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Nationalstaatsbewußtsein in der DDR | APuZ 28/1973 | bpb.de

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APuZ 28/1973 Artikel 1 I Wirtschaftspolitische Ziele und gesellschaftliche Gruppen in der marktwirtschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland Nationalstaatsbewußtsein in der DDR

Nationalstaatsbewußtsein in der DDR

Gebhard Schweigler

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Gibt es überhaupt noch eine Nation Deutschland? Diese Frage kann nur durch eine Untersuchung des Nationalbewußtseins der Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR beantwortet werden. In dieser Arbeit wird versucht, anhand von journalistischen Beschreibungen einiger DDR-Beobachter sowie einer Anzahl quasi-repräsentativer Meinungsumfragen unter DDR-Bürgern (vor 1961) und westdeutschen DDR-Besuchern Entwicklungstendenzen des Nationalbewußtseins in der DDR zu verfolgen. Es zeigt sich dabei, daß nach dem Bau der Mauer in Berlin die Bevölkerung der DDR ein auf die DDR bezogenes Nationalstaatsbewußtsein zu entwickeln begonnen hat, das die fortdauernde Existenz Deutschlands als Bewußtseinsnation — d. h. als eine Nation, die durch das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen eines Volkes bestimmt wird — immer mehr in Frage stellen wird.

Die Deutsche Frage — für viele Jahre eine Frage nach dem Wann und Wie der Wiedervereinigung Deutschlands — kann heute nur noch lauten: gibt es überhaupt noch eine Nation Deutschland? Bundeskanzler Willy-Brandt gab in seinem ersten Bericht „Zur Lage der Nation" im Januar 1970 auf diese Frage die folgende, heute noch gültige Antwort: „ 25 Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation des Hitler-Reiches bildet der Begriff der Nation das Band um das gespaltene Deutschland. Im Begriff der Nation sind geschichtliche Wirklichkeit und politischer Wille vereint. Nation umfaßt und bedeutet mehr als gemeinsame Sprache und Kultur, als Staat und Gesellschaftsordnung. Die Nation gründet sich auf das fortdauernde Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen eines Volkes. Niemand kann leugnen, daß es in diesem Sinne eine deutsche Nation gibt und geben wird, soweit wir vorauszudenken vermögen."

Tabelle 1: 130/0 100/0 „Glauben Sie, daß so wie die Dinge heute liegen, die Chancen für eine Wiedervereinigung Deutschlands gut oder schlecht sind?" Oktober 1951 sehr gut gut mäßig schlecht sehr schlecht keine Meinung DDR’ 3°/o 25 »/o 12 °/o 44 °/o 14 °/o 2°/o ! BRD 2% 24 ®/o 31 °/o 20 °/o *) DDR-Stichprobe (N = 215) unter ostdeutschen Besuchern zur West-Berliner Industrieausstellung. Quelle: HICOG, 4 115, 19. Dezember 1951 24).

Strikt geleugnet allerdings wird die Existenz der deutschen Nation bereits seit einiger Zeit von der politischen Führung der Deutschen Demokratischen Republik, die — nachdem sie selbst für lange Zeit an der unzerstörbaren Einheit der Nation festgehalten hatte — nunmehr, wie vor kurzem der ZK-Sekretär für Propaganda, Albert Norden, behauptet: „Es gibt nicht zwei Staaten einer Nation, sondern zwei Nationen in Staaten verschiedener Gesellschaftsordnung." Denn, so Norden: die Gemeinsamkeit von Territorium, Wirtschaft, psychischer und moralischer Eigenschaften, Kultur, Geschichte, Sprache und Gefühle sei nicht mehr vorhanden; eine gemeinsame Nation könne es deshalb auch nicht mehr geben.

Tabelle 2: „Rechnen Sie damit, daß die Trennung zwischen Mitteldeutschland und der Bundesrepublik in absehbarer Zeit fortfällt und wieder ein gemeinsames Deutschland entsteht oder ist lhror Meinung nach innerhalb der nächsten Jahre nicht damit zu rechnen?" erwarten Wiedervereinigung 1956 49 31 37 1957 36 36 30 1958 • 26 23 16 1959 27 23 31 Quelle: EMNID, „Zur politischen Einstellung der Bevölkerung der Sowjetzone". 1960 31 GW WB IA

Nordens Ausführungen können selbst für die DDR als extrem gelten; die Existenz zweier Nationen im ehemaligen Deutschland hat in einer solch scharfen Form noch kein anderes prominentes Mitglied der SED verkündet. Seine Überlegungen stützen sich aber dennoch auf eine gewisse Zustimmung vieler westlicher Beobachter der Verhältnisse im geteilten Deutschland. So gibt es eine Gemeinsamkeit von Territorium und Wirtschaft ganz ohne jeden Zweifel nicht mehr: Die westdeutsche Formel von den „zwei Staaten in einer Nation" hat die Nicht-Existenz Deutschlands als Staatsnation anerkannt. Auch die Frage, ob es noch eine deutsche Kulturnation gibt, kann heute nicht mehr unbedingt bejaht werden — zu unterschiedlich sind bereits die in den Klassenzimmern und auf den Fernsehschirmen der geteilten Nation vermittelten Geschichtsbilder und kulturellen Werte Selbst an der Gemeinsamkeit der in der DDR und in der Bundesrepublik gesprochenen Sprache werden Zweifel geäußert

Tabelle 3: tun?" (nur teilweise Antworten) „In welcher Beziehung könnte man vom Westen aus mehr als bisher für die Wiedervereinigung Verhandlungen, Zugeständnisse Politik der Stärke, Initiativen nichts, weiß nicht 1956 20 16 41 38 26 20 31 23 26 1957 21 19 37 34 14 29 23 19 42 1958 28 13 44 28 16 39 34 40 10 1959 25 18 42 21 32 34 13 23 55 Quelle: EMNID, „Zur politischen Einstellung der Bevölkerung der Sowjetzone". 1960 13 28 52 GW WB IA GW WB IA GW WB IA

Bleibt die Frage, ob sich die deutsche Nation im Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen erhalten hat, d. h. in anderen Worten: in einem gesamtdeutschen Nationalbewußtsein. Noch wird diese Frage von den politischen Kräften in der Bundesrepublik auf das ent-schiedendste bejaht, wobei allerdings die augenblickliche Politik des Sich-wieder-näher-Kommens auf sehr starken Befürchtungen basiert, dieses Zusammengehörigkeitsgefühl könne sich bereits weitgehend abgeschwächt haben. In der DDR wird die Existenz eines Zusammengehörigkeitsgefühls, soweit es die DDR-Bevölkerung betrifft, strikt abgelehnt.

Tabelle 4: „Unterrichten Sie sich bei sich zu Hause häufiger bzw. regelmäßig über die Entwicklung im Bundesgebiet — oder haben Sie dazu keine Gelegenheit?" häufig/regelmäßig gelegentlich selten kein Interesse keine Antwort 1956 76 11 6 7 59 19 12 9 1957 63 25 9 3 50 32 14 4 4 47 34 15 1958 43 28 25 4 35 31 25 9 1959 Quelle: EMNID, „Zur politischen Einstellung der Bevölkerung der Sowjetzone". 1960 39 33 17 11 GW IA GW IA GW IA GW IA

Bedenkt man, daß die Frage nach Deutschland als Bewußtseinsnation heute als die nationale Frage überhaupt gelten muß, erscheint der Mangel an sozialwissenschaftlichen Untersuchungen über das Nationalbewußtsein der Deutschen mehr als verwunderlich, dies um so mehr in Anbetracht der nicht mehr überschaubaren Flut an allgemeinen Darstellungen über die Deutsche Frage. So erschien erstmals im vergangenen Jahr eine auf empirischen Methoden fußende Untersuchung über das Nationalbewußtsein in der Bundesrepublik, die zu dem vorsichtigen Schluß kam, daß ein gesamtdeutsches Nationalbewußtsein einem westdeutschen Nationalstaatsbewußtsein zu weichen im Begriff ist Eine vergleichende Untersuchung über das Nationalbewußtsein in der DDR steht noch aus.

Tabelle 5: den Osten oder den Westen?" „Welche Seite halten Sie in der gegenwärtigen geistigen Auseinandersetzung für erfolgreicher: Westen erfolgreicher Osten erfolgreicher Quelle: EMNID, 1956 87 10 75 17 1957 76 16 68 8 1958 66 7 61 14 58 5 1959 45 11 59 22 48 9 „Zur politischen Einstellung der Bevölkerung der Sowjetzone''. 1960 52 17 GW WB IA GW WB IA

Peter C. Ludz, wahrscheinlich der profilierteste DDR-Experte in der Bundesrepublik, stellte im Januar 1972 fest: „Die in letzter Zeit in der Bundesrepublik und im westlichen Ausland häufig vorgebrachte These, daß die Bevölkerung der DDR insgesamt ein — im Vergleich zu den Bundesdeutschen — stärkeres Nationalbewußtsein oder doch überhaupt ein eigenes . Staatsbewußtsein'entwickele bzw.seit dem Bau der Mauer entwickelt habe, ist empirisch, d. h. intersubjektiv nachprüfbar, schwer zu verifizieren oder zu falsifizieren." Ludz argumentierte, daß Äußerungen dieses Inhalts „die Wirklichkeit in der DDR immer nur in sehr kleinen Ausschnitten, unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten und zu sehr verschiedenen Zeiten widerspie-geln]".

