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Die Intellektuellen und die Politik Der Kritiker *) | APuZ 9/1976 | bpb.de

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APuZ 9/1976 Artikel 1 Staat, Gesellschaft und politische Zeitschrift Die Intellektuellen und die Politik Der Kritiker *) Die Bedingungen der Reform

Die Intellektuellen und die Politik Der Kritiker *)

Dieter Lattmann

/ 12 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das intellektuelle Klima in der Bundesrepublik hat sich in den zurückliegenden zehn Jahren zweimal entscheidend verändert: zunächst ab Mitte der sechziger Jahre der Aufbruch zu einer in Deutschland nicht selbstverständlichen Liberalität und Reformfreudigkeit, ausgelöst durch das energische Demokratieverlangen der damals erwachsen gewordenen Generation, dann plötzlich ab 1973 der Umschwung zu neokonservativen Strukturen mit Anpassungsprozessen unter dem Druck einer „Gegenreformation", zu der sich verändernde wirtschaftliche Voraussetzungen,'der beginnende Numerus clausus und nicht zuletzt der politische Terrorismus extremer Minderheiten beigetragen haben. Auf den Ausbruch aus dem Elfenbeinturm folgte überraschend schnell ein neuer Privatismus, auf das scheinbar umfassende politische Engagement schöpferischer Intelligenzen eine neue Flucht in die Vereinzelung. Während hier und dort Verlassenheit und Trauer auf der Endmoräne der Außerparlamentarischen Opposition einen ohnmächtigen Protest auf-pflanzen, kerben die Mitglieder schlagender Verbindungen sich mit neuem Stolz die Insignien ihrer Elitevorstellungen ins Gesicht. Die junge Generation steht teilweise vor verschlossenen Toren der Universitäten, Schulen und Berufe — in der Hoffnung, doch noch hineinzukommen —; sie steht in immer unbeholfenerer Weise innerlich wieder stramm. Dennoch: Die Auseinandersetzung findet statt zwischen einem bloß formalen Verständnis von Demokratie und jener Überzeugtheit, die sich mit dem bestehenden Zustand nachgerade nirgends zufriedengeben will, weil ihr der Staat, in dem wir leben, noch lange nicht als die Demokratie erscheint, die das Grundgesetz fordert. Nicht Ruhe, sondern Demokratie ist ihr die erste Bürgerpflicht.

Um es vorweg zu sagen: Auf eine kritische Distanz zum Thema kann ich mich hier nicht berufen, vielmehr auf Betroffenheit und die Unteilbarkeit der Person. Der kritische Autor, als der ich jahrelang Politik zu verfolgen versucht habe, bin ich nicht mehr allein, vielmehr mitgefangen als Politiker. Wenn deswegen vielleicht dieses kritisierende und gleichzeitig kritisierte Ich in meinen Ausführungen etwas häufiger vorkommt, als es sonst meine Art ist, nehmen Sie das Ich bitte als ein Instrument zum Bemühen um Versachlichung. über die Rolle der kreativen Intelligenz im Lande im Verhältnis zur politischen Verantwortung und den Personen, die sie jeweils tragen, wird man nie ausreden und zu Ende diskutieren können. Das Thema ist zu komplex. Es zwingt der Reflexion wie der Erfahrung immer neue Gesichtspunkte auf. „Geist und Macht, das angeblich strenge Gegensatzpaar, üben oft und gern Rollentausch. Denn so mächtig der Einfluß der Politik auf die Gesellschaft sein mag, längst hat sie ihre Macht teilen müssen: gerade Sie als Schriftsteller sollten Ihren Einfluß nicht unterschätzen."

Das hat Willy Brandt als Bundeskanzler am 21. November 1970 auf dem ersten Schriftstellerkongreß des Verbands deutscher Schriftsteller (VS) gesagt. Es war ein euphorischer Augenblick, über 500 Autoren und Journalisten waren in der Stuttgarter Liederhalle versammelt. 2 000 Gäste hörten zu. Die Reden von Willy Brandt, Heinrich Böll, Günter Grass, Martin Walser (der die „IG Kultur" forderte) wurden ins Foyer und einen Neben-saal übertragen. Es war noch die Zeit der Reformfreudigkeit. Die Gesellschaft in der Bundesrepublik hatte sich weiter als je zuvor für linksliberale Forderungen und Positionen geöffnet. In diesem Klima konnte man der schönen Täuschung erliegen, Geist und Macht hätten sich miteinander versöhnt.

