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Vorüberlegungen zu einem problemorientierten Geschichtsunterricht im sozialwissenschaftlichen Lernbereich | APuZ 33/1975 | bpb.de

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APuZ 33/1975 Artikel 1 Vorüberlegungen zu einem problemorientierten Geschichtsunterricht im sozialwissenschaftlichen Lernbereich Empirische Forschung und Geschichtsdidaktik Zu einigen neueren Veröffentlichungen

Vorüberlegungen zu einem problemorientierten Geschichtsunterricht im sozialwissenschaftlichen Lernbereich

Uwe Uffelmann

/ 41 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Vorüberlegungen zu einem problemorientierten Geschichtsunterricht beruhen auf einer didaktischen Grundkonzeption, für die 1. Didaktik nicht Theorie der Bildungsinhalte, sondern Wissenschaft vom Unterricht ist, die alle für den Unterricht konstitutiven Faktoren berücksichtigt, und die 2. Fachdidaktik als Vermittlungsinstanz zwischen Fachwissenschaften und Grundwissenschaften begreift. Einem Beschreibungsversuch des problemorientierten Geschichtsunterrichts folgen Ausführungen zu dessen wissenschaftstheoretischer Grundlegung unter Berücksichtigung des dialektischen wie des empirisch-analytischen Ansatzes in den Sozialwissenschaften im Hinblick auf die Frage, wie über die gesellschaftliche Wirklichkeit hinausweisende, erkenntnisleitende Interessen begründet werden und was sie für die Analyse von Gesellschaften generell wie für die historisch-politische Bildung des jungen Menschen zu leisten vermögen. Der Darlegung der Lernzielkonzeption schließen sich Überlegungen über Mittel und Weg zur Erreichung der erwünschten Sozialisationsergebnisse an. Als Mittel wird die Darstellung gegenwärtiger und vergangener Gesellschaften und die Untersuchung der Bedingungen ihrer Entstehung wie der Verlaufsformen und Richtungen ihres Wandels empfohlen. Bei der Kennzeichnung des Weges zur Erreichung der Ziele auf der Basis der Gesellschaftsanalyse sind verschiedene Aspekte zu berücksichtigen: Der sozialisationstheoretische Gesichtspunkt ist im Hinblick auf die historische Sozialisation im Rahmen der politischen insofern von großer Bedeutung, als Voraussetzungen geschaffen werden müssen, die die Inhalte historischen Lernens von der übergeordneten Ebene gesellschafts-und staatspolitischer Entscheidungen auf die Zwischen-und Basisebenen auszuweiten gestatten. Lernpsychologisch wird der problemorientierte Geschichtsunterricht durch den Ansatz des „entdeckenden Lernens" legitimiert, der Einsichten in die Prozesse menschlichen Denkens vermittelt und Folgerungen über Gemeinschaftsarbeit fördernde Sozialformen des Unterrichts sowie den funktionsgerechten Einsatz von Medien zuläßt. Schließlich werden anhand eines Periodisierungsvorschlags von I. Geiss mögliche Unterrichtsinhalte genannt und ein Strukturthema aufzuschlüsseln versucht, wobei das eingangs skizzierte Didaktikverständnis in der Kennzeichnung der hochschuldidaktischen Konsequenzen für die Lehrerbildung zum Tragen kommt

I. Einleitung

III. Wissenschaftstheoretische Grundlegung I. Einleitung INHALT II. Was ist problemorientierterGeschichtsunterricht? 1. Erkenntnisleitende Interessen 2. Negative und positive Welterfahrung 3. Geschichtsunterricht und Handlungsorientierung 4. Spektrum der Werte 5. Zusammenfassung IV. Lernzielorientierung V. Mittel zur Erreichung der erwünschten Sozialisationsergebnisse VI. Weg zur Erreichung der erwünschten Sozialisationsergebnisse 1. Historische Sozialisation 2. Psychologie des Lernens 3. Motivation, Sozia얘ޝ?

Die folgenden Vorüberlegungen zu einem problemorientierten Geschichtsunterricht beruhen auf einer didaktischen Grundkonzeption, für die 1. Didaktik nicht Theorie der Bildungsinhalte, sondern Wissenschaft vom Unterricht ist, die alle für den Unterricht konstitutiven Faktoren berücksichtigt, und die 2. Fachdidaktik als Vermittlungsinstanz zwischen Fachwissenschaften (hier: Sozialwissenschaften) und Grundwissenschaften (allgemeine Erziehungswissenschaft, Schulpädagogik, Sozialisationsforschung, Lerntheorie, Curriculumforschung, Psychologie etc.) begreift.

Diese Auffassung ist nicht allgemein anerkannt, denn sie weist den Fachwissenschaften im Hinblick auf ihre Leistungen für den Unterricht einen vom traditionellen abweichenden Stellenwert zu, indem sie andere Dimensionen des Unterrichts stärker berücksichtigt wissen will. Es ist deshalb das Anliegen des Verfassers, zur Verdeutlichung dieses Didaktikverständnisses seine Vorstellung vom problemorientierten Geschichtsunterricht knapp zu beschreiben und dann die Vorüberlegungen darzustellen, auf deren Grundlage dieser Unterricht überhaupt erst durchführbar ist. Dazu ist es notwendig, besonders die wissenschaftstheoretische Grundlegung einschließlich ihrer politischen Implikationen zu umreißen und eine Zielorientierung des historisch-politischen Unterrichts generell vorzustellen, um anschließend Mittel und Weg zu beschreiben, mit deren Hilfe die gewünschten Sozialisationsergebnisse erreicht werden können. Ein Katalog möglicher Strukturthemen und ein Hinweis auf die hochschuldidaktischen Konsequenzen der vorgelegten Konzeption sollen die Überlegungen abschließen. — Zur wissenschaftstheoretischen Begründung des problemorientierten Geschichtsunterrichts wird die Kritische Theorie der Frankfurter Schule nach ihrem didaktischen Erkenntniswert besonders auch im Hinblick auf Schülerinteresse, Motivation und Handlungsorientierung (erkenntnisleitende Interessen) ebenso befragt wie der empirisch-analytische Ansatz in den Sozialwissenschaften in seiner durch E. O. Czempiel formulierten Modifikation. Die Geschichtswissenschaft wird in diesem Zusammenhang als Sozialwissenschaft im Feld der anderen Gesellschaftswissenschaften verstanden, die hermeneutische und sozialwissenschaftliche Methoden miteinander verbindet.

— Die Lernzielorientierung ist u. a. Ergebnis der Arbeit von Mitgliedern der Studiengangs-kommission Geschichte des Heidelberger Gesamthochschulversuchs „Zentrum für Lehrerbildung“ und verwendet Gedanken von J. Kocka und H. Süssmuth. Die Auffächerung des Richtziels gibt Einblick in die Zusammenhänge der erwünschten Sozialisationsergebnisse. — Als Mittel zur Erreichung der erwünschten Sozialisationsergebnisse wird die Analyse gegenwärtiger und historischer Gesellschaften empfohlen. Analysekriterien werden vorgestellt, ohne daß — aus Raumgründen — das strukturierende Verfahren ausführlich erörtert werden kann.

— Der Weg zur Erreichung der Ziele auf der Basis des Mittels der Gesellschaftsanlayse wird in seinen verschiedenen Aspekten gekennzeichnet: 1. Der sozialisationstheoretische Gesichtspunkt ist im Hinblick auf die historische Sozialisation im Rahmen der politischen von großer Bedeutung. Überlegungen von H. Süssmuth, A. Mannzmann und I. Geiss sollen helfen, Voraussetzungen zu schaffen, die Inhalte historischen Lernens von der übergeordneten Ebene gesellschafts-und staatspolitischer Entscheidungen auf die Zwischen-und Basis-ebenen auszuweiten. 2. Die lernpsychologische Legitimation des problemorientierten Geschichtsunterrichts beruht in Abweisung der älteren Entwicklungspsychologie auf den Ergebnissen der entwicklungs-und denkpsychologischen Studien H. Aeblis im Anschluß an J. Piaget, sowie auf denen der motivationspsychologischen Untersuchungen H. Heckhausens. 3. Die Entscheidung über Sozialformen und Medieneinsatz im problemorientierten Geschichtsunterricht folgt aus den von der Psychologie bereitgestellten Ergebnissen und befindet sich im Einklang mit den in der Lernzielkonzeption des Unterrichts artikulierten erwünschten Sozialisationsergebnissen.

Die Strukturthemen stellen einen Vorschlag dar, der sich an dem von Geiss vorgelegten Periodisierungsversuch orientiert; die hochschuldidaktischen Konsequenzen der Konzeption problemorientierten Geschichtsunterrichts schließlich werden in schematischer Form dem Leser vorgestellt und dienen nicht zuletzt der Verdeutlichung des eingangs formulierten Didaktikverständnisses.

Die Übersicht über die verschiedenen Aspekte des problemorientierten Geschichtsunterrichts soll dem Leser helfen, die für die Durchführung des Unterrichts notwendigen Vorüberlegungen im Ansatz kennenzulernen und kritisch zu bedenken. Der hier zur Diskussion gestellte Versuch — und nur so sind die folgenden Ausführungen zu verstehen — muß unvollständig bleiben, da der verfügbare Raum nicht ausreicht, die Struktur-themen auf Lernzielebene aufzuschlüsseln und ein konkretes Unterrichtsbeispiel vorzulegen.

Hier kann es nur darum gehen, verschiedene wissenschaftstheoretische Positionen didaktisch nutzbar zu machen und die Ergebnisse mit anderen Dimensionen des Unterrichts zum Zweck der Gewinnung eines Instrumentariums in Verbindung zu bringen, das es ermöglicht, einen schülerbezogenen, problemorientierten Geschichtsunterricht zu gestalten, der einen konstitutiven Beitrag zur politischen Bildung leistet.

II. Was ist „problemorientierter Geschichtsunterricht"?

Tabelle II: Versuch der Aufschlüsselung eines Strukturthemas unter Berücksichtigung dehschuldidaktischen Konsequenzen eines problemorientierten Geschichtsunterricht

Unter „problemorientiertem Geschichtsunterricht" soll eine Unterrichtskonzeption verstanden werden, die auf der Basis wissenschafts-, sozialisations-und lerntheoretischer sowie lernpsychologischer Reflexion, anknüpfend an Bewußtseinslage, Interessen sowie individuelle und kollektive Betroffenheit der Schüler einen Lernprozeß einleitet und durchführt, der dem jungen Menschen Fähigkeit und Bereitschaft vermittelt, in Auseinandersetzung mit historischen Problemen ein Gegenwartsverständnis zu gewinnen, das ihm mündige Beteiligung am gegenwärtigen und zukünftigen gesellschaftlichen und politischen Leben ermöglicht. Der problemorientierte Geschichtsunterricht ist in seinem Ablauf (Einheit, Kurs, Lehrgang, Projekt) dadurch gekennzeichnet, daß die Schüler in der Motivationsphase anhand z. B. einer historischen Quelle, die einen Bezug zu ihrer eigenen individuellen und kollektiven Lage herzustellen geeignet ist, ein Problem finden, das sie zur Hypothesenbildung anregt und sie darüber nachzudenken veranlaßt, wie und mit welchen Mitteln sie es partiell im Rahmen der ihnen verfügbaren Möglichkeiten lösen können; in den Lösungsphasen die historische Analyse in selbständiger Arbeit mit Hilfe von bereitgestellten und selbst gefundenen Materialien in verschiedenen, Gemeinschaftsarbeit fördernden Sozialformen (Partnerarbeit, Gruppenarbeit, -Simulationsspiel, Unterrichtsge spräch) durchführen, um die eingangs aufgestellten Hypothesen zu überprüfen.

in der Schlußphase die gewonnenen Ergebnisse sammeln, diskutieren und auf ihren Erkenntniswert für die Klärung der Problematik, die sie als solche aufgrund ihrer eigenen Betroffenheit formuliert haben, wie auf die möglichen Handlungskonsequenzen hin auswerten.