Tabelle 6: „Wenn Sie Ihre heutige Lebenshaltung zu Hause 1950 vergleichen — ich meine damit nur Ihre heute —: hat sich dann Ihre Lebenshaltung geblieben?" mit Ihrer persönlichen Lebenshaltung wirtschaftlichen Verhältnisse damals verbessert, verschlechtert, oder ist sie von und gleich^ verbessert Quelle: EMNID, 1956 33 53 47 1957 56 72 65 1958 57 73 71 1959 77 70 69 „Zur politischen Einstellung der Bevölkerung der Sowjetzone". 1960 51 GW WB IA

Ludz selbst hat allerdings an anderer Stelle folgende, zum Teil widersprüchliche Beobachtungen über das Nationalbewußtsein der Bevölkerung der DDR angestellt, ohne dabei aber Quellen für seine Angaben zu nennen: „Als die positiven Resultate allmählich immer sichtbarer wurden, vor allem im modernen Bauwesen, wuchs auch ein größeres . nationales'ein Selbst-Bewußtsein und Stolz auf die eigene Leistung, vor allem weil die Umstände schwieriger waren als in der Bundesrepublik. Der Slogan . Wirtschaftswunder DDR'war ein geschicktes SED-Propaganda-mittel, aber er fand einen Widerhall unter Tausenden von Menschen." „Bei den meisten Menschen, die in der DDR leben, kann man kein nationales’ oder . exklusives'Bewußtsein davon, daß man Bürger der DDR ist, feststellen. Dennoch hat sich die Kluft zwischen den beiden Teilen Deutschlands vergrößert und das , Selbst-Bewußtsein'zahlreicher Gruppen von Arbeitern hat sich in den letzten Jahren verstärkt. Dies geschah beinahe trotz der Tatsache, daß — im Vergleich zu den anderen osteuropäischen Ländern — kein unabhängiges Nationalbewußtsein in der DDR entwickelt werden durfte." „Die Menschen halten die DDR nicht für einen souveränen Staat, weil sie die Auswirkungen der Abhängigkeit [von der Sowjetunion] sehr tief fühlen. In Anbetracht dieser psychologischen und politischen Überlegungen kann man die DDR schwerlich für einen souveränen Staat halten. In der DDR finden wir kein . nationales'Bewußtsein in der traditionellen Bedeutung dieses Ausdrucks"

Tabelle 7: „Glauben Sie, daß die Bevölkerung der Zone es begrüßen würde, wenn die Bundesregierung mit der Pankower Sowjetzonen-Regierung Verhandlungen aufnimmt — oder glauben Sie, daß die Bevölkerung der Sowjetzone kein Verständnis dafür haben würde, wenn die Bundesregierung mit der Pankower Sowjetzonen-Regierung überhaupt verhandelt?" begrüßt Verhandlungen gegen Verhandlungen Quelle: EMNID, 52 46 1956 1957 75 19 62 35 69 27 92 7 1958 82 17 61 34 1959 52 44 56 39 „Zur politischen Einstellung der Bevölkeruﴰ

Diese ausführlichen Zitate von einem der besten Kenner der DDR spiegeln nicht nur die allgemeine Sprachunsicherheit wider, die man immer wieder feststellen kann, wenn vom Nationalstaatsbewußtsein der DDR-Bevölkerung die Rede ist („national" mit und ohne Anführungszeichen, im traditionellen Sinne und nicht-traditionellen Sinne, Bewußtsein und Selbst-Bewußtsein: all dies sind sprachliche Mittel der wissenschaftlichen Unsicherheit), sondern sie zeigen auch die Widersprüche auf, die entstehen können, wenn man sich auf Mutmaßungen anstatt auf empirisch gesicherte Erkenntnisse stützen muß.

Tabelle 8: „Wie stehen Sie dazu: sollte die Bonner Bundesregierung die Sowjetzonen-Regierung in Pankow anerkennen oder nicht anerkennen?“ anerkennen nicht anerkennen 1956 11 74 1957 29 53 20 77 1958 23 73 21 63 9 62 1959 10 65 14 67 10 74 Quelle: EMNID, „Zur politischen Einstellung der Bevölkerung der Sowjetzone". 1960 7 75 GW WB IA GW WB IA

Den Mangel an solchen empirischen Untersuchungen über das Nationalbewußtsein der DDR-Bevölkerung kann man Ludz natürlich nicht zum Vorwurf machen. Die Tatsache allein, daß es aus der DDR selbst keine zuverlässigen Daten diesem Themenkomplex gibt (die von dem dem ZK angeschlossenen Meinungsforschungsinstitut erarbeiteten Analysen werden streng geheim gehalten — der gelegentliche Abdruck eines Fragebogens in der westdeutschen Presse läßt allerdings darauf schließen, daß die Fragestellungen zur Untersuchung der Frage nach dem Nationalbewußtsein u. U. wenig beitragen können), muß jeden Versuch, das Nationalstaatsbewußtsein der DDR-Bevölkerung zu bestimmen, zu einem etwas zweifelhaften intellektuellen Unternehmen machen. Das heißt allerdings nicht, daß eine solche Untersuchung völlig unmöglich wäre; es bedeutet vor allem auch nicht unbedingt, daß es etwas, was sich im Augenblick nur schwer wissenschaftlich untersuchen läßt, deshalb auch nicht geben kann — eine Schlußfolgerung, die oftmals allzu schnell gezogen zu werden scheint.

Tabelle 9: „Geht es [den zwei Gesprächspartnern] in materieller Hinsicht heute besser als vor etwa 5 Jahren, geht es ihm/ihr schlechter oder hat sich da nichts geändert? Oder können Sie das nicht beurteilen? 1965/1966 besser schlechter nicht geändert kein Urteil West-Berliner über DDR-Bürger 38 °/o 22 % 36 »/o 4°/o Quelle: INFAS, „Vermutete Meinungen im Osten", Tabelle 6. 03.

Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, bei allen Schwierigkeiten und trotz mancher Zweifel an einzelnen Untersuchungsmethoden, ein grobes Bild von der Entwicklung des Nationalstaatsbewußtseins der Bevölkerung der DDR während der vergangenen zwanzig Jahre zu zeichnen. Dieses Bild setzt sich zusammen aus den zumeist journalistischen Berichten einzelner DDR-Reisender, aus Meinungsumfragen unter Bürgern der DDR, die vor dem Bau der Mauer nach West-Berlin reisten, sowie aus Meinungsumfragen unter West-Berlinern und Westdeutschen, die (nach dem Bau der Mauer) zu Verwandtenbesuchen in die DDR gereist waren. Das Meinungsumfragematerial, zumeist im Auftrag der Bundesregierung erarbeitet, ist zum weitaus größten Teil noch nicht veröffentlicht worden, unter anderem wohl auch deshalb nicht, weil einzelne Umfragen für sich allein betrachtet tatsächlich ein falsches Bild der wirklichen Meinungslage ergeben könnten. Es werden deshalb in der folgenden Untersuchung eine Reihe von Meinungsumfragen ganz bewußt zusammengestellt und dann in dieser Zusammenstellung mit den Aussagen einzelner DDR-Besucher in Verbindung gesetzt. Nur auf diese. Weise läßt sich ein einigermaßen zuverlässiges, wenn auch keineswegs naturgetreues Bild von der Entwicklung des Nationalbewußtseins der DDR-Bevölkerung gewinnen.

Tabelle 10: „Haben Sie den Eindruck, daß sein/ihr Leben in den letzten Jahren leichter geworden ist?" 1965/1966 leichter geworden nicht leichter geworden schwerer geworden weiß nicht West-Berliner über DDR-Bürger 28 0/0 52 0/0 15 0/0 5 0/0 Quelle: INFAS, „Vermutete Meinungen im Osten", Tabelle 6. 01.

Hinweise auf die Existenz eines eigenen Nationalstaatsbewußtseins in der DDR sind in einer Reihe von journalistischen Darstellungen der DDR enthalten, die nach dem Bau der Mauer entstanden sind. Interessanterweise handelt es sich dabei — mit zwei bemerkenswerten Ausnahmen — um Eindrucksschilderungen von Ausländern mit sehr engen, persönlichen Bindungen an Deutschland (durch Geburt oder durch Heirat); die Tatsache, daß hier Nicht-Deutsche ihre Eindrücke schildern, könnte u. U. auf eine größere Objektivität der Darstellungen schließen lassen.