Wie verändert die Lage sich 1975 darstellt, das wird jedem deutlich, der sich mit nüchternem Blick in der geistigen Landschaft von Kultur und Medien heute umschaut. Eine neue Privatheit hat die Künste erfaßt. In vielen Refugien besteht offensichtlich wieder ein Bedürfnis zur Errichtung von Elfenbeintürmen. Die kreative Intelligenz und die Politik haben Abstand voneinander genommen. Fast erschrocken reagieren einige Künstler und Schriftsteller im Rückblick auf die Phase — wie es scheinen will — allzu enger Berührung. Was war geschehen? Die „Einigkeit der Einzelgänger" (Motto des Stuttgarter Schriftstellerkongresses), die zu einer für kritische Köpfe erstaunlichen Solidarisierung von Autoren mit Autoren und Schriftstellern mit Politikern geführt hatte, erwies sich als Ausnahmezustand. Es kostet Mühe, auch nur soviel davon in die zweite Hälfte der siebziger Jahre hinüberzuretten, wie zum Beispiel der Schriftstellerverband zum Durchsetzen der dringendsten sozialen, ökonomischen und rechtlichen Forderungen braucht.

Kunst und Gesellschaft Wie eine Gesellschaft die ihr zeitgenössische Kunst und Literatur behandelt und konsumiert und welchen Rang sie den kreativen Einzelnen einräumt, das sagt über ein Land und seine Bewohner Kennzeichnendes aus. Es lohnt, an dieser Stelle darüber nachzudenken, welche Rolle denn tatsächlich der Literatur und Kunst, insbesondere der zeitgenössischen, in der Öffentlichkeit zukommt. Diese Fragestellung wird zwar pausenlos in Fachzirkeln wie unter Betroffenen, auf Akademien und Volkshochschulen im Kreis bewegt, aber das gelenkige Meinungsspiel der Insider vermag das Publikum kaum zu beeindrucken. Das Verfassen intellektueller Selbstportraits mit dem Ausdruck von Ratlosigkeit ist langweilig geworden. Zwischen den Zeitläufen, zwischen außerparlamentarischer Opposition, Studen-tenbewegung und Neokonservatismus hat sich daran weniger als vermeint geändert.

Zumal die Schriftsteller haben ironischerweise generationenlang die Einschätzung angenommen, welche die Gesellschaft für sie bereithielt. Was einigen Prominenten gelang — wirtschaftliche Unabhängigkeit und öffentliche Geltung — wurde zur Zielvorstellung für eine ganze Berufsgruppe. Allzu lange wurde Geniekult betrieben. Der Erfolgreiche galt alles, der Namenlose nichts. Ein fragwürdiger Wertbegriff des „kulturell Bedeutsamen" regelte auch das Verfahren öffentlicher Förderung der Literatur und der Künste.

Zu untersuchen ist vor allem der Kulturbegriff, auf den sich eine Gesellschaft — meist ohne Mitwirkung der Betroffenen — geeinigt hat. Hartnäckig hält sich in der Bundesrepublik das politische Mißverständnis, Kunst und Literatur diene der inwendigen wie auswärtigen Repräsentanz -im des Landes, und mer dann, wenn einmal — meist recht zufällig — Bedarf danach aufkommt. Es besteht ein gewisses Erbauungsbedürfnis für ein Wölkenkuckucksheim. In das sehnen sich übrigens auch viele Autoren und Künstler nach ihren mitunter ziemlich kurzatmigen Auftritten in den dramatischen Auseinandersetzungen um den Zeitgeist resigniert zurück. Die aktuelle Szene der künstlerischen Republik bietet dafür auch jenseits der Modediskussion um eine Tendenzwende gewichtiges Anschauungsmaterial. Das Gerücht, Kunst und Literatur seien unpolitisch, wird von den daran Interessierten wieder kräftig genährt.

