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Ein Gespräch in Kairo. Fragen und Antworten zum arabisch-israelischen Verhältnis | APuZ 49/1976 | bpb.de

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APuZ 49/1976 Artikel 1 Die religiösen und geistigen Wurzeln des Zionismus Der Zionismus -die nationale Befreiungsbewegung des jüdischen Volkes Ein Gespräch in Kairo. Fragen und Antworten zum arabisch-israelischen Verhältnis

Ein Gespräch in Kairo. Fragen und Antworten zum arabisch-israelischen Verhältnis

Michael Brecher

/ 45 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Mit einer Gruppe nordamerikanischer Wissenschaftler hielt sich Michael Brecher, gebürtiger Kanadier und Professor für internationale Beziehungen, seit 1969 in Jerusalem lebend, 14 Tage lang in Kairo, Damaskus und Amman auf. Sinn der Reise war es, mit arabischen Vertretern aus den verschiedensten Bereichen der Politik, Verwaltung und Kultur einen intensiven Meinungsaustausch über den israelisch-arabischen Konflikt zu führen. Die hier wiedergegebene Diskussion mit fünf arabischen Intellektuellen, die für die ägyptische Regierung als Analytiker und Berater auf außenpolitischem Gebiet tätig sind, berührt im Kern immer wieder die Frage, ob und vor allem wie aus der feindlichen Koexistenz eine friedliche Nachbarschaft werden könnte. Beide Seiten waren sich darin einig, daß es keine überzeugende militärische Lösung der gegenwärtigen Lage geben kann, was allerdings — so die Araber — die Möglichkeit eines neuen Krieges nicht ausschließe, wenn eine der Parteien ihre Verhandlungsposition verbessern wolle. Im Mittelpunkt dieses Gesprächs stehen Fragen der Sicherheit sowie Vorschläge für die Überwindung der Hindernisse einer gegenseitigen Anerkennung. Von einem der arabischen Diskussionsteilnehmer kommt der bemerkenswerte Hinweis, daß er sich „ohne das Palästina-Problem ... einen nennenswerten Streitpunkt zwischen Ägypten und Israel schwer vorstellen" könne.

Im Mai/Juni 1975 hielt sich Michael Brecher mit einer Gruppe nordamerikanischer Wissenschaftler zwei Wochen in Kairo, Damaskus und Amman auf. Er führte dort Gespräche mit Regierungsvertretern, Beamten, Professoren und Journalisten, darunter einen ausgedehnten und intensiven Meinungsaustausch über den arabisch-israelischen Konflikt mit fünf arabischen Intellektuellen, die für die ägyptische Regierung als Analytiker und Berater auf außenpolitischem Gebiet tätig sind.

Brecher:

In den wenigen Tagen, die wir in Ägypten zugebracht haben, ist mir aufgefallen, daß bei manchen ägyptischen Intellektuellen und Regierungsvertretern anscheinend ein grundlegender Wandel in der Einstellung zum Konflikt mit Israel eingetreten ist. Ich möchte die neue Haltung als „artikulierte Mäßigung" bezeichnen — man äußert Interesse an einer Verständigung, die mehr ist als eine Unterschrift auf einem Stück Papier. Wir, die wir im Nahen Osten leben, neigen wohl manchmal dazu, diesen Konflikt als einzigartig zu betrachten. Wir vergessen oft, daß es noch andere langwierige Konflikte gibt, die nach zwei, drei, vier oder noch mehr Kriegen schließlich doch irgendwie beigelegt werden, wenn auch unter hohen Opfern; und wir vergessen ferner, daß nach manchen Kriegen qualitative Veränderungen eintreten, Veränderungen, die ein Umdenken bewirken, ein erneutes Abwägen von Aufwand und Ertrag, ein neues Durchdenken der Frage, ob die Fortsetzung des Konflikts auf militärischer Ebene noch sinnvoll ist.

Ich spüre jetzt hier — genau wie voriges Jahr auf der israelischen Seite —, daß sich seit dem Krieg vom Oktober 1973 auf verschiedenen Ebenen die Haltung zum Konflikt tiefgehend verändert hat. Der Wandel hier und der Wandel dort beeindruckt mich. Aber es ist für mich sehr schwer, ihn mathematisch präzise zu messen, nämlich festzustellen, wie weit hier in Ägypten, bei Menschen wie Ihnen, jener Prozeß gediehen ist, den ich als einen Reifeprozeß ansehe, das heißt, wie weit es als Tatsache anerkannt wird, daß der arabisch-israelische Konflikt nicht mehr, jedenfalls nicht auf kurze Sicht, durch periodische Waffengänge gelöst werden kann. Ich spüre den Wandel hier, aber ich bin mir nicht sicher, ob mein Gefühl richtig ist; und wenn dies der Fall ist, so frage ich mich weiter, woher der Wandel kommt, ob der Krieg von 1973 tatsächlich der große Katalysator war — in Ägypten, in der Führung der PLO, in anderen arabischen Konfrontationsstaaten. Was die israelische Seite betrifft, möchte ich folgendes sagen: Wenn Sie das Tauben-Falken-Spektrum benutzen wollen, so ist eines völlig klar: der Abstand hat sich ge'waltig verringert. Die Falken sind taubenhafter geworden, die Tauben falkenhafter. Ein neues Gleichgewicht hat sich ergeben; die Tauben, die lange Zeit im politischen Leben eine Randerscheinung waren, haben in der großen Debatte der letzten fünfzehn Monate über die Frage „Wie soll es weitergehen?" eine durchaus aktive und bedeutende Rolle gespielt.

Ich habe den Eindruck, dieser Wandel der Einstellung wird hier noch nicht richtig wahrgenommen, weder in seinen eindeutigen noch in seinen vageren Erscheinungsformen.

In Israel hat sich weiterhin die Einsicht durchgesetzt: daß eine Regelung, die ihm totale Sicherheit — und folglich der anderen Seite totale Unsicher-heit — verschaffen könnte, unmöglich ist; daß, wie in anderen internationalen Konflikten, wechselseitige Zugeständnisse ausgehandelt werden müssen;

N daß alles im Flusse ist und die psychologische Dimension nach wie vor eine große Barriere darstellt.

Aber der psychologische Wandel nach dem Krieg von 1973 ist ein Durchbruch, eine Wende. Ein Gefühl der Erschöpfung macht sich bemerkbar; das Mittel Krieg wird zunehmend als sinnlos empfunden; man beginnt, einige arabische Staaten und Führer in einem anderen Licht als bisher zu sehen. Begreiflicherweise gibt es Skepsis, aber ganz allmählich bröckelt diese Skepsis ab und weicht der Bereitschaft, kalkulierte Risiken einzugehen — innerhalb gewisser Parameter, deren Verständnis für Ägypten wichtig ist.