Tabelle 11: „Haben Sie neulich in Ostberlin von ... eine ähnliche Feststellung wie diese gehört oder nicht?: In materieller Hinsicht geht es uns heute wirklich besser als vor einigen Jahren.“ 1965/1966 gehört nicht gehört weiß nicht West-Berliner über DDR-Bürger 52 °/o 43 0/0 50/0 Quelle: INFAS, „Vermutete Meinungen im Osten", Tabelle 8. 05.

Die ersten nach 1961 verfaßten Reiseberichte aus der DDR sprachen noch nicht von der Entwicklung eines ostdeutschen Nationalstaatsbewußtseins, obwohl sie darauf hinwiesen, daß „kein Zweifel daran bestehen kann, daß (das augenblickliche Regime) bereitwilli-ger von den jüngeren als von den mittleren oder älteren Jahrgängen akzeptiert wird" und daß, allgemein gesprochen, „der unsichtbare Graben zwischen den beiden Deutschlands sich vertieft"

Tabelle 12: „Meint A [ein Gesprächspartner in der DDR], daß die DDR ein selbständiger Staat ist wie z. B. Frankreich oder meint A, daß die DDR kein selbständiger Staat ist?" DDR ist selbständig nicht selbständig nicht darüber gesprochen • Westdeutsche über DDR-Bürger 1968 24 °/o 34 0/0 42 °/o N = 241 19691 II 42% 330/0 24% N = 578 Quelle: INFRATEST, DDR-Untersuchungen. 390/0 360/0 24°/o N = 1162

Es war Theo Sommer, der zusammen mit zwei anderen Mitarbeitern der Zeit im Frühjahr 1964 eine „Reise in ein fernes Land“ unternahm und zum erstenmal DDR-Behauptungen von der Entwicklung eines „Staatsbewußtseins" in der DDR bestätigte: „In der Tat ist in der DDR ein solches Staatsbewußtsein im Entstehen. Viele meiner Gesprächspartner, auch Kritiker des Regimes, sprachen wie selbstverständlich von ihrer , Republik': , Wir haben in der Republik jetzt das und das gemacht . . .', . unsere Republik hat. . .'Es ist noch ein zaghaftes Staatsbewußtsein, ein . unterbewußtes Staatsbewußtsein', wie es ein FDJ-Funktionär ausdrückte, aber doch schon deutlich genug ausgeprägt, um die Andersartigkeit der DDR, ihre Verschiedenheit von der Bundesrepublik sichtbar werden zu lassen — und die Tatsache, daß die Bevölkerung dieser Verschiedenheit in zunehmendem Maße gewärtig ist"

Tabelle 13: „Ist A der Ansicht, daß die Bundesrepublik die DDR anerkennen sollte oder ist A gegen eine Anerkennung?“ Für Anerkennung der DDR Gegen Anerkennung der DDR nicht darüber gesprochen Westdeutsche über DDR-Bürger 1970 I 43 °/o 25 °/o 31 °/o N= 578 Quelle: INFRATEST, DDR-Untersuchungen. 1970II 42 °/o 27 °/o 31 »/o N = 1162

Spätere Reiseberichte bestätigten Sommers Analyse. Der amerikanische Journalist Welles Hangen schrieb 1966 von der Entwicklung „zweier Mentalitäten", von „der Tatsache, daß Deutschland heute aus zwei Geisteshaltungen sowohl als auch aus zwei Staaten besteht", daß „Zeit und Umstände zwei Gesellschaften geschaffen haben, zwei Lebensweisen, zwei Teutonische Welten", so daß das, „was Ulbricht sozialistisches Bewußtsein" nennt, ich . Teutonisches Bewußtsein'nennen würde" Auch der Princeton-Professor Jean Smith wies 1967 darauf hin, daß die DDR in vielem „deutscher" sei als die Bundesrepublik, sich aber vielleicht gerade auf dieser Tatsache ein neues Nationalstaatsbewußtsein gründe. In einer Zusammenfassung seiner Eindrücke meinte er: „Die DDR war ganz ohne Zweifel deutsch, ihr industrieller und landwirtschaftlicher Fortschritt war eindrucksvoll und die Regierung erfreute sich jetzt eines substantiellen Maßes von Unterstützung. Es war deutlich festzustellen, daß ein Gefühl von nationaler Identität in Ostdeutschland am Entwickeln war; die Bundesrepublik wurde immer stärker als etwas Fremdes empfunden, und Ulbricht erfreute sich verbreiteten Respekts, wenn nicht Popularität."

Tabelle 14: 140/0 „Ist Person X der Ansicht, daß die Bundesregierung die DDR auf jeden Fall anerkennen sollte oder nur dann, wenn damit Erleichterungen für die Menschen hüben und drüben verbunden sind oder ist X der Ansicht, daß die Bundesrepublik die DDR auf gar keinen Fall anerkennen soll?“ ja, auf jeden Fall ja, wenn Erleichterungen nein, auf keinen Fall nicht darüber gesprochen Westdeutsche über DDR-Bürger 1970 I 1970 II 28 0/0 47 °/o 11 °/o N = 510 26 % 50 °/o 10% 15% N = 597 Quelle: INFRATEST, DDR-UﵪA

Die These von der Entwicklung eines DDR-Staatsbewußtseins wurde 1966/67 am nachdrücklichsten von dem deutsch-amerikanischen Professor Hans Apel vertreten, der in den Jahren 1962, 1964 und 1966 für längere Zeit die Möglichkeit hatte, „ohne Reisebegleiter" (so der Titel seines ersten Buches, 1965 erschienen) Gespräche mit Bürgern der DDR zu führen. Diese Gespräche machte er zur Grundlage einer semi-statistischen Darstellung der Entwicklung eines DDR-Staatsbewußtseins. Apel argumentierte, auf Grund seiner (unzulänglichen) Umfragemethoden festgestellt zu haben, daß zwischen 1962 und 1966 ein DDR-Staatsbewußtsein (an anderer Stelle nannte er es ein „Staatsgefühl" von anfänglich 37 °/o auf 71 °/o der Bevölkerung der DDR angestiegen sei Diese Zahlen schienen so unglaublich und Apels Darstellung selbst so überspitzt und zugleich naiv, daß seine vorläufigen Forschungsergebnisse fast durchweg abgelehnt wurden, obwohl sie doch nur das bestätigten, was andere DDR-Reisende zuvor auch schon berichtet hatten.

Tabelle 15: 1968 1969 I 1969 II Bewohner der DDR, die die DDR für einen selbständigen Staat halten, aufgeschlüsselt nach Altersgruppen. 14 bis 39 Jahre alt 40 bis 59 Jahre alt 60 und älter Quelle: Siehe Tabelle 12. Westdeutsche über DDR-Bürger 24 % 24 % 22 % 52 % 44 % 27 0/0 49 % 39 % 24 0/0

Auch nachfolgende DDR-Berichte schienen Apels Zahlen, wenn auch vielleicht nicht in ihrem absoluten Ausmaß, zu bestätigen. So faßte z. B.der deutsch-amerikanische Journalist John Dornberg seine langjährigen Erfahrungen in einem 1968 erschienenen Buch folgendermaßen zusammen: „Auf Grund der Tatsache, daß ich die DDR wiederholt seit 1960 besucht habe, bin ich in der Lage gewesen, ihre Transformation von der grimmigen letzten Bastion des Stalinismus in ein Land, das von Selbstvertrauen und erwachendem Nationalismus strotzt, zu verfolgen. Ich habe gesehen, wie die Menschen Osteuropas, die am meisten verbittert und enttäuscht waren, zu einer Nation von 17 000 000 geworden sind, in einer trotzigen und defensiven Art stolz auf ihre Leistungen ... Es macht keinen Unterschied, ob der wachsende Nationalismus der DDR künstlich 000 000 geworden sind, in einer trotzigen und defensiven Art stolz auf ihre Leistungen ... Es macht keinen Unterschied, ob der wachsende Nationalismus der DDR künstlich durch Propaganda großgezogen wurde oder ob er natürlich im Boden wachsenden Wohlstandes erwuchs. Für den Ostdeutschen, der diesen Nationalismus fühlt und erlebt, ist er wirklich und wird sein Denken bestimmen und seine Handlungen beeinflussen." 15)

Tabelle 16: 1969 I 1970 r 1969 II 1970 IP Bewohner der DDR, die für eine Anerkennung der DDR durch die Bundsrepublik ein treten, aufgeschlüsselt nach Altersgruppen. 14 bis 39 Jahre alt 40 bis 59 Jahre alt 60 und älter 52% 43 % 30 % Westdeutsche über DDR-Bürger 51 % 43 % 27 % 36 % 26 % 16% 41 °/o 27 % 15% * Für Anerkennung auf jeden Fall (ohne Bedingungen). Quellen: Siehe Tabellen 13 und 14.

