen gleichzeitig gegen verschiedene Gegner mit taktischen Manövern durchzusetzen, trifft in Fischers Konzeption auf kein Verständnis.

Das Verhältnis von Regierung und Rechtskräften in der Sicht Fischers Man hat Fischer wiederholt die Zuflucht zu der Methode angekreidet, mißliebige Tatsachen -— wie die Distanzierung der Reichsleitung von den Staatsstreichplänen der nationalen Opposition — auf bloße taktische Kalkulationen zurückzuführen. Er rettet auf diese Weise seine These, daß die Amtsträger auf dem gleichen Boden gestanden hätten wie die in der Öffentlichkeit propagandistisch agierenden Exponenten einer Unterdrückungspolitik gegenüber den Emanzipationsbewegungen der Arbeiterschaft und Teilen des Bürgertums. Indem Fischer die „wahren" Intentionen der Machthaber aus Verbandsresolutionen, Eingaben und Zeitungsartikeln herausdestilliert, gelingt es ihm dann auch, die deutsche Politik am Vorabend des Ersten Weltkriegs als Siegeszug der unheiligen Allianz von Alldeutschen, Schwerindustrie und Großagrariern zu deuten oder gar als vorrevolutionäre Situation im Sinne des verschärften Interessenkonflikts der „Haves and Have-Nots" hinzustellen. Die Ergebnisse seiner Interpretationen erscheinen unangreifbar, solange man nicht die Methode unter die Lupe nimmt. Dann gewinnt man den Eindruck, als ständen Abqualifizierung taktischer Handlungsmotive und Konzentration auf Interessenverbände und deren Resolutionen in einem Zusammenhang. Wird mit dem ersten der Zweck verbunden, den Reichstag als Forum der Kompromißbildung und des Taktierens der Parteien unter die „Quantites negligeables" für eine Bestimmung der Machtzentren in Deutschland einstufen zu können so suggeriert die Kon28) zentration der Analyse auf die Interessengruppen und Verbände, daß der Autor den Mächtigen auf der Spur sei. Nun ist nicht zu leugnen, daß die innenpolitische Blockbildung mehr im Bereich der Verbände als in dem der Parteien oder gar des Reichstags anzutreffen ist, — und zwar im Gegensatz zu den Hoffnungen und Spekulationen der Reformer —, und daß die Einwirkungen der Wirtschaftsverbände und Wirtschaftsführer (zwei Wirkungsformen, deren Bedeutung und teilweise Gegensätzlichkeit Fischer nicht immer genügend auseinanderhält) den Denkhorizont und das Handeln der Reichsleitung und der preußischen Bürokratie entscheidend beeinflußt ha-ben. Fischers Deutung beschränkt sich an entscheidenden Stellen seiner Argumentation auf eine der außerparlamentarischen Analyse Kräfteformationen, beansprucht jedoch, eine umfassende Analyse der Geschichte Vorkriegsdeutschlands zu sein.

Die Fehlerquellen sind offensichtlich: Wenn z. B. das Kartell der schaffenden Stände als Abwehrblock gegen den Einfluß des Hansabundes auf das Bürgertum, gegen die Machtstellung der SPD sowie gegen die Bildung einer Linkskoalition im Reichstag nach den Wahlen von 1912 erneuert wurde, — und zwar mit dem ausdrücklichen und erklärten Zweck, ein Gegengewicht zur wachsenden Bedeutung des Reichstags in der deutschen Politik zu bilden -—, dann müßte Fischer, der diese Zielsetzung richtig konstatiert, seine Beurteilung des Stellenwerts des Reichstags in Zweifel ziehen. Man gewinnt jedoch den Eindruck, als widme Fischer dem außerparlamentarischen Raum sein Augenmerk, weil die dort wirkenden Kräfte weniger dem Handlungsund Entscheidungszwang unterstellt sind, und die Analyse sich daher mit der Interpretation pauschaler, an die Außenwelt gerichteter Adressen begnügen kann. Dieser Eindruck stützt sich auf folgende methodische Mängel* Fischers: Er prüft nur in Ausnahmefällen das politische Handeln und bietet keine Fallstudien zum Entscheidungsprozeß an. Statt dessen stützt er seine Argumentation mit Zitaten aus apodiktischen Resolutionen von Verbänden, die nicht selber zum gesamtgesellschaftlich verantwortlichen Handeln gezwungen sind, sondern in ihren Resolutionen vielmehr andere Instanzen — die Reichsleitung, den Kaiser, die Bürokratie — zum Handeln auffordern; dabei wird dem Leser vorenthalten, wie die Amts-und Entscheidungsträger auf das Ansinnen reagierten, als Exekutor der herrschenden Klassen zu fungieren.

Die Stichhaltigkeit seiner Argumentation muß man auch in Frage stellen, wenn man beobachtet, daß Fischer es unterläßt, den Mechanismen, über die — nach seiner Deutung — die herrschenden Klassen mit Bürokratie und Militär kollaborierten, im einzelnen nachzuspüren oder darüber Auskunft zu geben, ob die „konservativen“ Institutionen die anderen politischen Kräfte in Deutschland (also etwa SPD und Gewerkschaften, Hansabund, Zentrum) und die Entwicklungstrends ähnlich beurteilten wie die konservativen Machteliten. Man müßte vor allem die Frage stellen, ob sie gegenüber den Ratschlägen, die sie vom BdL, AdV oder der Schwerindustrie für die Behandlung der Gegner des Systems erhielten, ein offenes Ohr zeigten.

Ebenso wäre zu prüfen, ob die latente Bereitschaft zur sozialen Reform auf Seiten der Regierung (bis zum Frühjahr 1913, vor den Wehrvorlagen) und der bürgerlichen Parteien noch auf der Linie der Bismarckschen Politik lag, Sozialistengesetz und Sozialpolitik im Dienst der Systemerhaltung zu sehen, oder ob die ähnliche Disposition der Reichsleitung und der bürgerlichen Mittelparteien in der Sozialpolitik die Aussicht auf eine alternative Mehrheitsbildung, — die Anlehnung der Regierung bei den Mehrheitsparteien im 1912 gewählten Reichstag —, eröffnete. Die Rechte agitierte bekanntlich so, als ob die Reichsleitung Beth-mann Hollweg diesen Linksruck bereits eingeleitet habe. Fischer schließt dagegen aus dem Wunsch der mehrseitigen Pressionen aus) gesetzten Regierung, vorläufig auf dem Status quo in der Wirtschafts-, Sozial-und Verfassungspolitik stehen zu bleiben, auf eine Interessengemeinschaft mit der Rechten. Verbale Übereinstimmungen zwischen dem Wortlaut der Resolutionen des Kartells der schaffenden Stände und Delbrücks als Sprecher der Regierung scheinen ihm zu genügen, um ein derartiges Bündnis in der Wirtschafts-, Verfassungs-und Sozialpolitik zu behaupten. Dabei bleibt völlig außer acht, daß Nationalliberale und Zentrum, z. T. auch noch Bethmann Hollweg und Delbrück im Winter 1913/14 in einer weitergehenden Sozialpolitik das Mittel erblickten, um der SPD Agitationsstoff zu entziehen und das eigene Ansehen als sozial gesinnte Politiker zu behaupten, während die Rechte in dieser Taktik ihrer vermeintlichen Partner, in der „Sozialduselei", einen Weg ins Verderben sah und deshalb die Politik der Regierung, des Zentrums und der Nationalliberalen angriff.

Man kann also wohl kaum davon sprechen, daß die Regierung und die bürgerliche Mitte sich zum Büttel des Kartells der schaffenden Stände hergeben oder deren reaktionäre Absichten befördern wollten. Man würde auch gern Belege für die These erhalten, daß die Regierung, indem sie den vom Kartell geforderten Stop der Sozialpolitik — aus welchen Gründen immer, sei hier offengelassen — proklamierte, das Feld der Sozialpolitik faktisch der Repressionspolitik der Wirtschaftsverbände freigab Die Machtakkumulation auf Seiten der Wirtschaftsführer und ihre sozialen Kontakte zu Mitgliedern der preußisch-deutschen Regierung mögen zwar eine politische Handlungsgemeinschaft bzw. eine Willfährigkeit in den regierenden Stellen gegenüber den Pressionsmanövern der Interessengruppen anzeigen, aber sie können keine Analyse des Regierungssystems unter dem Aspekt „wer regierte eigentlich in Deutschland" ersetzen Da Fischer weder seine Begriffe „Herrschen" und „Regieren" klärt noch schildert, wie Regierungsakte Zustandekommen, verwickelt er sich obendrein in Widersprüche. Behauptet er an einer Stelle (S. 61), die Regierung sei den Weisungen der Schwerindustrie und Großagrarier gefolgt, als sie die Kampfparole gegen die SPD wiederholt ausgab, so muß er an anderen Stellen konzidieren, daß die Regierung und die bürgerlichen Fraktionen im Reichstag den von jenen Kräften gewünschten Ausnahmegesetzen ihre Zustimmung verweigerten. Fischer läßt außerdem die naheliegende Frage unbeantwortet, wer denn von den Frondeuren zum Handeln bereitstand, da ihnen die aus innen-und außenpolitischen Gründen ablehnende Haltung der Reichsleitung und des Kaisers gegen einen Präventivkrieg nach innen bekannt war Der Rechten drohte darüber hinaus der Verlust ihres wichtigsten politischen Privilegs: Sie mußte nicht nur Neuwahlen fürchten, da ihr die Unterstützung des Regierungsapparats im Wahlkampf nicht mehr gewiß war, sondern auch mit der Möglichkeit einer Reichstagsauflösung gegen die Konservativen rechnen; wäre das eingetreten, so wäre der Umbruch in den deutschen Macht-Verhältnissen vollzogen worden, denn Reichstagsauflösungen hatten bislang immer dazu gedient, den Links-oder Reformkräften das Rückgrat zu brechen

Der konservative Grundzug der deutschen Politik und die Isolierung der Konservativen Die Paradoxie, daß die deutsche Politik auf einem konservativen Kurs gesteuert wurde, während die Konservativen zunehmend in die Isolierung gerieten, wird von Fischer nicht berücksichtigt. Er sieht nicht den Widerspruch zwischen seiner These und der Tatsache, daß das Rechtskartell als Organisation des laut-starken Protests der verdrossen-unzufriedenen Rechten gegen die Strategie der Regierung Bethmann Hollweg/Delbrück 1913 erneuert wurde. Das Rechtskartell bezweckte eine Gegenaktion gegen die Annäherung von Zentrum und Nationalliberalen und deren Strategie der Distanzierung von den konservativen Beharrungskräften. Vor allem das Zentrum entwikkelte taktische Varianten, um seinen Einfluß abzusichern; es wünschte weder einen zu star-ken Rechtsruck im Reichstag noch eine Vorherrschaft von sozialen und liberalen Demokraten (wie im badischen Linksblock) noch eine Schlüsselstellung nationalliberaler Kulturkämpfer in einer die Regierung stützenden Mehrheit (wie im Bülow-Block). Der Verdruß darüber, daß die Konservativen die Hilfe des Zentrums (etwa in der Reichsfinanzreform) nutzten, ohne Gegenleistungen zu gewähren, und der Wettbewerb um die Arbeiterschaft in katholisch-industriellen Regionen gerade 1911/1913 zwischen christlichen und freien Gewerkschaften lockerten die Beziehungen zwischen den Partnern der zweiten Reichsgründung, der Sammlungspolitik und der Reichsfinanzreform. Die eigentlichen Konservativen Interessengruppen (BdL, Schwerindustrie) wurden in die Rolle der „nationalen Opposition" hineingedrängt, als die früheren bürgerlichen Partner der Konservativen innenpolitische Forderungen anmeldeten und gleichzeitig in den nationalen Fragen (Militär-und Flottenvorlagen)

der Rechten das Monopol der nationalen Zuverlässigkeit bestritten

Fischer weicht diesem Sachverhalt aus, indem er Nationalliberale und Zentrum undifferenziert zu den konservativen Schichten rechnet. Das ist für eine Bestandsaufnahme, die auf die Schwerpunkte der Interessenpolitik der Parteien achtet, im begrenzten Maße durchaus zulässig: Zentrum und Nationalliberale gelten als systemkonforme Parteien der konstitutionellen Monarchie; sie neigten zu Kompromissen mit den Konservativen, um die von ihnen vertretenen Interessengruppen zu befriedigen und halfen die Reformvorstöße der Linken blockieren, wirkten also vom Ergebnis her gesehen ausgesprochen konservierend. In den für die Rechte — nach Fischers Deutung — zentralen Fragen einer Wahlrechtsverschlechterung, einer Finanzpolitik zu Lasten der Konsumenten oder der Verwirklichung der Ständeideologien dachten die bürgerlichen Parteien — Zentrum und Nationalliberale — jedoch nicht daran, Änderungen im Sinn der Konservativen zuzulassen. Vielmehr hatten sie ein existenzielles Interesse daran, den Staat nicht noch mehr an die „preußischen Junker" auszuliefern

Auf die Frage, ob die Gruppen, die Fischer zu den Trägern und Urhebern des konservativen Grundzugs der deutschen Vorkriegspolitik rechnet, unter konservativ „Beharren" verstanden oder „schrittweise Reformen" (wie die englischen Konservativen oder die Nationalliberalen in der Bismarckzeit), findet man bei Fischer kaum eine Antwort. Die Rechte erkannte, wie gefährdet ihre Position war; sie wußte, was der Konkurrenzdruck der Freien Gewerkschaften auf die christlichen Gewerkschaften oder der Aufstieg Erzbergers in der Zentrumsfraktion nach dem Ausscheiden Hertlings, des Fürsprechers des schwarz-blauen Blocks 1909, aus dem Reichstag bedeutete. Sie fürchtete, daß die Mitte und Linke der schwa-chen Regierung die Zügel entreißen und sie zu weiteren Beschlüssen zu Lasten der Besitzenden (in der Steuergesetzgebung) in der Nachfolge des Erzberger-Bassermann-Kompromisses zwingen könnte. Nach dem Fehlschlag der innenpolitischen Krisenstrategie des Tirpitz-Planes — d. h.des Versuches, mit dem Flottenbau ein Palliativ zu schaffen, das die Arbeitersthaft materiell befriedigen, sie politisch aber wie zuvor das Bürgertum vom Entscheidungsprozeß fernhalten wollte, und durch die Inaktivierung des Bewilligungsrechts des Reichstags (über die Einführung eines „Eisernen Etats") die demokratischen Reichsorgane auszutrocknen —, wurde für die Regierung das Gebot der Rücksichtnahme auf Parteien und Parlamente unumgänglich. Das Scheitern der Tirpitzschen Hoffnungen, den Flottenbau ohne Steuererhöhungen aus der wachsenden Wirtschaftskraft des Landes zu finanzieren und insoweit den innenpolitischen Konsensus zwischen bürgerlichen und agrarischen Inter-essen zu erhalten, mußte die Chancen der Parlamentarisierung und Demokratisierung des preußisch-deutschen Konstitutionalismus steigern. Die Gefährdung der Position der Rechten und das wachsende Machtbewußtsein der Mitte sowie das relative Sicherheitsgefühl der SPD, — daß Regierung und Konservative eine Auseinandersetzung mit ihr scheuen mußten —, berechtigen dazu, anders als Fischer die Offenheit der innenpolitischen Situation in den letzten Vorkriegsjahren hervorzuheben.