Reife, realistisch denkende Menschen werden nicht den törichten Glauben hegen, eine Nation, die siebenundzwanzig Jahre lang um ihr überleben gekämpft hat, könne plötzlich von totalem Mißtrauen zu totalem Vertrauen umschwenken. In diesem Zusammenhang möchte ich auf einen weiteren Punkt hinweisen: Eine Verständigung ist zwar jetzt möglich, aber keineswegs gewiß. Und der Weg von der Möglichkeit zur Gewißheit ist mit Minen gepflastert. Es geht darum, ob die Führung hier in diesem Lande und ebenso die auf der anderen Seite sich als fähig erweist, einen „großen Sprung vorwärts" zu machen und zu sagen: „Es geht nicht an, daß wir alles erwarten und selbst nichts hergeben." Wir müssen verstehen, daß die Psychologie der Unsicherheit legitim ist, sie ist unvermeidlich und tiefverwurzelt.

Es ist wichtig für Sie, den Stimmungswandel und die neue Polarisierung der Kräfte in Israel zu verstehen, den Stärkezuwachs jener Gruppen, die bereit sind, sich nicht nur auf einen Dialog einzulassen, sondern auf einen echten Verhandlungsprozeß, der zu einer Regelung führt. Aber Sie dürfen sich keine Illusionen machen: Diese Gruppen werden keiner endgültigen, formellen Regelung zustimmen, die nicht gewisse unverzichtbare Minimalbedingungen für Israels Sicherheit erfüllt — Bedingungen, die diese Gruppen selbst definieren, nicht Sie oder die Supermächte. ... es gibt keine militärische Lösung!

Araber A.:

Zunächst möchte ich dem zustimmen, was Sie über die Regelung gesagt haben: Verständigung ist ein Prozeß. Zum Begriff des Prozesses gehört ein Element der Zeit, und es gehört dazu ein Geben und Nehmen. Ein Prozeß ist etwas Allmähliches. Ich glaube, darüber ist sich Sadat völlig im klaren. Er hat wiederholt gesagt, seiner Generation falle es zu, die Feindseligkeiten in der Region zu beenden; die Herstellung von Normalität sei Aufgabe der kommenden Generation.

Auf Ihre Frage nach den Ursachen für den Wandel der ägyptischen Haltung kann ich Ihnen einen oder zwei Hauptgründe nennen. Danach werde ich meinerseits einige Fragen stellen. Ein Grund ist meiner Ansicht nach die Erkenntnis, daß es keine militärische Lösung des Problems gibt. Ich hoffe, diese Überzeugung besteht auch auf israelischer Seite. Nehmen Sie den Krieg von 1967: Ich denke, Israel wird nie wieder einen Krieg solcher Größenordnung gewinnen wie im Jahre 1967. Das wird nie wieder geschehen. Vielleicht sollte man dessen nicht ganz so sicher sein, aber wie ich die Situation der Israelis einschätze, können sie selbst nicht daran glauben. Sie können nicht glauben, daß sie binnen sechs Tagen am Suez-Kanal stehen würden. Wenn dem so ist, dann hat der israelische Sieg von 1967 das Problem nicht gelöst.

Brecher:

Der Krieg von 1967 war genauso einzig in seiner Art wie der von 1973. Es ist das Wesen derartiger Kriege, daß sie sich niemals auf die gleiche Weise mit den gleichen Ergebnissen wiederholen.

Araber A.:

Das stimmt, und ich meine, es kommt auch in den Erklärungen von Präsident Sadat sehr klar zum Ausdruck: Wir müssen begreifen, daß es für diesen Konflikt keine militärische Lösung gibt. Es ist ein Konflikt, in dem mehrere Variable mitspielen — psychologische, wirtschaftliche, politische und militärische Faktoren. Man darf deshalb die militärische Seite nur als eine von mehreren Variablen des Konflikts betrachten. Die Möglichkeit eines fünften Krieges ist nicht auszuschließen, aber ein fünfter Krieg könnte Teil des Weges zu einer Regelung sein. Anders ausgedrückt: Ich könnte mir vorstellen, daß eine der Parteien einen Krieg anfinge mit dem einzigen Ziel, ihre Verhandlungsposition im Prozeß der Verständigung zu verbessern. Ich schließe die Möglichkeit eines fünften Krieges nicht aus.

Sodann möchte ich darauf hinweisen, daß die psychologische Wirkung des Oktoberkrieges viel größer war als seine militärische Wirkung — und zwar bei den Israelis ebenso wie bei den Arabern. Auf der arabischen Seite finden Sie ein Gefühl wiedergewonnenen Stolzes: Arabische Truppen haben gezeigt, daß sie es mit dem Gegner aufnehmen, daß sie kämpfen können und daß sie einen Sieg erringen können, sei er auch begrenzt. Ist er diesmal begrenzt, so mag er das nächste Mal größer sein. Ich sage nicht, daß die beiden Seiten schon gleichgezogen hätten; aber psychologisch betrachtet hat auf arabischer Seite das Gefühl der Gleichwertigkeit zugenommen. Die ägyptischen Führer haben an Selbstsicherheit gewonnen; sie handeln jetzt aus einer Position der Zuversicht, des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten. Anders gesagt; Für ein besiegtes Ägypten war es schwerer, auf eine Verständigung hinzuarbeiten; für ein siegreiches Ägypten ist es leichter.

Brecher:

Theoretisch kann man auch ungekehrt argumentieren. In den ersten Tagen des Krieges von 1973 hat sich gezeigt, daß arabische Truppen gut kämpfen und einen begrenzten Sieg erringen können. Wäre es da nicht möglich, daß sich zumindest bei Teilen der ägyptischen Führung die Auffassung durchsetzt, Ägypten werde künftig noch besser imstande sein, seine Ziele mit militärischen Mitteln zu erreichen, und daß aus diesem Grunde die militärische Option in fünf, zehn, fünfzehn Jahren — oder auch früher — an Anziehungskraft gewönne?

Araber A.:

Lassen Sie mich zum ersten Punkt sagen, daß diese Politik der Verständigung (oder wie Sie sie nennen wollen) wirklich Teil einer allgemeinen Neuorientierung ist, die sich augenblicklich in Ägypten vollzieht. Ich nenne drei Haüptgebiete: Innenpolitisch reden wir weniger von sozialer Revolution als vom sozialen Frieden, von der Aufrechterhaltung des Status quo. Weltpolitisch nehmen wir mehr oder weniger eine prowestliche Haltung ein. Und was den arabisch-israelischen Konflikt betrifft, so verfolgen wir mehr oder weniger einen Verständigungskurs. Diese drei Dinge hängen zusammen. Käme es in Ägypten zu großen innenpolitischen Schwierigkeiten, etwa wirtschaftlicher oder sozialer Art, dann würde dieser Prozeß möglicherweise abgebrochen, und man würde sich wieder der militärischen Option zuwenden.

Die Fragen, die ich stellen möchte, betreffen mehrere wichtige Punkte. Erstens: Wieweit ist die israelische Elite fähig, Realitäten anzuerkennen? Das ist ein entscheidendes Problem, und hier sehe ich bisher keinen radikalen Wandel. Noch immer werden die Palästinenser „Terroristen" genannt. Das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung wird nach wie vor verneint. Ich meine, wenn Araber bereit sein werden, die Existenz Israels anzuerkennen, ob sie ihnen nun gefällt oder nicht, dann wird es so etwas wie Gegenseitigkeit geben müssen. Das ist der eine Punkt.