Selbst der westdeutsche Fernsehjournalist Hanns Werner Schwarze bestätigte in einem 1969 erschienenen Buch: „Die DDR ist keine Zone mehr". Dabei schilderte er ausführlich das sich im Kontakt mit Ausländern und vor allem auch mit Westdeutschen äußernde Selbstbewußtsein des größten Teils der DDR-Bevölkerung, wobei er jedoch einschränkend bemerkte, es sei ein „Selbstbewußtsein mit dünner Haut und entsprechender Empfindlichkeit" 16). Er ließ die Frage offen, ob sich hinter diesem Selbstbewußtsein auch ein Staatsbewußtsein entwickelt habe.

Eindeutig beantwortete diese Frage ein Jahr später der Schweizer Journalist Andreas Kohlschütter, der in einem Zeit-Artikel unter der Überschrift „Sie sagen , Ja'zu ihrem Staat" nach einem dreiwöchigen DDR-Aufenthalt berichtete, daß auf dem Untergrund eines „Arrangement mit Vorbehalten" etwas entstanden sei, „was man als DDR-Staatsbewußtsein bezeichnet: eine Haltung, in der sich über das rein alltagsbedingte Zugehörigkeitsgefühl hinaus Zustimmung zur politischen Systemordnung und Identifikation mit dem Staatswesen ausdrücken. Dieses Bewußtsein hat sich seit meiner letzten DDR-Reise im Jahre 1965 auffallend gefestigt und präzisiert." 17) Auch er verwies auf den „urdeutschen Charakter" der DDR und kam zu dem Schluß: „Das preußisch-ostdeutsch-kommunistische Patriarchat, das uns als ein permanenter Entmündigungsvorgang erscheint, ist schon zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Es wird nicht mehr in Frage gestellt, sondern grundsätzlich bejaht, für gut und richtig befunden. Es begründet jenes Gefühl der Geborgenheit, über dessen Fehlen sich ostdeutsche Flüchtlinge im Westen so oft beklagen." Selbst wenn sich viele, auch die jüngere Generation, noch als „Deutsche" fühlten, so messen sie „diesem Empfinden . . . aber keinen politischen Aktualitätswert mehr bei, es macht sie auch keineswegs zu politischen Verbündeten der Bundesrepublik". Mit anderen Worten: Wenn man diesen Berichten Glauben schenken darf, so hat ein Nationalstaatsbewußtsein bezogen auf die DDR ein gesamtdeutsches Nationalbewußtsein verdrängt. Damit wäre die Existenz Deutschlands als Bewußtseinsnation zumindest in Frage gestellt. Alle hier zitierten Berichterstatter über die DDR stützten die Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen über die Entwicklung eines DDR-Staatsbewußtseins seit dem Bau der Mauer auf die Tatsache, daß sie — zum Teil mehrere Male — die Möglichkeit hatten, mit x-beliebigen DDR-Bürgern offen sprechen zu können. Sozialwissenschaftlich ausgedrückt heißt das: sie fühlten sich berechtigt, auf Grund einer Zufallsauswahl von Eindrücken, die sie im Gespräch mit einzelnen DDR-Bürgern gewonnen hatten, auf die Einstellung der Gesamtbevölkerung schließen zu können. Namhafte westdeutsche DDR-Experten, denen der Zugang zur DDR oft versperrt bleibt, haben sich bisher geweigert, diese Schilderungen als repräsentativ für die Gesamtbevölkerung der DDR anzuerkennen. Sie tun, wie vor zwei Jahren Johannes Kuppe, solche Berichte als „Modeerscheinung" ab und halten daran fest, daß ohne empirische Forschung an Ort und Stelle zuverlässige Aussagen über die DDR nicht möglich sind

Für den Sozialwissenschaftler allerdings ist gerade die Zunahme solcher „Modeerscheinungen" ein wichtiges Datum, das er zur Kenntnis nehmen muß, wie wir es hier getan haben. Dennoch muß man natürlich weiteres Datenmaterial hinzuziehen, um zu noch zuverlässigeren Aussagen über die Entwicklung eines DDR-Nationalbewußtseins gelangen zu können. Solches Datenmaterial ist in der Form von Meinungsumfragen erhältlich, die — obwohl sie nicht direkt in der DDR durchgeführt wurden — unter DDR Bürgern während der vergangenen zwanzig Jahre erhoben wurden, und zwar zunächst unter Ostdeutschen, die nach West-Berlin kamen, und seit 1961 unter Westdeutschen und West-Berlinern, die die DDR besuchten

Es erscheint müßig, darauf hinzuweisen, daß die Ergebnisse solcher Meinungsumfragen keineswegs als völlig repräsentativ für die Meinungen der Gesamtbevölkerung der DDR gelten können. Selbst wenn man annimmt, daß die Meinungsforschungsinstitute ihre Arbeit — von der Erstellung der Fragebögen über die Feldarbeit bis hin zur Auswertung — in tadelloser Weise bewerkstelligt haben, so daß man Kritik von dieser Seite her ausklammern kann, so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß der Teil der Bevölkerung, von dem die Stichproben für die Befragungen gezogen wurden, in keiner Weise für die Gesamtbevölkerung repräsentativ ist. Vor dem Bau der Mauer konzentrierten sich die westdeutschen Bemühungen zur Erforschung der ostdeutschen Meinung auf DDR-Besucher in West-Berlin, deren Anwesenheit in West-Berlin aber schon von vornherein ihr grundsätzliches Interesse für Westdeutschland verriet.

Nach dem Bau der Mauer mußte man sich darauf beschränken, West-Berliner und westdeutsche Besucher der DDR über ihre Eindrücke in der DDR auszufragen, also gleichsam eine große, statistisch gesicherte Anzahl von DDR-Reiseberichten zu erhalten und auszuwerten. Selbst wenn man eine ganze Reihe von methodologischen Problemen außer acht läßt, die eine solche Befragungsmethode auf-wirft, so steht doch auf Grund der Tatsache, daß sich nur nahe Verwandte besuchen konnten, von vornherein fest, daß der Teil der DDR-Bevölkerung, der für die Stichproben quasi herangezogen wurde, wiederum am ehesten dem Westen freundlich gesinnt war. Dieser eher konservative Einschlag, den wir bei diesen Untersuchungsmethoden vermuten, sollte aber nicht allzu hinderlich sein für unsere Untersuchung; denn sollten sich dennoch im Laufe der Zeit wichtige Verschiebungen im Meinungsbild dieser kleinen Teilgruppe erkennen lassen, so wäre dies u. U. ein noch zuverlässigeres Indiz für das Anwachsen eines DDR-Nationalstaatsbewußtseins, als wenn man sich etwa auf eine dem System von vornherein freundlicher gesinnte Bevölkerungsschicht gestützt hätte, wie dies wahrscheinlich für die oben zitierten Journalisten zutraf, deren Kontakte sich zu einem großen Teil auf SED-Funktionäre beschränkten.

Bedauerlicherweise muß jedoch gleich am Anfang dieser Untersuchung klargestellt werden, daß nur sehr wenige Fragen in diesen Meinungsforschungsuntersuchungen gestellt wurden, die ein direktes Licht auf das Anwachsen eines DDR-Nationalstaatsbewußtseins bzw. auf die Abschwächung eines ge27 samtdeutschen Nationalbewußtseins werfen könnten. Vor allem die Befragungen in den fünfziger Jahren beschränkten sich zu einem großen Teil darauf, die Resonanz westlicher Radiosendungen im Osten zu verfolgen oder ostdeutsche Einstellungen zur Sowjetunion und zum Westen, zu den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik, über Eisenhower und Adenauer, über die Vorteile des Lebens im Westen und die untragbaren Zustände in der DDR festzustellen — kurz gesagt, um nachzuweisen, daß, alles in allem, die Ostdeutschen fest hinter dem Westen standen und die Westmächte nicht für das Versagen der Wiedervereinigungsbemühungen verantwortlich machten. Der ständig anhaltende Strom von Flüchtlingen trug dazu bei, diese Ansichten zu bestärken, denn, so nahm man an, die Flüchtlinge „stimmten mit ihren Füßen" für den Westen.

Aber es gab schon sehr früh einige wissenschaftlich erarbeitete Hinweise, die dieser Ansicht widersprachen. Das Institut für Demoskopie in Allensbach z. B. veranstaltete während der „Weltjugendfestspiele" 1951 in Ost-Berlin eine Umfrage unter 500 DDR-Jugendlichen, die zu einem Abstecher nach West-Berlin gekommen waren. Die Resultate dieser Untersuchung faßte das Institut folgendermaßen zusammen: „Es wäre höchst bedenklich, wollte man von der vorwiegend westlichen Einstellung der Befragten auf eine ähnliche Einstellung der gesamten Ostzonenjugend schließen, zumal die Ergebnisse dieser Umfrage — wenn auch in schwacher Tendenz — eine stetig wachsende Zustimmung zum östlichen System und eine zunehmende Wirksamkeit der kommunistischen Parolen erkennen lassen — schwache Tendenzen, die freilich bei der westlichen Einstellung der Befragten besonders ins Gewicht fallen. Wenn auch das Bewußtsein für die westliche Lebensform bei einem bedeutenden Teil der Ostzonen-Jugend heute noch lebendig ist, so ist damit nicht gesagt, daß diese oppositionelle Einstellung zum Ostzonen-Regime auf die Dauer unvermindert fortbestehen wird."