III. Wissenschaftstheoretische Grundlegung

Tabelle I: Strukturthemen für den problemorientierten Geschichtsunterricht (S I/II) 58) prä-agrarische Ordnung Frühformen menschlicher Gesellschaft Nomadengesellschaften im 20. Jahrhundert “) Zur Erklärung der Aufstellung ist zu sagen, daß die Verschlungenheit der drei Stränge sich graphisch sehr schwer darstellen läßt und hier durch di« durchbrochenen Linien gekennzeichnet werden agrarisch-aristokratisch-monarchische Ordnung Das mittelalterliche Feudalsystem Äthiopien — ein Feudalsystem im 20. Jh.

Nat얘ޝ?

1. Erkenntnisleitende Interessen Es wird nicht schwer sein, einen allgemeinen Konsens darüber zu erzielen, daß im gegenwärtigen Prozeß menschlichen Bemühens um Erkenntnis und Wahrheitsfindung die Kritische Theorie der Frankfurter Schule einen wichtigen Platz einnimmt, den niemand außer acht lassen darf, der im genannten Bemühen ein Stückchen weiterkommen möchte. Die Frage ist nur die, in welchem Umfang man sich die Überlegungen der Kritischen Theorie zu eigen machen kann. Die Diskussion bewegt sich zwischen völliger Identifizierung und gänzlicher Ablehnung, wobei es relativ einfach ist, eines der Extreme zu praktizieren, da die Kritische Theorie diese Extrempositionen aufgrund ihres Anspruchs, der sich z. B. in ihrem Ideologieverständnis manifestiert, provoziert. Die Auseinandersetzung vollzieht sich auf verschiedenen Ebenen und reicht vom so-genannten Positivismusstreit bis ins Diskussionsfeld der Didaktiker 1).

Seit dem Sommer 1974 liegt in Annette Kuhns „Einführung in die Didaktik der Geschichte“ ein beachtenswerter Versuch vor, die Kritische Theorie für die Didaktik der Geschichte auszuwerten 2). Verschiedene Äußerungen auf dem Historikertag im Herbst 1974 in Braunschweig lassen das Ausmaß der Ablehnung des Kuhnschen Versuches von der Seite der etablierten Historiker erkennen. Warum hat sich Kuhn auf dem Historikertag nicht der Diskussion gestellt? Ist das mit einer Resignation bereits vor der Schlacht zu erklären, die sich in ihrer Formulierung andeutet, daß eher ein Kamel durch das Nadelöhr gehe als die Geschichtsdidaktik samt der Fachwissenschaft durch die Erkenntniskritik der Frankfurter Schule 3)?

In einem Kandidatenkolloquium an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg im WS 1974/75 wurde Kuhns Entwurf ausführlich analysiert und — bei allen kritischen Einwänden, die sich vom Anspruch der „Einführung" in die Didaktik der Geschichte bis zur Überstrapazierung der Hypothesenbildung im Unterrichtsbeispiel „Die Englische Revolution" erstreckten — als ein bemerkenswerter Versuch gewertet, der die didaktische Diskussion im Fach Geschichte mehr zu befruchten in der Lage ist als die gesamten fachdidaktischen Bemühungen auf dem Braunschweiger Historikertag. Es kann an dieser Stelle keine ausführliche Kritik der Kuhnschen Konzeption geleistet werden, deren Anliegen in den folgenden Überlegungen aber deutlich werden wird, in denen es darum geht, die Grundgedanken der Kritischen Theorie zu referieren und auf ihre Brauchbarkeit für einen problemorientierten Geschichtsunterricht hin zu befragen.

In starker Vereinfachung läßt sich die wissenschaftliche Auffassung der Kritischen Theorie folgendermaßen kennzeichnen: „Die Kritische Theorie bezieht alle empirisch gewonnenen Erkenntnisse über die Gesellschaft auf die Gesellschaft als Ganzes und setzt sie in Beziehung zu dem, was ihrer Auffassung nach alle Gesellschaft will: Jede Gesellschaft will im Grunde . richtige Gesellschaft'sein. Die Gesellschaft wird von der Kritischen Theorie immer auch darauf hin befragt, ob und wie weit sie ihr Ziel, . richtige Gesellschaft'zu sein, erreicht oder verfehlt." Was aber ist „richtige Gesellschaft", wer definiert sie und bestimmt ihren Inhalt? Die Vertreter der Kritischen Theorie selber geben darüber keine definitive Auskunft; die Richtung der inhaltlichen Bestimmung ergibt sich jedoch aus dem dem marxistischen Gedankengut verpflichteten Ansatz, welcher zugleich der Grund dafür ist, daß die Frankfurter Schule vielen von vornherein suspekt ist und sie somit daran gehindert sind, den Erkenntniswert — und sei es auch nur ein partieller — der Kritischen Theorie zu erfassen und für den eigenen Erkenntnisprozeß zu nutzen.

Bei dem Bemühen, zum Zweck der Analyse von Gesellschaft(en) ein Instrumentarium zu gewinnen, liegt es jedoch gar nicht so fern, von der Vorstellung der Ganzheit auszugehen, Ideen von richtiger und guter Gesellschaft und richtigem und gutem Leben etc. zu formulieren, um mit ihrer Hilfe gegenwärtige und vergangene Gesellschaftsstrukturen , in den Griff zu bekommen'und aus den gewonnenen Einsichten Konseguenzen für das eigene Verhalten zu ziehen. Die Frage ist nur, wie man das Zustandekommen derartiger Ideen erklärt und ‘bewertet, d. h., ob diese Leitideen als wissenschaftlich stringent beweisbar und damit als . richtig'zu gelten haben, oder ob sie als mehr oder weniger subjektive, wenn auch gesellschaftlich vermittelte Wert-setzungen verstanden werden. E. O. Czempiel, der einem empirisch-analytischen Ansatz in den Sozialwissenschaften verpflichtet ist — den er aber insofern modifiziert, als er die Offenlegung der Prämissen des wissenschaftlich Arbeitenden (erkenntnisleitende Interessen und deren Begründung) fordert —, sieht den Unterschied zwischen dem empirisch-analytischen Ansatz und dem dialektischen der Kritischen Theorie vornehmlich in der Stellung zur Werturteilsproblematik: „Werte können nicht wissenschaftlich, also mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit abgeleitet werden, sondern werden vom Wissenschaftler gesetzt und vor der Gesellschaft verantwortet. Auf diese Weise lassen sich gesellschaftliche Legitimität, die für den Fortschritt und die politische Entscheidungsfreiheit, die für den Pluralismus erforderlich sind, miteinander verbinden."

Die Problematik der wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung ist damit angedeutet. Wenn man es ablehnt, sich der einen wie der anderen gekennzeichneten Position bedingungslos anzuschließen und unter didaktischem Frageinteresse nach einem Instrumentarium sucht, um Gesellschaften, insbesondere auch historische Gesellschaften, hinsichtlich ihrer Leistungen für den Menschen in seinen gesellschaftlichen Bezügen mit dem Ziel zu analysieren, den Schülern ein in der obigen Beschreibung des problemorientierten Geschichtsunterrichts gekennzeichnetes Gegenwartsverständnis zu vermitteln, so erweist sich doch die den beiden Richtungen immanente Vorstellung von etwas über die gesellschaftliche Wirklichkeit Hinausweisendem (Ideen, erkenntnisleitende Interessen) als geeignetes Mittel, das gesuchte Instrumentarium zu gewinnen. Ist auch der Unterschied ein nicht unerheblicher, wenn man von der . richtigen Gesellschaft'und dem . richtigen Leben'oder einer . besseren Gesellschaft'und einem . besseren Leben'spricht, so ist doch auch beim zweiten Komplex der Bezug auf ein denkbares Ganzes, auf Veränderung in Richtung höherer Qualität hergestellt. Es ist das Verdienst der Kritischen Theorie, diesen Bezug zum Ganzen in aller Schärfe mit Hilfe des besonderen Frageansatzes herausgearbeitet zu haben, einschließlich der Einsicht in die Verbindung von Erkenntnis und Interesse, auf die sich Czempiel bezieht, wenn er den empirisch-analytischen Ansatz bewußt modifiziert

Aber gerade die Schärfe der Herausarbeitung des Bezuges zum Ganzen durch die Kritische Theorie ermöglicht wiederum die Relativierung. Die Formulierung von Ideen, bezogen auf ein denkbares Ganzes, auf Veränderung in dieser Richtung, die zum Analyse-Instrumentarium, zu erkenntnisleitenden Interessen werden, ermöglicht Fachwissenschaftlern wie Fachdidaktikern, gegenwärtige und vergangene Gesellschaft kritisch zu betrachten und an den Defiziten das nicht Geleistete und das noch zu Leistende aufzuzeigen. Gemeinsam mit H. Schneider hat der Verfasser unlängst in bezug auf Czempiels Friedensbegriff als erkenntnisleitende Idee auf die Gefahr der Realitätsferne eines derartigen Ansatzes besonders auch im Hinblick auf den Unterricht verwiesen Er sieht aber auch die großen Chancen, die darin für die Gesellschaftsanalyse liegen, sofern es gelingt, die diese Analyse bestimmenden, noch über die derzeitige gesellschaftliche Wirklichkeit hinausweisenden erkenntnisleitenden Interessen so an die Wirklichkeit zu binden, daß bei der Kennzeichnung der Struktur einer bestimmten gegenwärtigen Gesellschaft die Überlegungen hinsichtlich deren wünschenswerter Entwicklung eine . mittlere Reichweite’ nicht übersteigen. Bei der Analyse historischer Gesellschaften, d. h.der Struktur wie der Bedingungen und Verlaufsformen des Wandels, müssen die Überlegungen zu Entscheidungsprozessen und -Situationen an das in einer bestimmten Zeit überhaupt Mögliche gebunden werden, ohne daß die Vorstellung von der an sich wünschenswerten Entwicklung verdrängt wird.

Das die didaktische Diskussion in den letzten Jahren am meisten beschäftigende erkenntnisleitende Interesse ist das der Emanzipation, das zum Leitziel vieler allgemeindidaktischer und fachdidaktischer Entwürfe geworden ist, wobei allerdings keine Einigkeit darüber besteht, was unter diesem Begriff verbindlich zu verstehen sei. Die Kritische Theorie versteht sie als Mündigkeit. „Mündigkeit", so formuliert Habermas, „ist die einzi-* ge Idee, deren wir im Sinne der philosophischen Tradition mächtig sind" Damit ist diese Idee richtig und allgemein gültig. Eine Gesellschaft in diesem Sinne Emanzipierter ist „richtige Gesellschaft“. Die Idee der Emanzipation erhält aber einen anderen Stellenwert, wenn sie als subjektive Wertsetzung verstanden wird, auch wenn für diesen Wert ein breiter gesellschaftlicher Konsens vorausgesetzt werden kann. Doch auch unter verändertem Anspruch versteht sie sich im Rahmen der Vorstellung von zwar nicht unbedingt . richtiger', aber doch . besserer'Gesellschaft. Die Idee der Emanzipation als erkenntnisleitendes Interesse wird auch derjenige Didaktiker akzeptieren können, der nicht in allem der Kritischen Theorie folgen kann, aber sich ihres Erkenntnisbeitrags bewußt ist. 2. Negative und positive Welterfahrung Was leisten nun über die gesellschaftliche Wirklichkeit hinausweisende erkenntnisleitende Interessen für die Analyse von Gesellschaften generell und im besonderen das der Emanzipation in bezug auf die historisch-politische Bildung des jungen Menschen?