Der zweite Punkt sind die besetzten Gebiete. Hier vermisse ich ebenfalls bis heute eine israelische Erklärung, die etwa lauten könnte: „In einer bestimmten hypothetischen Situation wären wir bereit, uns auf die Gebiete zurückzuziehen, die wir vor dem 4. Juni 1967 besaßen." Man unterstreicht aber im Gegenteil immer wieder, daß man auf der Annexion gewisser Gebiete besteht. Diese Frage der Annexion durch Gewalt oder Besetzung ist ein wichtiger Streitpunkt.

Der dritte Punkt mag etwas schmerzhaft sein, aber ich meine, die Frage muß gestellt werden: Was für ein Israel soll hier in der Region bestehen bleiben? Unser Außenminister hat vor etwa drei Monaten das Problem des Rückkehr-gesetzes zur Sprache gebracht. Wenn sich nun Israel in die Region einfügen soll, will es dann weiterhin das fremdartige Bild eines jüdischen Staates bieten — jüdisch in dem Sinne, wie Frankreich französisch und Großbritannien britisch ist? Will es der „Vorposten des weißen Mannes" sein, will es offene Türen zum Westen haben? Ich stelle die Frage nicht nur unter politischen, sondern auch unter kulturellen Gesichtspunkten: Wie soll die israelische Gesellschaft hier in der Region aussehen?

Meine vierte und letzte Frage betrifft die innenpolitische Lage Israels. Im Aprilheft 1975 von „Le Monde Diplomatique" steht ein langer Artikel, in dem der Autor die Fähigkeit Rabins und der derzeit herrschenden Elite zu — wie er es nennt — „historischen Entscheidungen" anzweifelt. Er meint, wenn ein Mann wie Ben Gurion jetzt an der Spitze Israels stünde, hätte er vielleicht die Chance ergriffen. Die gegenwärtige Elite sei zu schwach, um die Bürde auf sich zu nehmen, oder nicht weitblickend genug; sie werde wohl die Chance vertun.

Araber B.:

Dem, was mein Kollege gesagt hat, möchte ich eines hinzufügen: Sie fragen, ob unser Militär nicht vielleicht aufgrund der Erfolge im letzten Krieg meinen könnte, in künftigen Kriegen würden die Chancen besser sein. Doch, das ist der Fall. Aber — und darüber ist man sich hier völlig im klaren — 1973 haben wir keinen vollen Sieg errungen. Es war bestenfalls eine Art Unentschieden. Im Vergleich zu früheren Kämpfen mit Israel war es vielleicht ein großer Erfolg, aber man hatte nicht das Gefühl, daß alle Ziele erreicht seien — ganz gleich, welche Ziele man im Auge hatte. Ich rede nicht von Scharons Überquerung des Suezkanals. Ich spreche davon, wie wir den Krieg begannen: wir überwanden den Kanal und die Bar-Lev-Linie, und dann blieben wir stehen. Und wir blieben stehen nicht nur wegen des internationalen Drucks, nicht nur wegen der USA, nicht nur wegen der Begrenztheit unserer Ziele — sie waren tatsächlich begrenzt —, sondern auch deshalb, weil wir uns offensichtlich nicht die Kraft und die Fähigkeit zutrauten, das ganze Gebiet wieder zu befreien, das wir als uns gehörig betrachten und das ganz gewiß uns gehört. Anders ist die Tatsache nicht zu erklären, daß die ägyptische Armee nicht wenigstens bis zur internationalen Grenze Israels vorging.

Araber C.:

Ich möchte zu Ihren einführenden Worten einiges bemerken und ein paar Fragen stellen. Sie sagten, Ihnen sei der Geist der Mäßigung aufgefallen, der gegenwärtig in Ägypten herrsche. Vielleicht ist dieser Geist jetzt stärker akzentuiert, aber vorhanden war er schon früher. Zwei Monate nach der Konferenz von Khartum akzeptierte Israel die Resolution Nr. 242 des Weltsicherheitsrates. Das war der Wendepunkt in Ägyptens Haltung gegenüber Israel. Alles, was seither geschehen ist, war bloße Interpretation oder Weiterentwicklung der Resolution Nr. 242, kein grundlegender Wandel. Ihr Erstaunen über Ägyptens gemäßigte Haltung besteht also nicht ganz zu Recht.

Was sind die „legitimen Rechte der Palästinenser"?

Prof. Steinberg (McGill-Universität):

Nehmen wir zur Vereinfachung der Diskussion einmal an, es gäbe im Augenblick kein Palästinenserproblem — meinen Sie, daß es dann möglich wäre, eine Verständigung zu erreichen? Wenn man die früheren Kriege zwischen Israel und Ägypten betrachtet, gewinnt man den Eindruck, daß das Palästinenserproblem nicht im Vordergrund stand. Und doch gab es immer wieder Konflikte zwischen den beiden Parteien. Heute sagen Sie uns nun, dieses Problem sei das Haupthindernis auf dem Weg zum Frieden. Ich frage also: Wodurch ist es in den Vordergrund gerückt? Und ist irgendeine Form von Verständigung ohne Lösung dieses Problems denkbar? Damit komme ich zu der Frage, wie Sie „die legitimen Rechte der Palästinenser" definieren.

Brecher:

Darf ich zu diesem Punkt gleich noch etwas sagen? Von arabischer Seite werden stets zwei Vorbedingungen für eine Friedensregelung genannt, ohne daß die verwendeten Begriffe genau definiert werden: „Räumung der besetzten arabischen Gebiete“ und „Wiederherstellung der legitimen Rechte der Palästinenser". Das ist eines der größten Hindernisse für den psychologischen Wandel in Israel, den Sie erstreben. Sie müssen begreifen: Der Ausdruck „Wiederherstellung der legitimen Rechte der Palästinenser" wird in Israel — ob zu Recht oder zu Unrecht, ist belanglos — fast einhellig als Synonym für „Vernichtung des Staates Israel" verstanden. Wie kommt das? Die Israelis greifen das nicht einfach auf der Luft. Sie denken dabei an jene Artikel der Palästinensischen Nationalcharta, die ausdrücklich erklären, Vorbedingung für die Errichtung eines demokratischen, weltlichen Staates Palästina sei die Beseitigung des Staates Israel. Die PLO will ja den Juden das Recht auf nationale Selbstbestimmung nicht zugestehen. Gestern habe ich immer wieder die Frage gehört: Warum definiert Israel seine Grenzen nicht? Die Kehrseite der Medaille ist: Warum definiert die arabische Führung niemals die „legitimen Rechte der Palästinenser"? Die PLO hat sie in der Palästinensischen Nationalcharta definiert, die noch 1974 erneut bekräftigt wurde. Wenn Sie diese Erklärung wörtlich nehmen, dann werden Sie wohl zugeben, daß die israelischen Führer eine ebenso starre Haltung einnehmen müssen und keinerlei substantielle Zugeständnisse machen können, ehe die Palästinenser unzweideutig erklären: „Wir verzichten jetzt auf unser Ziel, den Staat Israel zu beseitigen." Wie Sie sehr gut wissen, begeht kein Staat freiwillig Selbstmord; Menschen tun das, aber nicht Staaten.