Diese Schlußfolgerung spiegelte eine grundsätzliche Befürchtung vieler Westdeutscher wider, die sich um die zukünftige Entwicklung in der DDR Sorge machten; daß sich nämlich die Bevölkerung der DDR langsam an die vorherrschenden gesellschaftlichen und politischen Lebensbedingungen anpassen würde, daß sie diese annehmen würde, nicht so sehr, weil sie ihnen etwa aus Überzeugung zustimmen könnte, sondern weil sie keine andere Wahl sehen würden. Vor allem fürchtete man, daß ein Aufgeben der Hoffnung auf Wiedervereinigung, zusammen mit einem Arrangement mit den Zuständen in der DDR, zu einem Abklingen der „oppositionellen Haltung" der Bevölkerung der DDR führen könnte. Obwohl vor allem die Bundesregierung ständige Bemühungen unternahm, die Hoffnung auf Wiedervereinigung im Osten und im Westen aufrechtzuerhalten und die Ostdeutschen vor allem davon zu überzeugen, daß die Verhältnisse in der DDR in der Tat untragbar waren sollten sich diese Befürchtungen letztlich bewahrheiten.

Schon 1951 zeigte sich die Bevölkerung der DDR über die Aussichten auf Wiedervereinigung sehr viel pessimistischer als die westdeutsche Bevölkerung, wie aus Tabelle 1 deutlich hervorgeht. Daß ihre oppositionelle Einstellung allerdings noch nicht verflogen war, das bewiesen die Ereignisse des 17. Juni 1953. Aber obwohl die Unruhen mit Hilfe sowjetischer Panzer unterdrückt worden waren, blieb dieser Aufstand doch nicht ohne positive Auswirkungen auf die Bevölkerung der DDR; immerhin konnten 61 °/o ostdeutscher Besucher in West-Berlin auf „eine Reihe vorteilhafter Veränderungen" hinweisen Diese Demonstration der Unzufriedenheit schien die Funktion eines Ventils für aufgestauten Arger erfüllt zu haben; die darauf folgenden Änderungen der Politik der SED-Führung mögen dann zum Beginn eines stärkeren Arrangements mit der persönlichen Lage in der DDR beigetragen haben. Eine drastische Abnahme der Flüchtlingsziffern (von 110 000 pro Vierteljahr in den beiden ersten Quartalen von 1953 auf 40 000 im letzten Quartal 1954) schien diese psychologischen Auswirkungen der Ereignisse vom 17. Juni widerzuspiegeln. Allerdings — auch das zeigten Meinungsumfragen — schien die Bevölkerung der DDR nach wie vor in militanter Weise am Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands festzuhalten; im Herbst 1953 z. B. waren 60 % (von 448 Besuchern in West-Berliner Lebensmittelverteilungsstellen) bereit, notfalls die Wiedervereinigung auch mit Waffengewalt zu erreichen, sollten friedliche Verhandlungen nicht die Wiedervereinigung bringen Auch eine Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Konzession für die Erreichung der Wiedervereinigung fand anscheinend keine Zustimmung bei der Bevölkerung der DDR Noch war das gesamtdeutsche Nationalbewußtsein ungebrochen. Eine groß angelegte Untersuchungsreihe „Zur politischen Einstellung der Bevölkerung der Sowjetzone", die das EMNID-Institut jährlich dreimal zwischen 1956 und 1960 unter ostdeutschen Besuchern der Grünen Woche (GW), der Industrieausstellung (IA) und West-Berlins (WB) allgemein durchführte zeigte im großen und ganzen, wie eine Zustimmung zu den Verhältnissen in der DDR vor allem in den Jahren zwischen 1956 und 1958 anwuchs, dann aber wieder sich abschwächte — eine Tatsache, die schließlich in den wieder ansteigenden Flüchtlingszahlen und dem Bau der Mauer ihren für alle Welt sichtbaren Ausdruck fand.

Es erwies sich aber auch in diesen Untersuchungen, daß die Hoffnung auf Wiedervereinigung während dieser Jahre geringer wurde (Tabelle 2) und man sich vor allen Dingen allmählich nicht mehr so recht vorstellen konnte, mit welchen politischen Mitteln denn der Westen eine Wiedervereinigung erreichen könnte (Tabelle 3).

Zusammen mit einem Gefühl der Desillusion über die Chancen für und Möglichkeiten zur Erreichung der Wiedervereinigung kam ein ständig anwachsendes Desinteresse an Westdeutschland. Wie Tabelle 4 zeigt, sank die Zahl derjenigen DDR-Bewohner, die sich regelmäßig über Ereignisse in der Bundesrepublik informierten, zwischen 1956 und 1960 drastisch ab — ein starkes Indiz dafür, daß die Bevölkerung der DDR ihre Aufmerksam-keit immer mehr auf ihre eigenen Angelegenheiten lenkte und sich für gesamtdeutsche Entwicklungen weniger zu interessieren begann: Erste Hinweise also auf eine Trennung der Kommunikationsströme mit Primärinformationen über die Nation. Der Prozeß der Entfremdung hatte eingesetzt.

Ohne Zweifel wurde das wachsende Desinteresse der DDR-Bevölkerung an Entwicklungen in der Bundesrepublik durch eine durchweg kritische Einstellung gegenüber den Westdeutschen gefördert — eine Einstellung, die sich zum Teil auf Neid auf den westdeutschen Wohlstand gründete (die Westdeutschen seien „zu reich", „zu satt", „nur an materiellen Dingen interessiert", hieß es da), zum Teil aber auch ein Gefühl des Ärgers und der Frustration über ein — tatsächliches oder scheinbares — Desinteresse der westdeutschen Bevölkerung an der DDR im allgemeinen und an einer Besserung der Zustände in der DDR insbesondere als Ursache hatte.

Im Durchschnitt hatten nur etwa 20 % aller Befragten eine wohlwollende Meinung von ihren westdeutschen „Brüdern und Schwestern"; mehr als 50% hatten nur bittere Bemerkungen für die Westdeutschen übrig, während ungefähr 30 % sich zum Teil positiv, zum Teil negativ über die Westdeutschen äußerten. Es war aber genau auf der Basis einer solchen Mischung von Neid, Vorwürfen und Sich-vergessen-Fühlen, auf der — wie Beobachter der DDR schon seit Jahren festgestellt haben — ein DDR-Nationalstaatsbewußtsein Gestalt anzunehmen begann.

Bedenkt man, wie konstant diese neidvoll-kritische Grundhaltung vieler Bürger der DDR gegenüber dem westlichen Deutschland während der fünfziger Jahre war, so kann es eigentlich nicht verwundern, daß mit der Zeit auch die geistige Anziehungskraft des Westens nachzulassen schien; dabei weist die Tatsache, daß man der östlichen Ideologie vergleichsweise nicht mehr Vertrauen schenkte, darauf hin, daß die DDR-Bevölkerung sich mit den gegebenen Verhältnissen wohl zu arrangieren begann, sie aber nicht unbedingt akzeptierte (Tabelle 5). Sicherlich beruhte das Nachlassen der Attraktivität des Westens zum Teil auf einer gewissen Resignation in Anbetracht der Tatsache, daß es (dem Westen nicht gelang, die Verhältnisse in der DDR entscheidend zu verändern; andererseits aber zeigte es sich auch, daß die Verhältnisse in der DDR selbst in zunehmendem Maße günstiger eingeschätzt wurden. Dies traf vor allem für die Einschätzung der eigenen wirtschaftlichen Verhältnisse zu (Tabelle 6), äußerte sich aber auch in einer zunehmend günstigeren Beurteilung der Entwicklung der Jugend in der DDR, der kulturellen Verhältnisse in der DDR und insbesondere auch in der Tatsache, daß die Zahl derer, die außer wirtschaftlichen Schwierigkeiten „sonst nichts Bedrückendes" am Leben in der DDR fanden, von rund 20% im Jahre 1956 auf 47 % im Februar 1958 anstieg. Das vorsichtige Gefühl der Zufriedenheit, das in diesen Untersuchungen zu Tage trat, wich allerdings 1958 — nach neueinsetzenden Reisebeschränkungen, Chruschtschows Berlin-Ultimatum und der Forcierung der Kollektivisierung der Landwirtschaft — wieder einem Gefühl der Unzufriedenheit und Bedrücktheit (1956 und 1957 hatten sich nur etwa 35% durch Unfreiheit und Rechtlosigkeit bedrückt gefühlt;

1958 schwoll diese Zahl auf knapp 60%). Auch wirtschaftlich, so fühlte man, ging es nach 1958 wieder bergab

Die Tatsache, daß Zufriedenheit und Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in der DDR auch die Einstellung der Bevölkerung gegenüber ihrer Regierung beeinflußte — eine Einstellung, die zwischen vorsichtiger Unterstützung und entschiedener Ablehnung schwankte —, wird aus den Antworten auf die Frage nach ost-west-deutschen Verhandlungen und nach der Anerkennung der DDR-Regierung durch die Bundesregierung deutlich. Wie aus den Tabellen 7 und 8 hervorgeht, ergaben sich zwischen den „guten Jahren" 1957 und 1958 und den „schlechten Jahren" 1956 und 1959/1960 starke Veränderungen im Meinungsbild der DDR-Bevölkerung.