Die grundsätzliche Antwort der Kritischen Theorie ist die, daß derjenige, der die gesellschaftliche Wirklichkeit unter dem Aspekt betrachtet, ob in ihr die Idee von . richtiger Gesellschaft'verwirklicht worden ist, Widersprüche bemerkt, Mißstände und emanzipatorische Defizite. Die Analyse der Gesellschaft richtet sich also auf das, was diese Gesellschaft nicht ist oder nocht nicht ist und sucht nach Erklärungen für diese Defizite. Die Befunde sind somit stets negativ, denn der Maßstab, der als absolut gültig definiert wird, läßt keine positive Wertung der Befunde einer Gesellschaft zu, sofern sie sich seinem Anspruch nicht nähern. Eine sich im Sinne der Kritischen Theorie als emanzipatorisch verstehende Erziehung muß also an den Defiziten ansetzen, die der junge Mensch in seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit erfährt und erlebt. Kuhn folgt diesem Ansatz konsequent, wenn sie in ihrer Geschichtsdidaktik dem Schülerinteresse an Emanzipation als zweitem didaktischem Entscheidungsfeld einen bedeutenden Platz zuweist Da eine „Kritische Pädagogik" stets die Kritische Theorie von Gesellschaft voraussetzt ist auch für Kuhn das erste didaktische Entscheidungsfeld der Gesellschaftstheorie Vorbehalten. Deckt die so verstandene generelle Gesellschaftsanalyse Widersprüche und Defizite auf, so muß eine an das Schülerinteresse an Emanzipation anknüpfende Pädagogik folgerichtig die individuellen und kollektiven defizitären Erfahrungen der Schüler berücksichtigen. Nur ist die Frage, ob mit dem genannten Instrumentarium die gesellschaftliche Wirklichkeit in der Tat ausreichend erfaßt, wird. Werden nicht bestimmte Aspekte dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit möglicherweise verdrängt, zumindest aber verzerrt? Bei aller Zustimmung zu dem genannten Instrumentarium und der vollen Bereitschaft, dieses anzuwenden, muß sich gerade der Didaktiker bezüglich der emanzipatorischen Erziehung fragen, ob der junge Mensch die gesellschaftliche Wirklichkeit in der nur Tat negativ erfährt, ob sie ihm nicht vielleicht auch positiv begegnet. anderem Der Verfasser hat an Ort in Anlehnung an R. Engelhardts Auswertung von Überlegungen Anatol Rapoports einen anthropologischen Ansatz diskutiert, von menschlichen Grundbedürfnissen gesprochen und deren Verwirklichung bzw. Nichtverwirklichung als einen Aspekt bei der Gewinnung eines Maßstabes für die Qualität einer vom Staat durchgeführten politischen Bildungsarbeit bezeichnet. Die Kennzeichnung des Maßes der Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse — 1. überleben, 2. besser leben, 3. Klärung und Deutung des eigenen Lebens, 4. Klärung und Deutung des gesellschaftlichen und politischen Geschehens — wird immer neben einem Defizit auch einen positiven Aspekt im Sinne von etwas bereits Erreichtem aufweisen. Individuelle und kollektive Welterfahrung wird stets nicht nur im Feststellen von Defiziten bestehen.

Obwohl die Kritische Theorie die Notwendigkeit empirischen Forschens nicht bestreitet und ausdrücklich praktiziert, erliegt sie im genannten Punkt aber dem Zwang des theoretischen Ansatzes. Kuhns „Einführung" hat hier ihre schwächste Stelle, weil der anthropologische Aspekt nur verengt eingebracht und empirisch nicht genügend belegt ist.

In seinem Versuch der Kennzeichnung von Modellen emanzipatorischer Erziehung formuliert L. Kerstiens anthropologische Voraussetzungen der Emanzipation als Grundannahmen, die seiner Ansicht nach durch Beobachtung des menschlichen Lebens bestätigt werden 1. Den Menschen als Vernunftwesen zu betrachten, bedeute nur einen Aspekt menschlichen Seins zu erfassen, denn der Mensch sei Lebewesen, Vernunft existiere leiblich und sei den Bedingungen der Leiblichkeit unterworfen. 2. Als vernünftiges Lebewesen sei der Mensch auch notwendig ein Werdender, der und entwickele. Lernen sich durch Reifung 3. Nur wenn man die geschichtliche Realität wie die soziale Bindung des Menschen genügend berücksichtige, könnten Autonomie und Freiheit, Selbstbestimmung und Mündigkeit zureichend interpretiert werden. 4. Schließlich sei der Mensch ein sinn-suchendes Wesen, und jeder Versuch einer Sinnantwort setze die Annahme des überlieferten voraus, so daß Emanzipation niemals darin bestehen könne, den Menschen von seiner Grundüberzeugung zu emanzipieren

Kerstiens will damit aussagen, daß die von der Kritischen Theorie angenommene rein negative Welterfahrung so nicht gelten könne, daß vielmehr die Emanzipation von bestimmten Bindungen, Einschränkungen und Behinderungen der menschlichen Selbstverwirklichung als freier Akt des Menschen erst dann möglich werde, wenn der Mensch Vorgegebenes erkannt, angenommen und kritisch gewertet habe. Mündigkeit beruhe somit ebenso auf Affirmation und Bindung wie auf Emanzipationsfähigkeit.

Man könnte Kerstiens vorwerfen, der Gefahr zu verfallen, bei aller Anerkennung der Notwendigkeit der Erziehung des jungen Menschen zur Emanzipationsfähigkeit letztlich doch der Zementierung des Status guo durch Erziehung zur Affirmation das Wort zu reden, 12 wenn er Affirmation und Emanzipation nebeneinanderstellt und dabei in der ersteren das Primäre sieht. Dagegen aber läßt sich folgende Formulierung des Pädagogen anführen, die auf Bloch anspielt und die Gegenwart als etwas nicht Abgeschlossenes begreift: alle Wirklichkeit ist immer ein Noch-nicht', d. h. in ihr liegen bereits Möglichkeiten, die real erkennbar sind, die sich aber nur durch die menschliche Initiative verwirklichen lassen, ohne daß jeweils schon der perfekte Endzustand vorweg gesehen oder fixiert werden könnte. Diesen Aufforderungscharakter der Wirklichkeit sehen zu lernen und sich von ihm in Anspruch nehmen zu lassen, scheint ein wesentliches Prinzip freiheitlichen und doch engagierten Lebens, emanzipierter Beteiligung, wenn man Gieseckes Begriff so auslegen darf."

Gleich, wie man nun Kerstiens'Konzeption einer „freiheitsorientierten Erziehung" generell und im Detail zu bewerten geneigt ist, dieses dürfte für die vom Verfasser verfolgten Überlegungen als wichtige Einzelerkenntnis feststehen: Die aus dem anthropologischen Ansatz resultierenden Aussagen über die auch positiven Welterfahrungen des Individuums stellen eine bedenkenswerte Ergänzung zu den Grundannahmen der Kritischen Theorie in bezug auf deren didaktische Verwendbarkeit dar. Vertreter der Kritischen Theorie werden eine derartige . Ergänzung'ablehnen müssen. Der Didaktiker jedoch wird in seinem Bemühen, die verschiedenen Aspekte von Unterricht zu berücksichtigen, gerade auch bei seinen Überlegungen zur wissenschaftstheoretischen Grundlegung des Unterrichts den anthropologischen Gesichtspunkt zu reflektieren versuchen, wenn er sich mit der Kritischen Theorie auseinandersetzt und deren für seine Konzeption relevanten Teilergebnisse herauszufinden bestrebt ist. 3. Geschichtsunterricht und Handlungsorientierung Bisher ist von der Geschichtswissenschaft nur andeutungsweise die Rede gewesen. Detaillierte Ausführungen zu dem, was Geschichtswissenschaft sei, können hier nicht erfolgen, aber das knapp umrissene Didaktikverständnis, verbunden mit den Überlegungen zur Kritischen Theorie zum Zweck der wissenschaftstheoretischen Grundlegung eben dieses Verständnisses implizieren schon eine bestimmte Auffassung von Geschichtswissenschaft, wenn es darum geht, Gesellschaften zu analysieren, d. h. nicht nur gegenwärtige, sondern auch vergangene auf ihre Struktur, die Voraussetzungen ihrer Entstehung wie der Bedingungen, Verlaufsformen und Richtungen ihres Wandels hin zu untersuchen. Geschichtswissenschaft wird demnach als Sozialwissenschaft verstanden. Sie ist nicht eine Wissenschaft sui generis mit nur ihr eigenen Forschungsmethoden. Als Integrationswissenschaft vereinigt sie im Feld der anderen Sozialwissenschaften hermeneutische Verfahrensweisen mit empirisch-analytischen. Die Konsequenzen für das Unterrichtsfach Geschichte als Integrationsfach liegen damit auf der Hand. Begreift sich der Geschichtsunterricht aber als sozialwissenschaftlicher Unterricht, so ist auch für ihn — nicht nur für die politische Bildung generell — die Frage des Praxisbezuges relevant. Wird Geschichtsunterricht unter emanzipatorischem Erkenntnis-interesse konzipiert, so ist das Problem der Handlungsorientierung nicht ausklammerbar.

Was kann die Kritische Theorie zu diesem Gesichtspunkt beitragen? Bei dem Versuch der Beantwortung dieser Frage gelangt man an den eigentlich kritischen Punkt dieses Ansatzes, denn: „Das Erkenntnisinteresse der Kritischen Theorie ist wesentlich ein theoretisches. Sie will aus ihren Analysen keine Handlungsanweisungen abgeleitet wissen.“ Die Stufe der Selbstreflexion ist das entscheidende Ziel. Als Beispiel für diese Handlungsferne sei nur die Ratlosigkeit ihrer Vertreter Adorno und Habermas während der Studentenbewegung seit 1967 erwähnt.