Diese Dinge meine ich, wenn ich von Mehrdeutigkeit der verwendeten Begriffe spreche. Das war schon so, als Ägypten 1970 das Jarring-Memorandum akzeptierte. Die ägyptische Antwort lautete: „Ja, wir sind bereit, ein Friedensabkommen zu unterzeichnen", aber in einem separaten Brief wurden Zusatzklauseln aufgeführt, und die wichtigste dieser Klauseln betraf die „Rechte der Palästinenser". Ich will damit keineswegs sagen, daß es Rechte der Palästinenser nicht gäbe. Aber da diese Rechte niemals definiert worden sind, werden sie automatisch mit dem Ziel der Vernichtung des Staates Israel gleichgesetzt. Ich meine, Sie müssen diese Gleichsetzung verstehen. Sie ist echt und tiefverwurzelt im Denken derer, die auf der anderen Seite Entscheidungen treffen.

Araber D.:

Ich möchte noch einmal auf Ihre Äußerung von vorhin zurückkommen. Sie sagten, Ihrer Einschätzung nach habe man sowohl in Ägypten wie in Israel eingesehen, daß der Konflikt nicht durch Krieg gelöst werden könne. Das stimmt. Was aber begrenzte militärische Aktionen betrifft, Aktionen zur Ingangsetzung eines politischen Prozesses oder zur Verbesserung der eigenen Position, so glaube ich, daß diese Möglichkeit auch heute noch weder auf ägyptischer noch auf israelischer Seite ausgeschlossen wird. Auf ägyptischer Seite war der Oktoberkrieg ein erfolgreicher Versuch, aus einer politischen Sackgasse herauszukommen, und meiner Überzeugung nach würde man wieder zu diesem Mittel greifen, wenn sich deutlich zeigen sollte, daß man an einem toten Punkt angelangt ist.

Auf israelischer Seite hat der Oktoberkrieg die Stellung derer gestärkt, die sagten, Israel hätte als erster losschlagen sollen. In Israel, ja in der ganzen Weltöffentlichkeit scheint man einhellig der Auffassung zu sein, daß Israel in dem Augenblick losschlagen wird, in dem Syrien die Verlängerung des UN-Mandats ablehnt. Ich würde gern Ihr Urteil darüber hören, ob Israel den Gedanken aufgegeben hat, im Falle einer hypothetischen Drohung als erster loszuschlagen.

Araber E.:

Ich erinnere mich, wie es dazu kam, daß sich die arabischen Vorstellungen änderten. Nach dem Krieg von 1967 trat die palästinensische Nationalidee in den Vordergrund, und die Palästinenserfrage wurde zum erstenmal im arabisch-israelischen Konflikt als eine Realität betrachtet. Vor 1967 war sie eine Abstraktion. Wir hatten etwas, was wir das „Palästinaproblem" nannten, aber keine Organisation, keine Bewegung, keine Lösung, nichts, nur Konkurrenz zwischen allen arabischen Staaten. Daher glaube ich, wir sind der Realität im arabisch-israelischen Konflikt einen großen Schritt nähergekommen. Uber die von Professor Brecher aufgeworfene Frage, was unter den legitimen Rechten zu verstehen sei, mache ich mir keine Sorgen. Wir brauchen diese Rechte nicht zu definieren. Sie werden bald definiert werden.

Es ist erst sieben Jahre her, daß wir eine Realität namens „Palästinenserfrage" erkannt haben.

Brecher:

Lassen Sie mich einwerfen: Es müßte eine Wechselbeziehung bestehen zwischen ersten Ansätzen einer Anerkennung Israels durch die palästinensische Nationalbewegung in Form von PLO-Erklärungen einerseits und der zunehmenden Anerkennung der Legitimität der palästinensischen Nationalbewegung in öffentlichen israelischen Erklärungen andererseits. Anders ausgedrückt: Wir stehen vor dem merkwürdigsten Syndrom in den internationalen Beziehungen der neueren Zeit, das ich kenne; ich nenne es den Fall der beiden Nicht-anerkennungen. Die Palästinenser erkennen die Existenz Israels nicht an, und, was noch wichtiger ist, sie erkennen nicht an, daß der jüdische Nationalstaat ein Recht auf Existenz hat. Die Israelis haben bisher nicht anerkannt, daß eine von der größeren arabischen Nation unterscheidbare nationale Einheit der Palästinenser rechtmäßig existiert. Eine der Aufgaben im Verständigungsprozeß ist es mithin, beiderseitige Nichtanerkennung in beiderseitige Anerkennung zu verwandeln. Konkret gesagt: Der Weg zur gegenseitigen Anerkennung beginnt damit, daß beide Seiten zunächst einmal die Bereitschaft bekunden, die Existenz der anderen Partei als Realität hinzunehmen, und zwar in einem Verhältnis, das nicht durch unabänderlichen totalen Konflikt gekennzeichnet ist. Wenn Sie recht mit Ihrer Feststellung haben, daß es in Ägypten bereits eine Bewegung in dieser Richtung gibt, so kann ich Ihnen viele gleichartige Beispiele aus Israel anführen.

Die Ära von Frau Meir mit ihrer negativen Einstellung zur Realität der Palästinenser ist vorbei; ein Wandel ist im Gange. Unsere Aufgabe ist es, diesen Wandel zu erkennen und zu beschleunigen. Aber diese Aufgabe gilt für beide Enden des Spektrums. Wer ständig mit PLO-Vertretern spricht, muß ihnen klarmachen, wie ihre Äußerungen und Erklärungen auf Israelis wirken. Lassen Sie mich das durch ein Beispiel illustrieren: Als Yassir Arafat vor den Vereinten Nationen sprach, vertat er eine historische Chance. Ich weiß, auf kurze Sicht war sein Auftritt ein großer Erfolg, und er dachte sich: „Die Welt liegt mir zu Füßen." Aber er verpaßte die historische Gelegenheit, den Israelis zu signalisieren, daß die Palästinenser mündig geworden sind: „Wir erkennen an, daß es in diesem Teil des Nahen Ostens ein anderes Gebilde namens Israel gilt, dessen Legitimität nicht größer sein mag als die unsere, aber auch nicht geringer." Vom totalen Konflikt müssen wir übergehen zu einem Zu-B stand, der für den Anfang nicht „Frieden" heißen müßte, sondern „Abwesenheit unbegrenzter Feindseligkeiten".

Araber B.:

So etwas wie einen von vornherein begrenzten Krieg gibt es bei uns nicht. Nein, nein. Was wären denn die möglichen Ergebnisse eines solchen Krieges? Eine Neuauflage von 1973. Und damit wären wir dort, wo wir heute sind, oder jedenfalls nicht viel weiter. Und angenommen, wir kehrten zum Jahre 1967 zurück, so bekämen wir die Resultate von 1967. Was wären das für Resultate auf arabischer Seite? Ich könnte nahezu sicher voraussagen, daß sich die ganze Region wieder vollständig radikalisieren würde. Die Regimes kämen dagegen nicht an, und es hätte Rückwirkungen auf die ganze arabische Welt.

