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Forschungspolitik und gesellschaftliche Entwicklung | APuZ 27/1976 | bpb.de

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APuZ 27/1976 Haushaltsdefizite und Anspruchsgesellschaft Kommunale Planung und Bürgermitwirkung Forschungspolitik und gesellschaftliche Entwicklung

Forschungspolitik und gesellschaftliche Entwicklung

Michael Bartelt, Kurt Kaiser, Karl Ernst Wenke, Horst Westmüller, Horst Zilleßen Horst Horst Westmüller Karl Ernst Wenke Kurt Kaiser Michael Bartelt Zilleßen

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Zusammenfassung

stärkte demokratische Kontrolle, die vor allem durch frühzeitige Einschaltung der Bürger in den Planungsprozeß zu verwirklichen ist. 5. Neben Mitwirkung innerhalb des repräsentativen Gemeindeverfassungssystems kommen darüber hinaus direkte Beteiligungsformen in Betracht, nicht zuletzt auch deshalb, um ein demokratisches Defizit des repräsentativen Systems auszugleichen. Die kommunalpolitischen Programme von SPD, CDU/CSU und FDP werden auf ihre Aussagen zur Bürgermitwirkung hin untersucht, wobei sich einerseits ein mehr formales Verständnis (CDU/CSU), andererseits ein mehr materielles Verständnis von Bürgerbeteiligung (SPD und FDP) feststellen läßt. 6. Gesetzestechnisch perfekte Beteiligungsregelungen gewährleisten noch nicht ein erhöhtes Maß an demokratischer Entscheidung. Die Aktivierung des Bürgers für kommunale Belange ist in erster Linie ein politisch-strategisches Problem. 7. Bürgerinitiativen und Parteien bilden kein Gegensatzpaar; ersteren kommt im repräsentativen System vor allem dann eine Komplementäraufgabe zu, wenn eine Partei dort vertretene Standpunkte bewußt nicht in ihr Programm aufnimmt. Jedoch macht demokratische Planung Bürgerinitiativen insoweit überflüssig, als diese gerade aus der Verärgerung über bereits im Innenbereich der Verwaltung getroffene, dann meist unabänderliche Entscheidungen entstehen.

Die nachfolgende Auseinandersetzung mit dem V. Forschungsbericht der Bundesregierung trägt in wesentlichen Punkten einen kritischen Akzent. Ihm gegenüber muß aber vorab betont werden, daß die Verfasser das Vorhaben des Forschungsberichts ingesamt begrüßen. In einer Zeit, in der mit wachsender Staatstätigkeit auch die Bedeutung der staatlichen Forschungsförderung zunimmt, wird es für den Bürger und die gesellschaftlichen Gruppen immer wichtiger, über die Ziele und längerfristigen Absichten der Forschungspolitik informiert zu sein. Denn die Realisierung dieser Ziele greift tief in den Lebensvollzug jedes einzelnen ein. Der Forschungsbericht bietet hier — trotz noch vorhandener formaler Mängel — die ebenso notwendige wie sinnvolle Grundlage für eine öffentliche Diskussion.

Für die Diskussion über Wissenschaft und Forschung in der Bundesrepublik ist der Forschungsbericht deshalb positiv zu bewerten, weil er die Forschung wenigstens zum Teil aus dem Dunstkreis einer scheinbaren Wertneutralität heraushebt. Er stellt klar — indirekt selbst dort, wo er immanente Ziele nicht namhaft macht (vgl. III. —, daß Forschung, und Technologie nicht wertfrei, sondern im Dienst konkreter wirtschaftlicher und politischer Ziele stehen und auf der Basis gesellschaftspolitischer Ziele zu beurteilen sind. Die Veröffentlichung dieses Berichts muß daher als Anlaß und Voraussetzung für die kritische Auseinandersetzung mit den Zielen der Forschungspolitik begrüßt werden. Dabei ist besonders zu unterstreichen, daß der Bericht Defizite in der Forschungsförderung nicht verschweigt und auch ausdrücklich darauf hinweist, wo bei den Prioritäten der Forschungspolitik neue Schwerpunkte gesetzt werden müssen. Damit macht der Bericht selbst deutlich, daß er seine Forderung nach einem öffentlichen Dialog über die Forschungspolitik ernst nimmt.

INHALT I. Vorbemerkung II. Kriterien für die Beurteilung der Ziel-und Prioritätensetzung III. Die Ziele der Forschungspolitik nach dem V. Forschungsbericht 1. Die Problematik der Folgen technologischer Entwicklung 2. Die Bevorzugung der wirtschaftsorientierten Forschung 3. Zur Methode der Zielbestimmung IV. Forschungspolitik und öffentlicher Dialog 1. Zur „Öffentlichkeit" der Forschungspolitik 2. Der Beitrag des Forschungsberichts zum öffentlichen Dialog V. Kritik an Einzelaspekten der Forschungsförderung 1. Förderung der Industrieforschung 2. Industrielle Großforschung und Gesellschaftspolitik (Technologie-kontrolle) 2. Industrielle Großforschung und Gesellschaftspolitik (Technologiekontrolle) 3. Internationale Zusammenarbeit und Beziehungen zu den Entwicklungsländern 4. Verteilung der Aufwendungen im Energiebereich 5. Gesundheitswesen 6. Humanisierung des Arbeitslebens 7. Zum Schwerpunkt Raum-und Stadt-entwicklung Wenn im folgenden die Prioritäten der Forschungspolitik kritisiert werden, dann richtet {sich diese Kritik vor allem auf das übergelwicht an naturwissenschaftlich-technisdier Forschung und einer gleichzeitig vorherrschenden (Orientierung der Forschungspolitik an ökonomisch-materiellen Wertsetzungen. In welchem Maß Forschungsprojekte gefördert werden, die auf andere als die materiellen Bedürfnisse des Menschen gerichtet sind, läßt der Forschungsbericht im einzelnen kaum erkennen. Sein Tenor setzt deutlich andere Akzente, die sich auch aus dem Faktenteil nicht widerlegen lassen. Eine Fehleinschätzung der Forschungsprioritäten im Einzelfall wäre daher als Hinweis auf formale Mängel im Forschungsbericht zu bewerten.

II. Kriterien für die Beurteilung der Ziel-und Prioritätensetzung

Die Auseinandersetzung mit dem Forschungsbericht geht davon aus, daß wissenschaftlicher und technischer Fortschritt den Menschen insgesamt große Vorteile eingebracht haben.

Schon früher aber verlief dieser Prozeß nicht ohne nachteilige Folgen. Erst recht heute — unter den Bedingungen einer hochdifferenzierten und aufwendigen Wissenschaft und Technologie — muß daher nach den Zielen für menschlichen Fortschritt gefragt werden. Für seine! zukunftweisende Forschungspolitik folgt daraus, daß sie daran gemessen werden muß, ob und inwieweit sie die wissenschaftliche und technologische Entwicklung an Zielen orientiert, die einer humanen Fortentwicklung der Industriegesellschaft dienen. Sie betreffen die gesamten, nicht nur materiellen Lebensbedinigungen der Menschen, und zwar als Produzenten wie als Konsumenten wie auch als Mitglieder verschiedener sozialer Gruppierungen.

Das generelle Ziel der Forschungspolitik besteht also darin, die Probleme lösen zu helfen, die die physischen und psychischen, ökonomischen, politischen und sozialen Lebensbedinigungen der Bürger beeinträchtigen oder gefährden.

Diese Aufgaben sind nicht ausschließlieh oder vorwiegend durch den Zuwachs an materiellen Gütern und Dienstleistungen zu 'lösen. Gerade die moderne Industriegesellschaft zeigt immer deutlicher, daß Fortschritte in diesem Bereich häufig mit erheblichen sozialen und „menschlichen" Kosten verbunden sind. Diese werden sichtbar als Belastungen ! und Zerstörungen der natürlichen und sozialen Umwelt, als Beeinträchtigungen des sozialen Gefüges der Gesellschaft sowie als Minderung geistiger und kultureller Bezüge des Daseins.