In Wirklichkeit gibt es — im Sinn der res publica — keine von Politik unberührten Freiräume im kulturellen Terrain. Es hat sie auch niemals gegeben, nur das Verlangen danach kam immer wieder auf. Der alte Traum mancher Künstler und Intellektueller, auf gleichsam unverbindlichem Richterstuhl außerhalb der Gesellschaft zu sitzen und deren Entwicklung nur zu kommentieren, bereitete niemandem ungestörtes Erwachen. Er entsprach übrigens haargenau dem schier unerschöpflichen Vermögen der kulturöffentlichen Gesamtheit, noch mit künstlerischen Rebellionen vorwiegend kulinarisch umzugehen.

Auch heute gilt hierzulande als Kultur in erster Linie noch immer das, was man — unbedroht von Schrecknissen — öffentlich sehen und hören kann. Es scheint wieder verstärkt dem Zweck zu dienen, daß sich Staatsrepräsentanten wie weiland die Landesfürsten mit. ihren Hoftheatern auch heute noch mit Aufführbarem schmücken können. Wer diese Regel durchbricht und Reaktionsfähigkeit von staatlichen Einrichtungen und ihren Einrichtern auf unkonventionelle Ideen, ja eine gewisse Risikofreudigkeit erwartet, gerät nicht in die Verstrickung geistiger Höhenflüge, sondern in die zermarternden Fänge der Ministerialverwaltung und der Parteienhierarchie.

Jedenfalls gilt: Maler bleib bei deinem Pinsel, Komponist bleib bei deinen Noten, Schriftsteller bleib bei deinen belletristischen Themen. Grenzüberschreitungen sind beim Publikum und den Spitzen zuständiger Gremien unbeliebt.

Die Struktur der Gesellschaft in der Bundesrepublik ist nachweisbar konservativ. Vor diesem Hintergrund wird fast jede öffentliche Stellungnahme eines Schriftstellers oder Künstlers, die politischen Problemen gilt, als Einmischung in eine ihm fremde Fachzuständigkeit empfunden und emotional abgelehnt. Dabei gilt in deutschen Landen noch immer die Regel, daß man Kritik an öffentlichen Zuständen eher von rechts als von links toleriert. Obendrein ist die Bereitschaft zur Selbstzensur in den Medien bei nicht wenigen Mitarbeitern durch politische und unternehmerische Drohgesten nur allzu bald auslösbar. Die Ministerialverwaltung neigt ohnehin zum Ausführen nichtgegebener Befehle in Richtung Intoleranz gegenüber zeitkritischer Literatur und Kunst. Das hat sich seit der Ära der „Pinscher" nur höchst unvollkommen geändert.

Derzeit baut ein Trend des öffentlichen Bewußtseins eher wieder mühsam erstrittene Freiräume ab. Man ist auch der radikalmoralischen Forderung aus dem Mund von Autoren und Künstlern überdrüssig geworden und neigt wieder einmal dazu, das Kind mit dem Bade auszuschütten (nach Böll: „ohne vorher das Wasser abzulassen").

Diejenigen Schriftsteller, deren zeitkritisch-politisches Wort in der Öffentlichkeit am meisten gilt, Böll, Grass und einige andere, stehen damit in einer Verantwortlichkeit des Formulierens, die der maßgeblicher Politiker entspricht. Wenn Heinrich Böll einmal in einer Extremismus-Kritik im Medium Fernsehen, das oft so millionenträchtig und stumpf wie eine Boulevardzeitung ist, von der „kriminellen Sünde der Differenzierung" sprach, die er begehe, konnte er sicher sein, außerhalb von Intellektuellenkreisen gründlich mißverstanden zu werden. Das große Publikum hat kein Organ für derlei bittere Ironie. Hängen blieb wohl nur die Vorstellungskombination: Böll-Extremisten-kriminell, und das ist schlimm. Auch geht es hierbei in keiner Beziehung ums beweisbare Rechthaben, denn natürlich hatte Böll subjektiv recht. Es geht vielmehr um die Berechenbarkeit gewählter Ausdrücke in der Öffentlichkeit, kurzum: die Tatsache, daß Emotionen, die demokratisches oder undemokratisches Verhalten beeinflussen, steuerbar sind. In der Politik müssen auch Schriftsteller und Künstler eine jedermann verständliche Sprache sprechen oder sie versäumen Wirkungsmöglichkeiten einer grundsätzlichen Humanität.