Hier ist man sich darüber klar, daß den ägyptischen Truppen — ganz unabhängig vom militärischen Kräfteverhältnis — nicht erlaubt worden wäre, auch nur einen Schritt über Gaza hinaus vorzustoßen, wenn dort die Grenze von 1967 verläuft. Wir wissen, daß in der gegenwärtigen internationalen Situation nicht nur die USA, sondern ebenso die Sowjetunion einen solchen Vorstoß energisch unterbinden würden. Wir sehen also: Von einem umgekehrten 1967 kann nicht die Rede sein. Und wenn den Israelis als optimistischste militärische Variante ein neues 1967 vorschwebt — was dann? Die Folge wäre hier eine vollkommene Radikalisierung, und der Wandlungsprozeß wäre jäh zu Ende; denn dann würden Ägypten und die gesamte arabische Welt sagen: „Mit Israel kann man nur aus der Position der Stärke umgehen; mit Unsinn ä la Jarring, Rogers oder auch Khartums bleibe man uns vom Leibe!" Für Bemühungen im Stil Sadats wäre dann bestimmt kein Platz mehr.

Etwas verblüffend finden wir, was wir aus sehr guter Quelle über die Ansichten einiger führender israelischer Militärs hören, Leute wie Scharon, aber auch Gonen, der ja im letzten Krieg nicht gerade brillant abgeschnitten hat. Diese Militärs sollen fest davon überzeugt sein, daß Israel einfach so weiterleben könne wie bisher, daß der Konflikt jahrhundertelang oder hundert Jahre lang oder jedenfalls auf absehbare Zeit weitergehen könne, und zwar einfach aufgrund der Tatsache, daß Israel allen Arabern jederzeit militärisch überlegen gewesen ist. Wenn solche Ideen viel Glauben finden — und Ereignisse wie die Ernennung Scharons zum Berater Rabins stimmen mich da skeptisch —, dann gibt es sehr wenig Hoffnung. Araber A.:

Ich möchte auf die Fragen von Professor Stein-berg und Professor Brecher antworten: Bis 1948 hieß das Problem „Palästinafrage". Vor 1948 haben wir den Terminus „arabisch-israelischer Konflikt" nie gebraucht. Wir müssen begreifen, daß die Palästina-bzw. Palästinenserfrage stets der Kernpunkt des Konflikts sein wird. Es mag stimmen, daß Nasser in den fünfziger Jahren die „Palästinenserfrage" für seine eigenen Rivalitäten ausgenutzt hat; aber das bedeutet nicht, daß es keine Palästinenserfrage gegeben hat.

Man kann fragen: Gibt es neben der Palästinafrage einen stichhaltigen Grund für Feindschaft zwischen Ägypten und Israel? Man könnte darauf antworten, daß Ägypten sich als die natürliche Führungsmacht der Region ansieht. Es mag sein, daß die ägyptische Elite neben Ägypten nicht gern eine andere große Macht sähe. Ich messe diesen Erwägungen jedoch keine große Bedeutung bei; sie existieren wohl, spielen aber keine wichtige Rolle. Die ägyptischen Führer könnten nämlich genausogut an eine Zusammenarbeit mit Israel denken, und diese Idee wurde in den Jahren 1915/1917 auch tatsächlich angesprochen: „Die Juden mit ihrem Geld und die Ägypter mit ihrem Menschen-reichtum — oder: die Juden mit ihrem Wissen und die Ägypter mit ihrem Menschenreichtum — könnten zusammen die Herren der Region werden." So steht es in ägyptischen Schriften vom Anfang unseres Jahrhunderts. Ich meine also: Der Hauptgrund für die ägyptisch-israelische Feinschaft ist die Palästinafrage. Daraus folgt: Gäbe es kein Palästinaproblem, so gäbe es auch keinen arabisch-israelischen Konflikt. Der arabisch-israelische Konflikt ist das Nebenprodukt einer fundamentaleren Streitfrage — eben des Palästinaproblems.

Israel ist seinem Wesen nach eine Gründung von Kolonisten — ich meine das nicht abschätzig; höflicher könnte man sagen: von Einwanderern, das heißt von Menschen, die nicht in diesem Lande geboren sind. Es ist durch Kolonisierungsprozesse entstanden wie Amerika oder Australien oder Kanada. Ich will damit nichts Abfälliges sagen, sondern nur einen ganz bestimmten soziologischen Prozeß bezeichnen. In den fünfziger Jahren ging in den Köpfen der Araber etwas sehr wichtiges vor: der Ruf nach einem arabischen Nationalismus verband sich organisch mit Palästina. Die Frage der arabischen Einheit verband sich organisch mit der Palästinafrage. Wenn Sie die Haltung der damaligen arabischen Führer analysieren, werden Sie finden, daß die meisten, sogar Nuri Said, gesagt haben würden: „Ohne die Ausmerzung Israels kann die arabische Einheit nicht erreicht werden." Und manche Leute sagen bis zum heutigen Tag, die Befreiung Palästinas sei der einzige Weg zur arabischen Einheit — einfach deshalb, weil dies eine Frage ist, in der alle Araber zusammenstehen. In den fünfziger und frühen sechziger Jahren war „Palästina" ein romantischer Kampfruf, den jedermann wiederholte, ohne klar zu artikulieren, was er damit meinte. Ohne das Palästinaproblem könnte ich mir einen nennenswerten Streitpunkt zwischen Ägypten und Israel schwer vorstellen.

Brecher:

Nein. Ich denke, die Nichtannahme der UNO-Resolution vom November 1947 durch die arabischen Staaten hat gezeigt, daß etwas viel Tieferes zugrunde lag als das Palästinaproblem. Die arabische Gesellschaft fühlte sich nicht imstande, in dem Gebiet, das als Herz-land der arabischen Welt galt, einen nichtarabischen Staat als dauernde und legitime Realität anzuerkennen. Es gab da offenbar einen sehr tiefsitzenden psychologischen Mechanismus — einen Veränderungsmechanismus, wenn Sie so wollen —, der bewirkte, daß man sehr lange Zeit mit dem Begriff eines nicht-arabischen rechtmäßigen Staates in der arabischen Welt nicht zu Rande kam. Der Konflikt geht also weit über Palästina hinaus. Nun mag es durchaus sein, daß die arabische Welt in den siebziger Jahren durch die normalen Prozesse sozialen und kulturellen Wandels auf eine Stufe gelangt ist, auf der sie diese Realität akzeptieren kann. Das ist für Israelis, die über dieses Problem nachdenken, eine der Grundfragen: Hat der Wandel jenen qualitativen Punkt erreicht, wo Israel als dauernd und rechtmäßig akzeptiert wird — etwas, was bisher nicht der Fall war? Hier liegt für die andere Seite ein Kernpunkt.

Araber C:

An dern, was Sie sagten, ist, glaube ich, etwas Wahres —-die arabische Kultur möchte hier nicht gern einen nichtarabischen Staat sehen. Zu dem anderen Punkt — warum die Palästinenser oder die Araber ihre Forderungen nicht artikulieren oder spezifizieren — möchte ich zweierlei sagen. Dieses Artikulieren ist nur eine Frage der Zeit. Nehmen Sie Sadat als Beispiel. Was sagte er? „Ich überlasse das den Palästinensern. Dafür sind die Palästinenser zuständig." Als er aber in die Enge getrieben wurde, da sagte er — und zwar zwei-oder dreimal —, er denke an einen Palästinenser-staat auf der West Bank und im Gazastreifen. Er bereitet also bei den Arabern psychologisch den Boden für diese mögliche Lösung vor — einen Palästinenserstaat auf der West Bank und in Gaza. Die Frage der besetzten Gebiete würde uns zu einem schmerzhaften Problem, nämlich direkt zur Frage Jerusalems führen.