Der Rückgang der Lebenserwartung der Männer in der Bundesrepublik seit 1962 und die besorgniserregende Zunahme sozialpatholoschiger Erscheinungen insbesondere auch in der jungen Generation können als Beleg dafür gewertet werden, daß die Überbetonung der materiellen Aspekte offenbar nicht ohne Folgen für Gesundheit, Zufriedenheit und Sinngebung menschlichen Lebens geblieben ist.

Hinsichtlich der globalen Zusammenhänge gilt zwar zunächst noch, daß der derzeit festzustellende Mangel an natürlichen Ressourcen in erster Linie politisch bedingt ist, also keine physischen Verknappungen anzeigt. Langfristig müssen jedoch die von der ökologischen Wachstumstheorie prognostizierten Bedrohungen der natürlichen lind sozialen Umwelt und die damit verbundenen (regionalen) Wachstumsgrenzen ernst genommen werden. Die Industrieländer müssen sich also für die Zukunft auf eine ökologisch vertretbare Entwicklung der Wirtschaft mit geringeren, vor allem aber kontrollierten Wachstumsraten in wichtigen Bereichen einstellen, um die lebenserhaltenden Ressourcen zu schonen und global'gerecht zu verteilen.

Bei der Beurteilung des Inhalts der Forschungsziele ist zu berücksichtigen, daß sich gesellschaftlicher Fortschritt offenkundig nicht länger nur an den Zuwachsraten des Sozialprodukts messen läßt. Die materielle Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen wird zwar auch künftig einen hohen Stellenwert behalten. Daneben wird aber gleichgewichtig, in manchen Bereichen sogar vorrangig dafür zu sorgen sein, daß die nichtmateriellen Aspekte des Daseins — die sozialen Beziehungen, vor al-lern die Bedingungen für Kommunikation, Solidarität und soziale Gerechtigkeit, die kulturellen Werte und die geistig-seelischen Bedürfnisse des Menschen — die weitere Entwicklung wesentlich mitbestimmen. (So wäre beispielsweise bei der Gestaltung eines menschengerechten Gesundheitswesens angemessen zu berücksichtigen, daß auch die vollkommenste Technik nicht die mitmenschliche Zuwendung ersetzen kann, die für den therapeutischen Erfolg von erheblicher Bedeutung ist.)

Für die Forschungspolitik in einer Industriegesellschaft stellt sich, wenn dabei ethisch-humane Wertsetzungen bestimmend sein sollen, als generelle Richtschnur die Frage: „Welches sind die . wahren'Bedürfnisse der Gesellschaft und wie Jassen sie sich befriedigen ohne untragbare Nebenwirkungen für die Gesamtbevölkerung, für andere Weltregionen und für künftige Generationen?" Da es auf diese Frage weder eine bündige noch eine unmittelbar gesellschaftlich verbindliche Antwort gibt, wird unter dem Leitbegriff der Lebensqualität die Zielbestimmung der Forschungspolitik selbst zum Gegenstand der Forschung. Konkrete Ergebnisse sind dabei freilich nicht gleichsam objektiv erhebbar oder quantitativ fixierbar, sondern sie resultieren aus einem politischen Prozeß, in den die wissenschaftlichen Expertisen ebenso einfließen wie die Bedürfnisse und Interessen der Gesellschaft.

Im Hinblick auf die Form der Ziel-und Prioritätensetzung lautet daher die Schlußfolgerung, daß der Gesamtbereich von Forschung und Entwicklung mit den Interessen der Gesellschaft verbunden werden muß. über konkrete Wachstumsbereiche, verantwortbare Wachstumsausmaße und unvermeidliche oder unbedingt zu vermeidende Nebenfolgen muß alternativ diskutiert und entschieden werden. Dies läßt sich sowohl durch die Formen parlamentarischer Repräsentation vollziehen als auch durch die schon bestehenden und noch zu erweiternden Formen unmittelbarer Beteiligung von einzelnen und Gruppen an der forschungsbezogenen Willensbildung und Entscheidung.

Auf komplexe Technologien, auch mit potentiell gefährlichen Auswirkungen physischer und psychischer Art, wird unsere Gesellschaft nicht völlig verzichten können. Vor Romantisierung ist also zu warnen. Ohne sorgfältige, kritische Überprüfung jedoch können solche Technologien nicht mehr hingenommen werden. Sie müssen vielmehr grundsätzlich ressourcen-, umweit-und lebensschonend ausgerichtet und nicht zuletzt den menschlichen Bedingungen „angepaßt" sein, d. h. trotz Komplexität in allen Lebensbereichen soweit wie möglich Sinnentleerung aufheben,, Verantwortung ermöglichen und Partizipation verlangen. Dieser grundsätzlichen Zielvorgabe wird die Technologie oft nicht entsprechen können. In jedem Fall aber kann und muß überprüft werden, welche Folge-und Nebenwirkungen eine technologische Entwicklung mit sich bringt, wie sie sich auf andere, nicht unmittelbar betroffene Bereiche auswirkt und wie weit ihre Folgen noch kontrollierbar sind.

III. Die Ziele der Forschungspolitik nach dem V. Forschungsbericht

1. Die Problematik der Folgen technologischer Entwicklung

Betrachtet man unter dem Kriterium der Lebensqualität die im Forschungsbericht vorgestellten Ziele der Forschungspolitik, dann fällt zunächst auf, daß Forschung und Technologie vorwiegend als problemlösend, dagegen kaum als problemverursachend begriffen werden. Aufgabe der Forschungsförderung ist es zweifellos, komplexe und spezialisierte Technologien entwickeln zu helfen, die zur ökonomisthen und sozialen Bewältigung gegenwärtiger und zukünftiger Probleme beitragen. Der Forschungsbericht berücksichtigt aber unzureichend, daß Forschung und Technologie nicht nur „helfen, gesellschaftliche Probleme zu lösen" (Tz. 1), sondern im Gegenteil eine Vielzahl von Problemen durch ihre Anwendung selbst verursachen. Das gilt beispielsweise für die Auswirkungen auf den Menschen, der seine nahtlose Einfügung in zweckrational geplante Umweltbedingungen immer stärker als Identitätsbedrohung erlebt.

Weite Teile des Forschungsberichts sind dadurch gekennzeichnet, daß ihnen ein Verständnis von Forschung und Technologie zugrunde liegt, das auf naturwissenschaftlich-technologische Fragestellungen verengt ist. Zwar weist der Bericht selbst darauf hin, daß Natur-und Ingenieurwissenschaften bei ihrem Beitrag zur Lösung wirtschaftlicher und technischer Probleme soziale und gesellschaftliche Aspekte stärker als bisher berücksichtigen müssen (Tz. 4). Er nimmt aber diesen Hinweis — ausgenommen im Schwerpunkt „Verbesserung der Lebens-und Arbeitsbedingungen" — nicht auf und zeigt auch weder inhaltliche noch organisatorische Ansätze, die dies für die Zukunft gewährleisten könnten.

Das Ziel der Technologieförderung darf aber nicht isoliert gesehen werden; mit ihm sind andere Zielsetzungen verbunden, die der Forschungsbericht nicht thematisiert, die jedoch implizit der gesamten Forschungspolitik zugrunde liegen: quantitatives Wirtschaftswachstum mit steigendem Energie-und Rohstoffverbrauch und wachsende Differenzierung der Gesellschaft und ihrer Teilsysteme. Die in dem Bericht dem zweiten Schwerpunkt (Verbesserung der Lebens-und Arbeitsbedingungen) zugeordneten Probleme sind daher in vielen Bereichen tatsächlich als Folge der verschiedenen, nicht in Frage gestellten Wachstumsziele zu begreifen . und müßten der Sache nach als kritische Anfragen an den ersten Schwerpunktbereich (Modernisierung der Wirtschaft) aufgenommen werden.