Die Repolitisierung der Parteien Die ungenügende Differenzierung zwischen den Schattierungen in den großen politischen* Lagern der Linken, Mitte und Rechten führt dazu, daß Fischer einen der entscheidenden Vorgänge vor 1914 verkennt: ich meine den Prozeß der Repolitisierung der Parteien. Die wichtigsten Indizien dafür sind die Abwehr-gefechte der bürgerlichen Mittelparteien gegen die Infiltration seitens der Wirtschaftsverbände — wozu Fischers Schüler Stegmann eindrucksvolles Material veröffentlicht hat Aus ähnlichen Gründen motiviert ist die Distanzierung der Regierung Bethmann Hollweg/Delbrück von der Ständeideologie der Wirtschaftsverbände und ihr Versuch, die Dominanz der Verbände zu verhindern. So bedeutungsvolle Ereignisse wie der Bruch zwischen den von Bassermann und Stresemann geführten Nationalliberalen und der Schwerindustrie, die eine Kampagne gegen die Nationalkommunisten finanzierte oder andere Vorgänge, die man als Indizien einer Links-schwenkung, einer Repolitisierung der bürgerlichen Mittelparteien sehen muß, verschwinden in Fischers Aufriß der deutschen Politik als nahezu belanglose Episoden, gemessen an den sogenannten wahren Interessen an einer Bürgerfront gegen die Bestrebungen der Sozialdemokratie und an den Bekenntnissen zum nationalen Machtstaat und Weltmachtstreben

Angesichts der zunehmenden Vertiefung der Kluft zwischen Reichsleitung oder Reichstag einerseits und Bund der Landwirte, Alldeutschen, Schwerindustriellen andererseits ist die These vom Interessenbündnis zwischen den Trägergruppen der Sammlungspolitik und der Regierung zumindest eine waghalsige Konstruktion, die nur glaubhaft werden kann, wenn sie durch „case studies" über den Entscheidungsprozeß in wichtigen Fragen untermauert werden würde. Die Arbeiten seiner Schüler —-Witts über die Reichsfinanzreform und die Finanzierung der Wehrvorlagen, Stegmanns über die Sammlungspolitik — bringen zwar neues Material, das verdeutlicht, daß Bethmann Hollweg trotz der anerkennenden Worte, die er für die Sozialdemokratie fand, und trotz der Verstimmung über die Katastrophenstrategie der Konservativen, auch weiterhin auf die Rechtskräfte stärker Rücksicht nahm und nehmen wollte als auf die Mittelparteien oder den Linksblock. Sie zeigen aber auf der anderen Seite auch die wachsende Bedeutung des Reichstags und die Notwendigkeit für die Regierung sowie deren Bemühen, einem Konfliktkurs mit Reichstag und SPD auszuweichen und statt dessen der Stimmung in der Volksvertretung entgegen-zukommen. Fischers Deutung wäre nur dann überzeugend, wenn sie zeigen könnte, daß das Rechtskartell nicht die gleichen konstitutiven Schwächen aufwies, die die Handlungsfähigkeit der Reformer oder des Linksblockes beeinträchtigten. Die Sammlung der Rechten hatte ebenso unter dem Vereinspatriotismus und den Interessengegensätzen der Partner Bund der Landwirte, Centralverband deutscher Industrieller und Mittelstandsvereinigung bei der Konkretisierung ihrer prinzipiellen Forderungen zu leiden, so daß es auch einer in taktischen Winkelzügen nicht sehr versierten Regierung wie der Bethmann Hollwegs gelungen ist, die Pressionen von rechts mit Verzögerungstaktiken und dem Hinweis auf die Widersprüche in ihren Programmpunkten zu parieren Anders formuliert: War das Rechtskartell —• nach Fischer das Herrschaftskartell des Wilhelminischen Reichs — nicht vielleicht wie das Reich selber ein Koloß auf tönernen Füßen, eine mit Schlagworten errichtete Fassade, hinter der sich Interessengegensätze, taktische Differenzen, Egoismen und eine gewisse Handlungsunfähigkeit verbargen Diese Frage stellen, heißt nicht, die Macht-und Einflußchancen der Rechten zu leugnen, sondern durch Auf-werfen von „counterfactual questions" die mögliche Einseitigkeit einer auf Selbstzeugnissen der Rechten gestützten Interpretation zu überprüfen.

Die Abwertung der taktischen Aspekte der Politik in Fischers Geschichtsbild

Der schwerste Vorwurf gegen Fischer betrifft die Grundlage seiner Methode: Eine Geschichtsschreibung, die einen unleugbaren Tatbestand der Politik ignoriert oder für irrelevant erklärt, kann nicht in der Lage sein, politisches Geschehen analytisch zu durchdringen. In der Bildung seiner Urteilskategorien setzt Fischer sich darüber hinweg, daß zum einen politisches Handeln ein Abwägen von größeren oder kleineren Übeln, von Zielkonflikten, primären Interessen und unbeabsichtigten Nebenfolgen ist, und zum anderen, daß Politik wegen des Zwangs zum Optieren für sachliche Alternativen und Koalitionspartner eine persönliche Entscheidung impliziert, so daß Motivationsanalysen in die Rekonstruktion und Interpretation von Wirkungszusammenhängen eingebracht werden müssen In Fischers Konzeption ist kein Platz für den die deutsche Innenpolitik beherrschenden Komplex, der zugleich auch die politischen Strategien der Macht-und Einflußgruppen geprägt hat: ich meine die miteinander korrespondierenden Befürchtungen der Regierung und der SPD. Auf Seiten der Regierung die Sorge, daß die von der Rechten geforderten Kampfmaßnahmen gegen die SPD in ihr Gegenteil, nämlich in eine Annäherung oder Solidarisierung des Bürgertums mit der Arbeiterbewegung umschlagen könnten; auf Seiten der SPD-Führung und der Gewerkschaften die Sorge, die Partei würde in die Isolierung zurückgestoßen und die Zerschlagung der Organisation riskiert werden, falls die Arbeiterpartei den von den Radikalen angeratenen Konfliktkurs (Massenstreiks zur Erzwingung einerWahlrechtsreform in Preußen) einschlage. Aus diesen Gründen tendierten die Regierung und die SPD-Führung zur Abwartetaktik.

Die Kehrseite zu diesem Immobilismus bildete die ideologische Dauerfehde, deren Notwendigkeit im politischen System des Bismarck-Reiches besonders Sauer herausgearbeitet hat. Wie die Regierung eine auf dem Standpunkt des Klassenkampfes beharrende SPD brauchte, um die bürgerlichen Parteien zu veranlassen, einen Preis für den vom „Staat" gewährten Schutz zu zahlen, so benötigte auch die SPD den „Staat" als Feindbild, um sich ge-gen Spaltungstendenzen in eine soziale, systemkonforme Reformpartei und eine „sozialistische Umsturzpartei" zu schützen. Die Klassenkampfideologie hatte die Funktion, das Gefühl des Anders-Seins und der Zusammengehörigkeit in der SPD zu zementieren und die Notwendigkeit einer organisierten Macht zu begründen. Fischer kennt nur den manipulatorischen Aspekt des Freund-Feind-Verhältnisses von Staat (Konservativen) und Arbeiterbewegung (SPD), er sieht nicht, daß Immobilismus und agitatorische Kampfhaltung zweier feindlicher Lager nebeneinander stan-den, ja, daß Regierung und SPD ein Interesse an der Aufrechterhaltung dieser Konstellation hat-ten. Es hängt mit den Geboten der Selbsterhaltung zusammen, daß beide die Polemiken unter den überlieferten Schlagworten „ReichsfreundeReichsfeinde" fortführten und davor zurückscheuten, am Status quo zu rütteln. Regierung und SPD wollten sich nicht der „Koalition im Werden" bzw.dem Linksblock anschließen, um die programmatische Forderung der Wachablösung zu verwirklichen. Man trifft hier auf die Ursachen des Wechselspiels von Blockierung und Blockbildung, von ideologischer Dauerfehde, Neuauflage der Abwehrblöcke gegen die Bestrebungen des inneren Feindes und Versuchen, durch eine neue Formation der Kräfte, durch einen Reformblock, die Stagnation zu überwinden.Die Mitte als „Koalition im Werden"

Die „Mitte" deren Wirkungsmöglichkeiten und Konturen unter dem permanenten Zwang eines Abwehrmanövers gegen rechts und links standen, existiert für Fischer anscheinend überhaupt nicht. Niemand wird leugnen, daß es in der deutschen Politik vor 1914 mehrere Strömungen gab, die ihre Aufgabe darin sahen, jene unfruchtbare Stagnation zu überwinden, die aus dem politisch-ideologischen Immobilismus der festumrissenen politischen Verbände auf den rechten und linken Flügeln und aus dem Lavieren der Zentrumspartei resultierte; sie richteten ihre Spitze gegen die Flügelgruppen, die „Reaktion" oder „Revolution" auf ihr Banner schrieben, aber weder den Staatsstreich noch den Umsturz machen wollten oder konnten Jene Reformkräfte waren bereit, die Konsequenzen aus der Diskrepanz von ideologischer Verhärtung der Fronten und verschärftem Kampf um partikulare Interessen zu ziehen. Sie boten sich der Regierung als Schutzmacht gegen die „nationale Opposition" an, ohne die sogenannten gesunden konservativen Elemente aus der Regierungspolitik bannen zu wollen. Die „Mitte" sah sich auf ein Bündnis mit der Regierung angewiesen, um den von ihr propagierten Weg der Reformen gehen zu können, ohne Gefahr zu laufen, in einen Links-oder einen Rechts-block einverleibt oder zwischen den Extremen zerrieben zu werden. Dazu war die Einflußnahme auf die Regierung zugunsten einer Reformpolitik nötig, einer Reformpolitik, zu der sich wiederum die Regierung prinzipiell verpflichtet fühlte, um das Reich durch die Krisen der Weltpolitik steuern zu können.

Wenn diese Ideologie der Mitte, die einem in unzähligen Zeugnissen aus Regierungskreisen und aus Kreisen der Mittelparteien und der SPD (David, Südekum) begegnet, keine deutlichen Spuren in der deutschen Politik hinterließ, so heißt das noch längst nicht, daß die Mitte einflußlos gewesen wäre. Vielmehr ist auf ihr Wirken zurückzuführen, daß die latente Konfrontation der politischen Extreme nicht zum Konflikt führte, und — wenn man schon von Kontinuitäten spricht — sich eine politische Alternative anbot, die in der Phase des Zusammenbruchs der Monarchie (von der Bildung der Regierung Max von Baden bis zur Weimarer Koalition) auch faktisch zur Bildung einer Regierung der „Mitte" führte.

Gegenpositionen zu Fischers Deutung der Machtverhältnisse im Kaiserreich

Eine gewisse Gegenposition zu Fischer nimmt die neuere ostdeutsche Literatur ein; denn indem sie dem Kaiserreich und dem organisierten Kapitalismus eine gewisse Integrationsfähigkeit zubilligt — mag sie auch auf Manipulationstechniken und verfälschtem Bewußtsein der Arbeiterklasse oder Verrat der soge-nannten Arbeiteraristrokratie beruhen —, löst sie sich nicht nur vom Klassenkampf-schema. Vielmehr stellt sie die Existenz einer bürgerlichen Sozialreformideologie heraus und bescheinigt dieser eine Überzeugungskraft, die der Solidarisierung einer klassenbewußten Arbeiterbewegung entgegenwirken konnte. Denn die Trägergruppen seien im Weltkrieg in der Lage gewesen, die Regierung Bethmann Hollweg zu konkreten Zugeständnissen an die organisierte Arbeiterbewegung zu veranlassen: aus diesem Erfolg leiten Ruge, Gutsche und andere die Anfälligkeit der SPD und der Gewerkschaften für das systemstabilisierende Verhalten der Mehrheitssozialdemokratie in der Endphase der Hohenzollern-Monarchie ab.

Systemkonformes Verhalten der Parteien Systemkonformes Verhalten ist nun das Stichwort für die theoretische Konzeption, die den Gegenpol'zu Fischer bildet. Lepsius geht von der Annahme aus, Deutschland sei das Land eines strukturell bedingten Mehrpar-

teiensystems;

von da aus gelangt er zu der — vor allem von Roth, Matthias und Lösche am Beispiel der SPD erläuterten — Kernthese, daß die gesellschaftlichen Kräfte ihre Autonomie im Verfassungsstaat, nicht aber „Revolution" oder „Reform" angestrebt hätten. Er führt aus, warum die Integration der Subkulturen mit einer je eigenen kämpferischen Ideologie — Klassenkampf für die Flügelparteien SPD und Konservative, Kulturkampf für die bürgerlichen Mittelparteien Nationalliberale und Zentrum — systemstabilisierend wirken konnte: jene Konfrontationen hätten der Ausbildung gesamtgesellschaftlicher Konfliktsituationen entgegengewirkt. Das Interesse an der Erhaltung der Autonomie ihres Freiraums habe das Gesamtsystem, das ihnen diese Chance bot, gewissermaßen aus den innenpolitischen Auseinandersetzungen herausgehalten. Dank der Fixierung auf die eigene Subkultur — sehr deutlich ausgeprägt im Organisationspatriotismus der SPD — habe von ihnen keine Bedrohung für das bestehende System ausgehen können. Das Parteiensystem des Kaiserreichs sei der Ausdruck struktureller Konflikte, die vor der Reichsgründung bestanden hätten, aber da die Parteien im großen ganzen auf ihre einmal politisch mobilisierten Gesinnungsgemeinschaften begrenzt blieben, seien die Konflikte verewigt, ritualisiert worden. Sie hätten daher den Demokratisierungsprozeß subkulturell überformen und damit hemmen können Die Parteien seien in der Komplexität der Interessen ihres Milieus verfangen geblieben und hätten ihre politische Aktivität auf die Erhaltung ihres Einzugsbereichs gerichtet. Die Schlußfolgerung daraus lautet: Die vier politisch dominanten sozial-moralischen Milieus — Liberale, Konservative, Zentrum, SPD — wollten und konnten keine gesamtgesellschaftlichen Konflikte artikulieren. Die

Subkulturen führten den Kampf um die Demokratisierung des Verfassungssystems lediglich als rhetorische Auseinandersetzungen, wobei es mehr um die Ausweitung der Autonomie der einzelnen Milieus innerhalb der Gesamtgesellschaft als um die Demokratisierung der Gesamtgesellschaft ging. Da es zu keinen klaren, die soziokulturellen Milieus überwindenden Frontbildungen kam, habe es im Kaiser-reich weder erfolgreiche Reformbewegungen noch revolutionäre Situationen geben können

Ursachen der Blockierung deutscher Politik: Parteiensystem und Sozialstruktur Lepsius'Thesen tragen dazu bei, das Phänomen der Blockierung im Bismarckreich zu erklären, das mit dem Selbstverständnis der Sozialdemokratie als revolutionärer, aber nicht revolutionmachender Partei, und dem Interesse der bürgerlichen Mittelparteien (Zentrum, Nationalliberale) an der besonderen Form des deutschen Kon. stitutionalismus zusammenhängt. Mit seinem soziologischen Begriffsinstrumentarium faßt Lepsius Betrachtungen und Beobachtungen zusammen, die zeitgenössische Kritiker unter dem Etikett „Trinkgelderparlamentarismus" polemisch abhandelten; er konstatiert jenes zwielichtige, vor allem von der Zentrumspartei exemplifizierte Verhalten, die einerseits den Anspruch auf wirtschaftliche und soziale Partizipation am Sozialprodukt sowie kulturpolitische Mitspracherechte durchzusetzen versuchte und zu diesem Zweck ins Lager der Regierungsparteien überging, andererseits aber den Schutzwall um ihren eigenen Bereich aufrechtzuerhalten trachtete und sich von der übrigen „Gesellschaft" distanzierte. Man kann seit etwa 1905 beobachten, wie auch die Arbeiterbewegung, das zweite Stiefkind der Reichsgründung, — in diesem Fall vertreten durch die Gewerkschaften —, dem Zentrum in der Angleichung an das politische System nachfolgte, indem sie die Methoden anderer organisierter Interessen aufzugreifen suchte und Einflußchancen, die das System bot, nutzen wollte die ideologische Differenz zu den anderen sozialen Schichten wirkte auch hier als Identitätsgarantie für die Arbeiterbewegung weiter.