Brecher:

Ich werde über die Frage Jerusalems hinausgehen. Gefordert wird der „vollständige Rückzug aus dem besetzten arabischen Territorium" bis zur See. Ich will sagen: Wenn in Erklärungen verantwortlicher arabischer Führer der Ausdruck „Rückzug aus dem besetzten Territorium" ohne nähere Erläuterung gebraucht wird, dann ist für die Israelis unklar, was mit dem „besetzten arabischen Territorium" gemeint ist. Es ist eine der Tragödien des Konflikts, daß auf beiden Seiten Zweideutigkeit herrscht; jede der beiden Parteien fühlt sich -dadurch verletzt, daß die andere Partei ihre Forderungen nicht auf den Tisch legen will. Allerdings ist es so, daß in Konfliktsituationen dieses Typs präzise Formulierungen niemals vor Beginn der Verhandlungen, sondern erst im Laufe der Verhandlungen auf den Tisch gelegt werden.

Ich möchte mich jetzt einer sehr speziellen Frage zuwenden, nämlich: Würde Israel eine Nichtverlängerung des Mandats der UN-Streitkräfte auf den Golanhöhen als automatischen Auslöser eines Krieges betrachten? Meiner Meinung nach lautet die Antwort „nein". Daß muß ich etwas genauer ausführen. Hier gibt es eine ganzes Spektrum. Gibt es keine UN-Streit-macht als Puffer zwischen den beiden Parteien, dann ist angesichts der Intensität des Konflikts die Wahrscheinlichkeit, daß es zum Krieg kommt, sehr groß. Würde das Mandat der UN-Streitmacht verlängert, so käme es sehr wahrscheinlich nicht zum Krieg, denn einem solchen Krieg könnten UN-Soldaten zum Opfer fallen, und das zöge internationale Weiterungen und Eskalationen nach sich. Mit anderen Worten: Die Bedeutung der UN-Streitmacht liegt darin, daß sie die Wahrscheinlichkeit eines Krieges aufgrund der physischen Nähe der Kontrahenten verringert. An beiden Enden des Spektrums gibt es keine Gewißheit, son-dem nur größere oder geringere Wahrscheinlichkeit. Nun zu den vier Fragen, die mir zu Beginn gestellt worden sind. Die erste betrifft Israels Nichtanerkennung der palästinensischen Realität. Hätte ich meine Unterlagen bei mir, so könnte ich viele Äußerungen von Eban, Allon und anderen über die Realität der Palästinenser zitieren. All das ist Ausdruck eines langsamen, schmerzhaften Gewahrwerdens des Problems. Konfliktparteien gewinnen ja solche Erkenntnisse meist nicht gerade freudig. Aber der Prozeß ist im Gange. Und ich bin fest überzeugt: So, wie ein Prozeß der Feindseligkeit sich immer mehr steigert und zum Kriege [führt, so erzeugt ein Prozeß der Verständigung seine eigenen Triebkräfte und führt mit qualitativen Sprüngen in Richtung Frieden.

Vollständiger Rückzug — minus X Die zweite Frage galt den Territorien. Sie äußerten Erstaunen darüber, daß noch nie ein verantwortlicher israelischer Politiker ausdrücklich Israels Bereitschaft erklärt hat, sich vollständig auf die Grenzen vom 4. Juni zurückzuziehen. Dem stimme ich zu. Erlauben Sie mir, zweierlei dazu zu sagen. Es trifft zu, daß der Ausdruck „vollständiger Rückzug" nie gebraucht worden ist. Und ich muß auch ganz offen sagen: Wie ich die Dinge verstehe, ist „vollständiger Rückzug" heute für die Verantwortlichen in Israel unannehmbar. Vollständiger Rückzug — nein; aber die Israelis haben eine Fülle von Signalen gegeben mit der Bedeutung „sehr substantiell", „fast alles" oder, wie ich es ausdrücken möchte, „vollständiger Rückzug minus X". Für dieses Verhalten sind mehrere Gründe zu nennen. Erstens können die Israelis das Wort „vollständig" nicht gebrauchen, weil es bestimmte kleine Gebiete gibt, die für sie strategisch wichtig sind oder in einem Fall — Jerüsalem, worauf wir gleich kommen werden — emotionale, religiöse, nationale, historische Bedeutung haben. Zweitens wäre, wenn sie vollständigen Rückzug anböten, der Verhandlungsprozeß beendet, ehe er begonnen hätte. Wäre Jarrings Vorschlag in der Form, wie er gemacht wurde, ohne Vorbehalt auf ägyptischer oder israelischer Seite angenommen worden, so wäre kein Prozeß des Aushandelns erforderlich.

Nun bin ich überzeugt, daß der Verhandlungsprozeß aus zwei Gründen wichtig ist. Kein Konflikt, wo und wann auch immer, läßt sich beilegen, ohne daß die beiden Parteien direkt miteinander in Verbindung treten. Eine aufgezwungene Lösung muß letztlich scheitern.

Sodann — und das haben meiner Ansicht nach die Gespräche von Rhodos im Jahre 1949 erwiesen — verändert allein schon der Prozeß des Verhandelns und Miteinander-Umgehens die Einstellung der Beteiligten. Auf arabischer Seite ist, glaube ich, der Begriff „direkte Verhandlungen" nie verstanden worden; er wurde zu einer Art von mythologischem Wesen, weil er so oft wiederholt wurde. In Wirklichkeit entstammt er den Erfahrungen von Rhodos. Die Gespräche von Rhodos waren, formal gesehen, indirekt; aber Dutzende von Stunden wurden in direktem Umgang verbracht. Das Ergebnis: Menschen, die sich zu Beginn kaum die Hand geben mochten, konnten am Schluß einigermaßen freundlich, jedenfalls nicht feindselig, miteinander reden. Der Terminus „vollständiger Rückzug" wird vor Beginn der Verhandlungen aus folgenden drei Gründen nie gebraucht werden: Erstens interpretieren die Israelis die Resolution 242 nach der englischen Fassung. Dazu will ich weiter nichts sagen, außer, daß die Resolution hauptsächlich von Lord Caradon entworfen wurde. Zweitens sind die Israelis aus den von mir genannten Gründen nicht zu einem vollständigen Rückzug bereit. Und drittens würden die Verhandlungen jedes Sinnes beraubt, wenn die Israelis mehr sagten, als sie schon gesagt haben, nämlich „fast alles", „praktisch alles".

Araber E.:

Sie wissen, daß in der internationalen Politik Handlungen mehr zählen als Worte. Soll ich also sagen: „Für mich ist Jerusalem erledigt, denn Taten haben die Worte überholt", soll ich auf gleiche Weise die kürzlich erfolgte Errichtung einer Siedlung in Scharm-el-Scheich hinnehmen?