Hinzu kommen weitere Grundfragen, die der Forschungsbericht nicht thematisiert: Die Steigerung der Technisierung und der Komplexität des Gesellschaftssystems ist mit erheblichen Risiken verbunden, denn — schon jetzt wächst die Technologie in manschen Bereichen der Produktion schneller als die Fähigkeit zum Erkennen und zur Beherrschung ihrer Folgen;

— Festlegungen und Entscheidungen, die heute gefällt werden müssen, können wegen der Höhe des Kapitaleinsatzes später auch dann kaum revidiert werden, wenn negative Nebenwirkungen oder Fehlentwicklungen erkennbar werden;

— mit der Komplexität und Spezialisierung wächst bei sozialen, politischen oder ökonomischen Krisen die Gefahr, daß das Gesamtsystem funktionsunfähig wird.

Die Ausklammerung dieser Fragen entspricht einem optimistischen TechnologieVerständnis, das von der Erwartung einer technischen Lösbarkeit aller durch die technische Entwicklung entstandenen Probleme ausgeht, wenn nur ein hinreichender Einsatz'für Forschung geleistet wird. Es muß aber bezweifelt werden, daß dieser Optimismus im gegenwärtigen Entwicklungsstadium realistisch ist. Das Ausmaß von Problemzunahme, Komplexität und steigenden Forschungsaufwendungen läßt es als unabdingbar erscheinen, auch Fragen der Beschränkung von Forschungsaktivitäten und der Anwendung technologischer Entwicklungen sowohl zum Inhalt als auch zum Kriterium von Forschungspolitik zu machen.

2. Die Bevorzugung der wirtschaftsorientierten Forschung

Aus den Zielentscheidungen, die der Forschungspolitik zugrunde liegen, ergibt sich ein problematisches Übergewicht des Teilsystems „Wirtschaft" und die vergleichsweise Zweitrangigkeit der „Lebens-und Arbeitsbedingungen der Bürger" unter den Zielen der Forschungspolitik. Hier scheint sich die bisherige einseitige Betonung der materiellen Lebensgrundlagen und die Engführung des Fortschrittsbegriffs fortzusetzen. Sowohl die Ergebnisse der Umweltdiskussion als auch die unter politischen und ethischen Aspekten formulierte Frage, was denn inhaltlich unter Fortschritt zu verstehen sei, haben jedoch das Übergewicht des Ökonomisch-Materiellen in Frage gestellt.

Daß der Forschungsbericht die Reihenfolge der Forschungsziele unter Teilziffer 1 als Rangfolge wertet, läßt sich aus den Daten über die Ausgaben für Forschung und Entwicklung belegen. Zunächst ist dabei zu berücksichtigen, daß der Anteil der ökonomisch relevanten Forschung an der Gesamtforschung beträchtlich ist. Nach Tabelle 1 werden 42 0/0 aller Ausgaben für Wissenschaft, Forschung und Entwicklung in Wirtschaftsunternehmen (Industrie) ausgegeben. Wenn man berücksichtig, daß in den verbleibenden 58 °/o z. B. auch die Aufwendungen für die akademische Lehre, für Bibliotheken und für die Studentenförderung enthalten sind, dann ist der forschungsbezogene, d. h. für die Zukunftsgestaltung entscheidene Anteil an den Ausgaben der Industrie erheblich höher, als der bloße Prozentsatz ausweist. Dies bestätigt etwa die Übersicht über das in Forschung und Entwicklung tätige Personal. Sie weist aus, daß dieses zu rund 70 %/0 im Unternehmenssektor beschäftigt ist

Das Schwergewicht der wirtschaftsorientierten Forschung wird durch die Maßnahmen der Forschungspolitik noch beträchtlich erhöht. Dies gilt nicht nur insoweit, als die Wirtschaft sowohl durch die Investitionszulage von 7, 5 °/o für Forschungs-und Entwicklungsinvestitionen (Tz. 12) als auch durch die steuerliche Begün-stigung der gesamten Aufwendungen für diese Aufgaben eine nicht unwesentliche mittelbare Unterstützung durch den Staat erfährt Auch die tatsächlichen Ausgaben aufgrund der staatlichen Forschungsförderung weisen ein eindeutiges Übergewicht bei der Produktions-und verbrauchsorientierten Forschung und Entwicklung auf. Auf sie entfallen nach der Übersicht 1 im Jahr 1973 fast 80% der Ausgaben der Bundesressorts für Forschungs-und Entwicklungsvorhaben (ohne institutionelle Förderung). In der Förderung von Einzelvorhaben zeigen sich wohl am deutlichsten die Prioritäten, die der Forschungspolitik der Bundesregierung zugrunde liegen. Denn in diesem Bereich besteht für die Politik noch am ehesten die Möglichkeit, für die wissenschaftliche Forschung und Entwicklung gesellschaftlich notwendige Schwerpunkte zu setzen.

Daß die Forschungspolitik sich so eindeutig für das Schwergewicht der Produktions-und verbrauchsorientierten Forschung entschieden hat, muß kritisiert werden. Kaum jemand wird bezweifeln, daß eine Industriegesellschaft wie die der Bundesrepublik daran interessiert sein muß, die Leistungs-und Wettbewerbsfähigkeit ihrer Wirtschaft zu erhalten und auszubauen.

Es ist aber nachdrücklich zu fragen, ob die staatliche Forschungspolitik dieser Notwendigkeit in dem gegenwärtigen Umfang Priorität einräumen darf. Daß immerhin in der durch den Forschungsbericht aufgezeigten Gewichtung ein Problem gesehen werden kann, machen auch die Ausführungen in diesem Bericht selbst an verschiedenen Stellen deutlich. So wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß sich in den geförderten Forschungszielen seit 1969 eine Verschiebung zugunsten des Schutzes und der Förderung der menschlichen Gesundheit, der Erforschung und Gestaltung der Umwelt sowie der Datenverarbeitung ergeben habe

Auch aus den im Bericht genannten Forschungsdefiziten läßt sich entnehmen, daß die bisherige Prioritätensetzung als nicht unproblematisch gewertet wird. Dies gilt nicht nur für die Feststellung, daß die Forschungsaktivitäten im Bereich der Toxikologie und der Ernährungsmedizin und -Physiologie verstärkt werden müssen (Tz. 76), sondern insbesondere hinsichtlich der Sozial-und Humanwissenschäften, die vor allem in bezug auf die interdisziplinäre und interinstitutionelle Zusammenarbeit als besonders förderungsbedürftig* herausgestellt werden (Tz. 111). Es ist freilich zu vermuten — eine Aussage darüber läßt sich aus dem Bericht nicht belegen —, daß dieser Wissenschaftsbereich nicht nur auf dem genannten Gebiet gefördert werden müßte. Die Forschungen über die Lebensbedingungen und Integrationsprobleme von gesellschaftlichen Randgruppen sind bislang ebensowenig ausreichend wie etwa die materielle Förderung von Modellversuchen, die auf die besonderen Probleme von Behinderten oder von Heimkindern eingehen. Gerade dort, wo es um die so notwendige Entwicklung humaner Sozialstrukturen geht, läßt der Forschungsbericht viele Fragen unbeantwortet.