Der Bau der Mauer in Berlin am 13. August 1961 symbolisierte das Versagen der Regie-rung der DDR, ein genügend großes Vertrauen in der Bevölkerung zu gewinnen. Er bedeutete aber auch, im Gegensatz zu ursprünglichen westlichen Erwartungen, einen entscheidenden Wendepunkt in der Entwicklung der Einstellungen der Bevölkerung der DDR gegenüber ihrem Staat, dessen Regierung, gegenüber der Bundesrepublik wie überhaupt gegenüber der deutschen Nation. Obwohl das bisher gebrachte Datenmaterial schon auf die Möglichkeit verwiesen hat, daß selbst vor 1961 bereits eine Anzahl von DDR-Bürgern bereit gewesen war, sich ihrem neuen Staat gegenüber loyal zu verhalten, so war doch deutlich zu erkennen, daß diese Loyalität zu einem großen Teil von der Erfüllung gewisser Bedingungen abhing, vor allem einem gewissen materiellen Wohlstand, einem Gefühl der Freiheit und einem Sich-verlassen-Fühlen vor allem von den Westdeutschen. Die oben zitierten Beobachter der DDR wiesen fast durchweg darauf hin, daß durch den Bau der Mauer diese Bedingungen letztlich erfüllt wurden: In den Jahren seit 1961 machte die DDR gewaltige wirtschaftliche Fortschritte, die sich auch auf den Lebensstandard jedes einzelnen auswirkten; durch die Sperrung der Grenzen nach Westen konnte es sich die SED erlauben, im Inneren größere Freiheiten zuzulassen und den ideologischen Druck auf die Bevölkerung zu verringern; und die Mauer selbst stellte den besten Beweis dafür dar, daß der Westen keinen Einfluß auf den Lauf der Ereignisse im Osten hatte. Jetzt, wo die Alternative der Flucht nach dem Westen nicht mehr gegeben war — so argumentierten die DDR-Experten —, fanden es viele Bewohner der DDR für vorteilhaft, sich in ihrem Verhalten und dadurch auch letztlich in ihren Einstellungen mit dem politischen, gesellschaftlichen, und ökonomischen System der DDR zu arrangieren.

Leider — für unsere Zwecke zumindest — machte die Existenz der Mauer die Durchführung weiterer Meinungsumfragen unter Bewohnern der DDR, die nach West-Berlin reisten, unmöglich. Dieser Umstand gestaltet es etwas schwierig, die Darstellungen der journalistischen DDR-Beobachter mit empirischem Datenmaterial zu belegen oder zu widerlegen. Denn wenn es vorher möglich war, sich bei Meinungsumfragen wenigstens direkt an DDR-Bürger wenden zu können, so mußte man sich in der Folgezeit damit begnügen, Meinungen über Meinungen (von Westdeutschen über Ostdeutsche) zu sammeln — ein Vorgehen, das es nahezu unmöglich macht, auch nur eine quasi-repräsentative Stichprobe von DDR-Bewohnern zu erhalten. Dennoch, solches Datenmaterial kann von einem gewissen Wert sein, die Eindrücke einzelner Experten zu unterstützen oder in Frage zu stellen; wir werden deshalb die wenigen existierenden Umfragen dieser Art mit eben dieser Absicht im folgenden darstellen.

Die wenigen seit dem Bau der Mauer vorgenommenen Untersuchungen über das Meinungsbild der DDR-Bevölkerung scheinen im großen und ganzen die Eindrücke der von uns zitierten DDR-Beobachter zu bestätigen, denen zufolge sich in der DDR ein Nationalstaatsbewußtsein zu bilden begonnen hat, das sich in der bewußten Akzeptierung der wesentlichen Bestandteile des politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Systems der DDR äußert. Wie bereits angedeutet, können die Ergebnisse dieser Untersuchungen natürlich nicht als repräsentativ für die Gesamtbevölkerung der DDR gelten. Zieht man jedoch in Betracht, daß die befragten westdeutschen DDR-Besucher (die nicht nach repräsentativen Merkmalen ausgewählt wurden) sicherlich nicht den DDR-freundlichsten Teil der westdeutschen Bevölkerung darstellen dürften und bedenkt man, daß dies auch für deren Kontaktpersonen in der DDR selbst zutreffen wird (über deren geäußerte oder vermutete Meinung die westdeutschen Besucher befragt wurden), so kann man zwar annehmen, daß ein so entstandenes Meinungsbild verzerrt ist, aber zugleich auch sicher sein, daß dies eher von einer grundsätzlich ablehnenden Haltung geprägt sein dürfte. Dennoch: „Die reinen direkten Auszählungsdaten sind jedenfalls zwar keineswegs wertlos, aber mit gehöriger Vorsicht zu behandeln."

Die deutsch-deutsche Besuchswelle, die mit dem Abschluß des Passierscheinabkommens für Weihnachten 1963 einsetzte, eröffnete zum erstenmal die Möglichkeit, zumindest West-Berliner über ihre Eindrücke von und in Ost-Berlin zu befragen. Eine 1963 entstandene Untersuchung nahm „eine Zusammenfassung aller von den Ost-Berlinern geäußerten Einstellungen und Verhaltensweisen vor" und kam zu dem Ergebnis, „daß 15°/o stärkere Sympathien für das Regime vermuten ließen und weitgehend angepaßt waren". 19°/o waren „erklärte Feinde des Regimes", etwa ein Drittel „Arrangierte mit keinen oder nur partiellenen Sympathien", während ein weiteres Drittel „politisch und ideologisch völlig desinteressiert" war

Eine weitere Untersuchung, im Januar/Fe-bruar 1966 durchgeführt, brachte anscheinend wesentlich andere Ergebnisse. Insgesamt 238 West-Berliner wurden gefragt, wie sich die „politische Auffassung" von zwei östlichen Gesprächspartnern „nach Ihrer Meinung" bezeichnen ließe: Danach waren 14 0/0 der so ermittelten DDR-Bürger „linientreue SED-Anhänger", „gemäßigte Kommunisten" und „Mitläufer", 270/0 „unpolitisch", 270/0 „Regimekritiker" und gar 30% „scharfe Gegner" Es erweist sich bereits an diesem Beispiel, wie sehr viel DDR-feindlicher das Meinungsbild der DDR-Bevölkerung wirkt, wenn Antworten westdeutscher DDR-Besucher direkt fabuliert werden, als wenn man sich auf eine sorgfältige Auswertung aller Antworten verläßt, wie das bei der Untersuchung von 1963 der Fall war.

Die INFAS-Untersuchung von 1965/1966 zeigte aber bereits, daß sich die Verhältnisse in der DDR seit dem Bau der Mauer offensichtlich doch verbessert hatten, und zwar nicht nur in materieller Hinsicht (Tabelle 9), sondern auch ganz allgemein (Tabelle 10). Noch wichtiger: Die Mehrheit der Bevölkerung der DDR schien sich dieser Verbesserung bewußt (Tabelle 11). Während diese Zahlen zwar kein überwältigendes Gefühl der Verbesserung verraten, zeigen sie doch, daß mehr Bewohner der DDR sich materiell verbessert als verschlechtert hatten, und diese Entwicklung erschien noch sehr viel ausgeprägter unter den jüngeren Altersgruppen (von denen es, nach dem Urteil der WestBerliner, 54 °/o besser und nur 12 % schlechter ging) als bei den älteren DDR-Bewohnern, von denen man annehmen kann, daß sich mit dem Eintritt in ein höheres Alter die materielle Lage verschlechtert, wie dies ja anderswo leider auch der Fall ist.