Lepsius übersieht aber mit seinen Thesen das Bestreben der vier Parteiengruppen, zu Volksparteien zu werden; er trägt nicht genügend der Entwicklung des deutschen Parteiwesens Rechnung, die von den Weltanschauungs-und Verfassungsparteien der 60er/70er Jahre zu den Interessenkonglomeraten im Gefolge der innenpolitischen Wendung Bismarcks und zu einer Repolitisierung der Parteien unter dem Druck des Konkurrenzkampfes mit den in den politischen Bereich vorstoßenden Interessenverbänden führte. Vor allem ist es fraglich, ob das von Lepsius „überflüssig" genannte Bekenntnis der SPD und des Zentrums zum nationalen Gedanken das Demokratisierungsstreben dieser Parteien hemmte, oder ob es nicht vielmehr die Voraussetzung für verfassungs-und sozialpolitische Vorstöße bildet. Von Energievergeudung kann man in diesem Zusammenhang wohl nur sprechen, wenn man damit die Abwehrgefechte gegen die marxistische Linke meint, zu der sich die Reformisten in der SPD bei ihrem Versuche, die Machtchancen im System zu nutzen, gezwungen sahen. Für das Zentrum eröffnete das Bekenntnis zum Reichsgedanken den Weg zur Durchsetzung der von ihrer Fraktion vertretenen Interessen. Daß diese Einflußchancen letztlich nicht der politischen Demokratisierung der Gesamtgesellschaft (Parlamentarisierung) zugute kamen, lag weniger an der Anerkennung der sogenannten nationalen Notwendigkeiten durch Zentrum, Fortschrittspartei und schließlich Sozialdemokratie, als vielmehr an dem Zielkonflikt zwischen der Befriedigung der von diesen Parteien vertretenen Interessen und einem verfassungspolitischen Auftrag, den ihnen die Reformer und die Historiker zudiktieren.

In Lepsius'Deutung bleiben die Kräfte und Tendenzen unberücksichtigt, die mit nationalen Parolen ihren Ruf nach Verfassungsreformen einleiteten, jene Nationaldemokraten (wie Weber, Preuß, Haussmann, Neumann, Brentano, L. Frank), die in den Links-und Mittelparteien für eine stärkere Mitwirkung der Volksvertreter an der Regierung eintraten. Die Tatsache, daß die Parteien sich aufgrund der Führungsschwäche der Reichsleitung und der Polarisierung im sozialen Bereich gezwungen sahen, sich auf die Übernahme der Regierungsverantwortung oder wenigstens der Verantwortung für eine von ihnen gestützte und beeinflußte Regierung einzustellen, ist gerade für die letzten Vorkriegsjahre von Bedeutung, zumal den Parteien bewußt wurde, daß sie aufgrund der Schwächung der Regierungsposition im Verfassungssystem die Interessen ihrer Anhänger nur durchsetzen konnten, wenn sie die Übernahme oder Teilhabe an derMacht anstrebten. Das Denkmodell von Lepsius ist wenig geeignet, die Wechselwirkung von Parteigeschichte und Verfassungsentwicklung, die gegenseitige Beeinflussung von Sozialstruktur und politischen Machtverhältnissen zu analysieren. Es dürfte kein Zufall sein, daß Lepsius'Ausführungen über die Liberalen und Konservativen, d. h. über die Parteien, deren Schick-sal und Organisationsprobleme von Anbeginn von ihren Beziehungen zur Regierung und von ihrer Rolle als Regierungsparteien bestimmt wurden, wenig überzeugend ausfallen. Lepsius'Entwurf enthält jedoch die Erklärungsgründe für das Beharrungsvermögen des deutschen Konstitutionalismus.

Die auf den ideologischen Identifikationsnachweis und auf wirtschaftlich-soziale Abschlaggeschäfte ausgerichteten deutschen Parteien hatten ein Interesse an der Aufrechterhaltung eines Systems, das im Unterschied zum „in and out" des Parlamentarismus sowohl die fortwährende Befriedigung der sozio-ökonomischen „Essentials" in Aussicht stellte als auch die Integrationsideologien der Subkulturen unangetastet ließ In allen Parteien behaupteten sich vor 1914 und nach 1919 die Kräfte, die die Autonomie ihres soziokulturellen Milieus höher bewerteten als die von „Außenseitern" formulierten Einsichten, daß Deutschland einen verfassungspolitischen Nachholbedarf wettzumachen habe, was nur durch Rückverwandlung der verwirtschaftlichen Parteien in verfassungspolitisch orientierte, d. h. auf die Regierungsverantwortung gerichtete Parteien zu bewerkstelligen sei Die deutschen Parteien verhielten sich aber wie Staaten im Staate, die ihre Autonomie nach außen abgrenzen und durch eine „kämpferische" Integrationsideologie (Klassenkampf, Kulturkampf) nach innen festigen wollten, vom Gesamtsystem aber wirtschaftliche Nutzungs-und sozialpolitische Anteilsrechte verlangten. Ihre Befürchtung, in einer Kampfgemeinschaft zur Durchsetzung prinzipieller Ziele (Demokratisierung), in einem „Reformblock", die Identität zu riskieren, hat manche Ähnlichkeit mit dem Souveränitätsdünkel von Nationalstaaten.

Blockbildung und Blockieren

Hilft Lepsius'These, die gegenseitige Blockierung aller politischen Kräfte zu erklären und den Streit um die Reformierbarkeit der Bismarckschen Verfassungskonstruktion oder die Anfälligkeit des monarchischen Systems für eine Revolution zu relativieren so negiert sie von ihrem Ansatz her das andere uns beschäftigende, von Fischer und der DDR-Literatur hervorgehobene Phänomen der Blockbildung. Lassen sich beide Argumentationsstränge zu einer Synthese zusammenfügen? Wir meinen: ja, und zwar aufgrund folgender Beobachtungen:

1. Ähnlich wie die neuere DDR-Literatur muß man den Erfolg der sozial-liberalen Taktik zur Pazifizierung revolutionärer Kräfte anerkennen. Umgekehrt gelang es zwar nicht, die Konservativen auszubooten oder den Rechts-extremismus zu zügeln, aber doch zu erreichen, daß die von rechts gewünschten Ausnahmegesetze gegen die Sozialdemokratie oder Verschlechterungen der Verfassungspositionen auf einen festen Abwehrblock aus bürgerlichen Mittelparteien, Reichsleitung und SPD stießen. Ein derartiger Erolg setzt die Existenz und das Durchsetzungsvermögen einer Gruppierung voraus, die wir als „Mitte" oder „Koalition im Werden" bezeichnen möchten.

2. Die Existenz der Mitte wird von Fischer und der älteren marxistischen Literatur (Stenkewitz) bezweifelt oder als belanglos aus der Analyse ausgeklammert. " Aufgrund der erwähnten und noch näher zu schildernden Anhaltspunkte kann man jedoch von der „Mitte" als drittem Block neben Rechtskartell und Linksblock sprechen. Das Schema läßt sich auch mit Lepsius’ Deutung zusammenbringen. Denn aus der Beobachtung, daß Zentrum und Nationalliberale als systemkonforme Parteien einerseits an der Erhaltung der konstitutionellen Monarchie mitwirkten und verfassungspolitische Reformen (im Anschluß an die Daily-Telegraph-Affäre; in den Verhandlungen über eine Änderung des preußischen Wahlrechts) blockieren halfen, andererseits aber aus Gründen der Selbsterhaltung — um keine weiteren Wähler an die SPD zu verlieren — eine Sozialpolitik zu Lasten der Konservativen ins Auge faßten, und darüber hinaus begannen, ihre Differenzen (Kulturkampfstimmung) hintanzustellen oder auszuräumen, folgt, daß die Spaltung im Bürgertum zwischen politischem Katholizismus und Liberalismus allmählich an Bedeutung verlor. Zwar fühlte sich das Zentrum von der antiagrarischen Stoßrichtung des Hansabunds und von den kulturkämpferischen Einflüssen in der Nationlliberalen Partei auch weiterhin bedroht, aber der im Interesse der Selbsterhaltung dieser Mittel-parteien liegende Zwang zu einer ausgleichenden Steuer-, Wirtschafts-und Sozialpolitik legte den Gedanken an die Erneuerung der Partnerschaft zwischen Lieber und Bassermann nahe; die durch Verbandsbildungen (Hansabund, Bauernbund) unterstrichene Distanzierung von den agrarischen und schwerindustriellen Konservativen und wahl-taktische, gegen eine Stärkung der SPD zielende Interessen profilierten die Politik der mittleren Linie von Zentrum und National-liberalen und begünstigten die gegenseitige Annäherung. Auch in den Sachfragen steuerten sie in die gleiche Richtung: Fortsetzung der Sozialpolitik unter Rücksichtnahme auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, Verhinderung von Ausnahmegesetzen gegen die SPD und von Finanzgesetzen zu Lasten des Bürgertums und der Konsumenten; besonders die letztgenannten Grundsatz-beschlüsse legten die Position der bürgerlichen Mittelparteien gegen die Programmpunkte der agrarischen Konservativen (lückenloser Zolltarif; Streikverbot) fest. Im Reichstag hatte es seit Ende der 1890er Jahre bis zum Dülow-Block in sozialpolitischen Fragen Formen des Zusammenwirkens zwischen Zentrum und Nationalliberalen gegeben; in den letzten Vorkriegsjahren wurden diese nicht nur intensiviert, sondern auch auf andere Gebiete erstreckt, man denke vor allem an den Erzberger-Bassermann-Kompromiß, der die Basis für die Finanzierung der Wehrvorlagen schuf. Wahlkampftaktische Gesichtspunkte führten beide Parteien in einigen Regionen (Rheinland) näher zusammen.

Auch wenn die fortwirkenden Konflikte (Kulturkampferinnerungen) und regional bedingte Konfrontationen (Baden, Bayern) nicht übersehen werden dürfen, eröffnete der Aufstieg von Parteiführern wie Erzberger im Zentrum und Stresemann in der nationalliberalen Partei noch eine weitere Perspektive der Zusammenarbeit Mit ihnen kommen Kräfte zum Zuge, die den Streit um Verfassungsfragen entideologisierten, d. h. ihn ohne Scheuklappen nach Zweckmäßigkeitserwägungen und taktischen Vorteilen behandelten. Sie wirkten darauf hin, die Mittelparteien gegen links abzugrenzen, hielten das aber nur für möglich, falls Zentrum und Nationalliberale sich gleichzeitig ge-gen rechts profilierten, d. h. konkrete Zugeständnisse seitens der Regierung und der Rechten erzwingen könnten Sie waren nicht länger bereit, sich von den Konservativen und der Regierung für die Anwendung der Devise Bülows einspannen zu lassen „links bremsen, rechts gut zureden, erst die leichteren Wege fahren, und wenn es einmal stockte und gefährlich wurde, abschirren und Attacke reiten gegen SPD". Sie wollten an der von der Regierung gewünschten Entkrampfung im bürgerlichen Lager nur mitwirken, falls die Regierung die Politik der mittleren Linie mit energischen Versuchen zur Mäßigung der Konservativen verband. Nicht zuletzt waren Erzberger und Stresemann — im Unterschied zu den älteren Parteiführern, die sich gleichsam mit der Rolle des Oberkellners im konstitutionellen Betrieb zufrieden gaben — keineswegs mehr gewillt, die unterschiedliche Behandlung, die den Regierungsparteien seitens der Regierung zuteil wurde, unangefochten hinzunehmen. Nicht nur Bassermann war darüber ungehalten daß Bethmann Hollweg sich vor den Konservativen demütigte, um der Reichsleitung die Unterstützung der Mehrheitspartei im preußischen Abgeordnetenhaus zu sichern, aber keine besondere Sorgfalt darauf verwendete, die für die Regierung unentbehrlichen Reichstagsfraktionen ins Vertrauen zu ziehen

Es spricht einiges für die Vermutung, daß das Zusammenwirken von Zentrum und Nationalliberalen auch von der Absicht bestimmt war, sich eine kontinuierliche Einflußnahme auf die Regierung zu sichern und einen festeren Kurs zu gewährleisten. Man kann die bürgerlichen Mittelparteien zwar als Nutznießer der Politik der wechselnden Mehrheiten ansehen und ihnen damit die Urheberschaft am Beharrungsvermögen des konstitutionellen Systems zuschieben; daneben sollte man aber nicht den zweiten Entwicklungsstrang übersehen, zumal mit ihm eine Abkehr von ihrer früheren Haltung einherging: Erzberger, Bassermann und Stresemann hatten ein Interesse daran, die Mittelparteien aus der Handlangerschaft für die Konservativen und die Regierung herauszuführen und sich nicht länger gegeneinander ausspielen zu lassen Die Parteien sollten ihr Profil durch eine größtmögliche Abgrenzung von den Konservativen und einer diese umwerbenden Regierung wiedergewinnen, um dadurch auch ihre soziale Basis gegen die Unterwanderung durch die Linksparteien besser verteidigen zu können. Absetzungsmanöver vom Kartell der Konservativen, gemeinsame Frontstellung der Mittelparteien gegen die SPD sowie das Bestreben, einerseits unabhängig von der Regierung zu bleiben und andererseits die Regierung auf das Programm der Mitte festzulegen, berechtigen dazu, von der Mitte als einer Koalition im Werden zu sprechen. Sie trat vor 1914 zwar erst in Umrissen in Erscheinung — vor allem, weil persönliche Animositäten zwischen Bassermann und Bethmann Hollweg sowie Erzbergers ungefestigte Stellung in der Zentrumsfraktion die Voraussetzungen für ein gemeinsames Vorgehen abschwächten —, aber man kann doch sagen, daß es eine Frage der Zeit, keine Grundsatzfrage mehr war, wann die Mittelparteien und die Regierung sich im Interesse ihrer Selbsterhaltung über einen Reformkurs bei einer Öffnung nach links verständigten.