3. Zur Methode der Zielbestimmung

Die aufgezeigten Einseitigkeiten und Defizite in der Forschungspolitik der Bundesregierung führen dazu, daß solche Bedürfnisse gar nicht oder kaum berücksichtigt werden, die entweder mit gut organisierten Interessen in Konflikt stehen oder nicht dem vorherrschenden naturwissenschaftlich-technologischen Forschungsbegriff entsprechen. So wird beispielsweise die Zunahme sozialpathologischer Erscheinungen in der allgemeinen Forschung kaum berücksichtigt; im Forschungsbericht wird nicht einmal das Problem erwähnt. In diesem Zusammenhang ist vor allem zu fragen, in welchem Umfang die vielfältigen sozialen Krisenerscheinungen darauf zurückzuführen sind, daß unter den Bedingungen fortschreitender Technisierung und gesellschaftlicher Differenzierung in allen Lebensbereichen fundamentale Kommunikationsbedürfnisse unbefriedigt bleiben. Insbesondere im Bereich des Wohnens muß die Erforschung der Grundbedürfnisse menschlichen Zusammenseins und der Bedingungen eines positiven sozialen Milieus intensiviert werden. Grundsätzlich ist darauf hinzuweisen, daß das Bedürfnis nach Sinn und Sinnerfüllung menschlichen Lebens in unserer Zivilisation zum entscheidenden Maßstab für die Erforschung der Arbeits-und Lebensbedingungen werden muß.

Solange die Forschungspolitik der Bundesregierung aufgrund ökonomisch-materiell orientierter Zielprioritäten vorwiegend bestehende Entwicklungstrends fördert, ergeben sich unausweichlich solche Zieldefizite. Daher müssen die Zielfindungsprozesse daraufhin untersucht werden, welche Bedürfnisse überhaupt in sie eingehen können. Um Fortschritt „im Interesse der Bevölkerung zu gestalten", reichen offenbar Diskussion und Dialog mit „be-troffenen Bürgern" ergänzend zur Zusammenarbeit mit Wissenschaft und Wirtschaft (Tz. 5) nicht aus. Zielbestimmung, Bedarfsermittlung, Prioritätensetzung und Lösungsbewertung „im Interesse der Bevölkerung" sind nur in einem Willensbildungs-und Entscheidungsprozeß möglich, in dem Fragen und Antworten der Bevölkerung öffentlich zur Sprache kommen. Er muß gewährleisten, daß künftig gesellschaftliche Bedürfnisse, die nicht in den vorhandenen Forschungsförderungsprogrammen schon verankert sind, aufgenommen werden können und daß der Zielkonflikt zwischen wirtschaftlicher Effizienz und Rentabilität einerseits und damit unverbundenen oder gegenläufiger gesellschaftlichen Bedürfnissen andererseits gelöst werden kann.

Auf die Dauer können Ziele der Forschungsförderung wohl nur so bestimmt werden, daß sowohl ihr Eingehen auf gesellschaftliche Bedürfnisse als auch ihr optimaler Erfüllungsgrad Gegenstand der Forschung werden. Gleiches gilt für die politischen Methoden der Zielbestimmung. Hier muß etwa die Frage der Partizipation der „betroffenen Bürger" von der Forschung selbst stärker aufgenommen werden.

IV. Forschungspolitik und öffentlicher Dialog

1. Zur „Öffentlichkeit" der Forschungspolitik Die Bedeutung der Forschungspolitik für die künftige gesellschaftliche Entwicklung, nicht zuletzt aber auch die vom Forschungsbericht aufgezeigten Forschungsdefizite unterstreichen die aktuelle Notwendigkeit des vom Bundesminister für Forschung und Technologie angestrebten öffentlichen Dialogs. Leider enthält der Bericht keinen Hinweis darauf, wie ein solcher Dialog organisiert werden muß. Wenn die „Ermittlung und Bewertung alternativer Lösungsvorschläge für den Einsatz von Forschung und Entwicklung ... im Rahmen eines breiten kritischen öffentlichen Dialogs mit den betroffenen Bürgern durchgeführt werden" soll (Tz. 5), dann reicht dazu die bloße Veröffentlichung eines Forschungsberichts kaum aus. Welcher der „betroffenen Bürger" gelangt schon in den Besitz des Forschungsberichts — ganz abgesehen von der Frage, ob er, selbst wenn er ihn liest, erkennt, an welcher Stelle er betroffen ist? Zu fragen wäre also, was die repräsentativen Formen der Willensbildung durch Verbände und Parteien für den öffentlichen Dialog leisten und in welchem Umfang bestehende oder neuzuentwickelnde Formen einer unmittelbaren Beteiligung der Bürger an Willensbildung und Entscheidung im forschungspolitischen Bereich hinzukommen müßten.

Ein erster wichtiger Schritt zu einem öffentlichen Dialog ist sicher der vom Bundesminister für Forschung und Technologie unternommene Versuch, mit den gesellschaftlich relevanten Gruppen und Verbänden über den Forschungsbericht in ein Gespräch zu kommen.

Dabei sollten freilich nicht nur die üblicherweise angesprochenen Großorganisationen der Wirtschaft Adressaten dieses Versuches sein, sondern neben den Kirchen etwa auch die Verbraucherverbände, die verschiedenen Organisationen im Bereich des Natur-und Umweltschutzes oder die Zusammenschlüsse von Gruppen und Bürgerinitiativen, die in den Problembereichen der sozialen und der natürlichen Umwelt tätig sind.

Wenn aber mehr als eine kleine Zahl von forschungspolitisch Interessierten und Eingeweihten für eine öffentliche Diskussion gewonnen werden soll, dann müssen die Massenmedien auf die politische Problematik der Forschungsförderung eingehen. Dies ist in der Vergangenheit kaum geschehen, und es wäre daher zu untersuchen, worauf das weitgehende journalistische Desinteresse — abgesehen von wenigen Fachjournalisten •— zurückzuführen ist. Hier kann nur die Vermutung geäußert werden, daß die Forschungspolitik für die Massenmedien vielleicht dann interessant wird, wenn sie die gesellschaftlichen und politischen Perspektiven benennt, die in alternativen Zielen enthalten sind. Auf diese Weise kann zudem die Forschungspolitik eher in die parteipolitische Auseinandersetzung gelangen, was ja offenbar eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, daß ein bestimmtes Thema gesellschaftspolitisch relevant wird.

Eine stärkere Behandlung der Forschungspolitik durch die Massenmedien und durch die Parteipolitik ist vor allem dann erforderlich, wenn die Bundesregierung eine breite „öffentliche Meinungs-und Willensbildung in der Forschungspolitik" (Tz. 30) anstrebt. Zur Zeit ist nicht zu erkennen, daß und wie sie diesem Ziel erfolgversprechend näherzukommen sucht. Die in dem zitierten Abschnitt genannten Mittel und Wege erreichen wohl wiederum nur einen begrenzten Kreis von ohnehin Interessierten, wenn nicht über die Fachinformation hinaus die gesellschaftspolitische Dimension der Forschungsvorhaben sichtbar gemacht wird.

Die angestrebte öffentliche Meinungs-und Willensbildung muß zudem im Hinblick auf die personelle Besetzung des Beratenden Ausschusses sowie der rund 130 Diskussionskreise, Fachausschüsse, ad-hoc-Ausschüsse und Sachverständigenkreise problematisiert werden. Diese Beratungsgremien, insbesondere der forschungspolitisch wichtige „Beratende Ausschuß für Forschung und Technologie" sowie der „Diskussionskreis für Analyse und Prognose des Forschungsbedarfs", sind — soweit es der „Beratungsplan 1975" erkennen läßt — überwiegend mit Vertretern der Wirtschaft und der Naturwissenschaft besetzt. Dadurch wird das forschungspolitisch wirksame Spektrum der öffentlichen Meinung erheblich eingeengt, auch wenn man unterstellen kann, daß die Beratung nicht ausschließlich unter dem Aspekt eigener Interessen erfolgt. Eine an sozialen Problemen orientierte Forschung hat angesichts der persönlichen Einsichten, des Erfahrungshorizontes wie auch der Forschungsinteressen der Ausschußmitglieder wohl von vornherein einen geringeren Stellenwert als etwa die Technologieforschung. Wie finden gesellschaftliche Probleme, etwa die der Rand-gruppen oder der sozialen Unterschicht, Eingang in die Beratung dieser Ausschüsse, wenn daran niemand beteiligt ist, der mit jenen Problemen in seiner täglichen Existenz konfrontiert ist? Jedenfalls sollte gerade im Blick auf das Ziel einer breiten öffentlichen Meinungs-

und Willensbildung eine breitere Beteiligung von gesellschaftlichen Gruppen an den Beratungsgremien des Bundesministers für Forschung und Technologie erwogen werden.