INFAS versuchte — über materielle Aspekte des Lebens hinaus — das Gefühl der Zufriedenheit der DDR-Bevölkerung auszuloten, und zwar mit einer Vielfalt von Fragen über allgemeine Aspekte des Alltagslebens und insbesondere über „sozialistische und demokratische Errungenschaften" der DDR-Gesellschaft. Dieser Versuch schlug im großen und ganzen fehl, da in den meisten Fällen die West-Berliner mit ihren Gesprächspartnern in der DDR darüber nicht gesprochen hatten und so auch über deren Meinungen und Ansichten nicht berichten konnten. Offensichtlich hatte man sich hauptsächlich über nicht-politische Dinge unterhalten, wobei die West-Berliner nahezu übereinstimmend berichteten, man habe sich gut verstanden, offene Gespräche geführt und ähnliche Meinungen in „allgemein menschlichen Fragen" vertreten. Allerdings mußte man auch feststellen, daß zwischen 35 °/o und 40 0/0 der Gesprächspartner „vieles" oder „manches" in der Bundesrepublik falsch sahen — eine Tatsache, die vor allem für Nicht-Ost-Berliner und jüngere DDR-Bürger zutraf. Vielleicht konnte man dies dem Umstand zuschreiben, daß von 53 °/o der Gesprächspartner, die sich über Westdeutschland und die Westdeutschen allgemein äußerten, 30 °/o eine kritische Meinung hatten, 15 °/o „teils-teils" gestimmt schienen und nur 8 °/o sich „zustimmend" ausdrückten. Am meisten warf man den Westdeutschen „Gleichgültigkeit" und „Sattheit" vor, aber auch „tun nichts", „reden viel", „falsche Vorstellungen" und „Arroganz" gaben Anlass zu Unmutäußerungen — kurz, eine Liste von Beschwerden, die bis in die fünfziger Jahre zurückreicht.

Da man über die Errungenschaften der DDR offensichtlich wenig sprach — andeutungsweise zeigten sich die Bewohner der DDR zufrieden vor allem mit Entwicklungen auf dem Gebiet der Krankenfürsorge und des Erziehungswesens, unzufrieden mit der Versorgung mit Konsumgütern und der Anwesenheit von sowjetischen Truppen auf dem Boden der DDR —, dafür aber sehr viel Ablehnendes über Ulbricht hörte, gewannen die West-Berliner den Eindruck, daß 70 °/o ihrer Gesprächspartner lieber woanders als in der DDR leben würden (die meisten in West-Berlin, was diesen Eindruck etwas plausibler macht), und daß 81 °/o von diesen unwilligen DDR-Bewohnern die DDR auch tatsächlich verlassen würden, wenn sie nur könnten. Wären diese Zahlen in irgendeiner Weise repräsentativ für die Gesamtbevölkerung der DDR (was sie schon allein wegen des Berliner Fokus der Untersuchung nicht sind, der sich gerade bei dieser Frage sehr deutlich bemerkbar macht), so würden sie natürlich einen eindeutigen Beweis gegen die Behauptung darstellen, daß sich in der DDR in den Jahren seit dem Bau der Mauer (bis 1965 zumindest) ein DDR-Bewußtsein entwickelt habe.

Ernst Richert, von INFAS mit einer eingehen-deren Analyse der Resultate dieser Meinungsumfrage beauftragt, ließ diesen scheinbaren Gegenbeweis nicht gelten. Er stellte vielmehr die Abwesenheit aller wirklichen Hoffnungen auf eine Wiedervereinigung in absehbarer Zeit fest sowie ein allgemeines Desinteresse an westdeutschen Angelegenheiten und kam — auf Grund differenzierender Abwägungen der Meinungen verschiedener Gruppen in der DDR — zu dem Schluß, daß „der Zwang, sich zu arrangieren, nahezu allgemein bestimmend [wirkt]", daher „die als Obrigkeit interpretierte Führung hingenommen wird" und im übrigen „die überwältigende Mehrheit prinzipiell den . Sozialismus'[be35 jaht] " Richert sprach bewußt nicht davon, daß sich hinter diesen Entwicklungen das Heranwachsen eines DDR-Staatsbewußtseins abgezeichnet habe; seine Schlußfolgerungen jedoch schienen dies zumindest anzudeuten.

Der kritische Zeitpunkt für die Entwicklung eines DDR-Nationalstaatsbewußtseins allerdings — darauf hatten schon die journalistischen Berichte über die DDR hingewiesen — waren die Jahre nach 1966, als mit dem Scheitern des Redneraustausches die offiziellen Äußerungen der SED letzte gesamtdeutsche Gemeinsamkeiten verneinten und mit der DDR-Staatsbürgerschaft und der Verfassung von 1968 auch der psychologische Druck auf die Bevölkerung, sich zu arrangieren, verstärkt einsetzte. Daß dieser Druck nicht ohne nachhaltige Wirkungen geblieben ist, vor allem auch auf das Bewußtsein der Bevölkerung der DDR, das beweisen die Ergebnisse einer Reihe von Meinungsumfragen unter westdeutschen DDR-Besuchern, die das Münchener Meinungsforschungsinstitut INFRA-TEST seit 1968 in regelmäßigen Abständen durchgeführt hat Es geht zwar aus diesen Untersuchungen hervor, daß — nach Aussage der westdeutschen Befragten zumindest — die Bewohner der DDR zu mehr als 70% „stark" an einer Wiedervereinigung interessiert waren, obwohl zugleich mehr als die Hälfte während des ganzen Untersuchungszeitraums nicht an die Möglichkeit einer Wiedervereinigung glaubte. Auch beschwerte man sich über ein mangelndes Interesse der Bundesrepublik an der Wiedervereinigung. Den Mauerbau hielten nur etwa ein Viertel der Kontaktpersonen für gerechtfertigt, und eine größere Anzahl von ihnen war offensichtlich der Meinung, sie hätten nach dem Bau der Mauer Freiheiten eingebüßt (was für Leute, die vorher zumindest die Möglichkeit gehabt hatten, sich mit ihren Verwandten in West-Berlin zu treffen, sicherlich keine überraschende Meinung ist). Von diesen Einstellungen her könnte man annehmen, die Bevölkerunng der DDR habe ihre Vorbehalte gegen die DDR als Staat noch nicht aufgegeben.

Die Antworten auf direkte Fragen nach den Einstellungen zur DDR als Staat bestätigen diese Annahme jedoch in keiner Weise. Schon die Tatsache, daß auf Grund dieser Untersuchungen die Zahl der „Systemanhänger" auf zwischen 24 % und 29 % eingeschätzt wurde, was immerhin eine Verdoppelung der entsprechenden Zahlen von 1963/1965 bedeutete, weist auf das Anwachsen einer positiveren Haltung gegenüber dem System hin. Noch stärker äußert sich diese Zustimmung zur DDR als Staat in dem Anwachsen der Zahl derer, die die DDR für einen „selbständigen Staat wie z. B. Frankreich" hielten (Tabelle 12).

Wenn man diese Zahlen für einigermaßen repräsentativ für die Gesamtbevölkerung der DDR halten kann (vielleicht sogar eher mit einem konservativen Einschlag), so würden die in Tabelle 12 enthaltenen Resultate Ludz'Behauptung widerlegen, daß die Bevölkerung die DDR nicht als einen souveränen Staat betrachte und sich daher in der DDR kein Nationalbewußtsein im traditionellen Sinne des Begriffes finden lasse.

Die Genauigkeit der Ludzschen Behauptungen wird auch durch die große Anzahl der DDR-Bürger, die sich für eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik aussprechen, in Frage gestellt (Tabelle 13).

Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß — wie sich in späteren Fragestellungen zeigte — von vielen Bewohnern der DDR die Frage der Anerkennung mit der Gewährung von menschlichen Erleichterungen verbunden wurde (Tabelle 14) (eine Anerkennung ohne jegliche Gegenleistung wäre ja tatsächlich eine politische Kurzsichtigkeit ersten Ranges). Diese Zahlen bestätigen in eindrucksvoller Weise — eindrucksvoll, weil die Resultate von mehreren Umfragen nur geringfügig voneinander abweichen und sie deshalb, zumindest für den angesprochenen Personenkreis, als gesichert gelten können — die Eindrücke, wie sie über eine Reihe von Jahren hinweg von Beobachtern der Entwicklung in der DDR beschrieben wurden. Es scheint, als habe sich in der Tat eine Art DDR-Nationalstaatsbewußtsein entwickelt.

Bereits die früheren Untersuchungen hatten gezeigt, daß vor allem die jüngeren Bewohner der DDR eher bereit schienen, der DDR als Staat ihre Unterstützung zu geben. Dieser Eindruck muß sich auf Grund der jüngsten Untersuchungen noch verstärken, denn eine Aufschlüsselung der (berichteten oder vermuteten) Meinungen der DDR-Bevölkerung zeigt signifikante Unterschiede zwischen den einzelnen Altersgruppen (Tabelle 15 und Tabelle 16).