Die Kritische Theorie, deren wesentliches Anliegen es ist, entsprechend ihrem Ansatz den Praxisbezug herzustellen, versagt bezüglich der Konsequenzen ihres theoretischen Entwurfs. Weder Reform noch Revolution, sondern „Aufklärung darüber, was Gesellschaft wirklich ist, bezeichnet den einzig aus der Kritischen Theorie ableitbaren Weg" Die Didaktiker der politischen Bildung und der dieser zugeordneten Fächer können jedoch nicht bei dieser Reflexionsstufe stehen-bleiben, sondern müssen den Handlungsbezug des von ihnen konzipierten Unterrichts bedenken. Für den Geschichtsdidaktiker ist es grundsätzlich schwierig, den Praxisbezug seines Faches zu begründen. D. Fitterling beispielsweise fordert, daß die Analyse des gesellschaftlichen Prozesses unter dem Ziel zu geschehen habe, Handlungsstrategien in der Gegenwart zu entwickeln und anzuwenden J. Kocka andererseits betont, daß der geforderte emanzipatorische Praxisbezug von Geschichtswissenschaft — und damit auch von Geschichtsunterricht — nur ein vermittelter sein könne. Die direkte Umsetzung von historischer Erfahrung in Handlungsanweisungen sei unmöglich Im Ergebnisprotokoll einer Arbeitsgruppe der Nürnberger Tagung der Bundeszentrale für politische Bildung vom 25. bis 30. September 1972 wird der Praxisbezug des Geschichtsunterrichts in der Handlungspropädeutik gesehen. Geschichtsunterricht verfolge das Ziel, aufgrund der Fähigkeit zur Analyse historischer Prozesse in der Reflexion Handlungsstrategien und den Bedingungsrahmen für deren Anwendung zu entwickeln. Gleichzeitig wird jedoch hervorgehoben, daß diese Aussagen den Konsens darstellten und in Diskussionsbeiträgen darüber hinaus ein noch engerer Praxisbezug gefordert worden sei Das Problem des Praxisbezugs ist deutlich und muß als bisher nicht gelöst angesehen werden. 4. Spektrum der Werte Der Geschichtsdidaktiker, der auch positive Welterfahrung in seine Konzeption mit einbezieht, wird seine Überlegungen darauf richten müssen, wie er politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel, wie er Veränderung definieren will und welches die Maßstäbe für diese Definition sein können. Der Verfasser hat in anderem Zusammenhang über Grundlagen der Zielsetzung politischer Bildungsarbeit, zu der s. E. als integraler Bestandteil auch die Geschichte gehört, nachgedacht und den für seine Vorstellungen gültigen Begriff von Veränderung unter Berücksichtigung des Grundgesetzes der Bundesre-publik Deutschland zu entwickeln versucht. Diese Überlegungen sollen hier sinngemäß wiederholt und ergänzt werden

Wie eine Gesellschaft sich das Zusammenleben ihrer Glieder, ihr Herrschaftssystem und die Möglichkeiten der Weiterentwicklung und Verbesserung aller ihrer Potenzen wünscht, drückt sich in der Regel in der Verfassung der politischen Einheit aus, in der sich diese Gesellschaft sammelt. Die Verfassung sollte von einer verfassunggebenden Versammlung, die das Volk repräsentiert, ausgearbeitet und in einer Volksabstimmung beschlossen werden. Die Entstehungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland weist einen besonderen Weg des Zustandekommens der verfassungsrechtlichen Grundlagen auf, der aus dem Wunsch der Westdeutschen resultiert, den zu gründenden Staat nur als Provisorium zu verstehen. Das vom Parlamentarischen Rat erarbeitete Grundgesetz sollte sich von einer Verfassung schon dadurch unterscheiden, daß es bereits durch seinen Namen den Charakter des Definitiven vermied. Inzwischen ist aus dem Staatsprovisorium eine vorläufige Endgestalt geworden, deren Spielraum der Selbstverwirklichung, wenngleich begrenzt, so doch groß genug ist, um die Bundesrepublik vielleicht einen mittleren Staat nennen zu können Im Innern hat dieser Staat weite Möglichkeiten der Verwirklichung seines im Grundgesetz festgelegten Selbstverständnisses. So ist das Grundgesetz auch Basis und Maß für die Zielsetzung der politischen Bildungsarbeit in der Bundesrepublik. Es soll an dieser Stelle nicht die Diskussion über Treue und Kritik gegenüber dem Grundgesetz fortgesetzt werden. Es gilt hier, das Grundgesetz in einer bestimmten Auffassung seines Auftrags als Grundlage für alle in seinem Gültigkeitsbereich erfolgende politische Bildungsarbeit anzusehen.

Es ist hinlänglich bekannt, daß das Grundgesetz nicht nur die Interessen der westlichen Siegermächte berücksichtigt, sondern auch das Ergebnis eines Kompromisses der verschiedenen im Parlamentarischen Rat vertretenen Gruppen darstellt. Die Analyse des Grundgesetzes mit Hilfe der teleologisch-subjektiv-historischen Methode der Verfassungs-auslegung vermittelt die Einsicht, daß alternative demokratische Gesellschaftsmodelle von vornherein im Grundgesetz angelegt sind, die 1948/49 von verschiedenen Gruppen vertreten wurden.

Der Charakter des Kompromisses, den man beim Grundgesetz nie übersehen darf, bestätigt einerseits den Konsens der verschiedenen Gruppen, die an seiner Entstehung mitwirkten, so in bezug auf die Rechtsstaatlichkeit und die Grundrechte, aufzuweisen am umfangreichen Katalog präziser Aussagen, andererseits eröffnet er die Möglichkeit der Weiterentwicklung und Verbesserung des Grundgesetzes, so im Hinblick auf das Sozialstaatspostulat, das nur sehr knapp umrissen ist. Der Konsens bezüglich der Unveränderbarkeit der Artikel 1 und 20 GG schließlich kennzeichnet die außerordentliche Qualität dieses Verfassungswerkes. Auf der Grundlage der Anerkennung und Würdigung dieser Qualitäten sollte das Grundgesetz als Maß für die Zielsetzung der politischen Bildung in der Weise gelten, daß bei der Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit — wie sie im Unterricht durchzuführen ist — und den sich dabei ergebenden Widersprüchen zur Verfassungsnorm eben nicht nur aufgezeigt wird, wie die Verhältnisse sind, sondern wie sie — durchaus dem Auftrag des Grundgesetzes gemäß — verändert werden müßten. Das Grundgesetz beschreibt die Gesellschaft nicht nur, wie sie ist, sondern in welche Richtung sie ständig verändert werden sollte, ohne damit eine Systemüberwindung zu meinen. Damit ist grundsätzlich deutlich, daß die Entscheidung für die Zielsetzung der politischen Bildungsarbeit auf der Basis und im Rahmen des Grundgesetzes eine Entscheidung für Veränderung ist. Der hier vertretene Begriff der Veränderung beinhaltet dann aber nicht, daß Veränderung auf allen Gebieten und um jeden Preis stattfinden müsse. Die Zielsetzung einer politischen Bildung, die auf Veränderung hin ausgerichtet ist, sollte nicht festzuhalten versäumen, daß es Bewahrenswertes immer gibt und daß das, was von der Majorität der Bevölkerung als solches verstanden wird, auch bewahrt werden muß. Eine didaktische Zielsetzung, die nur verändern will, entbehrt des nüchternen Realitätsbezugs und ist deshalb utopischem Denken verhaftet. Der Vorwurf, absolut affirmativ zu sein, in totaler

Akklamation des Bestehenden zu verharren, trifft den didaktischen Entwurf nicht, der eine Veränderung, die dem Auftrag des Grundgesetzes entspricht, zum wesentlichen Ziel erhebt, ohne das Erhalten und Verteidigen des Bewahrenswerten auszuklammern.

Entsprechend der politischen Entscheidung, die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland getroffen worden ist, sollten als Richtungsweiser der politischen Bildungsarbeit folgende Grundsätze gelten, die sich als Aufgaben der Gesellschaft folgendermaßen darstellen: 1. Bewahren der personalen Grundrechte;

2. Erhalten der rechtsstaatlichen Ordnung;

3. Beseitigen bestehender sozialer Ungerechtigkeiten; 4. Erreichen größtmöglicher Beteiligung aller am gesellschaftlich-politischen Leben

5. Offenhalten des politischen Systems für immer neue Lösungen

6. Verhindern der monopolistischen Dogmatisierung eines sozialen Entwurfs auf Kosten aller anderen

7. Verwenden nur solcher Mittel zur Durchsetzung innenpolitischer Ziele, die die menschliche Existenz nicht gefährden und die Tendenz zum Abbau von personaler und struktureller Gewalt verstärken;

8. Verhindern militärischer Gewaltanwendung zur Durchsetzung außenpolitischer Ziele; 9. Beitragen zur Beseitigung von Unterentwicklung in allen Teilen der Welt unter dem Postulat der Gewaltminimierung.

Eine umfangreiche, für die politische Bildungsarbeit zubereitete Analyse des Grundgesetzes ist 1973 in dem von R. Schörken herausgegebenen Band „Curriculum Politik" vor-* gelegt worden H. Schneider hat jüngst versucht, den Basiskonsens der pluralistischen Demokratie der Bundesrepublik mit dem dialektischen Begriffspaar Konsens-Konflikt und den daraus abgeleiteten Dimensionen Solidarität, Identität, Kritik und Interessen zum Zweck der Grundlegung von Lernzielen zur politischen Bildung zu beschreiben Die genannten Versuche und die Qualifikationen der 1974 in zweiter Auflage erschienenen nordrhein-westfälischen Richtlinien für den Politikunterricht sollen gemeinsam mit den obigen Ausführungen zum Auftrag des Grundgesetzes Wertmaßstab und politische Zielorientierung umreißen, an denen die Konzeption des Verfassers für einen problemorientierten Geschichtsunterricht sich ausrichtet. Die Richtung der Veränderung, die der Unterricht nach diesem Entwurf intendiert, ist damit gewiesen. Sie wird erneut angesprochen werden in dem nachstehenden Richtziel für den historisch-politischen Unterricht, dessen Auffächerung die von den nordrhein-westfälischen Politikrichtlinien ausgesparte historische Dimension ausführlich kennzeichnet. 5. Zusammenfassung Als Ergebnis der vorstehenden Überlegungen soll knapp zusammengefaßt werden:

Die Konzeption eines problemorientierten Geschichtsunterrichts verlangt Orientierungsmarken, will sie an Betroffenheit und Interessen der Schüler anknüpfen. Diese Orientierungsmarken können durch erkenntnisleitende Interessen gebildet werden, die dann als Instrumente dienen, um die Vielfalt der gesellschaftlichen Probleme im Hinblick auf den Schüler , in den Griff zu bekommen'. Die defizitären Erfahrungen — die positiven sollen nicht geleugnet werden — der jungen Menschen in ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit werden zu Anknüpfungspunkten für Fragestellungen gerade auch im historischen Bereich, wenn bestimmte Erkenntnisinteressen einen zukunfts-und damit handlungsorientierten Maßstab bilden.

Ein derartiges Verfahren birgt sowohl Gefahren wie Chancen: 1. Die große Abstraktionshöhe erkenntnisleitender Interessen wie Emanzipation, gutes Leben, Frieden und Partizipation kann dazu verführen, einen praxisfernen, an Utopien ausgerichteten Unterricht zu konzipieren und durchzuführen. Nur wenn es gelingt, die über die gesellschaftliche Wirklichkeit hinausweisenden Ideen so an die Wirklichkeit zu binden, daß Entwürfe für wünschenswerte Entwicklungen gegenwärtiger Gesellschaften eine mittlere Reichweite nicht übersteigen und die Beurteilung historischer Entscheidungsprozesse an das in einer bestimmten Zeit überhaupt Mögliche ohne Verdrängung des Aspekts der wünschenswerten Entwicklung geknüpft wird, läßt sich ein wirklichkeitsfremder historisch-politischer Unterricht vermeiden. 2. Von entscheidender Bedeutung ist die Begründung der erkenntnisleitenden Interessen. Werden Emanzipation, gutes Leben, Frieden und Partizipation in einer bestimmten inhaltlichen Füllung als wissenschaftlich bewiesen und somit allgemeingültig dargestellt, so liegt die Gefahr der einseitigen Auslegung und der entsprechenden unterrichtlichen Verwendung auf der Hand. Nur wenn die erkenntnisleitenden Interessen als Wert-entscheidungen verstanden werden, die demokratisch legitimiert werden müssen und also auch veränderbar sind, kann die Dogmatisierung eines sozialen Entwurfs auf Kosten aller anderen vermieden werden. Den Maßstab für die Werte einer Gesellschaft und für die Richtung der Veränderung des Bestehenden setzt die Verfassung der politischen Einheit, solange sie von der Majorität der Gesellschaft anerkannt wird.