2. Der Beitrag des Forschungsberichts zum öffentlichen Dialog

Der Forschungsbericht kann insgesamt gesehen als ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem öffentlichen Dialog über die Forschungspolitik gewertet werden. Gleichwohl weist er noch einige formale Mängel auf, die die öffentliche Auseinandersetzung mit seinem Inhalt unnötig erschweren bzw. ihn dafür nicht so attraktiv machen, wie er sein könnte. Dazu nur einige Hinweise: — Der Forschungsbericht selbst sollte Angaben über die verschiedenen Formen und Inhalte des öffentlichen Dialogs mit den betroffenen Bürgern enthalten und zur kritischen Auseinandersetzung über die politische Gewichtung und die Erfolgsaussichten repräsentativer und unmittelbarer Formen der Willensbildung und Interessenartikulation anregen.

— Für den öffentlichen Dialog mit den Bürgern sollte der Forschungsbericht eine Übersicht über die Entscheidungsstrukturen in der Forschungspolitik enthalten, um deutlich zu machen, wie die Interessen der Bürger in den Entscheidungsprozeß eingehen können.

— Alternative Forschungsziele sollten wenigstens exemplarisch problematisiert und in ihrem jeweiligen politischen Stellenwert gewichtet werden.

— Es wird — insbesondere im Hinblick auf die Förderung der Datenverarbeitung — der Verdacht geäußert, daß die Industrie manche Forschungsvorhaben nur vorlegt, um staatliche Mittel zu erhalten. Der Forschungsbericht sollte daher eingehend über die Formen und Resultate der Erfolgskontrolle informieren.

— Die Entwicklung sozialer Indikatoren (Tz. 5)

ist für die Zielbestimmung der Forschungspolitik von entscheidender Bedeutung. Der Forschungsbericht sollte über den Stand dieser Entwicklung informieren und gegebenenfalls deutlich machen, ob und wie sie die Forschungspolitik beeinflussen.

— Der Übersicht über die 1t. Tz. 47— 115 geförderten Sachthemen sollten im Fakten-teil konkrete Angaben über die für diese Themen jeweils aufgewendeten Finanzmittel entsprechen.

— Das Sachverzeichnis sollte — soweit erforderlich und sinnvoll — auch den Fakten-teil erfassen.

V. Kritik an Einzelaspekten der Forschungsförderung

1. Förderung der Industrieforschung

Staatliche Förderung der Wirtschaft ist an die Bedingungen geknüpft, daß marktwirtschaft. Mechanismen nicht ausreichen, die forschungspolitischen Ziele zu verwirklichen (Tz, 6), und daß privatwirtschaftliche Kräfte die erforderlichen Maßnahmen nicht oder nicht rechtzeitig einleiten (Tz. 8). Damit wird deutlich die Priorität gesellschaftspolitischer Zielsetzungen gegenüber den Funktionsbedingungen des Marktes und den privatwirtschaftlichen Interessen gesetzt. Dennoch sollen aber offenbar vor allem marktorientierte Projekte gefördert werden, deren schnelle wirtschaftliche Durchsetzung gewährleistet ist (Tz. 10, 15).

Unter diesen Gesichtspunkten entsteht aber ein Konflikt zwischen den vorgegebenen Zielen der Forschungspolitik und den Kriterien Effizienz. Das Eigeninteresse der Unternehmen richtet sich vor allem auf [die Erzielung von kurzfristigen ökonomischen Erfolgen. Eine relativ schnelle Marktverwertung steht im Vordergrund. Auf sie wird nur dann vorübergehend verzichtet, wenn sich ab-sehen läßt, daß später entsprechend größere f Gewinne erzielt werden können. Demgegenüber muß die staatliche Forschungsförderung geltend machen können, daß sie für den tech nologischen und gesellschaftlichen Fortschrittnicht in erster Linie die Gewinnerwartung, son! dem die wünschenswerten Lebensbedingungen der Menschen zum Maßstab nimmt. Vor allem i, die Forschungsvorhaben hohen öffentlichen Interesses (z. B. Umweltschutz, Humanisierung der Arbeitswelt) dürfen nicht ausschließlich und auch nicht überwiegend den Kriterien einzelwirtschaftlicher Effizienz, Produktivität und Rentabilität (Tz. 6) unterworfen werden, obwohl sie notwendig auch dort durchzufüh1 sind, wo ihre Ergebnisse angewendet werden sollen.

Der Forschungsbericht macht nicht deutlich, wo die Grenzen marktorientierter Forschung und wirtschaftlicher Umsetzung von Entwicklungen gesehen werden müssen, wo also darüber hinaus oder statt dessen eine z. B. an arbeitsorientierten Interessen, an den Bedürfnissen der Betroffenen ausgerichtete Forschung notwendig wird. Insbesondere in den Vorhaben hohen öffentlichen Interesses sollte die Forschungspolitik offenlegen, wie die Förderung im außerwirtschaftlichen Bereich die marktorientierte Forschung und Entwicklung ergänzt und korrigiert.

2. Industrielle Großforschung und Gesellschaftspolitik (Technologiekontrolle)

Angesichts der Tatsache, daß die forschungsbezogenen Ausgaben des Bundes schwerpunktmäßig durch das Bundesministerium für Forschung und Technologie erfolgen 8), erscheint es als nicht unbedenklich, daß die Mittel dieses Ministeriums für die Entwicklung neuer Technologien in der Wirtschaft zu fast 85 °/o an Großunternehmen fließen (Tz. 14). Auf der einen Seite kann dadurch deren ohnehin meist beträchtliche Marktmacht und auch ihr politischer Einfluß auf Kosten der Konkurrenz und der demokratischen Transparenz noch weiter erhöht werden. Gleichzeitig kann damit auf der anderen Seite eine Entwicklung in Gang gebracht werden, die die Politik in eine gewisse Abhängigkeit von den geförderten Großunternehmen führt. Wenn beispielsweise die technologische Forschung über ein gesellschaftlich wichtiges Problemfeld in einer industriellen Großforschungseinrichtung konzentriert wird, kann der Politiker kaum überprüfen, ob die von der Industrie angebotenen Problemlösungen dem letzten Stand der Technik entsprechen. Da er keine alternativen Informationsmöglichkeiten hat, muß er — etwa bei gesetzlich zu fixierenden Grenzwerten im Umweltschutz — das akzeptieren, was ihm eine vor allem an rentablen Lösungen interessierte Industrie vorschlägt.

Diese Abhängigkeit besteht zumindest tendenziell schon heute. Im Forschungsbericht der Bundesregierung fehlt jeder Hinweis auf diese Problematik und auf ihre weitere Entwicklung, deren Gefahren wohl im gleichen Maß zunehmen wie die technologischen Kapazitäten der industriellen Forschung.

Ein zukünftiger Forschungsbericht sollte wenigstens die Frage aufnehmen, in welchem Maße die gesellschaftliche Entwicklung durch eine staatlich subventionierte industrielle Forschung bestimmt wird, ohne daß politische Optionen überhaupt möglich wären. Wieweit setzen die Großforschungseinrichtungen der multinationalen Konzerne entscheidende Bedingungen für die Zukunft einer Industriegesellschaft? Ist durch die staatliche Beteiligung an der. Forschungsfinanzierung eine ausreichende Kontrolle sichergestellt oder müßte der Staat trotz der hohen Kosten eine eigenständige und gegebenenfalls alternative Forschung betreiben? Wie entwickeln sich Freiheit und Vielfalt der Technologieforschung bei einer weiterhin auf Großunternehmen konzentrierten Forschungspolitik? Was leisten die staatlichen Forschungsinstitute auf dem Gebiet der Technologiekontrolle?