Blockbildung, „Mitte" und Integration des vierten Standes in den Nationalstaat „Blockbildung“ und „Blockierung“ treten in einen unmittelbaren Zusammenhang, wenn man das Problemverständnis und die Zielsetzungen der Mitte in den Mittelpunkt der Analyse deutscher Vorkriegspolitik rückt. Für sie stellt sich als Grundlage deutscher Politik das Problem der Integration der Arbeiterbewegung in den Nationalstaat. Wer diese Aufgabe löst, gilt ihnen als künftige herrschende Schicht. Für sie geht es um die Frage, welche Gruppen bereitstehen, um das drängende Problem zu lösen. Da man angesichts der gespannten internationalen Lage mit der Möglichkeit des Krieges rechnete und Zweifel hegte, ob das monarchische System unter Wilhelm II. und Bethmann Hollweg der Belastung standhalten würde, stellte sich sowohl das Problem der Wachablösung oder Verfassungsreform als auch das der Blockbildung. Naumanns bereits erwähnte Suggestivformel, daß Deutschland nicht mit dem Dreiklassenwahlrecht die Bewährungsprobe eines Kriegs bestehen könne, und die These, die Integration des Vierten Standes könne nur bei einer stärkeren Beteiligung des Bürgertums an der Bestimmung der deutschen Politik, — d. h. einer Liberalisierung der Personalpolitik und Verwaltungspraxis sowie einer Zusammenarbeit zwischen Reichskanzler und Reichstagsmehrheit wie in den Jahren 1867 bis 1876 — gelingen, umreißen den Bewußtseinshorizont der Mitte. Die Übertragung der vom Hansabund geführten antifeudalen „Bürger-Erwache“ -Kampagne auf die Wahlrechts-frage diente der Absicht, die in dieser Frage vorhandene latente Übereinstimmung zwischen der Mitte und der Linken zu aktualisieren und einen symbolischen Durchbruchserfolg anzustreben. Die historische Untermauerung der Forderung (Meinecke, Oncken), man müsse endlich das Ideal der Preußischen Reformzeit verwirklichen und die Bürger „zu subjektiven Mitträgern der Staatspersönlichkeit" machen, rief freilich auch die Konservativen zur geballten Abwehr auf den Plan. Die offensichtliche Schwäche der Regierung bot einen weiteren Anstoß, den Kampf um die Beeinflussung der Amts-und Entscheidungsträger zu forcieren, d. h. — um der höheren Effektivität willen — die Blockbildung voranzutreiben.

Der Sammlung der Rechten zur Abwehr der demokratischen Tendenzen setzte man auf Seiten der Mittelparteien das Ziel entgegen, die nötige Anpassung der Verfassungsverhältnisse an die wirtschaftlich-sozialen Veränderungen und Machtverhältnisse herbeizuführen, auch im Interesse der Verteidigungsfähigkeit des Reiches Die bürgerlichen Reformer behaupteten — wie einst 1876/78 —, daß die Konservativen oder Agrarier als Minorität nicht geeignet seien, ein Bollwerk gegen revolutionäre Bewegungen zu bilden. Das könne nur einer sozialliberalen Politik gelingen, deren Kerntruppe das Bürgertum bilden müsse. Es kam also alles darauf an, ob die Ideologie der Mitte Resonanz bei der Linken fand.

Die Haltung der SPD zu den liberalen Reformkräften Im Lager der Linken stand seit längerem, wenn auch in anderer Terminologie, die Frage zur Debatte, ob eine Fortführung der Sozialpolitik die SPD gefährden, d. h. in eine auch in ihrer Ideologie sozialreformerische (revisionistische) Volkspartei verwandeln könnte. In den bürgerlichen Mittelparteien drängten Kräfte nach vorn, die Marksteine einer ernsthaften Reformbereitschaft setzen wollten bevor die SPD ihren Aufstieg zur Mehrheitspartei vollziehen könnte. Sie wollten damit den Prozeß des verschärften Klassenkampfes, der als Folge der Reichsfinanzreform befürchtet wurde, unterbrechen und den Reformisten in der SPD als Bundesgenossen ihrer künftigen Politik unter die Arme greifen. Sie wußten, daß die Reformisten in der SPD Erfolge vorweisen mußten, um die Politik der Annäherung an die bürgerlichen Reformgruppen gegen die Radikalen und das Parteizentrum beibehalten und ausbaüen zu können. Das war schwierig genug. Der Chefideologe der Sozialdemokratie, Karl Kautsky spekulierte nämlich in jenen Jahren darauf, daß die positive Reformarbeit der Sozialdemokratie die Verschärfung des Klassenkampfes vorantreiben würde; denn die Erfolgsskala der SPD zwänge die Besitzenden zur Gegenwehr und würde damit die Polarisierung der Kräfte in organisierte Interessenverbände begünstigen. Kautsky schien geradezu die Abwendung der Mitte von der Arbeiterbewegung, d. h. die Wiederherstellung der „einen reaktionären Masse" zu wünschen, um seine These von der Vereinbarkeit von sozialreformerischer Tätigkeit und revolutionärem Endziel der SPD aufrechterhalten zu können.

Das widersprach den Absichten der Integrationsideologie der bürgerlichen Sozialreformer, die Fortschritte in der Sozialpolitik für unerläßlich hielten — vor allem im Bereich des Koalitionsrechts und der Anerkennung der Gewerkschaften, aber auch des Ausbaus der Unterstützungskassen, der Volkswohlsorge, des Wohnungsbaus etc. —, um die Fundamente für eine politische Aktionsgemeinschaft mit der SPD legen zu können. Kautskys Kalkulation, daß der steigende Widerstand im Bürgertum gegen weitere Sozialreformen die Klassenlage des Proletariats verschlechtern und damit eine Kraftprobe notwendigerweise herbeiführen müsse wirkte allen Hoffnungen der Reformkräfte zuwider, die mit Hilfe einer sozialreformerischen Volkspartei zu ihrer linken Seite die Emanzipation der Industrienation von den herrschenden (vor-industriellen) Klassen in Preußen-Deutschland ertrotzen wollten. Kautskys Dogma konnte zwar die Entwicklung in der SPD zur sozialreformerischen Volkspartei nicht mehr aufhalten, hemmte aber den Elan jener Reformisten (Südekum, David, Heine, Kolb), die auf den Wandlungsprozeß des deutschen Parteiengefüges hofften. Sie werteten die Rücksichtnahme der SPD auf ihre bürgerlichen Wähler oder Partner als Beitrag zur Neugruppierung in der deutschen Politik.

Orientierungsprobleme der Parteien und Hindernisse der Blockbildung Das Dilemma von Parteistrategie und taktischpolitischen Kalkulationen bestand für alle deutschen Parteien vor 1914 in ähnlicher Wei-se. Man wußte, daß man, um Einfluß zu gewinnen, gleichgerichtete Interessen und Meinungen sammeln mußte. Aufrufe zur Sammlung, d. h. zur Blockbildung auf der einen und Appelle, die eigene organisierte Macht ideologisch abzusichern, auf der anderen Seite bestimmten die Szenerie. Die Annahme, daß die Regierung orientierungslos und unsicher sei, verlieh der Konstellation besondere Akzente: die „Blockbildung" figurierte unter dem Aspekt, eine Abwehrmehrheit zu organisieren, um Vorstöße anderer politischer Kombinationen blockieren zu können. Die Blockbildungen, die sich unter diesem Blickpunkt vollzogen, wirkten der Herausbildung von politischen Lagern im Sinne des parlamentarischen Parteiensystems entgegen; die Frontenbildung verlief in den anstehenden wirtschaftlich-sozialen (Verlängerung oder Revision des Zolltarifs und der Handelsverträge; Einführung einer Arbeitslosenversicherung) oder verfassungspolitischen (preußisches Wahlrecht; Einführung des Mißtrauensvotums in die Geschäftsordnung des Reichstags) Fragen durchaus unterschiedlich. Stand z. B.der Wahlkampf der Linken 1912 unter dem Zeichen einer Abwehrmehrheit gegen befürchtete Staatsstreichpläne der Rechten, so war die Neuauflage des Kartells der schaffenden Stände motiviert als Formation zur Verhinderung der Revision der in den nächsten Jahren fälligen Erneuerung der Zolltarife und Handelsverträge, zur Abwehr einer Demokratisierung des Wahlrechts oder der Steuergesetzgebung und der Anerkennung der SPD und Gewerkschaften als gleichberechtigte Partner in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft.

In den Tagesfragen der Reichspolitik lösten sich die Blöcke jedoch auf und machten anderen Arrangements Platz. Die Mittelparteien verblieben in den Wirtschafts-und Rüstungsfragen im Lager der Rechten, in sozialpolitischen Angelegenheiten standen sie auf dem Boden der FVP und der „rechten" SPD. Die politischen Kräfte fühlten sich aufgerufen, anstelle der orientierungslosen Regierung ihrerseits den Ton anzugeben und die Initiative an sich zu reißen. Da deutlich wurde (1912), daß die Regierung das Leitprinzip des Bismarcksehen Systems, sich im Parlament eine Mehrheit zu bilden, nicht länger befolgen konnte, fanden die Stimmen größere Resonanz, die zu einer Mehrheitsbildung aus den Reihen der Mitte-Links-Parteien aufriefen oder die Rechte (Zentrum, Konservative) aufforderten, die Verantwortung auf sich zu nehmen. Doch der Drang zur Macht und zur Übernahme der Verantwortung, der in diesen Auseinandersetzungen latent vorhanden war und zur Parlamentarisierung hätte führen können, brach sich an dem Interesse der bestehenden Parteien, ihren politisch-sozialen Besitzstand zu wahren. Die Furcht, in einem Zweiparteiensystem die Identität zu verlieren, beherrschte vor allem die Mittelparteien, aber auch die SPD. Die Absicht, eine Abwehrmehrheit zu organisieren, um den politischen Gegenspieler daran zu hindern, die Regierung — worunter man vorwiegend Gesetzgebung und Verwaltung verstand —, in ihren Dienst zu nehmen, dominierte über das aufkommende, von der jungen Parlamentarier-generation der Berufspolitiker (Stresemann, Erzberger, Frank) getragene Machtbewußtsein. Stresemanns Wort „die Regierung versagt, das Parlament führt" läßt erkennen, daß die aufstrebenden Politiker von der Annahme eines (partiellen Machtvakuums ausgingen 68a). Ihre Vorstellung, daß Regierungs-und Oppositionsparteien wie in einem parlamentarischen System um die Macht ringen sollten, verband sich zwar noch nicht mit Naumanns und Webers vorausblickender Frage, welche Kräfte im Falle des Versagens von Monarchie und Bürokratie bereitstünden, die Regierungsverantwortung zu übernehmen, aber sie zielte immerhin auf eine Öffnung des Konstitutionalismus in Richtung einer verstärkten Mitwirkung der Parlamentarier in und an der Regierungsführung.

Diese Zielsetzung liegt auch der Aufforderung der bürgerlichen Sozialreformer an die SPD und der Reformisten innerhalb der SPD an die eigene Parteiführung zugrunde, sie solle ihre Mandatsziffern in die Waagschale werfen. Diese Aufforderung hat den Sinn, die politi68) sehen Frontenbildungen offenzulegen, in den Kontroversfragen (Lebensmittelzölle, Finanz-reform, Vereins-und Koalitionsrecht, Fürsorge) die Interessengemeinschaft der Linken zu manifestieren und dadurch die Regierung zu zwingen, dieser Mehrheit im Reichstag künftig ebenso Rechnung zu tragen, wie sie es zuvor gegenüber dem „Schwarz-Blauen Block“ und den Rechtskartellen stets getan hatte. Hinter dieser Reform-und Linksblockkonzeption steht die Aufassung, die Linke solle endlich ihre latente Mehrheit nutzen, um der Regierung Konzessionen abzutrotzen und sie auf einen Kurs zu bringen, der den Interessen des Volkes entspreche. Das bedeutete, daß der Links-block seine Machtchancen innerhalb des Systems nutzen, durch dieses systemkonforme Vorgehen aber gleichzeitig — dank seiner Legitimation durch die Wahlerfolge — eine Wachablösung und einen innerstaatlichen Systemwandel herbeiführen sollte

Der Linksblock Der Linksblock wollte eine gemeinsame Sprachregelung gegen die Bürgerschreck-Kampagne und die nationale Phraseologie entwickeln und neue Perspektiven aufzeigen. Aus einer weitverbreiteten Stimmung gegen die von rechts verursachte Klimavergiftung sollte eine tragfähige Plattform für eine regierungsfähige Mehrheitskoalition gezimmert werden. Zu den Stärken und Schwächen des Links-blocks nur soviel: 1. Die Fürsprecher des Linksblocks wußten um die Unterschiede zwischen Nord-und Süddeutschland, Preußen und Baden; die preußische SPD hatte andere Erfahrungen hinter sich als die Badenser; das Zentrum war in Baden der konservative Gegenpol, im Reichstag aber unentbehrlich für eine effektive Linksblock-Politik. Sie hegten keine Illusionen hinsichtlich der Übertragbarkeit des badischen Modells eines Großblocks auf die Reichspolitik. 2. Die Konzeption verlangte geradezu die Auflösung der bestehenden Partei-verbände oder zumindestens die Einebnung der Parteigrenzen. Der Zusammenschluß bestimmter Flügel zu einer arbeitsfähigen Koalition setzte die Ausschaltung des „Einflusses" der Radikalen und des „Zentrums" (Kautskys Primat der Partei als Klassenkampfverband) auf die Politik der SPD-Fraktion voraus, und seitens der bürgerlichen Parteien den Verzicht auf eine Bürgerblock-Politik. 3. Die Fürsprecher besaßen keine Klarheit darüber, ob die Mehrheitsverhältnisse im Reichstag den An-satzpunkt bilden sollten oder ob die Idee erst nach einem Wandel an der Basis verwirklicht werden könnte, oder ob der Linksblock — wie das Rechtskartell — von einer außenparlamentarischen Bewegung ausgehen müßte. Die Konzeption verlangte praktisch von allen Parteien, daß sie entweder in corpore den Bruch mit ihrer Tradition vollzogen, d. h. die Führung den Reformisten anvertrauten, oder daß sie die Spaltung zuließen — unter gleichzeitigem Verzicht der „alten" Elemente auf eine kraftraubende Machtprobe mit der Neugruppierung.

Auf diese Toleranz durften aber weder Naumann/Haußmann noch Richthofen/Junckh oder die Reformisten in der SPD rechnen. 4. Für den Linksblock sprach die gemeinsame Abneigung gegen den „konservativen Parlamentarismus" —, der von Preußen her die Reichspolitik blockierte —, vor allem gegen den Einfluß von DtKP, Z, BdL und AdV auf die deutsche Politik, und die erreichte Übereinstimmung in einzelnen Bereichen — wie z. B. in der Sozialpolitik. 5. Problematisch war die Linksblock-Konzeption von vornherein, weil sie die Stoßkraft auf die Verfassungsorgane Reichskanzler-Reichstag richtete und die Schwierigkeiten, die mit der militärstaatlich-bürokratischen Komponente gegeben waren, hintansetzte, teilweise sogar aus dem Wunschdenken heraus, mit der Parlamentarisierung der Reichs-leitung wäre automatisch auch die Kontrolle über die Bürokratie und das Militär gewährleistet. Der Linksblock wollte und konnte — aufgrund seiner Zusammensetzung — keine Neuauflage des Verfassungskonfliktes wünschen; er mußte sich daher auf die Ebene konzentrieren, auf der Verbesserungen möglich schienen — auf die Neugestaltung des Verhältnisses von Regierung und Mehrheitsparteien im Reichstag: alles weitere würde sich von dorther ergeben.