IV. Lernzielorientierung

Die Einsicht in die Notwendigkeit der Formulierung erkenntnisleitender Interessen für die Durchführung eines an die individuelle und kollektive Betroffenheit der Schüler anknüpfenden problemorientierten Geschichtsunterrichts und die Kenntnis der damit verbundenen Problematik des Realitätsbezugs wie der theoretischen Begründung sollen im Sinne der obigen Bewertung als Voraussetzung für die generelle Zielorientierung dieses Unterrichts gelten.

Der folgende Vorschlag eines dem Leitziel der Emanzipation zugeordneten Richtziels für den historisch-politischen Unterricht generell geht auf die oben erwähnte Teamarbeit zurück. Das Richtziel kennzeichnet die Tendenz der möglichen erkenntnisleitenden Interessen, und die Auffächerung gibt Auskunft über die erwünschten Sozialisationsergebnisse des Unterrichts. Entgegen dem Versuch Süssmuths wird auf die Trennung von kognitiven, affektiven und psychomotorischen Zielen verzichtet, da jedes Lernen grundsätzlich wertbezogen ist und die Sonderung nur heuristische Funktion hat.

Richtziel:

Erfassen geschichtlicher und gegenwärtiger Ereignisse, Strukturen und Prozesse in ihrer politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen, räumlichen und zeitlichen Interdependenz und Bedingtheit mit dem Ziel, die inhaltlichen und methodischen Qualifikationen zu erwerben, die zur Mitgestaltung und Veränderung der gegenwärtigen Verhältnisse im Hinblick auf ein Höchstmaß individueller und kollektiver Freiheit, auf Demokratisierung im Sinne des Abbaus überflüssiger Herrschaft von Menschen über Menschen innerhalb aller gesellschaftlichen Beziehungen, auf möglichst gewaltlose und rationale Konfliktaustragung in notwendig heterogenen Gesellschaften und auf kritische Mündigkeit der Individuen und ihrer angemessenen Mitbestimmung in allen sie betreffenden Hinsichten notwendig sind

Auffächerung des Richtziels (Erwünschte Sozialisationsergebnisse):

— Fähigkeit und Bereitschaft, sich die eigene Bedürfnis-und Interessenlage bewußt zu machen; — Fähigkeit und Bereitschaft, die eigene Position in ihren traditions-und situationsgebundenen Abhängigkeiten ständig zu analysieren und zu kritisieren sowie Kenntnis der räumlichen und zeitlichen Bedingungen, die die jeweiligen Einstellungen begründen-, — Fähigkeit und Bereitschaft, nach den politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich, kulturell und ideologisch bedingten Interessen und Zielen handelnder Individuen, Gruppen und Klassen der Gegenwart und Vergangenheit zu fragen und politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche, ideologische Fragen, Probleme, Tendenzen der eigenen Zeit zu erkennen und zu formulieren; — Kenntnis der Interdependenz der das Handeln bedingenden politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen und ideologischen Faktoren sowie Fähigkeit und Bereitschaft, das Geschehen der Gegenwart und Vergangenheit multiperspektivisch zu betrachten; — Kenntnis, daß die Auseinandersetzung mit politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen Prozessen und ideologischen Positionen der Vergangenheit kein Selbstzweck ist, sondern die Funktion hat, die Gegenwart transparent und die Bedingungen für notwendige Veränderungen deutlich zu machen; — Fähigkeit und Bereitschaft, ideologiekritisch zu arbeiten; — Kenntnis der Doppelfunktion der Tradition (retardierende/stabilisierende Wirkung oder dynamisierende/Status quo ändernde Wirkung); — Fähigkeit und Bereitschaft, das Besondere/Einmalige des Einzelfalles in den erweiterten Zusammenhang stellen zu können, um so aufgrund transferierbarer Kategorien zum Vergleich zu kommen und auf der Basis des Vergleichs zu differenzierten Aussagen zu gelangen sowie kurzschlüssige Generalisierungen zu vermeiden; — Fähigkeit und Bereitschaft, dem unmittelbaren Erfahrungsbereich verschlossene Weisen des menschlichen Lebens aus historisch weit zurückliegenden Zeiten und stark unterschiedlichen sozio-kulturellen Umwelten zu erschließen und zum Vergleich heranzuziehen sowie Fähigkeit, die Kulturlandschaft in ihrer Entstehung und Veränderung zu erkennen; — Fähigkeit und Bereitschaft, die Wirkungen menschlichen Handelns auf die natürliche Landschaft zu erkennen und zu berücksichtigen; — Fähigkeit und Bereitschaft, Fragestellungen und Methoden anderer Sozialwissenschaften sachgerecht einzusetzen;

— Fähigkeit und Bereitschaft, politische Begriffe zu definieren und ihren Ursprung und Bedeutungswandel zu erklären;

— Kenntnis politischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und ideologischer Begriffe, Grundkategorien, Theorien der Gegenwart und Vergangenheit als Voraussetzung zum Verständnis und zur Erklärung zeitgeschichtlicher Gegebenheiten;

— Fähigkeit und Bereitschaft, den Grad der Offenheit und Begrenztheit politischer, gesellschaftlicher, ökonomischer, kultureller Prozesse zu erkennen und sich des Spannungsverhältnisses von individueller Autonomie und kollektiver Bindung bewußt zu werden; — Fähigkeit und Bereitschaft, Unterdrükkung, Gewaltanwendung, Ungleichheit in Gegenwart und Vergangenheit zu erkennen, aufzudecken und alternative Problemlösungen zu durchdenken und sich für solche Handlungsentwürfe zu entscheiden, die ein möglichst hohes Maß an gewaltloser und rationaler Konfliktlösung enthalten.

Ist es entsprechend der emanzipatorischen Leitzielorientierung und des Richtziels Aufgabe der historisch-politischen Bildung, den Schüler fähig und bereit werden zu lassen, Möglichkeiten und Grenzen der Veränderbarkeit politischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Gegebenheiten zu erkennen und daraus Konsequenzen für das eigene gegenwärtige und zukünftige Leben und Verhalten abzuleiten, so müssen folgende Fragen beantwortet werden: Welches ist das Mittel und welches ist der Weg, diese Ziele in einem problemorientierten Geschichtsunterricht anzustreben?

V. Mittel zur Erreichung der erwünschten Sozialisationsergebnisse

Das wichtigste Mittel zur Erreichung der Ziele ist nach den obigen Überlegungen die Darstellung von Gesellschaften und die Untersuchung der Bedingungen ihrer Entstehung wie der Verlaufsformen und Richtungen ihres Wandels. Die Analyse vergangener Gesellschaften muß dabei jedoch ebenso an die Bewußtseinslage und Betroffenheit der Schüler anknüpfen wie die gegenwärtiger Systeme. Ausbaufähig ist in dieser Beziehung A. Kuhns Bemühung, diese Forderung konsequent zu erfüllen.

Daß im Unterricht nur selten die Gesamtheit einer Gesellschaft einschließlich ihrer Entstehungsbedingungen und ihres Wandels untersucht werden kann, bedarf kaum einer Erwähnung. Vielmehr werden in der Regel nur Einzelaspekte berücksichtigt werden. Diese Einzelaspekte aber müssen auf dem Hintergrund der Gesamtstruktur gesehen werden und in diese einzuordnen sein. Bei der Ermittlung von Einzelthemen hat der Lehrer also die Gesamtheit, das System eines gesellschaftlichen Beziehungsgefüges zu berücksichtigen. Es ist deshalb wichtig, ihm dafür bedingt generalisierbare Kriterien an die Hand zu geben. Wie können Gesellschaften angemessen dargestellt und auf die Bedingungen ihrer Entstehung, des Wandels und der entsprechenden Verlaufsformen und Richtungen hin untersucht werden?

Ein mögliches Verfahren soll im folgenden in schematischer Form gekennzeichnet werden: 1. Ermittlung der Struktur einer Gesellschaft unter Berücksichtigung der Entstehungsbedingungen des Systems: — Die Strukturelemente bilden das System, das Ganze der Gesellschaft; — Die Veränderung eines Elements bewirkt eine mehr oder weniger große Veränderung des Ganzen: Wandel;

* — Die Strukturelemente haben folgende Aspekte: politisch, ökonomisch, gesellschaftlich, kulturell, ideologisch.

2. Untersuchung der Bedingungen des Wandels:

— Ermittlung der Strukturelemente, die bestimmte Veränderungen bewirken; — Überprüfung der Bedeutung dieser Elemente für das Strukturgefüge. 3. Untersuchung von Verlaufsformen und Richtungen des Wandels, d. h. Aufsuchen des Ausmaßes der Veränderung bzw.der Abweichung vom Ausgangszustand:

— Radikalität des Wandels;

— Geschwindigkeit des Wandels (einschl. Beschleunigung bzw. Verlangsamung);

— Verhältnis von geplanten und ungeplanten Veränderungen

VI. Weg zur Erreichung der erwünschten Sozialisationsergebnisse

Bei der Betrachtung des Vermittlungsweges bedarf es der Berücksichtigung verschiedener Aspekte. Wenn festgestellt wurde, daß der Lehrer bei der Ermittlung von Einzelthemen des Unterrichts die Gesamtheit eines gesellschaftlichen Beziehungsgefüges berücksichtigen müsse, so ist damit zwar eine wesentliche Aussage über das strukturierende Verfahren gemacht, das weitaus größere Problem — nämlich die Findung von Einzelthemen — jedoch nur am Rande erwähnt. Und gerade hier liegt die entscheidende Schwierigkeit, will man einen schülerorientierten Unterricht gestalten. Was muß der Lehrer bedenken, ehe er sich an die Findung der Einzelthemen begeben kann, nachdem er sich über die generelle Zielsetzung, die Erkenntnisinteressen und die verschiedenen Aspekte der Gesellschaftsanalyse bereits im klaren ist?

Er muß fragen, 1. welche Folgerungen er aus den Ergebnissen der Sozialisationsforschung für die Gewinnung von , schülernahen'Themen ziehen kann;

2. in welchen Abläufen sich das Lernen der Schüler vollzieht;

3. welche Konsequenzen sich aus den Lernvorgängen für Schülermotivation, Sozialformen und Medieneinsatz im Unterricht ergeben. 1. Historische Sozialisation Eine geschichtsdidaktische Konzeption, die Bewußtseinslagen und Interessen der Schüler einbezieht, wenn sie Lernprozesse initiieren und durchführen will und dies auch wissenschaftstheoretisch zu begründen versucht, leistet einen Beitrag zur sozialisationstheoretischen Reflexion, die seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zunehmend an Bedeutung gewonnen hat Die verschiedenen Aspekte politischer Sozialisation, welche die Entwick-lungs-und Lernprozesse betrifft, „durch die die Menschen zu politischen Orientierungen und Verhaltensweisen in einem bestimmten politischen System gelangen“, lassen sich in folgenden Fragen umreißen: „Welcher Einfluß kommt den Sozialisatoren Familie, Schule, Altersgruppe, Massenmedien zu? Wie konstant bzw. wie flexibel sind übernommene politische Einstellungen und Verhaltensweisen? Ergänzt die Schule die politischen Sozialisationsprozesse des Elternhauses und vermag sie familiale Sozialisationsprozesse zu verändern und durch entgegengesetzte Wertorientierungen zu überlagern? Kennt der Unterrichtende jene Faktoren, die die politische Sozialisation entscheidend beeinflussen, und ist er mit jenen vertraut, die Reversibilität von Einstellungen und Verhaltensweisen ermöglichen oder deren Irreversibilität zur Folge haben?"