3. Internationale Zusammenarbeit und Beziehungen zu den Entwicklungsländern

a) Wirtschaftlicher Strukturwandel

Im Rahmen der auf die Umstrukturierung der Wirtschaft der Bundesrepublik gerichteten staatlichen Forschungspolitik werden die Bedürfnisse, Interessen und Erwartungen der Entwicklungsländer offensichtlich vernachlässigt (Tz. 40 ff.).

Einerseits macht ein langsameres Wirtschaftswachstum (Tz. 31) bei gleichzeitig hohen Umstrukturierungsanforderungen an die Wirtschaft (Ressourcen-und Umweltschutz, veränderte weltwirtschaftliche Arbeitsteilung, künftige Bedürfnisse, Interessen der Allgemeinheit) die Förderung zukunftsorientierter Industrie-und Dienstleistungsbereiche (Tz. 2) notwendig, was nicht länger nur Unterstützung wachstumsorientierter Produktionen heißen sollte. Andererseits verlangen aber die Interessen der Entwicklungsländer an einer gerechteren internationalen Arbeitsteilung — d. h. an einem wesentlich höheren Anteil an der Weltindustrieproduktion und an hohen und stetigen Außenhandelsgewinnen — eine Strukturanpassungs-und Importförderungspolitik, welche Umstrukturierungen im nationalen Interesse, Produktionsverlagerungen in die Dritte Welt und Marktöffnung für Entwicklungsländerprodukte miteinander in Einklang bringt.

In diesem Bereich sind Forschungsvorhaben einzusetzen, die die Anpassungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten untersuchen sowie auch die Modalitäten eines integrierten Anpassungsprozesses und die Bedingungen einer internationalen Koordination, insbesondere im Rahmen der sich erweiternden EG.

b) Technologietransfer

Weder die Entwicklungshilfe (technische Hilfe) noch der internationale Handel und die kommerziellen Privatinvestitionen haben zu einem ausreichenden Transfer anwendbarer technischer Forschung und Entwicklung in die Entwicklungsländer geführt. Der Einsatz von Forschung und Entwicklung für die Entwicklungsländer muß also neu überdacht werden. Die im Forschungsbericht genannten „angepaßten Technologien" (Tz. 45) scheinen weniger an.

den spezifischen Bedürfnissen der Entwicklungsländer ausgerichtet zu sein als vielmehr an den aktuellen Möglichkeiten bestehender Forschungsprogramme und an Exportinteressen der Wirtschaft.

In der internationalen Diskussion über die Verbesserung der Situation der Entwicklungsländer wird seit einiger Zeit gefordert, auf die spezifischen Bedürfnisse der Entwicklungsländer durch die Entwicklung solcher Technologien einzugehen, die deren jeweiliger Situa-'

tion (wirtschaftliches Entwicklungsniveau, soziale Infrastruktur, ökologische Bedingungen, verfügbare Ressourcen, Arbeitsmarkt) entsprechen. Zweifellos ist auch eine weit fortgeschrittene Technologie (sophisticated technology) für Entwicklungsländer prinzipiell unentbehrlich.

Dennoch sollte der Einsatz von Forschung und Entwicklung für die Entwicklungsländer sein besonderes Schwergewicht zunächst vor allem in einer technologischen Entwicklung sehen, für die eine umweltschonende, arbeitsintensive, kosten-und kapitalsparende landwirtschaftliche Technik und Industrietechnik erster Stufe (Einfachtechnik) von wesentlicher Bedeutung sind.

„Angepaßte Technologien" müssen in vielen der am wenigsten entwickelten Länder insbesondere der landwirtschaftlichen Entwicklung und den unterbeschäftigten Regionen dienen. Forschungsprobleme besonderer Art ergeben sich dadurch, daß „Anpassung" sowohl an die Situation der Unterentwicklung als auch an das Ziel der weltwirtschaftlichen Integration (Wettbewerbsfähigkeit) erfolgen muß. Anpassung ist also nicht nur ein „technisches" Problem. Neue Technologien sollen auch an die Wirtschafts-und Sozialformen angepaßt sein und den sozialen und politischen Zielen der Länder der Dritten Welt dienen. Unter partizipatorischen Gesichtspunkten muß es eine Technologie sein, die der Masse der Bevölkerung einsichtig zu werden vermag und ihr Beteiligung ermöglicht.

In der Marktwirtschaft sind einer offiziellen Kooperation zum Technologie-Transfer Grenzen gesetzt. Soweit also die Kooperation im privatwirtschaftlich-kommerziellen Bereich von ausschlaggebender Bedeutung bleibt, sollten zumindest flankierend Forschungs-und Entwicklungsförderungsprogramme sowie die Technische Hilfe Mittel für notwendige Forschungskapazitäten bereitstellen. Information und Dokumentation über angepaßte Technolo-B gien müßten zugunsten der Entwicklungsländer organisiert, staatliche und private Forschungsgruppen in Industrie-und Entwicklungsländern mit entsprechender Technologie-forschung beauftragt werden. Der notwendige Zugang der Entwicklungsländer zu den Ergebnissen der internationalen Forschung verlangt darüber hinaus nach einem internationalen Verhaltenskodex für den Technologietransfer über Privatinvestitionen und nach einem zugunsten der Entwicklungsländer differenzierten internationalen Patentschutz.

4. Verteilung der Aufwendungen im Energiebereich

Der eindeutige Vorrang ökonomischer Gesichtspunkte etwa vor ökologischen Erfordernissen läßt sich auch im Bereich der Energie-versorgung nachweisen (Tz. 47 ff.). Bis zu dem Beginn der Ölkrise im Herbst 1973, der auch im Forschungsbericht als einschneidendes Datum erwähnt wird, dominierten sowohl in der Energiepolitik als auch in der entsprechenden Forschungspolitik die Interessen der Kraftwerksbetreiber. Sie waren zum einen an einem möglichst hohen Energieverbrauch und also einer hohen Energieproduktion interessiert und zum anderen an einer zügigen Weiterentwicklung der Kernenergie. Die unter ökologischen Aspekten schon länger gebotene Notwendigkeit der Energieeinsparung wurde dagegen kaum berücksichtigt. Noch im Energieprogramm der Bundesregierung vom 26. September 1973 stehen unter den Zielen der Energiepolitik „die Einführung und Anwendung von Maßnahmen, Methoden und Verfahren, die zur rationellen Verwendung von Energie führen", wohl nicht zufällig an letzter Stelle.

Hier ist nicht zuletzt durch die Ölkrise, aber wohl auch durch ein größeres Umweltbewußtsein eine Neuorientierung erfolgt. Es ist zu begrüßen, daß der Forschungsbericht dem Rechnung trägt und unter dem Stichwort „Energieversorgung" die Aufgabe, „die vorhandene Energie rationeller und sparsamer zu nutzen", an den Anfang stellt und damit eine Gewichtsverlagerung anzeigt (Tz. 47). Was für diesen Zweck konkret aufgewendet wird, ist freilich den im Forschungsbericht enthaltenen Daten nicht zweifelsfrei zu entnehmen. Hinweise darauf gibt allenfalls die Tabelle 99), in welcher die Ausgaben des Staates nach Forschungszielen aufgeschlüsselt sind. Hier fällt zunächst auf, daß unter der Rubrik „Förderung der industriellen Produktivität und Technologie" erst ab 1974 Ausgaben für „Erzeugnisse der nichtnuklearen Energieindustrie" genannt sind. Ob mit dem ausgewiesenen Betrag von 150 Millionen DM die Entwicklung von Technologien zur Energieeinsparung und/oder die von alternativen Energieträgern gefördert wird, kann auch im Vergleich mit weiteren Angaben im Forschungsbericht nicht nachgeprüft werden.