Brecher: über all das will ich sprechen, wenn Sie es mir gestatten. Bei den Diskussionen, die wir an den beiden letzten Tagen hier in Kairo hatten, ist mir eines aufgefallen: Die Resolution 242 ruht im wesentlichen auf zwei Pfeilern. Der eine ist der Rückzug aus den besetzten Gebieten — seien es alle oder die meisten —, der andere ist die Anerkennung aller Staaten in der Region innerhalb sicherer und anerkannter Grenzen. Was mich nun stutzig macht, ist, daß arabische Staatsmänner in ihren Erklärungen niemals diese beiden Pfeiler zusammen nennen. Immer und immer wieder höre ich, wie zum Beispiel gestern vom Kabinettschef Ihres Außenministers: „Resolution 242 bedeutet Rückzug aus allen Gebieten und Anerkennung der allgemeinen Rechte der Palästinenser.“ Es ist, als wäre in der Resolution 242 von der Anerkennung des Staates Israel in sicheren und anerkannten Grenzen überhaupt nicht die Rede.

Araber B.:

Selbst der König von Saudi-Arabien hat gesagt, er sei bereit, die Existenz des Staates Israel anzuerkennen.

Brecher:

Ich wollte nur auf die seltsame Tatsache hinweisen, daß der eine der beiden Pfeiler hartnäckig ignoriert wird. Sie müssen verstehen, daß beide den gleichen Rang haben.

Was die Territorien betrifft, gibt es meiner Ansicht nach drei schwierige Probleme. Das eine ist Jerusalem, das zweite der Kamm der Golanhöhen, das dritte Scharm-el-Scheich. Bei Scharm-el-Scheich handelt es sich nicht um eine Frage der Souveränität. Hier stoßen wir auf die psychologischen Wirkungen der Unsicherheit. Es muß irgendeine Regelung gefunden werden, die den Israelis garantiert, daß sich das nicht wiederholen kann, was im Mai 1967 geschehen ist und womit arabische Führer sehr lange Zeit gedroht haben. Völkerrechtlich gesprochen: Das genuine Recht auf freie Durchfahrt muß von Ägypten respektiert werden. Und das gilt nicht nur für Scharm-el-Scheich, es gilt auch für Bab-el-Mandeb. Mit anderen Worten: Israel muß das Recht zuerkannt werden, als rechtmäßiger Staat des Nahen Ostens vom Hafen Eilat aus normale Handelsverbindungen mit Ostafrika und Asien zu unterhalten. Hier liegt meiner Meinung nach das Problem Scharm-el-Scheich, nicht in Fragen der Souveränität. Ähnlich ist es mit den Golanhöhen. Es geht nicht darum, ob die Syrer dieses Gebiet zurückerhalten sollen oder ob Israel es behalten soll. Vielmehr geht es darum, daß die Syrer nicht die Kontrolle über ein Stück Land haben dürfen, von dem aus in der Vergangenheit ein dichtbevölkertes Gebiet verwüstet wurde, was sich in der Zukunft nicht wiederholen soll.

Ich habe zu diesem Punkt meinen eigenen Lösungsvorschlag. Auf den Golanhöhen sollten den Syrern keine israelische Truppen gegenüberstehen, die unmittelbar die sich bis Damaskus erstreckende Ebene bedrohen würden. Und die Israelis unten im Tal sollten nicht von syrischen Truppen auf den Höhen bedroht werden. Eine Lösungsmöglichkeit wäre, als Puffer einen Drusenstaat zu . errichten, dessen Gebiet weder von syrischen noch von israelischen Truppen betreten werden dürfte. Wenn Sie eine bessere Formel vorschlagen können, eine Formel, die sicherstellt, daß die Syrer nicht den Höhenkamm besetzen, dann läßt sich das Problem lösen. Ähnlich steht es mit Scharm-

el-Scheich: Schlagen Sie eine Formel vor — gemeinsame Patrouillen, eine UN-Streitmacht, der auch Israelis und Ägypter angehören ...

Die Frage der Souveränität ist jedenfalls für Israel nicht das Entscheidende. Ich sage nicht etwa, daß es keine Israelis gäbe, die die Golanhöhen und Scharm-el-Scheich und sogar Teile des Sinai behalten möchten. Ich spreche hier über die Haupttendenz, und die Haupt-

tendenz, was die Golanhöhen und Scharm-el-Scheich betrifft, geht auf Sicherheit.

Nun zur West Bank. Sie wissen so gut wie ich, daß große Teile der israelischen Öffentlichkeit, darunter zwei Parteien, nämlich die Likud und die Nationalreligiöse Partei, die West Bank als einen wesentlichen Bestandteil des Landes Israel betrachten. Auch hier geht es in erster Linie um Sicherheit. Man macht sich einfach Sorgen: Wenn die West Bank ohne jeden Vorbehalt ein unabhängiger palästinensischer Staat würde, dann könnten dort Raketen installiert und auf Ziele gerichtet werden — und die könnten in wenigen Augenblicken das Herzland Israels zerstören. Das kann man nicht ignorieren oder als Fiktion abtun. Es ist eine Realität.

Und jetzt zu Jerusalem. Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß in Israel bereits seit 1968 viel über die Jerusalem-Frage nachgedacht wird; es kommt nicht alles in die Presse. Ich habe über die Lösbarkeit des Konflikts immer optimistisch nachgedacht. Natürlich — das muß ich gleich hinzufügen — spreche ich nicht für die israelische Regierung oder für israelische Intellektuelle oder für sonst jemanden; ich äußere nur meine eigene Ansicht. Aber es ist nicht nur meine Ansicht. Ich halte die Jerusalem-Frage für lösbar. Freilich nicht auf so einfache Weise, wie es von König Hussein und anderen arabischen Politikern tausendmal oder öfter gefordert worden ist: „Gebt das arabische Jerusalem den Arabern zurück." Meiner Auffassung nach muß eine komplexe Formel gefunden werden, nach der einerseits die Einheit Jerusalems und sein Status als Hauptstadt Israels erhalten bleiben, andererseits aber ein — wie es scheint — grundlegendes Ziel der Araber und vielleicht aller Moslems erreicht wird, nämlich eine arabische territoriale Präsenz in der Altstadt von Jerusalem. Ich weiß nicht, ob es das Moslemviertel oder ein anderer Teil der Altstadt sein muß; ich bin ja am Verhandlungsprozeß nicht beteiligt. Nur eines möchte ich noch hinzufügen: Das Jerusalem-Problem ist nach meiner Einschätzung kein unüberwindliches Hindernis auf dem Weg zu einer Regelung; man kann damit fertig werden — allerdings nicht, indem man den Zustand vom 4. Juni 1967 wiederherstellt.