Die Angleichung an den politischen Stil der älteren systemkonformen Parteien und Verbände (BdL, CVdl, Zentrum) brachte die Links-koalition oder den Reformblock allerdings in Widerspruch zu ihren verfassungspolitischen Zielen. Die um ihre Wählerschaft besorgten Parteiführer nutzten die Spekulation, die Regierung werde den allgemeinen Demokratisierungstendenzen Rechnung tragen und deshalb auch die Volksvertretung ins Vertrauen ziehen müssen, um regieren zu können, dazu, unerfüllte materielle Forderungen durchzusetzen darüber verloren sie die Chance aus dem Auge, die Regierung zur Aufwertung des Reichstags und zu verfassungspolitischen Konzessionen zu zwingen. Die Flügelparteien der Reformblöcke (Mitte, Linksblock) — National-liberale, Zentrum — fielen immer wieder der Versuchung anheim, z. B. bei der Reichsversicherung, mit der Taktik der wechselnden Mehrheiten Interessenpolitik im Dienste ihrer Wähler zu betreiben und den verfassungspolitischen Aspekt hintanzusetzen. Differenzen in Sachfragen, die Sorge um die Unabhängigkeit der eigenen Organisation und schließlich die Scheu, Personalprobleme aufzuwerfen, erschwerten ohnehin die Einigung über ein Regierungsprogramm und ein zielstrebiges Vorgehen im Parlament und in der Öffentlichkeit.

Das Parteienspektrum und der Handlungsspielraum der Regierung Die Entwicklung der interparteilichen Beziehungen und des Verhältnisses Regierung-Parteien war in eine Sackgasse geraten: Die Regierung war nicht mehr in der Lage, sich zuverlässige Mehrheiten zu schaffen oder auch nur ihre Autorität geltend zu machen. Die Parteien der Linken und der Mitte konnten sich zwar verständigen, wenn es Vorstöße der Rechten abzuwehren galt (Streikbrechergesetzentwürfe, Schutzzollerhöhung, Steuerprojekte), ohne allerdings in bestimmten Tagesfragen gemeinsam und zielstrebig vorzugehen. Die Regierung behielt infolgedessen einen breiteren Spielraum, den der Reichskanzler Bethmann Hollweg mit seiner „Politik der Diagonale" zu nutzen versuchte. Dieses politische Konzept war aber nicht, wie so oft behauptet wird, das Verfassungsideal Bismarcks und seiner Nachfolger, sondern der Versuch, aus der Not des Parteienspektrums eine Tugend zu machen. Sie stellt eine Ersatzideologie dar, die Bedeutung erlangte, nachdem erstens die Wahlergebnisse der Reichsleitung die erwünschte Mehrheitskombination versagten und zweitens die Konservativen mit ihrer Halsstarrigkeit die Bemühungen der Regierung um die Bildung einer dauerhaften Mehrheit aus den Parteien der rechten Mitte durchkreuzten. Entgegen dem Wunsch der Regierungen (Bismarcks 1878— 81, Bethmann Hollwegs 1910— 1912), rechts von Nationalliberalen und/oder Zentrum eine Stütze im Parlament zu finden, setzten sich die Liberalen (Sezessionisten und Fortschrittspartei 1881— 84, Nationalliberale und Fortschrittspartei 1910— 12) für ein Reformprogramm unter Ausschluß der Konservativen ein. Durch institutionalisierte Kontakt-ebenen zwischen Regierung und Mehrheitsfraktionen sollte nicht nur die Mitsprache der Parteien und die Beilegung von Konflikten garantiert, sondern auch die Parlamentarisierung vorangetrieben werden. Die politische Absicht ging dahin, die Regierungsfähigkeit der Mehrheitsparteien des Reichstages zu demonstrieren und damit der Reichsleitung den Vorwand für ihre Anlehnung bei den soge-nannten staatstragenden Parteien zu entziehen oder sie aus der Abhängigkeit von den außer-konstitutionellen Organen zu befreien, in die die Regierungen nach Bismarcks Zusammenwirken mit den Interessenverbänden gegen den Reichstag geraten waren. Die Nachfolger der nationalliberalen Reichsgründungspartei sahen eine Lösung des sich erneut stellenden Problems in der Bereitschaft der Mittelparteien, der Regierung eine Stütze gegen die Konservativen anzubieten, unter der Voraussetzung, daß die Regierung die parlamentarische Rückendeckung durch Mitspracherechte und Verantwortung der Mehrheitsparteien in Sach-und Verfassungsfragen honorieren würde. An der Frage, ob es sich lohne, Bethmann Hollweg gegen die Frondeure zu stützen, schieden sich die Geister ebenso wie innerhalb der Parteien Richtungskämpfe über die Frage ausbrachen, mit welchen anderen Parteien man eine engere Kooperation riskieren könne.

Parteiinteresse und Blockbildung

Die Bildung des „idealen" Blocks — einer sich auf alle wichtigen und zusammengehörigen Fragen, d. h. auf ein Regierungsprogramm erstreckenden Arbeitsgemeinschaft politischer Gruppen —, hätte von den Parteien die Einwilligung in ihre Auflösung zur Erleichterung des Zusammenschlusses der miteinander sympathisierenden Flügel (Reformisten, FVP, Jungliberale, linker demokratischer Flügel der Zentrumspartei) verlangt und erwies sich daher als Illusion. Die Parteien zogen es vor, Kompromisse zu finden, die die Parteieinheit wahren helfen sollten. Dagegen fehlte für Kompromisse, die einen Block regierungsfähiger Parteigruppen konstitutieren könnten, die soziale Basis und die Bereitschaft zum Verzicht auf die Ladenhüter der jeweiligen Partei-ideologie. Die Furcht der SPD, ihr Aufstieg würde stocken, wenn ein Reformblock dank der Aufbietung der SPD-Mandate Erfolge in der Gesetzgebung verbuchte, — da die sozialliberalen Parteien und das Zentrum davon profitieren würden —, war dabei nicht allein entscheidend, sondern daneben stand die Sorge der Mittelparteien, ein vom Linksblock getragener Reformkurs würde der SPD einen Einbruch in ihr Wählerreservoir erleichtern.

Das Zentrum, auf das es in jeder Hinsicht ankam, suchte sich 1912/13 in einem erneuten Anlauf als christlich-soziale, nationale Volkspartei zu profilieren, um damit als Gegenpol zur SPD die innenpolitische Szene beherrschen zu können. Die von der Reichstagsauflösung 1906 und von den Wahlerfolgen des Linksblocks 1912 bewirkte Profilneurose des Zentrums lähmte die taktische Bewegungsfreiheit dieser Partei, die aufgrund ihrer Position Schrittmacherdienste bei einer Flurbereinigung im deutschen Parteienpanorama leisten mußte. Seit 1870/71 war das Zentrum ein Hindernis auf dem Weg zur Neugruppierung im deutschen Parteiengefüge nach verfassungspolitisehen Prioritäten gewesen. Es blieb der Prototyp einer systemkonformen Partei, die, vom sozialen und politischen System der konstitutionellen Monarchie geprägt, auch die im konstitutionellen System angelegten Möglichkeiten der Verfassungsreform weder in Angriff nehmen wollte noch — in Rücksichtnahme auf ihre gruppeninterne Integrationsfähigkeit — konnte Sie blieb diejenige Partei, die zwar nach außen hin in die Frontstellung gegen die Agrardemagogen und die anachronistische Politik der Deutschkonservativen einstimmte in ihrer Politik aber den Primat des parteiinternen Interessenausgleiches zwischen Bauernbund, Magnaten oder christlich-sozialen Konservativen einerseits und „Mönchen-Gladbach" und christlichen Gewerkschaften andererseits befolgte. Mit großem taktischen Geschick vermied sie es, in den Kampf für eine gerechte, die innere Zustimmungsbereitschaft der Aktivbürger (Wähler) sichernde Verfassung verwickelt zu werden. Sie hütete sich z. B., in der Wahlrechtsfrage das Band zu den unnachgiebigen Konservativen zu zerschneiden. Das Bekenntnis der Zentrumspartei zur mittleren Linie, das auch in den Bekundungen der Regierung, des Hansabundes und der Nationalliberalen anzutreffen ist und das Vorhandensein eines gemeinsamen Nenners für eine bürgerliche Reformbewegung suggeriert, erwies sich bei näherer Betrachtung als Rückzugslinie für die Aufrechterhaltung der bestehenden, von Flügelkämpfen bedrohten Partei.

Die innenpolitische Situation in den letzten Vorkriegsjahren

Ziehen wir das Fazit aus den vorgetragenen Beobachtungen: Die Richtungskämpfe innerhalb der Parteien, zwischen den Parteien und den ihnen nahestehenden oder zugeordneten Zubringerorganisationen (Gewerkschaften, BdL, Hansabund, Volksverein für das katholische Deutschland) sowie innerhalb der Sammlungsbewegungen auf der einen Seite und die Einengung des Handlungsspielraums der Regierung oder die zunehmende Orientierungslosigkeit der Amtsträger auf der anderen Seite erhoben die Abwartetaktik zum Gebot des Handelns für die gesellschaftlichen Kräfteformationen und für die Entscheidungsträger. Das Kennzeichen des innenpolitischen Meinungspanoramas und des sozialen Kräftefeldes war die Devise, das Erreichte zu konsolidieren und den Besitzstand durch erhöhte Abwehrbereitschaft unangreifbar zu machen. Die zur Aktivität aufrufenden Gruppen fanden weder im eigenen soziokulturellen Milieu noch im Lager der benachbarten Gruppen genügend Resonanz: Das gilt für die Prediger der spontanen Revolution ebenso wie für die Frondeure und Staatsstreichler oder für die Reformer und Vermittlungsideologen der Mitte. Die Flügel-gruppen lehnten es ab, das sozio-kulturelle Milieu zu verlassen, aus dem sie hervorgegangen waren: Die Alt-Nationalliberalen zogen den Verbleib in der Bassermannpartei dem Eintritt in eine neukonservative Sammelpartei vor, die Jungliberalen fanden selten den Weg zur Fortschrittspartei, die Reformisten der SPD wollten die Heimat in der Sozialdemokratie nicht mit der ungewissen Zukunft in einem Linksblock vertauschen. Die SPD scheute den Bruch mit den reformistischen Gewerkschaften in der Massenstreikfrage ebenso wie die Konfrontation mit dem Militär; die bürgerlichen Parteien führten Abschirmmanöver zur Verhinderung weiterer Erfolge der SPD durch und wandten sich gegen das Image, Handlanger der Beharrungskräfte zu sein; die Konservativen gerieten in die Isolation, sträubten sich aber — erfolglos — gegen die völlige Abhängigkeit vom BdL.

Die eher noch verschärfte ideologische Konfrontation zwischen SPD und Staatsgewalt — da jeder die andere Seite als Gegner brauchte, um mit dem überlieferten Feindbild sowohl die Fassade der organisierten Macht zu erhalten als auch den Aufweichungstendenzen im eigenen Lager entgegenzuwirken —, trug dazu bei, die errungenen Positionen zu zementieren. Die Wortmachtpolitik der ideologischen, von der radikalen Linken wie vom Rechtskartell immer wieder angefachten Konfrontation diente wohl mehr dem Zweck, den Status quo zu verlängern, als in einen Konfliktkurs einzustimmen. Beide Flügel waren zu schwach und fühlten sich ihres Anhangs und Zulaufes zu unsicher, um auf militante Auseinandersetzungen zuzusteuern.

Man sollte daher — trotz der Indizien sozialer Unruhe und sozialen Aufruhrs oder geordneter Demonstrationen seitens der radikalen Demokratie sowie der Unrechts-und Willkür-maßnahmen der herrschenden Klassen — weder von einer Zuspitzung zum Klassenkampf oder einer vorrevolutionären Situation noch von günstigen Vorzeichen für Reformierbarkeit von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft sprechen. Da jede Veränderung der bestehenden Verhältnisse unter den gegebenen Bedingungen Machtfragen involvierte, bedeuteten prinzipielle Übereinstimmungen noch keine Garantie für ein Zusammengehen in Aktionsgemeinschaften. So erkannten Regierung und bürgerliche Mittelparteien zwar die Integrationsfunktion einer gerechteren Sozialpolitik; aber da jedes „Mehr" nicht nur die Frage der Kostendeckung, d. h.der Umverteilung des Einkommens und der Steuerlastquote, aufwarf, sondern auch Machtzuwachs für die mit der Ausführung der Fürsorgeleistungen beauftragten Instanzen bedeutete (indem etwa die Gewerkschaften als Teilhaber an der Selbstverwaltung von Arbeitsämtern oder als Auszahler von Arbeitslosenunterstützung an Prestige gewannen) wurde jede gesetzliche Neuregelung zu einer Grundsatzentscheidung über die Machtstellung und Einflußchancen der Großverbände in Staat und Gesellschaft. Das direkte und indirekte Zusammenwirken der politisch-sozialen Kräfte, die sich im Interesse ihrer Existenzsicherung auf die Strategie der mittleren Linie und verbandsinterne Kompromißbildung verwiesen sahen, drückt der deutschen Politik vor 1914 den Stempel des Immobilismus, der Blockierung der Initiativen durch die Gegenwirkung von Abwehrblöcken und die internen Reibungsverluste auf. Sie steht damit unter dem Signum einer Durchgangsphase. Weder Regierung noch SPD, weder Staatsstreichplaner noch „Revolutionsgymnasten" glaubten im Fall einer Offensiv-strategie an den Sieg ihrer Bewegung. Jede These, die in der Flucht nach vorn das treibende Motiv der Politik in den letzten Vor-kriegsjahren erblickt, ist bislang den Beweis schuldig geblieben, daß die für die Konflikt-these anvisierten Organisationen und Gruppen tatsächlich ein offensives Vorgehen in Erwägung zogen oder auch nur im Fall einer Notwehraktion (Präventivschlag) auf den Erfolg ihres Vorgehens rechneten. Vieles spricht für die Vermutung, daß keiner der Blöcke und sozialen Kräfteformationen sich mehr zutraute als die Integration der widerstrebenden Tendenzen im eigenen Lager auf der einmal gefundenen Linie. Andernfalls fürchtete man einen Machtverlust, Isolierung und Zerrüttung der Organisation. Die Politik der Diagonale war das Lebensgebot der Regierung, der Parteien, Verbände und Blockbildungen. Jede Vereinbarung, die das innerparteiliche Gleichgewicht zugunsten eines Flügels zu verschieben und die Partner eines derartigen interparteilichen Abkommens unter den Erfolgs-zwang einer „Blockpolitik" zu stellen drohte, brach sich am Widerstand der Vereinspatrioten. Für Kompromisse mit benachbarten sozialen Gruppen oder gar früheren Konkurrenten bestand kaum Spielraum, es sei denn, man schloß sie auf Kosten Dritter. Das war der Vorteil, den die Rechtskräfte lange Zeit hatten nutzen können und zugleich der Grund für den politischen Erfolg der Kartelle und der Sammlungsbewegung auf der rechten Seite des Kräftepanoramas. Im Zeitraum nach 1909, besonders nach den Wahlen von 1912, bahnte sich aber auch hier ein einschneidender Wandel an.