Intelligenz und Zeitgeist, Demokratie und Macht

Erschwert werden alle Verständigungen zwischen der kreativen Intelligenz und den politisch Mächtigen heute zudem durch eine mit Erbitterung und teilweise Falschheit geführte öffentliche Diskussion, die hier nicht ausgespart werden darf. Ich meine den Vorwurf, den bestimmte publizistische Organe und auch politische Kräfte der intellektuellen Linken unter dem Reizwort „Sympathisanten" machen. Auf einem in München erscheinenden Magazin prangte die diskriminierende Schlagzeilen „Die geistigen Bombenwerfer". Dem Thema Intelligenz und Gewalt muß sich stellen, wer über die künstlerische und wissenschaftliche Elite in Verbindung mit Politik spricht.

Berührt sind davon Grundfragen des Verhältnisses zwischen Intelligenz und Zeitgeist, Demokratie und Macht überhaupt. Es ist in diesem Zusammenhang, denke ich, erforderlich, sich zu erinnern, wie alles begann. Denn offensichtlich gibt es im Leben der Völker zyklische Prozesse, deren Zwangsläufigkeit allerdings im voraus nie erwiesen, eher im Nachhinein festgestellt wird. Zwei Jahrzehnte lang war in der Bundesrepublik eine historische Schrecksekunde bestimmend, in der das Tausendjährige Reich politischen Gewalttätern den Atem verschlagen hatte. Erst eine neue Generation machte sich frei davon.

Niemand bezweifelt heute im Rückblick das außerordentliche intellektuelle und moralische, teilweise erklärt christliche Niveau der Außerparlamentarischen Opposition und des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, des SDS, in der Initialphase ihrer politischen Wirkung Mitte der sechziger Jahre. Die Reformpolitik der sozialliberalen Koalition wäre ohne den Reflex der Gesellschaft auf die Forderungen der jungen Generation nach mehr Demokratie nicht möglich gewesen.

Unübersehbar sind aber auch die Markierungspunkte der Entwicklung, an denen sich die Studentenbewegung teilte und in der der größere Teil zu den demokratischen Parteien wie in etablierte Positionen der Gesellschaft überging, während der ursprünglich moralische Antrieb in einigen rasch isolierten Grup-pen der extremen Minderheit zu Anarchismus und wachsender Gewalttätigkeit pervertierte. Da manche Politiker und Kommentatoren nicht müde werden, die Frage nach geistiger Mit-verantwortung aufzuwerfen, darf eine differenzierte Beurteilung der Geschehnisse solchen Zusammenhängen nicht ausweichen. Was darin eingeschlossen ist, gehört zu den schwierigsten Vorgängen im Kräftefeld zwischen Geist und Macht überhaupt.

Der Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten" wird im Rechtsstaat auch für die politischen Amokläufer gelten müssen, selbst wenn das Verständnis dafür in der Bevölkerung mit jedem neuen Terrorakt ein weiteres Stück zurückgeht.