Es kann hier nicht darum gehen, den Diskussionsstand darzulegen, sondern nur darum, auf die Gesichtspunkte zu verweisen, die bei der Einleitung und Durchführung von Lernprozessen mit bedacht werden müssen, wenn diese Prozesse die Lernvoraussetzungen, d. h. die Sozialisationsbedingungen, das Zustande-kommen von Bewußtseinslagen, Bedürfnissen und Interessen der Schüler berücksichtigen wollen. Eine Konzeption, die vermeiden will, bei den Sozialisationsbemühungen der politischen Bildungsarbeit die historische Dimension nur aspekthaft zu berücksichtigen, sondern geschichtliche Reflexion als konstitutiven Bestandteil eines angemessenen Gegenwartsverständnisses ansieht — D. Schmidt-Sinns spricht von historischem Unterricht im Lernfeld Politik —, muß im besonderen bedenken, welchen Beitrag die historische Sozialisation zur politischen leisten kann. Auf der Grundlage der Erkenntnis, daß die Einsicht des Schülers in seine soziale Umgebung eine entscheidende Bedeutung für das politische Lernen hat, fordert Süssmuth die stärkere Einbeziehung dieses Lernbereichs in die Geschichtsdidaktik: „Wenn es darum geht, Beziehungen zwischen den verschiedenen Ebenen sozialer, politischer, ökonomischer Entscheidungen sichtbar zu machen, die geschichtliche Bedingtheit sozialer und politischer Rollenzuweisungen deutlich werden zu lassen, so greift die historische Auseinander-

Setzung über die bisherige Vermittlung von Landes-, nationaler, europäischer und universaler Geschichte insofern hinaus, als die geschichtlichen Bedingungen der unmittelbaren Lebensbezüge zum Gegenstand des Unterrichts gemacht werden. Für die Heranwachsenden ist es wichtig, zu den geschichtlichen Voraussetzungen seiner sozialen Bezugsgruppe, aber auch seiner sozialen Rolle in Familie, Schule, Altersgruppe, Berufsfeld vorzudringen und sie gegenüber der Rollenzuweisung in anderen politischen und kulturellen Systemen durch Vergleich abgrenzen zu können .. . Doch erfolgt die sozialgeschichtliche Auseinandersetzung noch immer zu einseitig auf einer Problemebene, die dem Lernenden nur schwer zugänglich ist. Die Verknüpfung der großen sozialgeschichtlichen Probleme mit den politischen, sozialen und ökonomischen Fragen auf unterster Ebene ist didaktisch bisher noch nicht geleistet worden. Die Inhalte historischen Lernens müßten von der übergeordneten Ebene gesellschafts-und staatspolitischer Entscheidungen und Ereignisse auf die Zwischen-und Basisebenen ausgeweitet werden.“ Das bedeutet, daß es eine wichtige Aufgabe der Geschichtsdidaktik sein muß, die Unmittelbarkeit geschichtlicher Bezüge in der Ausübung und Übernahme sozialer und politischer Rollen in den Lernprozeß einzubringen und für das Gegenwartsverständnis fruchtbar zu machen.

Im Zusammenhang dieses Bemühens sind A. Mannzmanns Überlegungen zur Differenzierung der Grundkategorie der Geschichte, der Zeit, zu sehen, die das Ziel verfolgen, die Zeitperspektive in konkrete Erfahrungsfelder zu übersetzen und damit für den schülerinteresse-bezogenen Unterricht zu nutzen. Mannzmann erkennt, daß 1. Zeiteinteilungsschemata und historische Sichtweisen „abhängig vom Begründungszusammenhang sie tragender Sozialordnungen" sind; 2. historische wie auch ahistorische Sichtweisen, welche die Folgen der „Suspendierung ge-schichtswirksamer Kontinuität'darstellen, von der sie tragenden Sozialordnung bestimmt werden; 3. Periodisierungen wie Gesellschaftssysteme der „Herrschaftseinwirkung und Machtauseinandersetzung" und somit der Veränderung unterliegen; 4. eine „offizielle Standardzeit und Standard-geschichte in multidimensionale Bezugssysteme überführt werden muß, damit die Erfahrung sozialer Eigenzeit’ möglich wird“, da die freie Entfaltung personaler und gruppaler Entwicklung eng mit einem Recht auf Zeit-strukturierung in Eigenregie verbunden ist; 5. die „abstrakte Logik von Jahreszahlgerüsten und Verlaufsfolgen" durch die Einsicht in die Möglichkeit, zeitliche Koordinierungssysteme relativ zu setzen, aufgelöst wird, so daß zu gleicher Zeit weltgeschichtlich die verschiedensten Soziostrukturen nebeneinander gezeigt werden können

Die Frage aber, wie diese „Kommunikation mit verschiedenen Zeitaltern" ermöglicht werden soll, führt zur Suche nach einem Kriterium. Mannzmann findet es in den Gesellschaftsformationen, ohne deren jeweilige Analyse diese Kommunikation ausgeschlossen sei A. Kuhns Weg zielt in dieselbe Richtung.

Der Begriff . Gesellschaftsformation'ist bekannterweise mit bestimmten Implikationen belastet und deshalb vielen von vornherein verdächtig. Imanuel Geiss hat sich wohl nicht zuletzt zum Zweck des Abbaus von Vorurteilen mit den marxistischen Periodisierungsbemühungen befaßt und nachzuweisen versucht, daß das sogenannte Fünf-Stadien-Schema in Wirklichkeit nicht auf Marx oder Engels zurückgeht, sondern auf Stalin: „Das sollte jeder wissen, der damit hantiert oder gar andere darauf einzuschwören versucht unter Berufung auf , den'historischen Materialismus." Nach einer ausführlichen Kritik der Unzulänglichkeiten dieses allgemeine Gültigkeit in bezug auf zeitliche und räumliche Dimension, auf Erklärung des Revolutionsmechanismus und auf . Progressivität'beanspru-chenden historischen Erklärungsmodells versucht Geiss eine Alternative zu skizzieren, die sich als bedenkenswerter Entwurf erweist gerade auch für das Bemühen des Fachdidaktikers, ein unterrichtlich verwendbares Periodisierungsmuster zu gewinnen, das die Zeit an gesellschaftliche Grundgegebenheiten bindet und dabei offen ist für die Berücksichtigung verschiedener Zeitperspektiven, für die Erklärung ungleichmäßiger und ungleichzeitiger wie für die Einbeziehung zukünftiger Entwicklungen.

Geiss sieht die Entwicklung der Weltgeschichte in drei sich ineinander verschlingenden Strängen, „die zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten einsetzen und zur Gegenwart hin auslaufen, ohne ganz zu verschwinden" Jeder dieser Stränge ist gekennzeichnet durch bestimmte wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Strukturen, die in ihrer Gesamtheit jeweils ein Ordnungsgefüge bilden. Geiss unterscheidet die prä-agrarische, die agrarisch-aristokratisch-monarchische und die industriell-demokratische-republikanisdie Ordnung, die jeweils einen Strang der weltgeschichtlichen Entwicklung bilden: „Jede Formation ist zwar insoweit universaler Natur, als sie in der Vergangenheit die gesamte Menschheit erfaßte (präagrarische) oder fast total erfaßte (agrarisch-aristokratisch-monarchische Ordnung) oder die Tendenz hat, sich über die gesamte Erde zu verbreiten (industriell-demokratisch-republikanische Ordnung), wenn die Menschheit und die Erde das überlebt. Aber die drei Kategorien taugen nicht zu einer zugleich universalen und chronologischen Periodisierung regionaler oder nationaler Gesellschaften. Denn beim Auftreten der zweiten und dritten Epoche besteht die erste bzw. zweite noch fort, wenn auch mit immer weiter sinkender Bedeutung ökonomischer und damit politischer Natur."

Ein derartiger Periodisierungsentwurf, der locker und zugleich umfassend formuliert ist und die Verabsolutierung regionaler Entwicklungen (z. B. europazentrierte Sichtweise) vermeidet sowie Raum für Besonderheiten zuläßt, sollte auf seine didaktische Verwendbarkeit hin ernsthaft auch von demjenigen überprüft werden, der den Primat des Ökonomischen — ohne diesen Bereich zu unterschätzen — in Frage stellt und die Interdependenz der das Ganze bildenden Bausteine betont wissen will. Geiss kommt es wesentlich darauf an, die Notwendigkeit des Verzichts auf ein lückenloses und zugleich universales Periodisierungsschema hervorzuheben und die Offenheit der Zukunft zu betonen, ohne dabei die ihm wünschenswert erscheinende. Entwicklung einer industrialisierten demokratischen Weltgesellschaft mit einem Höchstmaß an Freiheit für das Individuum zu verschweigen.

Wenn die skizzierten Aspekte unter dem Gesichtspunkt der politischen und historischen Sozialisation im Hinblick auf die in der Ziel-orientierung genannten erwünschten Sozialisationsergebnisse in die Vorüberlegungen zum problemorientierten Geschichtsunterricht mit einbezogen werden und die Findung der Einzelthemen auch von der Formulierung und Aufschlüsselung von Strukturthemen auf der Basis der differenzierten Zeitperspektive wie der gesellschaftlichen Formation abhängig gemacht wird, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg getan, die Inhalte historischen Lernens auf die Zwischen-und Basisebenen zu projizieren. 2. Psychologie des Lernens Einzelthemen können aber ebensowenig ohne Kenntnis der Abläufe formuliert werden, in denen sich das Lernen der Schüler vollzieht. Es muß aufgezeigt werden, wie die Lernprozesse strukturiert werden müssen, die dazu beitragen sollen, die erwünschten Sozialisationsergebnisse bei den Schülern zumindest partiell zu erreichen. Berücksichtigt man in diesem Bemühen die neueren Ansätze der Psychologie, die das . entdeckende Lernen begründen, so stellt man fest, daß sie für die Konzeption eines problemorientierten Geschichtsunterrichts von großer Bedeutung werden können. Besonders wichtig sind nach Ansicht des Verfassers die Studien von H. Aebli über die geistige Entwicklung als Funktion von Anlage, Reifung, Umwelt-und Erziehungsbedingungen und über die Lehrbarkeit von Denkoperationen im Anschluß an die Studien von J.

Piaget Diese Arbeiten für die vorliegende Konzeption konstitutiv werden zu lassen, setzt ein entschiedenes Abrücken von der älteren Entwicklungspsychologie voraus.

Aebli erkennt die entscheidende Bedeutung des Lernens für die Konzipierung einer neuen Theorie der Entwicklung, indem er feststellt, daß das Lernen an allen Entwicklungsprozessen wesentlich beteiligt ist. Bedeutsames Ergebnis der Untersuchungen über die Haupt-faktoren der Entwicklung, die als Lernen und Anlage identifiziert werden, ist die Erkenntnis, daß Entwicklung als die Summe der Lernprozesse eines Menschen zu begreifen ist, wobei die Anlagefaktoren diese Lernprozesse nur erleichtern bzw. erschweren: „Unter Entwicklung versteht man die Summe der Lernprozesse, die die ungeleitete Auseinandersetzung mit dem kulturellen Grundbestand der sozialen Umwelt im jungen Menschen anregt."