Integrationsgebote und Verständigungspolitik

Die innerparteilichen und gruppeninternen Interessen an der Aufrechterhaltung ihrer geschichtlich gewordenen organisierten Macht erschwerten eine Politik der Neuorientierung und der Reformen im innenpolitischen Sektor ebenso wie im zwischenstaatlichen Bereich die Integrationsgebote der innenpolitischen Sammlung einer deutschen Ententediplomatie im Wege standen. Der Vergleich mit dem außen-politischen Erscheinungsbild lehrt ein weiteres:

das Interesse an der Bewahrung der eigenen organisierten Macht und die Bereitschaft zur Blockbildung in innenpolitischen Interessenfragen hat Ähnlichkeit mit der „Abschreckungsstrategie". Die Abwehrbereitschaft der soziokulturellen Milieus sollte nämlich im innenpolitischen Bereich die Anerkennung der Gleichberechtigung erzwingen. Die radikale Linke und die Beharrungskräfte der Rechten betrachteten diese Spekulation der Reformbewegungen auf die Möglichkeit eines rational kalkulierbaren Interessenausgleichs als Illusion, da weder auf Seiten der Besitzenden die Bereitschaft zur Preisgabe von Privilegien vorhanden sei noch auf Seiten der Radikalen eine Neigung bestehe, in eventuellen Abschlagszahlungen mehr zu sehen als die überfällige Zuweisung unb streitbarer Rechte.

Demgegenüber argumentierten Scheidemann (auf dem Jenaer Parteitag 1913) und die Gewerkschaften ähnlich wie Kurt Riezler, der außenpolitische Chefideologe Bethmann Hollwegs, in seiner Theorie des kalkulierten Risikos. Für die Führer der Arbeiterbewegung hatten die Stimmengewinne die gleiche Funktion wie das steigende Rüstungspotential für Riezler: Sie galten als wirkungsvollste und zuverlässigste Verbündete am Verhandlungstisch. Die von Bebel anläßlich der Reichstags-wahlen wiederholt ausgegebene Devise, ein Stimmenzuwachs für die SPD bilde die beste vorbeugende Maßnahme gegen den inneren Krieg, erfüllte eine ähnliche Funktion wie die von den Bethmann Hollweg nahestehenden bürgerlichen Historikern verbreitete Meinung, eine Heeresverstärkung trage zur Sicherung der Stellung des Reichs in der Mitte Europas und zur Verhinderung eines Zweifrontenkrieges bei. In beiden Fällen kalkulierte man jedenfalls, daß unter derartigen Voraussetzungen Verhandlungen von Macht zu Macht stattfinden würden, in denen Bedingungen eines dauerhaften Friedens vereinbart werden könnten.

Man kann sagen, daß das konstitutionelle System in Deutschland begann, eine Strategie des Ausweichens vor Konflikten zu entwickeln in der Hoffnung, es werde sich allmählich ein Gleichgewicht der Kräfte einpendeln, in dem die konservativen und die revolutionären Dok-trinäre an Widerhall einbüßen würden Die Reformisten in der SPD hofften nach den Wahlerfolgen von 1912 — ähnlich wie die Fortschrittspartei 1907 —, daß die Regierung ihr wegen des Machtgewinns alte Forderungen bewilligen müsse. Scheidemann verteidigte diese Spekulation gegen den Vorwurf der Radikalen, die Parteiführung ahme den Kotau der Bourgeoisie vor dem feudal-militaristischen Preußentum nach. Er wies die Anklage, die von der SPD-Führung beanspruchten oder von den herrschenden Klassen in Aussicht gestellten Konzessionen würden bestenfalls selbstverständliche Forderungen erfüllen, keineswegs aber den Weg zur sozialistischen Gesellschaftsordnung erleichtern, mit der nicht nur taktisch gemeinten Behauptung zurück, die SPD werde, auf ihre eigene Machtposition vertrauend, kein bequemer Verhandlungspartner sein. Er konterte den Vorstoß der Radikalen, indem er ihnen vorhielt, daß man die berechtigten Forderungen der Arbeiterschaft in den Augen des Volkes nur diskreditieren würde, wenn man die falsche Methode, nämlich vollendete Tatsachen zu schaffen (wie es jede Revolution bezweckt oder zur Folge hat), anwende.

Scheidemann näherte sich mit seiner Verteidigungsrede auf dem letzten Parteitag der SPD vor Kriegsausbruch in Jena 1913 dem Standpunkt der Reformisten, die verlangten, daß die SPD endlich lernen solle, im System ihre Einflußchancen zu suchen und zu nutzen, statt durch das Revolutionsgerede die Selbstisolierung der Arbeiterschaft zu verlängern und aufgrund ihrer Borniertheit die junkerlich-klerikale Reaktion zu ermöglichen (Eduard David). Die Politik des Ausharrens und des Ausbaus der eigenen Organisation verband sich hier mit dem Plädoyer für eine Politik punktuell-pragmatischer Verständigung mit anderen sozialen Kräften, um dem Kurs der Regierung den eigenen Stempel aufdrücken zu können.

Die Reformisten in der SPD wollten — im Vertrauen auf die Stärke der organisierten Macht der SPD, die eine Verschlechterung der Lage abwehren könne — dazu übergehen, zusammen mit den bürgerlichen Reformkräften das System aufzulockern und schrittweise zu ändern. Machtwille beschränkte sich hier freilich — wie beim Vorstoß der Nationalliberalen in der Reichsgründungszeit — auf zielstrebige Einflußnahme auf die Gesetzgebung. Die Verankerung des Einflusses auf legislatorische Regierungsakte erhielt den Vorrang vor der Übernahme von Macht und Verantwortung, vor der Parlamentarisierung der Regierungsgewalt.

Die Tatsache, daß konservativ-klerikale Reichstagsmehrheiten jahrzehntelang das Gesicht der deutschen Politik prägen konnten indem sie Regierungsvorlagen umgestalteten oder ihre wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Interessen über das Gesetzgebungsverfahren durchsetzten —, leistete offenbar dem Eindruck Vorschub, daß dieser Aspekt wichtiger sei als das Problem der Rekrutierung des Regierungspersonals aus den Reihen der Mehrheitsparteien. Taktische Gründe, wie die Ansicht, daß feste Mehrheiten durch Verständigung über Fragen, die in der Kompetenz des Reichstags lagen, eher zu erzielen seien, und das Wissen um die eigenen Schwächen (welche Abgeordneten waren ministeriabel?) verstärkten diesen Eindruck. Erst in der Endphase des Weltkriegs wurde den Linksparteien und der Mitte bewußt, daß die Verständigung über ein Regierungsprogramm nicht schon eine Garantie für seine Ausführung darstellte. Die gleichzeitig damit ausgebildeten Formen der Regierungsbildung und der Auswahl der Ministerkandidaten trugen dann aber sofort dazu bei den Übergang zum parlamentarischen System zu diskreditieren und den Ruf nach einem plebizitären Ersatzkaiser und einer neutralintegren Bürokratie erneut und mit Nachdruck zu erheben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. F. Fischer, Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911— 1914, Düsseldorf 1969; D. Stegmann, Die Erben Bismarcks. Parteien und Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschland, Sammlungspolitik 1897— 1918, Köln-Berlin 1970; P. -Ch. Witt, Die Finanzpolitik des Deutschen Reichs von 1903 bis 1913. Eine Studie zur Innenpolitik des Wilhelminischen Deutschland, in: Historische Studien, Heft 415, Lübeck-Hamburg 1970; H. Böhme, Deutschlands Weg zur Weltmacht, Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848— 1881, Köln/Berlin 1966. Auf Differenzen in der Beurteilung oder in der Methode zwischen Fischer und seinen „Schülern", vor allem Witt und Stegmann, kann ich hier nur gelegentlich eingehen. Die im Folgenden geäußerte Kritik kann und will die anregenden Beiträge Fischers zur Erforschung des kaiser-lichen Deutschland nicht bestreiten.

  2. Vgl. u. a. D. Fricke, Strategie und Taktik der Bourgeoisie in der Auseinandersetzung zwischen Imperialismus und Sozialismus. Thesen, in: ZfG, 1968, Heft 9; W. Gutsche, Die Beziehungen zwischen der Regierung Bethmann Hollweg und dem Mono-polkapital in den ersten Monaten des 1. Weltkriegs, Phil. Habil. -Schrift, Berlin 1967; ders., Taktik oder Alternative? Zum Problem der Differenzierung innerhalb der herrschenden Klasse während des ersten Weltkriegs in Deutschland, in:

  3. V. R. Berghahn, Zu den Zielen des deutschen Flottenbaus unter Wilhelm II., in: HZ 210/1, 1970, S. 100.

  4. Vgl. H. -J. Puhle, Parlament, Parteien und Interessenverbände 1890— 1914, in: Das kaiserliche Deutschland, a. a. O., S. 340 ff.

  5. Besonders eindringlich trug L. Frank diese Argumentation in der Zaberndebatte im Januar 1914 vor. Sten. Ber. RT, XIII. Leg. per., 198. Sitzung v. 23. 1. 1914, Bd. 292, Sp 6730— 6740.

  6. W. Rathenau, Tagebuch 1907— 1922, hrsg. von H. Pogge von Strandmann, Düsseldorf 1967, S. 179; H. Oncken, Historisch-politische Aufsätze und Re-den, I, München/Berlin 1914, S. 21 ff., bes. S. 28— 32.

  7. S. u. S. (28 ff.) Das wichtigste Indiz sei vorweg erwähnt: die Befürchtungen der Rechten, die Regierung könne die Zustimmung der Linken zu den MiIitär(Wehr-) vorlagen mit Zugeständnissen in der Sozialpolitik erkaufen (wie sie es 1892/94 und anläßlich der Finanzierung der Flottenvorlagen gegenüber dem Zentrum getan hatte) oder die Rüstungskosten auf die Besitzenden abwälzen statt sie weiterhin durch Erhöhung der indirekten Steuern zu finanzieren.

  8. Hierfür sprechen von Riezler notierte Äußerungen des Reichskanzlers; Erdmanns Edition der Riezler-Tagebücher wird es ermöglichen, das Verhältnis des Reichskanzlers zur SPD genauer zu bestimmen.

  9. über die erste Welle der „Realpolitik" der Nationalliberalen gegenüber Bismarck in der Reichsgründungsphase 1867— 1876 s. meinen Aufsatz: „Die Nationalliberalen — eine regierungsfähige Partei? Zur Problematik der inneren Reichsgründung 1870— 1878", demnächst in: G. A. Ritter, Hrsg., Deutsche Parteien vor 1914.

  10. Eindrucksvolle Belege zum Caprivi-Trauma enthält die Arbeit von Stegmann (Anm. 2), S. 348, 427 ff. u. a. O.

  11. Es fehlt hier der Platz, um die Blockbildungen im einzelnen vorzustellen. Manches Grundsätzliche über Stärken und Schwächen der Linksblock-Konzeption Naumanns, Haußmanns, der Jungliberalen, L. Franks oder der Vertreter der „rechten“ SPD (David, Südekum, Kolb, Heine) ist bekannt; das . Kartell der schaffenden Stände’ ist durch die Arbeit von Stegmann und die korrigierend-ergänzenden Studien von H. J. Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im Wilhelminischen Reich (1893— 1914). Ein Beitrag zur Analyse des Nationalismus am Beispiel des Bundes der Landwirte und der Deutsch-Konservativen Partei, Hannover 1967, sowie H. Kaelble, Industrielle Interessenpolitik in der Wilhelminischen Gesellschaft (Centralverband Deutscher Industrieller 1895— 1914), Berlin 1967, zum festen, inhaltlich fixierten Begriff geworden. Stegmann zieht die Grenzlinien anders als Fischer, in-dem er die Vorkriegspolitik im Bezugsrahmen einer Konfrontation zwischen BdL/Schwerindustrie/Mittelstandsvereinigung-Hansabund /Nationalliberale /Fortschrittliche Volkspartei/Zentrum — Sozialdemokratie deutet, S. 398, 423 u. a. O. Die Konzeption eine „Mitte", einer „Koalition im Werden" habe ich in dem in Anm. 1 genannten Aufsatz entwikkelt; sie knüpft an ältere Überlegungen von H. Herzfeld und E. Pikart an. An dieser Stelle möchte ich nur betonen, daß die Blockbildungen in der zeitgenössischen Debatte einen festumrissenen Begriff bildeten, also nicht von außen als Denkmodelle an die Vorkriegszeit herangetragen werden.

  12. Idi verwende den Begriff „konstitutionelle Demokratie" in Anlehnung an Meinecke, Troeltsch, H. Preuß; er bezeichnet die von ihnen geforderte Alternative zum „umgekehrten Klassenstaat", einem Ersatzwort für Bolschewismus und Rätedemokratie und wurde anläßlich des Verlangens nach der Einberufung einer Nationalversammlung vorgebracht — s. meine Diss, bes. S. 202 ff.

  13. Eine andere Frage kann ich hier nur anschneiden, ob nämlich der Trend zum Zweiparteiensystem im Zeitalter der Gruppenpolitik, des Vormarsches der Interessenverbände als Verhandlungspartner von Regierung und Verwaltung und des Wunsches nach dem Verhältniswahlrecht in einem Land wie Deutschland überhaupt zum Durchbruch kommen konnte. An dieser Stelle genügt der Hinweis, daß diejenigen, die das parlamentarische System als verantwortliche Regierungsform wünschten, das Zweiparteiensystem zwar als Voraussetzung werteten, es aber dennoch 1918/1919 aus konkreten Gründen umgehen wollten.

  14. F. Naumann, Die deutsche Linke, in: Die Hilfe 18, 1912, S. 60— 67 (1. 2. 1912).

  15. Die Deutung A. Rosenbergs: Die Entstehung der Weimarer Republik, Frankfurt/M. 1961, S. 31, arbeitet weitgehend mit dem Denkschema . privilegierte Konservative'(Reichsfreunde) gegen . Reichsfeinde'(Zentrum, FVP, SPD).

  16. Vgl. generell zu dieser These Th. Eschenburg, Das Kaiserreich am Scheideweg. Bassermann, Bülow und der Block, Berlin 1929, S. 171. Weitere Belege enthalten die Studien von J. Bertram, Die Wahlen zum Deutschen Reichstag von 1912. Parteien und Verbände in der Innenpolitik des Wilhelminischen Reiches, Düsseldorf 1964, und D. Grosser, Vom monarchischen Konstitutionalismus zur parlamentarischen Demokratie, Den Haag 1970. — Daß diese Einstellung einen verfassungspolitischen Immobilismus begünstigte, zeigt das Beispiel des Staatsrechtlers R. Schmidt; er gehörte zu den wenigen renommierten Staatsrechtlern des Kaiserreichs, die die Rolle der Parteien vorurteilslos sahen. Dennoch riet er in der Daily-Telegraph-Krise dem Reichstag davon ab, dem Kaiser das Recht zur Ernennung des Reichskanzlers bzw.der Staatssekretäre streitig zu machen, d. h. praktisch das scheinkonstitutionelle Regime zu rügen. Er begründete seine Mahnung zur Bescheidung nicht mit der üblichen Infragestellung der Regierungsfähigkeit der deutschen Parteien oder den Mängeln eines Parteienstaats, sondern mit einem Hinweis auf die ungefestigte öffentliche Meinung. Mit diesem Kunstgriff erinnerte er die potentiellen Mehrheitsparteien im Reichstag daran, daß sie sich auf die Dauer auf keine politisch interessierte öffentliche Meinung würden stützen können; das ganze läuft dann doch auf eine Rechtfertigung des Anspruchs der Monarchie und der Bürokratie auf das Ämtermonopol hinaus. R. Schmidt, Parlamentsregierung und Parlamentskontrolle in Deutschland, in: Zs. f. Pol. II, 1908, S. 186— 211.