Konkrete Angaben macht dazu das am 9. Januar 1974 vom Bundeskabinett verabschiedete „Rahmenprogramm Energieforschung 1974 bis 1977". Es belegt, daß erst ab 1974 die Entwicklung neuer Technologien für die traditionellen Energieträger und die Erschließung neuer Energiequellen, wie der Sonnenenergie, durch die Bundesregierung gefördert wird. Im Jahr 1974 waren dafür 160 Millionen DM vorgesehen. Vergleicht man damit die Ausgaben für die Forschung im Bereich der Kernenergieerzeugung in Höhe von mindestens 1, 3 Milliarden DM, dann kann man dem mit der Verabschiedung des „Rahmenprogramms" gezogenen Schluß, daß im Energiebereich die Gewichte neu verteilt werden müssen, nur zustimmen. Die hier zu setzenden Schwerpunkte betreffen einmal die zu verstärkenden Bemühungen um rationellere und sparsamere Energienutzung, zum anderen aber auch die Entwicklung von nichtnuklearen Energiequellen. Die Angaben in der bereits zitierten Tabelle 9 9), die die Kernforschung noch vor der Verteidigung als das am stärksten geförderte Einzelziel ausweisen, legen die Vermutung nahe, daß die Kernenergie bisher auf Kosten anderer Energiequellen erheblich bevorzugt worden ist. Die vielfältigen Warnungen vor einer übereilten Neuorientierung an der Kernenergie scheinen in dem Vergleich der Aufwendungen für die verschiedenen Energieträger eine zahlenmäßig belegbare Grundlage zu erhalten.

5. Gesundheitswesen

In Ziffer 71 ff. werden die neuralgischen Punkte in der Gesundheitssicherung genannt. Positiv muß vermerkt werden, daß in Zukunft den krankheitsfördernden Lebens-und Arbeitsbedingungen sowie Lebensweisen größere Aufmerksamkeit bei der Gesundheitsforschung zukommen soll. Es genügt heute in der Tat nicht mehr, verbesserte Leistungen im Gesundheitswesen anzubieten, wenn sie durch Gegenfaktoren wie falsche Ernährung, Um-35 weltverschmutzung oder beruflichen Leistungsdruck kompensiert werden. Deshalb muß das Schwergewicht der Forschung auf der Verhütung von Krankheiten, auf der Abwehr von Gesundheitsgefahren und auf der Erforschung der psychosomatischen Erkrankungen liegen. Dies wird im Forschungsbericht als Aufgabe weitgehend erkannt. Es ist allerdings aus den Zahlenangaben nicht ersichtlich, in welchem Maße die sozialen Ursachen verschiedener Krankheiten erforscht werden. Die Tabelle

läßt nicht erkennen, wieviel von den bereitgestellten Mitteln für die institutioneile Förderung und für medizinisch-technische Einrichtungen bereits ausgegeben werden. Keine Mittel sind anscheinend für die Erforschung der langfristigen Nebenwirkungen von Medikamenten vorgesehen; diese werden als Problem nicht einmal erwähnt.

6. Humaniserung des Arbeitslebens

a) Zielkonflikte

Im Forschungsbericht werden die Ziele der Humanisierung umfassend gesetzt: Veränderung technischer und sozialer Strukturen zur Entfaltung des Menschen (Fähigkeiten, Verantwortung, Mitwirkung). Diesen Zielen entgegenstehende Hemmnisse sind mit dem aufgewiesenen Konflikt zwischen „Humanisierung und Produktionssteigerung''(Tz. 80) allerdings nur ungenau und im Widerspruch zu der Feststellung formuliert, daß menschengerechte Arbeitsbedingungen im Interesse der Arbeitnehmer und der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft lägen (Tz. 78).

Der entscheidende Zielkonflikt besteht dagegen zwischen den Zielen der Produktivität und Rentabilität der einzelnen Unternehmen (Tz. 6) und der Humanisierung als einem Ziel hohen öffentlichen Interesses. Daneben ist außerdem der allerdings „abgeleitete" Konflikt zwischen Humanisierung und Lohninteressen der Arbeitnehmer zu sehen, wobei das Übergewicht dieser Interessen als Ausdruck falscher Bedürfnisse, als Widerspiegelung der allgemeinen hohen Wert-Schätzungen von persönlichen Vorteilen im Einkommens-und Konsumbereich verstanden werden kann.

Faktisch können diese möglichen Zielkonflikte zweifellos nur „in jedem Einzelfall gelöst werden" (Tz. 80). Ohne übergreifendes Entscheidungskriterium bleiben solche Lösungen dann aber entweder an die Bewegungsgesetze des Marktes gebunden oder willkürlich. Sozial-ethisch müssen die (physisch-psychischen) Bedürfnisse des arbeitenden Menschen jedenfalls höher gewertet werden als wirtschaftliche oder technische Erfordernisse.

Soll Humanisierung nicht vorwiegend instrumentell als Mittel zur Produktivitäts-und Rentabilitätssteigerung verstanden werden, sondern als eigenständiges Ziel der Gesellschaftspolitik, dann müßten die Forschung und ihre Förderung verstärkt darauf gerichtet werden, wie dieses Ziel mittels neuer Erfolgsindikatoren in die unternehmerische Erfolgsrechnung mit einbezogen werden kann.

b) Zielbestimmung

Konkrete Maßnahmen der Humanisierung sind im Konflikt zwischen unternehmens-und arbeitsorientierten Interessen vor allem an gesellschaftliche Fortschrittsvorstellungen und Machtstrukturen gebunden. Die Darstellung der Forschungsziele im Forschungsbericht könnte allerdings den Eindruck hervorrufen, als seien die festzulegenden Normen vor allem als quantifizierbare Daten objektiv zu erheben. Dagegen ist zu betonen, daß alle relevanten „Grenzwerte", seien sie technischer oder sozialer Art, einen unaufhebbaren „qualitativen Rest“ enthalten.

Jede Maßnahme zur Humanisierung der Arbeit ist deshalb an zwei Kriterien zu messen: an der naturwissenschaftlich-medizinischen Berechnung der „Erträglichkeit" und an der gesellschaftlich-politischen Wertung der „Zumutbarkeit" bzw.der „Wünschbarkeit". Quantifizierende Rechnung und qualifizierende Wertung sind allerdings kaum deutlich ab-grenzbar, wenn ein umfassender Begriff der Gesundheit, welcher körperliches, geistiges und seelisches Wohlbefinden — also auch den Faktor „Arbeitszufriedenheit''— einschließt, Norm werden soll. Statt durch wertneutrale und rein quantitative Kriterien wird jede Grenzwertfestsetzung von unterschiedlichen ethischen Grundhaltungen bestimmt.

Soweit Sachzwänge bestehen (Stand wissenschaftlicher Erkenntnis auf naturwissenschaftlich-medizinischem wie ökonomisch-sozialem Gebiet und technische wie wirtschaftliche Bedingungen der Durchführbarkeit), sind sie ihrerseits wertbestimmt, d. h., jede Maßnahme der Humanisierung der Arbeit wird in einem partiell interdependenten Wechselspiel von physischenund ökonomischen „Fakten" einerseits und subjektivem Bewußtsein, schichten-spezifischen Normen und gesellschaftlichen Wertungen andererseits entschieden. Der For-B I schungsbericht sollte deshalb künftig deut-lieber machen, welche Indikatoren zur inhalt-I liehen Bestimmung der Ziele der Humanisierung angewendet werden, wie sie der Ab-i Stimmung im demokratischen Prozeß (Tz. 82)

unterworfen werden und wie dieser Prozeß organisiert ist.