Entsprechend der Einschätzung der Bedeutung des Lernens bei der Entwicklung stellt Aebli fest, daß es im menschlichen Verhalten keine Schemata gibt, die auf Grund bloßer Reifung auftauchen. Der höhere Reifungsstand allein vermag keine bessere Leistung hervorzubringen. Es besteht kein grundsätzlicher Unterschied zwischen den Verhaltensänderungen, welche man . Entwicklung', und denen, welche man . Bildung'und . Erziehung'nennt. Alle diese Veränderungen werden durch Lernen und Erfahrung realisiert und durch die Anlagen des Kindes, „das verschieden funktionstüchtige organische Substrat, in dem sich die Lernprozesse abspielen" erleichtert bzw. erschwert.

Bestimmt von dem Interesse, die geleitete Auseinandersetzung des Schülers mit bestimmten Sachverhalten richtig durchzuführen, muß man wissen, in welchen Prozessen sich Lernen vollzieht. Einsichten in diese Vorgänge vermittelt Aebli in Auswertung der Psychologie Jean Piagets. Piaget faßt Denken als eine Form des Tuns, als verinnerlichte Tätigkeit, d. h. ein Operieren mit vorgestellten Objekten auf, er befaßt sich aber nicht mit der Lehr-und Lernbarkeit der Operationen. Darum bemüht sich Aebli und gelangt u. a. zu dem Ergebnis, daß sich kognitive Fähigkeiten in dem Maße entwickeln, wie sie eingeübt werden In seiner psychologischen Didaktik weist er nach, daß die Wahrnehmung nicht ein rezeptiver Prozeß der Einprägung sinnlicher Gegebenheiten ist, sondern ein Vorgang, in dem das Subjekt aktiv ist, handelt, so daß man von Wahrnehmungstätigkeit sprechen kann. Für den Unterrichtsprozeß bedeutet das, daß der Schüler sich eine vom Lehrer vorgeführte Operation nur aneignet, wenn er sie innerlich mitvollziehen kann. Wie das Kind, das seine Gedanken mit Gleichaltrigen und Erwachsenen austauscht, dazu gelangt, sein eigenes Denken operatorisch zu gestalten, also in sozialem Austausch sein Denkvermögen frei entwickelt, so verlangt auch der Unterricht echte Kommunikation — nicht permanenten Lehrervortrag —, sollen neue Denkoperationen aufgebaut werden. Aebli nennt das . Forschen und Suchen'„jene geistige Aktivität, in deren Verlauf sich die neuen Begriffe und Operationen bilden" Will man die Bildung von Operationen verstehen, so muß man wissen, daß ein neues Verhalten niemals ohne Vorbereitung möglich ist. Alle Operationen und Begriffe haben „ihre Geschichte, die Geschichte ihres progressiven und vollkommen stetigen Aufbaus, ausgehend von früheren Denkelementen" und die Ausgangsdaten beim Forschen sind „nichts anderes als die Denkelemente, auf denen sich eine neue Operation aufbaut,... es ist das Suchen und Forschen des Kindes, das der Differenzierung und Integration Raum gibt, welche den Fortschritt des Denkens charakterisieren"

Um im Unterrichtsverlauf Denkfortschritte zu erzielen, ist es also notwendig, daß der Lehrer in Kenntnis von Struktur und Entstehung der Operationen die Schüler zu eigenem Suchen und Forschen anregt. Das zu leisten ist nur möglich, wenn der Unterricht problemorientiert gestaltet wird, denn „eine Frage oder ein Problem ist nichts anderes als der Entwurf einer Handlung oder Operation, welchen das Subjekt auf ein neues Objekt anwenden wird, das noch nicht klassifiziert, im Raum geordnet oder gezählt ist“ Hat der Lehrer dies erkannt, so muß er bei einem unterrichtlichen Vorhaben überlegen, wie er ein Problem den Schülern als ein von ihnen selbst erkanntes und akzeptiertes vermitteln kann. Wenn es gelingt, „das Kind dazu zu bringen, daß es eine Operation aufbaut, indem es von einem klar erkannten Problem ausgeht, so darf man annehmen, daß es nicht nur alle Elemente des neuen geistigen Aktes begriffen hat, sondern auch dessen Gesamt-struktur" 3. Motivation, Sozialformen, Medien, Lernkontrolle Die vorstehenden Ausführungen machen deutlich, daß die Konzeption des problemorientierten Unterrichts hier ihre lernpsychologische Legitimation erhält. Geklärt werden muß nun die Frage, welche Konsequenzen aus der Einsicht in die Abläufe des Lernens für die Schülermotivation, die Sozialformen und den Medieneinsatz im Unterricht folgen.

Wurde oben festgestellt, daß erkenntnisleitende Interessen, die an die individuelle und kollektive Betroffenheit der Schüler anknüpfen, motivierend für den Unterricht wirken, so muß bei der Berücksichtigung der Notwendigkeit der Wirklichkeitsnähe auch der psychologische Aspekt einbezogen werden. H. Heckhausen spricht vom „mittleren Erreichbarkeitsgrad" einer Aufgabe, der seiner Ansicht nach dann gegeben ist, wenn der Schwierigkeitsgrad des Unterrichtsangebots fortlaufend den Leistungsstand der Schüler nur leicht überfordert Für die vorliegende Konzeption bedeutet dies, daß ein unter einem bestimmten erkenntnisleitenden Interesse subsumiertes konkretes Unterrichtsproblem dem Stand des Erkenntnisprozesses der Schüler in dem Sinne entsprechen muß, daß die neue Anforderung einen über das bisher Erarbeitete hinausgehenden Schwierigkeits-grad aufweisen muß, ohne eine Überforderung darzustellen, wodurch die Motivation beeinträchtigt würde. Gleich, wie man zu Heckhausens Leistungsbegriff stehen mag, die von ihm erarbeiteten Variablen der Lernmotivierung vermitteln dem Lehrer die Hilfe, die er benötigt, will er einen problemorientierten Unterricht konzipieren, der die Fassungskraft der Schüler nicht übersteigt.

Die methodischen Konsequenzen lassen sich aus der psychologischen Grundlegung des Unterrichts leicht ableiten. Sie entsprechen den Angaben der obigen Beschreibung des möglichen Ablaufs des problemorientierten Geschichtsunterrichts. Lehrervortrag und fragend-entwickelndes Verfahren sollten zugunsten von Gemeinschaftsarbeit fördernden Sozialformen (Partner-und Gruppenarbeit, Simulationsspiel, Unterrichtsgespräch) zurücktreten Ein problemorientierter Unterricht verlangt Selbsttätigkeit der Schüler, die nur in passive Haltung abbauenden Unterrichtsformen möglich ist.

Das Medienproblem ist damit auch grundsätzlich insofern gelöst, als eine rein illustrative, vom Lehrer bereits vermittelte Inhalte nur bestätigende Verwendung von Medien verschiedenster Art ausgeschlossen werden muß. Die Medien sollen für die Schüler zum Material werden, anhand dessen sie Probleme finden und Probleme lösen. Zum funktionsgerechten Einsatz von audio-visuellen Medien hat A. Roloff wichtige Aussagen gemacht L. Steinbach sieht in den Quellen die entscheidenden Medien für den Geschichtsunterricht, wenn sie als Initialzündung zur Gewinnung eines Problembewußtseins und als Material zur Problemlösung eingesetzt werden Der Verfasser stimmt diesen Überlegungen zu und verzichtet deshalb an dieser Stelle auf eine ausführliche Darlegung seiner Vorstellungen zum Quelleneinsatz.

Fragen der Operationalisierung der Lernziele können hier nicht angeschnitten werden. Wichtig ist nur die Bemerkung, daß ein an der Leitidee der Emanzipation ausgerichteter problemorientierter Geschichtsunterricht sich nicht mit kurz-und mittelfristigen Lernkontrollen begnügen kann, wenn diese auch für die Notenfindung unentbehrlich sind Langfristige Operationalisierung im Sinne der von Anette Kuhn genannten fünf im Unterricht unmittelbar zu erlernenden emanzipatorischen Fähigkeiten — Fähigkeit zur Kommunikation, zum ideologiekritischen Denken, zur gesellschaftlichen Analyse, zur Parteinahme, zur Identitätserweiterung — ist unabweisbarer Bestandteil des problemorientierten Geschichtsunterrichts. In der letzten der Qualifikationen finden die anderen Fähigkeiten ihren Zielpunkt: „Durch die Dialektik von Selbst-reflexion und Nachkonstruktion, durch die Aneignung und kritische Distanzierung von Traditionen und ihren Normen, durch das teilnahmlose Verstehen und das beteiligte Beurteilen, durch die begründete Parteinahme und Revisionsmöglichkeit und schließlich durch die Durchdringung von Theorie und Praxis soll der Schüler nicht sich selbst verleugnen, sondern sich am historischen Lernen seiner Identität versichern.“

VII. Strukturthemen, Aufschlüsselung eines Strukturthemas und hochschuldidaktische Konsequenzen

Die vorstehenden Überlegungen betreffen die Voraussetzungen, die bedacht werden müssen, ehe die Frage der Inhalte und der Themenfindung konkret in Angriff genommen werden kann. Insofern handelt dieser Aufsatz von Vorüberlegungen zu einem problemorientierten Geschichtsunterricht. Die Ermittlungvon Inhalten (Strukturthemen) muß hier ausgeklammert werden, dennoch soll ein Vorschlag für einen Katalog von Strukturthemen auf der Basis des Periodisierungsversuchs von Imanuel Geiss unterbreitet werden (s. Tabelle I). Und schließlich soll dem Leser am Beispiel der partiellen Aufschlüsselung eines Strukturthemas das Beziehungsgefüge der Faktoren aufgezeigt werden, auf deren Basis die Vorbereitung und Durchführung des problemorientierten Geschichtsunterrichts möglich wird ('s. Tabelle II).

Es wird dabei deutlich, daß die vorgetragene Konzeption von Unterricht hochschuldidaktisehe Konsequenzen hat. Das eingangs skizzierte Didaktikverständnis findet hier seine Begründung. Bei diesem Versuch kann es sich nur um vorläufige und unvollständige Angaben handeln. Viele der Qualifikationen des Lehrers wie der Leistungen der Grundwissenschaften und der Fachdidaktik werden bei der Strukturierung eines jeden neuen Inhalts (Strukturthemas) wieder auftauchen. Die detaillierte Ausformulierung, die die Studiengangskommission Deutsch des Heidelberger Gesamthochschulversuchs vorgenommen hat, muß daraufhin geprüft werden, ob nicht etwa Kartenhäuser aufgebaut worden sind bei dem Versuch, zu jedem Lernziel in den Leistungen der verschiedenen Wissenschaftsbereiche eine Entsprechung zu finden

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. u. a. Th. W. Adorno u. a. (Hrsg.), Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied 19713; J, Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1968; ders., Zur Logik der Sozialwissenschaften, Frankfurt 1970; ders., Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik, in: E. Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, Köln 1971'; H. Blankertz (Hrsg.), Curriculumforschung — Strategien, Strukturierung, Konstruktion, Essen 1971; I. Würtl, über einige Einflüsse der Kritischen Theorie auf die jüngere Sonderpädagogik, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 25/1974, S. 336 ff.