  17. Vgl. Witt, a. a. O„ S. 296, 306 ff., 310; Stegmann, a. a. O., S. 398, 409 ff.; Bertram, a. a. O. Zum Zabernkonflikt s. H. U. Wehler, Symbol des halbabsolutistischen Herrschaftssystems: Der Fall Zabem 1913/14, als Verfassungskrise des Wilhelminischen Kaiserreichs, in; Studien zur deutschen Sozial-und Verfassungsgeschichte. Göttingen 1970, S. 65— 83. Zuerst H. U. Wehler; Der Fall Zabern. Rückblick auf eine Verfasungskrise des wilhelminischen Kaiserreichs, in: Welt als Geschichte 23, 1963, S. 27— 46.

  18. Kirdorfs These, jede Nachgiebigkeit gegenüber den Forderungen der Arbeiterbewegung gefährde die bestehende Gesellschaftsordnung, entspricht der Parole von R. Luxemburg und K. Liebknecht, die SPD fordere nur ihr Recht und sei nicht verpflichtet, für Reformen irgendein Entgegenkommen zu erweisen, d. h. ihre Forderung nach einer Umwälzung der Machtverhältnisse und nach der Aufhebung des Klassenstaats fallenzulassen.

  19. Der englische Premierminister Lloyd George prägte 1919 angesichts einer ähnlichen, wenn auch weniger zugespitzten Konfrontation das treffende Wort, daß die Extremisten die Reformer für ihre Todfeinde hielten und ihren Kampf in erster Linie gegen die „Mitte" richteten. Ich glaube, dieser Gedanke sollte auch bei der Deutung der deutschen Geschichte in der Phase 1907— 1929 stärkere Berücksichtigung finden.

  20. In dieser Richtung agitierten R. Luxemburg und Liebknecht, ohne Verständnis bei ihren engeren

  21. Das geht deutlich aus den Tagebüchern von E. David und aus den Protokollen der Reichstagsfraktion der SPD hervor; s. E. Matthias, E. Pikart, (Bearb.), Die Reichstagsfraktion der SPD 1898— 1918, in: Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Düsseldorf 1969; Das Kriegstagebuch des Reichstagsabgeordneten E. David 1914— 1918, hrsg. von S. Miller, Düsseldorf 1969.

  22. Hier ist an die Konflikte zwischen der verarbeitenden Industrie und dem Ruhrkohlensyndikat als einem Beispiel für Interessengegensätze zwischen Bdl und CVdl zu denken. Vgl. H. Nußbaum, Unternehmer gegen Monopole, Berlin 1966.

  23. Was ist beispielsweise von einer Argumentation wie der folgenden zu halten?; „Ein nicht unbeträchtlicher Teil dieser assimilierten jüdischen Familien, die in innenpolitischen Fragen zumeist eine vorsichtig liberalkonservative, zum Teil aber auch eine prononcierte linksliberale Haltung einnahmen, vertrat außenpolitisch das Programm der imperialistischen deutschen Weltpolitik und ordnete sich auch insofern voll in die Hauptströmungen der deutschen Politik vor 1914 ein." So Fischer, Krieg der Illusionen, S. 42.

  24. S. vor allem Bassermanns Parteitagsrede vom 4. 7. 1909, zitiert in: Th. Eschenburg, a. a. O., S. 266 ff. Vgl. Stegmann, a. a. O., S. 220 ff., 438 ff„ 344 ff. Die Festredner stilisierten die Erinnerungsfeiern des Jahres 1913 zum Thema der Selbstbestimmung, d. h.der Erweiterung und Auffrischung der Führungsschichten der Nation und einer Neubestimmung der staatstragenden Kräfte.

  25. Ich verweise vor allem auf die Beiträge von L. Haas (FVP) und E. Bernstein in dem repräsentativen Sammelband „Das Jahr 1913. Ein Gesamtbild der Kulturentwicklung", Leipzig/Berlin 1913, ed. D. Sarason, bes. S. 18— 20; s. ferner Stegmann, a. a. O„ S. 344 ff.

  26. F. Naumann, Der Liberalismus von 1813, in: Die Hilfe, 1913, S. 274 f.

  27. Fischer zeigt selbst, daß die konservativen Kräfte Deutschland weltpolitisch in verschiedenen Richtungen engagieren wollten. Er unterläßt es aber, erstens nach der Relation zwischen verfügbaren Machtmitteln und postulierten Zielen generell und zweitens in der Sicht der einzelnen Gruppen zu fragen. Das außenpolitische Programm der Linkskräfte stellt er verzerrt dar, weil er'die innenpolitischen Triebkräfte und Leitmotive nicht genügend berücksichtigt.

  28. Hierin stimme ich Stegmann, S. 401 ff., 423 zu; er stellt die These auf, der Blockgedanke sei 1913 zum politischen Credo der Rechten geworden; sie wertete ihr Kartell als Gegengewicht zur „gesamtdemokratischen Interessengemeinschaft" (!), S. 402.

  29. Stegmann, S. 348, 427 ff.

  30. S. die in Anm. 10 zitierte Studie von H. J. Puhle.

  31. Stegmann, a. a. O., S. 120 et passim.

  32. Das ist auch von Fischers Slandpunkt aus unlogisch. Denn es ist nur berechtigt, das Zentrum zu den konservativen Kräften zu zählen, wenn man herausstellt, daß das taktische Geschick des Zentrums, vor allem die Absprachen zwischen Zentrum und Konservativen über die Arbeit im Reichstag und im preußischen Abgeordnetenhaus dazu mithalfen, das komplizierte deutsche Regierungssystem einigermaßen intakt zu halten. Fischer interessieren keine „Details" wie die Tatsache, daß nur das Zentrum und nicht die Nationalliberalen oder das „Bürgertum" die Illusion der Konservativen und der Regierung zerstören konnte, sie würden den konservativen Kurs beibehalten können, ohne ihn durch liberale oder soziale Zugeständnisse für die anderen Gruppen erträglicher zu gestalten. Nur das Zentrum war stark und unabhängig genug, um den Konservativen zu demonstrieren, daß sie sich entweder allein dem Zug der Zeit entgegenstellen oder Konzessionen machen mußten, um dem Zentrum zu helfen, das Gesicht als Volkspartei zu wahren.

  33. Reichstag und Parteien sind für Fischer sekundäre Durchgangsstufen, die von den anderen Kräften manipuliert und beherrscht werden, also keinen eigenständigen gestaltenden Einfluß ausübten. Die marxistische Literatur fand den Rechtfertigungsgrund für die Vernachlässigung des Reichstags als Entscheidungsebene der Politik darin, daß der Parlamentarismus bekanntlich der Bourgeoisie dazu diene, das Volk zu betrügen - S. D. Fricke, Die bürgerlichen Parteien und die Lebensfragen der Nation, ZfG, XI, 1963, S. 56. Indem Fischer bei den Verbänden und deren Resolutionen verweilt, beschränkt er seine Analyse auf einen Bereich, in dem der Zwang zur Zweck-Mittel-Relation nur selten besteht; Verbände können sich aufs Postulieren beschränken, Parteien und Regierung müssen hingegen den kürzesten Weg gegen die geringsten Widerstände finden, also taktisch operieren.

  34. Zum Folgenden s. F. Fischer, Krieg der Illusionen, Düsseldorf 1969, bes. S. 41 ff., 53, 59 ff., 100 ff., 381— 413 u. a. o Die Kritik trifft die Arbeiten von Witt und Stegmann nicht in gleicher Schärfe.

  35. Stegmann, S. 277. Die Sozialpolitik stagnierte in allen am Wettrüsten beteiligten Ländern, die auch aus anderen Anlässen von Streikwellen, innenpolitischen Frontbildungen etc. erfaßt wurden. Ich brauche nicht den alten Vorwurf zu wiederholen, daß Fischer sein Begriffsinstrumentarium schärfen und die Problemidentifizierung präzisieren könnte, falls er einen Blick auf die verwandten Probleme der anderen europäischen Industrienationen geworfen und aus dem Vergleich der Gründe und Umstände, die zur Bewältigung, Kriterien zur Beurteilung der deutschen Situation entwickelt hätte.

  36. Mir fällt auf, daß Fischer trotz eines gewissen Vorsprungs bei der Benutzung der in der DDR liegenden Akten des preußischen Staatsministeriums und der Reichskanzlei kaum einmal Belege aus den Archiven für seine gravierenden Behauptungen erbringt, sondern vielmehr an entscheidenden Stellen der Argumentation lediglich Zitate aus den Haus-organen der Verbände ins Treffen führt; d. h., er führt polemische Zeugnisse der Flügelparteien als Kronzeugen in den Prozeß der historischen Meinungsbildung ein. S. Fischer, Krieg der Illusionen, S. 381 ff., 412; ähnliches gili gelegentlich auch für Stegmann, z. B. S. 418.

  37. Die Aufzählung der Personalunionen etc. verwischt darüber hinaus die Gegensätze zwischen Parteien und Verbänden, die für die politische Auseinandersetzung in Deutschland vor 1914 kennzeichnend sind.

  38. Wir konnten bei Fischer keinen Beleg dafür finden, daß die Kerngruppen des Kartells das Risiko einer Klassenkampfsituation wagen bzw. wie sie die Regierung aus ihrer Zurückhaltung in dieser Angelegenheit herausholen wollten. Fischers Schüler zitieren frappierende Aussagen von Tirpitz, Wangenheim, Roesicke u. a., aus denen hervorgeht, daß die konservativen Führungskräfte ähnlich wie die SPD-Führung das Stehvermögen ihres Anhangs in Krisensituationen bezweifelten und den Konflikt scheuten, s. z. B. Witt, S. 141, 238; Fischer, S. 168.

  39. Ich verdanke G. A. Ritter den Hinweis auf die Bedeutung der „Konvention", daß die preußisch-deutschen Regierungen das Recht zur Reichstagsauflösung immer nur gegen „links" nutzten, vor einer Auflösung gegen die Rechte — zuletzt 1909, als Bülow das Drängen der Nationalliberalen unbeantwortet ließ — aber stets zurückschreckten; s. Historisches Lesebuch, 2, 1871— 1914, Fischer-Bücherei, 1967, S. 19.

  40. Stegmann, a. a. O., S. 323 ff., 444; Fischer, a. a. O„ S. 168.

  41. Stegmann, a. a. O., S. 121.

  42. Vgl. V. R. Berghahn, Der Tirpitz-Plan. Genesis und Verfall einer innenpolitischen Krisenstrategie unter Wilhelm II., Düsseldorf 1971.

  43. Stegmann, a. a. O., S. 433, 166, 284 f„ 367, 416 ff.; vgl. die obigen Ausführungen über das Jubiläumsjahr 1913.

  44. Stegmann, a. a. O., S. 148 ff., 284, 221 ff., 318 ff., 364 ff., 399 ff., 405 ff., 423, 443 ff., 455, enthält glänzende Analysen des Verhältnisses zwischen Nationalliberalen und Wirtschaftsverbänden.

  45. Fischer läßt seine Leser dabei im Unklaren, war-um er Meinungsäußerungen der Rechten für bare Münze nimmt (s. Anm. 32), Standortbekundungen der Nationalliberalen aber übergeht, wonach ihr Eintreten für eine nationale Wirtschaftspolitik noch kein Plädoyer für das Leipziger Kartell sei, sondern im Gegenteil die Distanzierung von den Sammlungsparolen der Alldeutschen, des BdL und des CVdl erleichtern sollte; s. Stegmann, S. 432.

  46. Witt, S. 337, 341, 365; F. Klein, (Hrsg.), Deutschland im Weltkrieg, S. 132 und Stegmann schildern die bis zum Kniefall oder zur Demütigung gehenden Versuche Bethmann Hollwegs, die Konservative Partei vor der Isolierung zu bewahren und ihnen Einfluß auf die Regierungsgeschäfte zuzugestehen.

  47. Zur Charakterisierung der Blöcke s. Anm. 10.

  48. Während z. B. Claß die Frontstellung gegen Bethmann Hollweg verschärfen wollte, mahnte der konservative Parteiführer Heydebrand, der ungekrönte König von Preußen (I), zu vorsichtigerem Taktieren, denn auf Bethmann Hollweg könne ein liberaler, reichstagsfreundlicherer Kanzler folgen — s. Stegmann, a. a. O., S. 415. Claß schildert auch eingehend, daß zwischen den Verbandsführern der Rechten vor 1913 kaum Kontakte bestanden hatten, daß das Mißtrauen zwischen ihnen aber auch nach den ersten Treffen durchaus erhalten blieb. Für Fischer sind diese Indizien eines Selbständigkeitsstrebens der „Kampfverbände" der Rechten zur Eindämmung der demokratischen Regungen bedeutungslos; andernfalls müßte sein Bild der Machteliten differenzierter ausfallen.

  49. Zur Verdeutlichung ein Beispiel: Bebel konnte situationsbedingt die Diskussion in der SPD um das preußische Wahlrecht durch den Hinweis auf die für die Partei bedeutendere, aber auch gefährdete Funktion des Reichstags entschärfen; auf diese Weise gelang es ihm, jeden über disziplinierte Wahlrechtsdemonstrationen hinausgreifenden Aktivismus seiner Anhänger zu bremsen. Für die Mittelparteien stellte sich das Problem, ob sie in der Personalpolitik, in der Verwaltungsreform, in der Wahlrechtsfrage oder in der Parlamentarisierung den Hebel zur Auflockerung des preußischdeutschen Machtgefüges ansetzen sollten. Zwar stellten alle Initiativen einen Angriff auf konservative Machtbastionen dar, aber der Wechsel der Angriffsfläche schwächte doch die Durchschlagskraft und die Erfolgschancen der Reformbewegungen. Die Beurteilung dieser Vorgänge ist aber nur möglich, wenn man die taktischen Bedingungen berücksichtigt und nicht nur das Ergebnis an den höher gesteckten Zielformulierungen mißt.

  50. W. Sauer, Das Problem des deutschen Nationalstaats, in: H. Böhme, Hrsg., Probleme der Reichsgründungszeit, Neue Wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 26, Köln-Berlin 1968, S. 471. Die Starrheit des Sozial-und Machtgefüges des Kaiserreichs habe den Organisationspatriotismus in der Arbeiterbewegung mit ähnlicher Wirkung stabilisiert wie die Fixierung der SPD auf die eigene Subkultur den revolutionären Habitus der Arbeiterpartei im Gespräch hielt und dem konservativen Sozialmilieu das Beweismaterial für die Beschwörung der Revolutionsgefahr, d. h. für die Propagierung ihrer Stiftungsideologie einer Sammlung der staatserhaltenden Kräfte an die Hand lieferte.

  51. Die Konzeptionen der „Mitte“ und des Links-blocks überlagern sich streckenweise; beide schließen die SPD als Partner einer Reformbewegung ein: der Linksblock, indem er die SPD als aktives Mitglied vorsieht, die „Mitte", indem sie — unter anderem auch unter Berücksichtigung der Schwierigkeiten für die SPD, einer Koalition mit den bürgerlichen Parteien beizutreten — die wohlwollende Neutralität der SPD einkalkuliert. Sie will ihrerseits bestrebt sein, die „legitimen“ Forderungen der SPD zu verwirklichen — teils, um die SPD zu befriedigen, teils, um den Aufstieg der SPD durch Erfolge der Reformpolitik zu bremsen.