Tatsache ist: Die sich für Revolutionäre halten, haben Verbrechen gegen'die Humanität — teils nach einschlägigen Lehrbüchern — politisch zu rechtfertigen versucht. Wie immer ihre Gewaltanwendung epidemischen Charakter hat, sie erscheinen intellektuell besonders verantwortlich, denn ihre Sensibilität und ihre geistigen Voraussetzungen liegen weit über dem Durchschnitt. Sie entstammen vorwiegend der bürgerlichen Schicht und hatten — wenn auch voller Wut — teil an den Privilegien jener Bevölkerungsgruppe, die sich im Kern auch heute noch als akademische Elite begreift. Anscheinend waren sie von ihrer Sache derart überzeugt, daß sie nicht merken wollten, wie aus Überzeugung zunächst Dogmatismus, dann militanter Faschismus wurde. Das Wort „radikal" erhielt durch sie vorübergehend eine falsche Gloriole. Sie hätten — auch das steht fest — nicht während mehrerer Jahre in manischer Steigerung ihres Ziels und der ihm geltenden Methoden so viel Bewegungsraum gefunden, wenn ihnen nicht Dutzende, vielleicht Hunderte anonym oder namentlich erkennbare Hilfe geleistet hätten. Hilfe durch Schweigen und durch Handlungen. Den ebenfalls bürgerlichen Kreis der anfänglichen Sympathisanten, der ohne Frage idealistisch bestimmt war, wird man voraussichtlich nie ganz ergründen können. Das ist gut so. Denn es geht nicht um totale Fahndung. Es geht nicht um den Triumph der Aufgebrachten und Verhetzten: den umgekehrten Verfolgungswahn. Es geht um die Einsicht in begangene Fehler. Hinter manchen Wohnungstüren, hinter denen sehr differenziert urteilende Zeitgenossen leben, war man eine Zeitlang keineswegs hellsichtig gegenüber den Verheerungsmöglichkeiten des politischen Extremismus.

Die Motivationen dafür reichen offensichtlich über das eindeutig Erklärbare hinaus. Diffizilste psychische Verwicklungen zwischen lauter Einzelpersonen wirken mit, gewiß auch ihr weitgehend unerfüllbares Verlangen nach Gemeinsamkeit. Ins Spektrum gehört, glaube ich, die Selbsterfahrung einer Handlungsschwäche bei vielen theoretischen Begabungen. Sie kann dazu führen, die Aktion an sich als Reibungskontakt mit der Wirklichkeit als eine Leistung anzusehen, zu der man sich überwinden muß. Das Ergebnis ist nicht selten Aktionismus. Hinzu kommt die Neigung nicht nur junger Intelligenzen, in der Verletzung der gesellschaftlichen Norm grundsätzlich ein Positivum zu sehen und sie durch historische Vergleiche zu überhöhen. Die Grenzen zwischen dem Extravaganten und dem Extremistischen sind häufig ungenau auszumachen.

Vor allem kommt man über eine grundsätzliche Schwierigkeit des politischen Engagements nicht hinweg: Die Unbeweglichkeit des gesellschaftlichen Zustands wider alle Vernunft vermag gerade die beweglichsten Köpfe zur Verzweiflung zu bringen. Zu einer Resignation, die auf der Einsicht basiert, daß durchgreifende Veränderungen mit legalen Mitteln in kurzer Zeit und von kleinen Gruppen, die sich als Avantgarde verstehen, fast niemals verwirklichbar sind.

Es gibt neben der Geistesgeschichte der Revolutionen auch eine Geistesgeschichte der Vergeblichkeit des Aufruhrs, den politische Ideen entzündeten. Aus dem Wechsel der Herrschaft, den Gewalt herbeiführte, ging mit der neuen Klasse der Privilegierten regelmäßig auch der Verrat an der Ursprungsidee hervor. Ein Teil der Verschwörung zu dauernder Illegalität erklärt sich daraus. Die Solidarität der Enttäuschten droht immer wieder umzuschlagen in die Bereitschaft zum Exzeß, der die Selbstaufgabe einschließt. Kamikaze-Wahn: Vor die Entscheidung gestellt, nichts oder das Äußerste zu tun — denn Alternativen geraten in diesem Stadium meist nicht mehr in den Blick — entschließt sich eine versprengte Gruppe zu Terror und Gewaltanwendung, koste es, was es wolle.

Die Tatsache, daß Baader, Meinhof und andere zu Anfang mit einem gewissen Verständnis ganz allgemein unter den mit dieser Gesellschaft Unzufriedenen rechnen konnten, kennzeichnet unter anderem ein diffus gewordenes Verständnis von Toleranz. Eine relativ liberale Ordnung gibt anarchistischen Randgruppen mehr Chancen als jeder totale Staat. Um so wichtiger war und ist es, daß sich geistige Orientierungspersonen der Studentenbewegung mit zweifelsfreier Entschiedenheit von Baader, Meinhof 'und allen denkbaren Nachfolgern distanzieren.