  2. A. Kuhn, Einführung in die Didaktik der Geschichte, München 1974.

  3. A. Kuhn, a. a. O., S. 15.

  4. I. Würtl, a. a. O„ S. 336 f.

  5. E. O. Czempiel, Friede und Konflikt in der Gesellschaftslehre — Ein Diskussionsbeilrag zum Lernfeld Internationale Politik in den Hessischen Rahmenrichtlinien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 20/74, S. 3 ft., hier S. 4.

  6. Vgl. J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, a. a. O.

  7. H. Schneider und U. Uffelmann, Außenpolitik im historisch-politischen Unterricht, in: GWU 25/1974, S. 547 ff.

  8. Vgl. J. Habermas, Technik und Wissenschaft als . Ideologie', Frankfurt 1968, S. 163.

  9. A. Kuhn, a. a. O., S. 27 ff.

  10. I. Würtl, a. a. O., S. 341.

  11. U. Uffelmann, Politischer Unterricht in der integrierten Gesamtschule, in: Die Schulwarte 26/1973, S. 55 ff., hier S. 56; R. Engelhardt, in: Zur Didaktik der politischen Bildung — Entwicklung und Probleme, Protokoll des Lehrgangs 1799 des Hess. Instituts für Lehrerfortbildung, Dez. 1971.

  12. L. Kerstiens, Modelle emanzipatorischer Erziehung, Bad Heilbrunn 1974.

  13. L. Kerstiens, a. a. O., S. 156 ff.

  14. L. Kerstiens, a. a. O., S. 174.

  15. I. Würtl, a. a. O., S. 342.

  16. L Würtl, a. a. O., S. 343.

  17. D. Fitterling, Funktionsorientierte Lernziele — Thesen zur curricularen Revision des Geschichtsunterrichts, in: Historischer Unterricht im Lernfeld Politik, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Heft 96, 1973, S. 98 ff.

  18. J. Kocka, Wozu noch Geschichte? in: K. Filser, Theorie und Praxis des Geschichtsunterrichts, Bad Heilbrunn 1974, S. 24 ff.

  19. Vgl. Historischer Unterricht im Lernfeld Politik, a. a. O., S. 112.

  20. U. Uffelmann, Politischer Unterricht, a. a. O., S. 56 ff.

  21. W. Besson, Außenpolitik der Bundesrepublik, München 1970, S. 454 ff.

  22. Vgl. dazu H. G. Lüchinger, Die Auslegung der Schweizerischen Bundesverfassung, Zürich 1954, S. 110 ff.

  23. Vgl. H. Gieseke, Unterrichtsziele im Sozialkundeunterricht in der differenzierten Gesamtschule, in: Deutscher Bildungsrat, Gutachten und Studien der Bildungskommission, Bd. 12: Lernziele der Gesamtschule, Stuttgart 1971’, S. 55— 59, hier S. 56.

  24. Vgl. R. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 19662, S. 25.

  25. Vgl. R. Dahrendorf, a. a. O., S. 24 und 26.

  26. W. Breuer u. a., Das politische System, In: R. Schörken (Hrsg.), Curriculum . Politik', Opladen 1974, S. 107 ff.

  27. H. Schneider, Pluralismus und politische Bildung, in: Civitas 1974, S. 104— 126.

  28. Richtlinien für den Politikunterricht, hrsg. vom Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 19742.

  29. Studiengangskommission Geschichte des Gesamthochschulversuchs „Zentrum für Lehrerbildung" in Heidelberg; Richtziel und Auffächerung wurden auf der Grundlage von Überlegungen H. Süssmuths und J. Kockas formuliert von B. Albert, A. Cser, H. Soell, L. Steinbach und U. Uffelmann, Juli 1974.

  30. Vgl. dazu: W. Zapf (Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels, Köln/Berlin 19713, bes. die Einleitung von W. Zapf, S. 11 ff. Zum strukturierenden Verfahren können an dieser Stelle aus Raummangel keine detaillierten Ausführungen gemacht werden. Vgl. dazu demnächst: U. Uffelmann, Teilgutachten Geschichte für den Lernbereich Gesellschaft des Schulversuchs Integrierte Gesamtschule Mannheim-Herzogenried, in: Schriftenreihe Schulversuche der Stadt Mannheim (Ende 1975). Ferner H. Süssmuth, Lernziele und Curriculumelemente eines Geschichtsunterrichts nach strukturierendem Verfahren, in: Lernziele und Stoffauswahl im politischen Unterricht, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Heft 93, 1972, S. 37 ff.; F. Braudel, Histoire et Sciences sociales, in: Annales 13/1958; D. Groh, Kritische Geschichtswissenschaft in emanzipatorischer Absicht, Stuttgart 1973; V. Rittner, Ein Versuch systematischer Aneignung von Geschichte: die . Schule der Annales', in: I. Geiss und R. Tamchina, Ansichten einer künftigen Geschichtswissenschaft, München 1974, S. 153 ff.

  31. Vgl. u. a.: E. A. Roloff, Geschichte und politische Sozialisation — Sozialpsychologische Aspekte des historisch-politischen Lernens unter besonderer Berücksichtigung von audiovisuellen Arbeitsmitteln, in: Historischer Unterricht im Lernfeld Politik, a. a. O., S. 113 ff. (dort weitere Literatur); ferner H. Süssmuth, Politische Sozialisation als Determinante der Unterrichtsplanung, in: Anmerkungen und Argumente 7/1, 1973, S. 71 ff. (dort weitere Literatur).

  32. H. Süssmuth, Politische Sozialisation, a. a. O., S. 74.

  33. D. Schmidt-Sinns, Historischer Unterricht im Lernfeld Politik, a. a. O., S. 7 ff.

  34. H. Süssmuth, Politische Sozialisation, a. a. O., S. 87 f.

  35. A. Mannzmann, Vorüberlegungen zu einer Didaktik der Soziohistorie - Dimensionierung des Faches Geschichte, in: H. Blankertz (Hrsg.), Fach-didaktische Curriculumforschung - Strukturansätze für Geschichte, Deutsch, Biologie; Neue päd. Bemühungen, Bd. 57, Essen 1973, S. 28 ff.

  36. A. Mannzmann, a. a. O., S. 47 ff.

  37. A. Mannzmann, a. a. O., S. 64 f.

  38. I. Geiss, Zwischen Marx und Stalin — Kritische Anmerkungen zur marxistischen Periodisierung der Weltgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 41/74, S. 3 ff., hier S. 12.

  39. I. Geiss, a. a. O., S. 19.

  40. I. Geiss, a. a. O., S. 19.

  41. Vgl. H. Neber (Hrsg.), Entdeckendes Lernen, Weinheim/Basel 1973. J. S. Bruner, Entdeckendes Lernen, in A. Holtmann (Hrsg.), Das sozialwissenschaftliche Curriculum in der Schule, Opladen 1972, S. 87 ff.

  42. Vgl. H. Aebli, Die geistige Entwicklung als Funktion von Anlage, Reifung, Umwelt-und Erziehungsbedingungen, in: Deutscher Bildungsrat, Gutachten und Studien der Bildungskommission, Bd. 4: H. Roth (Hrsg.), Begabung und Lernen, Stuttgart 19708, S. 151 ff.; ders., Psychologische Didaktik, Stuttgart 19704.

  43. H. Aebli, Die geistige Entwicklung, a. a. O., S. 189.

  44. H. Aebli, Die geistige Entwicklung, a. a. O., S. 173.

  45. H. Aebli, Ein Beitrag zur Frage der genetischen Kontinuität in der kognitiven Entwicklung des Kindes, illustriert am Beispiel des Zeitbegriffs, Ber. 24. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Wien 1964, S. 120 ff., zit. nach R. Schörken, Lerntheoretische Fragen an die Didaktik des Geschichtsunterrichts, in: GWU 21/1970, S. 406 ff., hier S. 414.

  46. H. Aebli, Psychologische Didaktik, a. a. O., S. 76.

  47. H. Aebli, Psychologische Didaktik, a. a. O., S. 76.

  48. H. Aebli, Psychologische Didaktik, a. a. O., S. 78.

  49. H. Aebli, Psychologische Didaktik, a. a. O., S. 79.

  50. H. Aebli, Psychologische Didaktik, a. a. O., S. 92.

  51. H. Heckhausen, Förderung der Lernmotivierung und der intellektuellen Tüchtigkeiten, in: Begabung und Lernen, a. a. O., S. 193 ff., hier S. 205.

  52. Vgl. dazu: H. Hörner, Lernchancen durch das Unterrichtsgespräch, in: G. Lotzmann (Hrsg.), Das G 19e 7s 3p, rSä. ch 80inff. Erziehung und Behandlung, Heidelberg

  53. A. Roloff, a. a. O., S. 122 ff.

  54. L. Steinbach, Die Verwendung von Quellen im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I — Diskussiousbeitrag, in: W. Fürnrohr (Hrsg.), Geschichtsdidaktik und Curriculumentwicklung, München 1974, S. 135 ff.; vgl. auch demnächst: L. Stein-bach, in: G. Schneider (Hrsg.), Die Quelle im Geschichtsunterricht— mit Beiträgen von W. Schlegel, G. Schneider, L. Steinbach, U. Uffelmann, Donauwörth 1975.

  55. Vgl. dazu: F. Streiffeier, Leistungsmessung im Geschichtsunterricht, in: Anmerkungen und Argumente 7/1, 1973, S. 143 ff., B. von Borries, Lernziele und Testaufgaben für den Geschichtsunterricht, in: Anmerkungen und Argumente 8, 1973.

  56. A. Kuhn, a. a. O., S. 73.

  57. Heidelberger Studiengruppe, Integriertes Curriculum Deutsch — Curriculumentwurf für die Ausbildung von Deutschlehrern, Heidelberg (Vorab-druck eingesehen).

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Uwe Uf f elm ann, Dr. phil., geb. 1937 in Kassel, Studium der Geschichte und Germanistik in Marburg und Heidelberg; 1966— 1971 Studienrat am Gymnasium in Fritzlar, seit 1971 Professor für Geschichte und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg; Mitarbeiter am Schulversuch Integrierte Gesamtschule Mannheim-Herzogenried. Veröffentlichungen u. a.: Europäische Integration im Unterricht (zus. mit H. Schneider), in: Der Bürger im Staat 22, 1972, Heft 4; Politischer Unterricht in der integrierten Gesamtschule, in: Die Schulwarte 26, 1973, Heft 4; Fachdidaktik und Schulpraxis im Geschichtsstudium, in: GWU 24, 1973, Heft 4; Geschichte in der Orientierungsstufe, in: Die Schulwarte 27, 1974, Heft 1/2; Weltkunde — Ein Curriculumentwurf für die Orientierungsstufe der Integrierten Gesamtschule Mannheim-Herzogenried, in: Schriftenreihe Schulversuche der Stadt Mannheim Bd. 8, 1974; Außenpolitik im historisch-politischen Unterricht (zus. mit H. Schneider), in: GWU 25, 1974, Heft 9; Bäuerliche Freiheitsbestrebungen im Mittelalter, in: Die Schulwarte 27,. 1974, Heft 12; Die Stedinger Bauern, in: G. Schneider (Hrsg.), Die Quelle im Geschichtsunterricht, Donauwörth 1975.