  52. S. Anm. 34. Vgl. ferner Witt, a. a. O., S. 141, 238; Fischer, a. a. O., S. 168.

  53. Es ist offensichtlich, daß die ostdeutsche Geschichtswissenschaft hier den Wandel der Außenpolitik der DDR nachvollzieht, d. h. versucht, die Gefährlichkeit der Konvergenz-Ideologie zu enthüllen und die „Reinheit" des Sozialismus in der DDR von der Anfälligkeit der SPD für sog. Reformkoalitionen mit den Vertretern des Monopolkapitals abzuheben — vergl. Anm. 3.

  54. M. R. Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in; Wirtschaft, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte, Festschrift zum 65. Geburtstag von F. Lütge, hrsg. von W. Abel, K. Borchardt, H. Kellenbenz, W. Zorn, Stuttgart 1966, S. 371— 393.

  55. E. Matthias, Kautsky und der Kautskyanismus. Die Funktion der Ideologie in der deutschen Sozialdemokratie vor dem 1. Weltkrieg, in: Marxismus-Studien, 2. Folge, hrsg. von I. Fetscher, Tübingen 1957, S. 151— 197; G. Roth, The Social Democrats in Imperial Germany. A Study in Working-Class Isolation and National Integration, Totowa 1963; P. Lösche, Arbeiterbewegung und Wilheiminismus. Sozialdemokratie zwischen Anpassung und Spaltung, in: GWU, XX, 1969, S. 519— 533. Im Ansatz entwirft Morsey ein ähnliches Bild von der Zentrumspartei — R. Morsey, Die deutschen Katholiken und der Nationalstaat zwischen Kulturkampf und Erstem Weltkrieg, in: HJb, Bd. 90, 1970, S. 31— 63. Für die Liberalen und die Konservativen dürfte der Nachweis wegen der Verquickung ihrer Parteigeschichte mit dem Gang der Regierungsführung schwieriger sein.

  56. Lepsius, a. a. O., S. 377.

  57. Lepsius, ebenda, S. 392 f.

  58. Ohne sich von der SPD zu trennen, erklärten sie nach außen hin ihre Neutralität, um über alle ihnen offenstehenden Kanäle die Interessen ihrer Anhänger zur Geltung bringen zu können. Sie pochten auf das Recht, wie andere Verbände über Beiräte von der Regierung in den sie betreffenden Angelegenheiten konsultiert zu werden und gingen dazu über, innerhalb der SPD-Fraktion eine Art Sozialausschuß zu bilden, der sich um punktuelle Koalitionsabsprachen mit ähnlich eingestellten Flügeln in benachbarten Fraktionen bemühte.

  59. Für das Zentrum meint das die Paritätsforderung und die Verankerung der kirchlidi-klerikalen Grundrechte in der Reichsverfassung; damit suchte es die Unterwanderung seines Wählerreservoirs durch die SPD und den bürgerlichen Nationalismus abzufangen. Die Formel der Wachablösung hatte für die Liberalen eine ähnliche Bedeutung — sie wollten einen Erdrutsch nach links oder rechts verhindern und durch Mobilisierung eines traditionellen Emanzipationsanspruchs ihren soziokulturellen Stammkreis verteidigen.

  60. S. hierzu D. Grosser, a. a. O., S. 76 ff. et passim.; s. auch U. Bermbach, Aspekte der Parlamentarismus-Diskussion im kaiserlichen Reichstag. Die Erörterungen im Interfraktionellen Ausschuß 1917 bis 1918, in: PVj, VIII, 1967, S. 51— 70. Man wollte mitregieren, d. h. beim Abschluß der mehrheitsbildenden Kompromiß • Berücksichtigung finden, um Maßnahmen oder besetze zu Lasten des eigenen Sozialmilieus zu verhindern, andererseits aber in der Lage sein, „Opposition" zu betreiben, um die Fixierung der Gefolgschaft auf das traditionelle Sozialmilieu sicherzustellen.

  61. Die Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg stand weitgehend unter diesem Aspekt, s. z. B. W. Frauendienst, Demokratisierung des deutschen Konstitutionalismus in der Zeit Wilhelms II., in: Zs. f. ges. Staatswiss., Bd. 113, 1957, S. 721— 746; ders., Der Reichstag im Zeitalter des persönlichen Regiments Wilhelms II., in: E. Deuerlein, Der Reichstag, Aufsätze, Protokolle und Darstellungen zur Geschichte der parlamentarischen Vertretung des deutschen Volkes, 1871— 1933, Frankfurt/M. 1963, S. 59— 73; E. Pikart, Die Rolle der Parteien im deutschen konstitutionellen System vor 1914, in: Zs. f. Pol. IX, 1962, S. 12— 32; Th. Eschenburg, Die improvisierte Demokratie der Weimarer Republik, München 1963; H. Herzfeld, Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1962.

  62. Besonders C. Bachem hob diese Teile in seiner Geschichte der Zentrumspartei — Bd. VI, S. 165 — hervor und suchte in den tagespolitischen Auseinandersetzungen nach 1909 daran anzuknüpfen.

  63. Wir können an dieser Stelle nur die Frage an-schneiden, welche Bedeutung der Umstand haben mochte, daß die jungen Führungsschichten zum großen Teil aus dem außerpreußischen oder süddeutschen Raum nach Berlin kamen und dann 1918 in den Regierungen Max v. Badens und Scheidemanns den Hauptteil der Minister stellten.

  64. S. die Zeugnisse bei Stegmann, a. a. O., S. 220 ff., 344 ff., 432 f., 438 ff. — Die Nationalliberalen und die bürgerlichen Politiker wollten sich nicht länger zur Kasse bitten lassen, ohne politische Gegenforderungen bei den Konservativen einklagen zu dürfen. Zum stärkeren Machtbewußtsein des Reichstags s. Eschenburg, a. a. O., S. 277 ff und Bachem, VII, S. 56 ff.

  65. Wir spitzen damit Grossers Deutung zu, daß die älteren Parteiführer — Gröber, Pachnicke, Spahn, Paasche, Wiemer, u. a. — kein Gefühl für die Krisenanfälligkeit des Bismarckschen Verfassungssystems (und damit kein Verständnis für . Naumanns und Haußmanns Linksblock-Konzeption) entwickelten, sondern sich damit zufrieden gaben, daß sie in den Unterhandlungen mit den Regierungskommissaren in den Ausschüssen des Reichstags dieses oder jenes Zugeständnis herausschlagen konnten. S. Grosser, a. a. O., S. 134.

  66. Witt, a. a. O., S. 353; Stegmann, a. a. O., S. 217, 300 ff„ 420.

  67. über die Besprechungen zwischen Reichsleitung (Bethmann Hollweg, Delbrück, Wahnschaffe u. a.) mit den Fraktionsführern wissen wir noch zu wenig, um die Bedeutung der Kontaktebene würdigen zu können.

  68. Für die Rechte bedeutete Erzbergers Aufstieg in der Zentrums-Partei — nach dem Wechsel Hertlings auf den Stuhl des bayerischen Ministerpräsidenten 1912 — ein Warnsignal; Hertling galt als Exponent einer „Entente" politik zwischen den konservativen Parteien Zentrum und Deutsch-Konservative; Erzberger trat zwar 1913 mit einem Buch an die Öffentlichkeit, in dem er das Zentrum als Partner der Konservativen vorstelle, aber seine Stilisierung des Zentrums als konservativem Gegenpol zur SPD (und zum Linksblock) beruhte doch auf einem Programm, das für die vom BdL abhängigen Deutsch-Konservativen kaum akzeptabel war. M. Erzberger, Politik und Völkerleben, Würzburg

  69. So vor allem L. Haas (FVP), in: Das Jahr 1913, ed. Sarason, 1914, S. 18— 20; Die entsprechenden Äußerungen von Naumann, Max Weber, Rathenau sind bekannt.

  70. In meinem Aufsatz „Die Nationalliberalen — eine regierungsfähige Partei" (s. Anm. 8) habe ich diese These unter Berufung auf die Wahlkampf-broschüre bzw.den Rechenschaftsbericht W. Wehrenpfennings über „Sechs Jahre nationalliberale Politik" vertreten; sie verlegt Sauers auf den Regierungsantritt Caprivis datierte Problemsicht zurück auf die Krise der Reformpolitik 1876— 1878; vgl. W. Sauer (Anm. 45), S. 470.

  71. Stegmann, a. a. O., S. 217 ff. et passim.

  72. Grosser, a. a. O., S. 53.

  73. Grosser, ebenda, S. 42.

  74. Das ist besonders an den Stichwahlparolen abzulesen; für die Wahl von 1912 s. Bertram, a. a. O., S. 40 ff., 55 ff.Stresemann, in: Der Panther, 1. 7. 1912. Ich verdanke den Hinweis Herrn Dr. Dietrich Mende. - Ähnliche Aussagen fielen in der Zabern-Debatte. Die Untersuchung von Grosser verzeichnet Stimmen des wachsenden Selbstvertrauens der Parlamentarier neben Stimmen der Bescheidung vor den Vorrechten des Kaisers hinsichtlich der Auswahl des Kanzlers. H. Preuß'berühmtes Bild - die Regierungsbildung im konstitutionellen System der Wilhelminischen Monarchie erfolgte nach dem Motto „Aus der Wolke zuckt der Strahl - ohne Wahl" - bündelt die Kritik an der Unsachlichkeit eines Regierungssystems, das in seiner Selbstbespiegelung gerade Sachverstand und Unparteilichkeit für sich in Anspruch nimmt. Die Unzufriedenheit über diesen Zustand erfaßte auch Stresemann, Bassermann, Erzberger, L. Frank oder E. David.

  75. J. C. G. Röhl, Deutschland ohne Bismarck, Tübingen 1969, hat dieses Machtvakuum in den 1890er Jahren ausführlich analysiert.

  76. Exponenten der Linksblock-Konzeption sind vor allem Junckh, F. Naumann, C. Haußmann, Haas, Richthofen, Funk in den bürgerlichen Parteien; Heine, Kolb, L. Frank in der SPD.

  77. Die Links-und Mittelparteien wollten damit gleichsam nachahmen, was Konservative, Zentrum und Interessenverbände durch Absprachen untereinander und durch geschlossenes Auftreten gegenüber der Regierung seit der innerpolitischen Wendung 1878— 1881 erreicht hatten.

  78. S. dazu Th. Nipperdey, Grundprobleme der deutschen Parteigeschichte im 19. Jahrhundert, in: W. Conze, Hrsg., Beiträge zur deutschen und belgischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1967, S. 147— 169, bes. S. 168.

  79. Die Zentrumspartei mußte, was z. B. Bachem erkannte, die Grenze nach rechts schärfer ziehen, um ihre Arbeiterwähler bei der Stange zu halten; s. Stegmann, a. a. O., S. 234.

  80. S. hierzu die einschlägigen Passagen bei Steg-mann, a. a. O., S. 105, 153, 208 ff., 271 f„ 329, 389, 446 f., et passim. Die Pamphlete und Zeitschriften der Arbeitgebervereinigungen (Reiswitz, Kuhlo, u. a.) und der Freien Gewerkschaften sprechen deutlich aus, daß Fortschritte in der Sozialpolitik Machtfragen implizierten. So würde die Mitwirkung der Gewerkschaften bei der Arbeitsvermittlung durch Arbeitsämter (statt der je eigenen der Unternehmer-und der Arbeiterseite) oder bei der Auszahlung von Arbeislosenunterstützung die Position der Gewerkschaften konsolidieren. Die Verankerung des Schlichtungswesens in Tarifverträgen warf die Frage auf, ob die Festsetzung von Lohnleitlinien in diesen Rahmen fallen dürfe. Wer sollte Urteile in Tarifstreitigkeiten vollstrecken? Würden nur die Arbeitgeber de facto haftbar gemacht werden können oder auch die Gewerkschaften (für Verluste im Falle von formalrechtlich unzulässigen Streiks)? Die Entwicklung in den englisch-sprechenden Ländern — vor allem Neuseeland — wurde von der Arbeitgeberseite gegen die Machtsteigerung der Arbeitnehmervertretung durch gesetzliche Verankerung von „sozialen Verkehrs-formen“ als Argument herangezogen.

  81. Die Rechnung ging nicht auf, weil die Regierung Bethmann Hollweg nicht den ihr zugedachten Part spielen wollte: Sie scheute die Loslösung von den mit den Agrardemagogen liierten Deutsch-Konservativen und die Kampfansage an die schwerindustriellen Scharfmacher. Andererseits registrierte sie zwar die Wandlungen in der SPD hin zur Reformpartei, beantwortete die Öffnung der SPD zur Mitte aber nicht mit erhöhter Verhandlungsbereitschaft. Die Regierung, die weiterhin auf die Machtverhältnisse in Preußen Rücksicht neh-men mußte und dort direkt mit den Rechtskräften zu tun hatte, schätzte deren Macht höher ein als die bürgerlichen Reformer, die sich von den antisozialistischen Schlagworten zu lösen begannen. Die Reformer hielten sich stärker an die Symptome und Indizien des Unsicherheitsgefühles der Rechtskräfte.

  82. Diese Beobachtung hatte anscheinend für die Linksblock-Ideologie mehr Gewicht als die von den Zeitgenossen verfochtene These von der Pseudo-Parlamentarisierung in Preußen, d. h. die personelle Verflechtung zwischen Mehrheitspartei im Abgeordnetenhaus und Regierung, Bürokratie, Militär und Hofgesellschaft.

  83. S. hierzu vor allem U. Bermbach, (Anm, 55) und D. Grosser, a. a. O. Ich habe diese Frage bereits in meiner Dissertation: „Deutscher Historismus und der Übergang zur parlamentarischen Demokratie. Untersuchungen zu den politischen Gedanken von Meinecke-Troeltsch-Max Weber", Lübeck-Hamburg 1964, behandelt.

Weitere Inhalte

Gustav Schmidt, Dr. phil., Dozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster, geb. 1938 in Berlin, Studium der Geschichte, Germanistik, Politische Wissenschaft in Berlin und Oxford; Promotion 1963 in Berlin, Habilitation 1971 in Münster; z. Z. kommissarischer Leiter der Arbeitsstelle für neuere Geschichte Großbritanniens und des Commonwealth. Veröffentlichungen u. a.: Deutscher Historismus und der Übergang zur parlamentarischen Demokratie. Untersuchungen zu den politischen Gedanken von Meinecke—Troeltsch— Max Weber, Historische Studien, Heft 389, Lübeck—Hamburg 1964; Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs, in: M. Stürmer, Hrsg., Das Kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870— 1918, Düsseldorf 1970; Politische Tradition und wirtschaftliche Faktoren in der britischen Friedensstrategie 1917— 1919. Grundzüge einer europäischen Nachkriegsordnung in der Sicht englischer Machteliten, Habilitationsschrift Münster, 1971; Die Nationalliberalen — eine regierungsfähige Partei? Zur Problematik der inneren Reichsgründung 1870— 1878, in: G. A. Ritter, Hrsg., Deutsche Parteien vor 1914, Köln—Berlin, 1972.