Neue Motivation Inzwischen ist ohnehin ein Alarmzustand des demokratischen Bewußtseins bei sehr vielen erreicht. Uralte Erfahrungen werden gegenwärtig von neuem gemacht, wie diese: Intelligenz, losgelöst von Moral, Gefühl und Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit, vermag vernichtend zu wirken. Die Terrorgruppe 2. Juni und die Stockholmer Attentäter können mit keinerlei unterschwelliger Unterstützung bei irgendwelchen Bevölkerungskreisen mehr rechnen. Sie wütet nur noch gegen alles und jeden, der sich als mitbetroffen empfindet, wenn in Deutschland wieder einmal um die Demokratie gerungen wird.

Diese Auseinandersetzung ist es, von der eine neue Motivierung der kritischen Köpfe und Kreativen für die unmittelbare politische Mit-verantwortung ausgehen könnte, ja müßte. Wir alle sind herausgefordert durch die öffentliche Frage nach den geistigen Ursachen für Gewalt.

In der praktischen Politik finden ständig Transformationen ein und derselben Inhalte von der fachlich meist außerordentlich komplizierten Ebene ins hochgradig emotionale Terrain der Öffentlichkeit und wieder zurück statt. Die Form der Auseinandersetzung wechselt dementsprechend rapide. Wie politische Intelligenz ihre Ziele umwandelt in mehrheitsfähige Vereinfachungen und welcher Mittel sie sich dabei bedient — ob mit einem Grad von Aufrichtigkeit oder opportunistisch —, daran vermag man die Qualität einer Politik abzulesen. Der Mechanismus der Transformation ist das abgründige Thema aufklärerischer Publizistik.

Ginge es in der öffentlichen Auseinandersetzung um die beste Politik für die Bundesrepublik rational zu, gäbe es auf lange Sicht kein brennenderes Thema als die strukturelle Veränderung unserer Wirtschaft unter den Handlungsgesetzen der radikal neuen Dimensionen der Grenzen des Wachstums, der Energiepreise, der Uniweltkatastrophen und Bevölkerungsexplosion.

In dieser Lage braucht der Staat seine Bürger. Er braucht gerade die kritischen und unabhängigen unter ihnen, und zwar in allen demokratischen Lagern — nicht zuletzt unter den modernen Konservativen. Unser Grundgesetz, dieser schwierige Auftrag zur Erfüllung einer demokratischen Gesellschaft, so oft zitiert wie in der Praxis außer acht gelassen, enthält in Artikel 14 die Forderung nach der Sozialbindung des Eigentums — eine christliche Forderung, die im Kern vieles anders will als die Besitzaufteilung und Gewaltenausübung, die in unserem Land selbstverständlich geworden ist. Was im Grundgesetz nicht ausdrücklich gesagt ist, aber für die Qualität und den Bestand der Demokratie in Deutschland mindestens ebenso viel Bedeutung haben müßte, das ist die ergänzende Forderung nach der Sozialbindung der Intelligenz. Die res publica, die öffentliche Sache, erfordert sie. Denn überall, in der Wirtschaft, den Parteien, den Berufsorganisationen, den Kirchen, in allen Organen des öffentlichen Lebens dominieren Intelligenzen im Besitz von Fachwissen mit entsprechendem Einfluß und ökonomischem Gewicht. Sie in erster Linie auf das Gemeinwohl zu verpflichten, ist genau so ideal gedacht wie der grundgesetzliche Anspruch an das Eigentum, doch beides ist niemals ein abgelegtes, vielmehr ein für unsere Zukunft lebensnotwendiges Ideal.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Dieter Lattmann, geb. 1926 in Potsdam; seit 1972 Mitglied des Deutschen Bundestages, tätig im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft und stellvertretend im Auswärtigen Ausschuß sowie im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung; seit Januar 1975 Vorsitzender der SPD-Arbeitsgruppe KultursozialpolitiK; Mitbegründer des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS) e. V. und dessen erster Bundesvorsitzender.