Zieht man die Tatsache in Betracht, daß die jüngeren Jahrgänge in fast allen diesen Umfragen durchweg DDR-bewußter erschienen als die älteren und bedenkt man ferner, daß auch DDR-Bewohner mit höherer Schulbildung sowie Arbeiter und vor allem Angestell37 te im Durchschnitt verstärkt die Meinung vertraten, die DDR sei ein selbständiger Staat und müsse von der Bundesrepublik anerkannt werden, so kann man daraus vorerst nur schließen, daß sich im Lauf der nächsten Jah-re das Nationalstaatsbewußtsein der Bevölkerung der DDR noch wesentlich festigen wird. Damit aber wird die Einheit der Nation Deutschland als Bewußtseinsnation immer mehr in Frage gestellt werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Bericht der Bundesregierung über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland, 14. Januar 1970, Bonn 1970, S. 5.

  2. Albert Norden, Fragen des Kampfes gegen den Imperialismus, Vortrag vom 3. Juli 1972, zit. nach: Albert Norden zum Begriff Nation, Deutschland-archiv, 5, 11 (November 1972), S. 1223. Zur Entwicklung der offiziellen Einstellung der SED zur nationalen Frage siehe Gebhard Schweigler, Nationalbewußtsein in der BRD und der DDR (im Erscheinen).

  3. Siehe dazu u. a. Horst Siebert, Der andere Teil Deutschlands in Schulbüchern der DDR und BRD, Hamburg 1970.

  4. Eine in den frühen sechziger Jahren lebhaft geführte Diskussion über dieses Thema ist kritisch gewürdigt in Walther Dieckmann, Kritische Bemerkungen zum sprachlichen Ost-West-Problem, in: Zeitschrift für deutsche Sprache, 23, 3 (1967), S. 136 bis 165. Für eine jüngere Darstellung der Ansicht, die Sprache in beiden Teilen Deutschlands habe sich auseinanderentwickelt, siehe Fritz J. Raddatz, Traditionen und Tendenzen. Materialien zur Literatur der DDR, Frankfurt/Main. 1972.

  5. Siehe Lutz Niethammer, Traditionen und Perspektiven der Nationalstaatlichkeit für die BRD, in: Außenpolitische Perspektiven des westdeutschen Staates, Bd. 2: Das Vordringen neuer Kräfte, München 1972.

  6. Peter C. Ludz, Zum Begriff der „Nation" in der Sicht der SED. Wandlungen und politische Bedeutung, in: Deutschlandarchiv, 5, 1 (Januar 1972), S. 22.

  7. Peter C. Ludz, The German Democratic Republic from the Sixties to the Seventies, Cambridge/Mass. 1970, S. 12, S. 29, S. 55.

  8. Franz von Nesselrode, Germany's Other Half. A Journalist's Appraisal of East Germany, London 1963, S. 203.

  9. Joseph Wechsberg, Journey through the Land of Eloquent Silence. East Germany Revisited, Boston 1964, S. 52.

  10. Marion Gräfin Dönhoff, Rudolf Walter Leonhardt, Theo Sommer, Reise in ein fernes Land. Bericht über Kultur, Wirtschaft und Politik in der DDR, Hamburg. 1964, S. 104.

  11. Welles Hangen, The Muted Revolution. East Germany's Challenge to Russia and the West, New York 1966, S. VI, 163, 184.

  12. Jean Edward Smith, Germany Beyond the Wall. People, Politics. . . and Prosperity, Boston 1967, S. 73 f.

  13. Hans Apel, Bericht über das „Staatsgefühl" der DDR-Bevölkerung, in: Frankfurter Hefte, 22, 3 (März 1967), S. 168 ff.

  14. Hans Apel, DDR 1962— 1964— 1966, Berlin 1967, S. 247 ff.

  15. Andreas Kohlschütter, Sie sagen , Ja" zu ihrem Staat, in: Die Zeit, 7. August 1970, S. 3/4.

  16. Für eine eindrucksvolle Beschreibung dieses Gefühls siehe Barbara Grunert-Bronnen (Hg.), Ich bin Bürger der DDR und lebe in der Bundesrepublik, München 1970.

  17. Johannes Kuppe, Problematische Arbeit über DDR-Außenpolitik, in: Deutschland Archiv, 3, 1 (Januar 1970), S. 40.

  18. Außerdem wurden in den Jahren von 1956 bis 1958 von INFRATEST detaillierte Untersuchungen unter DDR-Flüchtlingen durchgeführt, deren Ergebnisse aber auf Grund des befragten Personenkreises und der für unsere Interessen sehr begrenzten Fragestellungen für diese Analyse nicht herangezogen wurden.

  19. Dies trifft vor allem für Umfragen zu, die DIVO periodisch im Auftrag der United States Information Agency durchführte.

  20. Institut für Demoskopie Allensbach, „Jugend zwischen Ost und West", Archiv Bericht Nr. 1531, Herbst 1951, S. 32.

  21. Dennoch rief die Bundesregierung die Bewohner der DDR dazu auf, der DDR nicht den Rücken zu kehren.

  22. Es handelt sich bei den HICOG-Untersuchungen um Umfragen, die im Auftrag des amerikanischen High Commissioner of Germany regelmäßig durchgeführt wurden. Diese Untersuchungen sind zum Teil in hektographierter Form von den Amerika-häusern erhältlich.

  23. Siehe HICOG-Untersuchungsbericht Nr. 185, 27. August 1953 (N = 436 ostdeutsche Besucher in Westberliner Lebensmittelverteilungsstellen).

  24. Siehe HICOG-Untersuchungsbericht Nr. 186, 18. September 1953 (N = 448 ostdeutsche Besucher in Westberliner Lebensmittelverteilungsstellen).

  25. Siehe HICOG-Untersuchungsbericht Nr. 193, 18. Januar 1954 (N = 448).

  26. EMNID interviewte regelmäßig 1000 zufällig ausgewählte DDR-Besucher auf der Grünen Woche (jeweils im Februar), auf der Industrieausstellung (jeweils im September) und an den Sektorenübergängen (jeweils im Juli). In den folgenden Tabellen werden die Ergebnisse der Umfragen einzeln aufgeführt, und zwar jeweils in einer eigenen Reihe für Grüne Woche (GW), West-Berlin allgemein (WB) und Industrieausstellung (IA). Auf diese Weise können sowohl die Trends innerhalb der einzelnen Bevölkerungsgruppen (vor allem Bauern auf der Grünen Woche, Techniker auf der Industrieausstellung) als auch der Gesamttrend verfolgt werden.

  27. Wie die Ergebnisse von zwei anderen Umfragen zeigen, wuchs vor allem die Unzufriedenheit mit kurzfristigen Verschlechterungen der Verhältnisse in den Jahren zwischen 1956 und 1958 sehr stark an. Im September 1956 antworteten noch 47% (von 500 DDR-Besuchern auf der Industrieausstellung), die Verhältnisse in der DDR hätten sich kürzlich verbessert; 1958 waren es nur noch 9 % (von 400 Industrieausstellung-Besuchern). Siehe den Untersuchungsbericht des Research Staff, United States Information Service, American Embassy, Germany, Nr. C-22, 22. Oktober 1958.

  28. Günther F. Seelig und Peter Teigeler, Zur Glaubwürdigkeit vermuteter Meinungen im Osten. Ansätze zur methodenkritischen Prüfung der internen Reliabilität und Validität, INFAS Forschungsbericht, Bad Godesberg: November 1966, S. 52.

  29. Zitiert nach INFRATEST, Die westdeutsche Bevölkerung und die DDR, hektographierter Forschungsbericht, München April 1968, S. 52. Der Originalbericht stand für diese Untersuchung leider nicht zur Verfügung.

  30. INFAS, Vermutete Meinungen im Osten. Materialien einer Befragung von Passierscheinbenutzern im Januar/Februar 1966, Bad Godesberg März 1966, Tabelle 3. 09.

  31. Ernst Richert, Aspekte der Systemanpassung. Zur Interessenlage und Einstellung der Produktionsgesellschaft in der DDR, hektographierter Forschungsbericht, Bad Godesberg August 1966, S. 58 f.

  32. Einige Ergebnisse dieser Untersuchungen wurden dem Verfasser auszugsweise vom Bundeskanzleramt zur Verfügung gestellt; die Umfragen selbst werden im Auftrag des Ministeriums für innerdeutsche Beziehungen durchgeführt.

  33. Interessanterweise lautete 1968 der Vergleich zunächst noch „wie die Bundesrepublik".

Weitere Inhalte

Die Autoren des ersten Beitrages dieser Ausgabe sind Mitglieder der Fachgruppe Makroökonomie am Wirtschafts-und Sozialwissenschaftlichen Fachbereich der Universität Augsburg Gebhard Schweigler, geb. am 16. 10 1943 in Wertheim/Main; Studium der Politischen Wissenschaften an der Universität Heidelberg, am Harvard College, an der University of California, Berkeley und an der Harvard University (Ph. D. 1972), arbeitet seit September 1972 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Bonn an einer Untersuchung über das Verhältnis von'Politik und Politikwissenschaft in den Vereinigten Staaten.