! 7. Zum Schwerpunkt Raum-und Stadtentwicklung

Der Forschungsschwerpunkt Raum-und Stadt-entwicklung ist ein Beispiel für die nicht gei löste Zielproblematik. Die Negativbilanz von Bevölkerungsballung und Verstädterung wird i drastisch dargelegt: Einerseits erreichen „die i Umweltbedingungen in einigen Ballungsgebieten bereits die kritische Belastungsgrenze", ! andererseits „fehlen in weiten Teilen des ländlichen Raumes funktionsfähige Siedlungsstrukturen" (Tz. 84).

Dennoch werden die Raumordnungsprobleme verharmlosend als „Folgeprobleme des wirtschaftlichen, technischen und sozialen Wandels" (Tz. 93) bezeichnet, ohne daß aufgezeigt würde, auf welchen Zielentscheidungen dieser Wandel beruht. Dem entsprechen die Forschungsziele für Raum-und Stadtentwicklung.

Es sollen untersucht werden:

— „Frühzeitige Problemerkennung und Bereitstellung von Instrumenten" (Tz. 93).

— „Bedeutung und Auswirkungen von Verkehrssystemen, von Infrastrukturausstattung, von Freizeit, von Flächenansprüchen und Nutzungskonflikten sowie der Umwelt-qualität auf die Raum-und Siedlungsentwicklung" (Tz. 93).

— „Ziele, Entscheidungsprozesse, Entwicklungstrends und die Probleme der benachteiligten Bevölkerungsgruppen" (Tz. 93).

— „Quantitative wie qualitative Verbesserung der Freizeitmöglichkeiten" (Tz. 94).

— „Bau-und Wohnforschung sowie Forschungen zur technischen und wohnwirtschaftlichen Weiterentwicklung im Bauwesen"

(Tz. 95).

— „Probleme der Siedlungs-und Bautechnologien, des Wohnungswesens, der Verund Entsorgung, Verkehrs-und Kommunikationsprobleme sowie technologische Probleme kommunaler Gemeinschaftseinrichtungen" (Tz. 96).

— „Weiterentwicklung der bestehenden Systeme des Nahverkehrs", „Erweiterung des Spektrums der unterschiedlichen technischen Nahverkehrsmittel" (Tz. 97). überblickt man diese Zielsetzungen, dann fällt dreierlei auf:

1. Es handelt sich ganz überwiegend um Forschungen zur Erweiterung, Verbesserung und Verfeinerung der Technologie.

2. Begriffe wie Entwicklung, Trends, Prozesse, Wandel etc. lassen die passive Hinnahme der weiteren Verstädterung und Technisierung erkennen. Es wird nicht deutlich, inwieweit die Prozesse auf Entscheidungen beruhen und steuerbar sind.

3. Die Forschung konzentriert sich auf die Erkennung von Problemen als Auswirkung von „Wandel" und auf die Bereitstellung von „Instrumenten", die in aller Regel technologisch sind.

Die Forschungspolitik befindet sich dergestalt in einem Teufelskreis und trägt zu dessen Bestehen bei:

Mehr Technologie erfordert mehr Energie und ein Wirtschaftswachstum, mit dem beides bezahlt werden kann. Mehr Wachstum, Energieverbrauch und Technologie verursachen mehr Verstädterung und mehr „Folgeprobleme", zu deren Beseitigung wiederum mehr Energie, Technologie und Wachstum sowie ein wachsender Anteil der Forschung notwendig sind. Es kann nicht verwundern, daß die Eigendynamik von Energie-, Wirtschafts-und Technologie-wachstum im Problembereich Raum-und Stadtentwicklung bereits an einen Punkt geführt hat, wo Wohlstand und Lebensqualität rapide abnehmen. Zur Beseitigung dieses Teufelskreises trägt die vorliegende Forschungspolitik kaum etwas bei.

Zielsetzung förderungswürdiger Forschungsprojekte müßte es demgegenüber sein, — Modelle alternativer Besiedlungsstrukturen unter den Bedingungen gedrosselten Wachstums und einer „stabilen" Gesellschaft zu erforschen, — Modelle für die Enthaltung von Verstädterungszonen und für die Wiederbesiedlung von Entleerungsräumen zu untersuchen, — Konzepte für eine Raumordnung unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Dezentralisierung zu erarbeiten und — Instrumente für vermehrte Partizipation als Grundlage für die demokratische Legitimierung der notwendigen Zielentscheidungen an der gesellschaftlichen Basis zu entwickeln.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der forschungspolitische Teil des Forschungsberichts wird im folgenden durch Angabe der Teil-ziffern (Tz.), der Faktenteil durch Angabe der Seiten (S.) zitiert.

  2. Erscheinungen, die auf ein gestörtes öder zumindest problematisches Verhältnis von Gesellschaftsmitgliedern zu ihrer sozialen Umwelt schließen lassen. Indikatoren sind u. a.: Selbstmordrate, Anzahl der Süchtigen (Alkohol, Arzneimittel, Drogen, Nikotin), Zunahme von Kriminalität-und Gewaltverbrechen, Auflösung sozialer Bindungen und Verantwortlichkeiten, Scheidungsrate.

  3. Vgl. Forschungsbericht S. 11.

  4. Vgl. Forschungsbericht S. 66.

  5. Vgl. Forschungsbericht S. 61.

  6. Vgl. Forschungsbericht S. 56/57.

  7. Vgl. Forschungsbericht S. 52.

  8. Vgl. FAZ vom 13. 12. 1975.

  9. VgL Forschungsbericht S. 31.

Weitere Inhalte

Aus Politik und Zeitgeschichte, B 27/76, S. 26— 37 Der Beitrag ist Teil des vom Bundesminister für Forschung und Technologie angestrebten breiten, kritischen und öffentlichen Dialogs über Ziele und Instrumente der staatlichen Forschungsförderung. Gemeinsamer kritischer Ausgangspunkt der Autoren ist die Auffassung, daß eine zukunftweisende Forschungspolitik auf das Ziel einer humanen Fortentwicklung der Industriegesellschaft gerichtet sein muß. Dies wird einerseits in der Forderung konkretisiert, daß die Diskussion über Wissenschaft und Forschung und deren Förderung von der Frage nach den wünschenswerten Lebens-und Arbeitsbedingungen der Menschen ihren Ausgang nehmen muß. Um dies zu erreichen, sollte ein offener Dialog mit den betroffenen Bürgern nicht allein über Formen parlamentarischer Repräsentation organisiert werden, sondern auch über erweiterte Formen der Meinungs-und Willensbildung sowie der Entscheidungsfindung — einschließlich des Bereichs der Forschungspolitik. Andererseits kann gesellschaftlicher Fortschritt, wenn er auf humane Fortenwicklung zielt, nicht in erster Linie an wirtschaftlichen Erfolgsgrößen gemessen werden. Er muß darüber hinaus verstärkt auch die nichtmateriellen Aspekte des menschlichen Daseins berücksichtigen. Deshalb wird die Vorrangstellung bezweifelt, die der an wirtschaftlicher Verwertung orientierten naturwissenschaftlich-technischen Großforschung eingeräumt wird, zumal sie vorwiegend als problemlösend, kaum dagegen als problemverursachend begriffen wird. Die Autoren stellen die Vernachlässigung der Sozial-und Humanwissenschaften als ein schwerwiegendes Defizit gegenwärtiger staatlicher Forschungsförderung heraus. Sie kritisieren, daß das Ziel, humane Sozialstrukturen zu schaffen, lediglich als Folgeprobleme der wachsenden Technisierung angegangen wird. Diese grundsätzlichen Überlegungen bestimmen sowohl die Auseinandersetzung mit den grundlegenden Zielen der Forschungspolitik nach dem V. Forschungsbericht als auch die kritischen Anmerkungen zu einzelnen Schwerpunkten der Forschungsförderung.