Wir kommen jetzt zu Ihrer „schmerzhaften" Frage: Was für ein Israel? Ich glaube, hier muß ich noch offener sein, als ich es bisher schon war. Jeder Versuch, von außen auf die Art der Gesetzgebung oder auf die soziale und ethnische Zusammensetzung des Staates Israel innerhalb der aus einer Friedensregelung hervorgehenden anerkannten Grenzen Einfluß zu nehmen, wäre moralisch unrecht, verspräche keinerlei Erfolg, würde in eine Sackgasse führen. Ganz unverblümt gesagt: Machen Sie sich keine Illusionen — das Rückkehrgesetz ist Herzstück Israels. Das bedeutet nicht — und hier unterliegen Sie einem weiteren schwerwiegenden Irrtum —, daß die sechzehn Millionen Juden, die es auf der ganzen Welt gibt, alle nach Israel kommen werden. Sie sind nicht gekommen, und sie werden nicht kommen. Aber das Rückkehrgesetz symbolisiert das Fundament, auf dem der Staat neu errichtet wurde. Es zu beseitigen, hieße dem Staat seine Würde, seine Selbstachtung, sein Wesen nehmen.

Ich möchte Sie an eine Tatsache erinnern, die Sie ebensogut wie ich kennen: über 65% der heutigen jüdischen Bevölkerung des Staates Israel sind Einwanderer oder Kinder von Einwanderern aus den Küstenländern Nordafrikas und den arabischen Konfrontationsstaaten bis hin zum Irak. Sie gehen von der falschen Annahme aus, Israel verändere sich nicht. Alle Gesellschaften verändern sich. Israel hat sich verändert, unabhängig davon, ob seine Führung diese Veränderung wünschte oder nicht. Die ethnische Zusammensetzung des Staates ist nicht mehr die gleiche wie 1948. Damals hatte er 650 000 Einwohner, von denen 9O°/o europäischer Herkunft waren. Heute sieht es ganz anders aus, und ich wage zu prophezeien, daß der von mir genannte Prozentsatz noch zunehmen wird. Aber das ist ein natürlicher Prozeß, der sich auf die Kultur und alle Institutionen auswirken wird. Verbeißen Sie sich nicht in das Rückkehrgesetz. Sie verwechseln Form und Inhalt. Sie verletzen die tiefsten Überzeugungen der Menschen, die diesen Staat geschaffen haben, wenn Sie das Recht beanspruchen, etwas an dem zu ändern, was diese Menschen als das eigentliche Wesen ihres Staates betrachten.

Die letzte Frage betrifft die Innenpolitik Israels und seine Fähigkeit, „große" Entscheidungen zu treffen. Idi stimme Ihrem Urteil über Ben Gurion zu. Er war eine überragende Gestalt, nicht nur für Israel, sondern auch in größerem Rahmen. Er hatte den Weitblick, im rechten Zeitpunkt den Staat zu schaffen, und er hatte nach 1967 (ich erinnere mich lebhaft daran, wie ich ihn 1968 interviewte) den Weitblick zu erklären: „Um Frieden zu bekommen, echten Frieden, kein papierenes Abkommen, sondern wirklichen Frieden — gebt alles zurück außer den Golanhöhen (wegen der Sicherheit) und Jerusalem." Aber Sie täuschen sich sehr, wenn Sie meinen, die Geschichte der Menschheit bestehe nur darin, daß alle fünfundzwanzig oder alle hundert Jahre ein Ben Gurion oder ein Mao Tse-tung erscheint (oder wen Sie sonst noch in das Pantheon großer Männer unserer Zeit aufnehmen wollen). Dies ist kein Konfliktstadium, in dem ein großer Mann historische Entscheidungen fällen könnte, ein kleinerer aber nicht. Vielleicht ist das Gegenteil der Fall. Vielleicht sind gerade die kleineren Männer, die jetzt beide Staaten führen, fähig, diesen Sprung zu machen — eben weil sie dem Empfinden der breiten Massen näher sind. Ben Gurion war seiner Zeit voraus. Er war ihr soweit voraus, daß er sein Volk mit Gewalt zu einem Wandel hätte zerren müssen. Politiker wie Rabin und Peres wissen viel genauer Bescheid über die wirkliche Stimmung des Volkes. Die Vorstellung, man müsse auf einen neuen Ben Gurion warten, ist falsch.

Lassen Sie mich den Gedanken auf Ägypten anwenden: Nasser war achtzehn Jahre lang an der Macht. Er herrschte wahrscheinlich uneingeschränkter als irgendein anderer arabischer Führer der Neuzeit. Und doch konnte er den „großen Sprung" nicht tun. Sadat, der erst wenige Jahre am Ruder ist, größeren Zwängen unterliegt und nicht das Charisma Nassers hat, konnte es — und er tut den Sprung.

In Ägypten trifft man auf die Meinung, das gegenwärtige politische System Israels sei zu unstabil, um die nötigen Schritte vorwärts zu tun. Das ist ganz falsch. Das israelische politische System mag unstabil erscheinen, aber es gehört zu den stabilsten Vielparteiensystemen, die es gibt. Die Reibungen zwischen Parteien und zwischen Fraktionen innerhalb von Parteien läßt man über deutlich festgelegte Grenzen nicht hinausgehen. In einer Demokra49 tie mit wirklicher Teilnahme der Bürger darf man charismatische Führerschaft nicht mit Ent-scheidurgfähigkeit verwechseln. Was zum Beispiel die Situation im März *) betrifft, so hätte ich an Rabins Stelle die gleiche Entscheidung wie er getroffen. Ich bin bestimmt kein Vertreter der „harten Linie". Am Schluß meines ersten Buches über Israel habe ich das gleiche gesagt wie hier und heute: Die Crux liegt darin, daß die palästinensische Dimension des Konflikts nicht gelöst worden ist. Aber verstehen Sie die Dinge richtig. Die israelische Entscheidung vom März bedeutet nicht mangelnde Konzessionsbereitschaft. Israel ist nur nicht zu weitreichenden Konzessionen bereit, wenn es dafür — in seiner Sicht — keine ausreichenden Gegenleistungen bekommt.

Signale auch von den Palästinensern Araber D.:

Herr Professor, Sie sprachen davon, daß man auf beiden Seiten die gleiche Logik anwenden müsse. Ich meine, Sie selbst haben das nicht getan. Sie sagten, die Israelis könnten keine Vorbedingungen für Verhandlungen annehmen, aber vorher sagten Sie, die Palästinenser müßten von Anfang an das israelische Gebilde anerkennen. Das halte ich für einen Widerspruch. Sodann sprachen Sie über Signale und deren Aufnahme. Ich denke, auch von den Palästinensern sind viele Signale gekommen. Sie sprachen von Arafats Rede und einer verpaßten Gelegenheit. Ich stimme Ihnen zu, es wurde eine Gelegenheit verpaßt — aber nicht so sehr von Arafat als vielmehr von den Israelis. Denn wie Sie wissen, brachte Arafats Rede in mehreren Punkten eine Bewegung zum Ausdruck —vielleicht eine kleine Bewegung, aber immerhin eine Bewegung. In einem Punkt — Sie mögen das für unbedeutend halten, aber vom palästinensischen Standpunkt ist es vielleicht ein großer Schritt vorwärts — ging er von der palästinensischen National-charta ab, indem er vom Recht aller heute in Palästina lebender Juden sprach, dort zu bleiben.

Brecher:

Aber nicht als politisches Gemeinwesen.

Araber D.:

Ja. Aber es ist schon ein Schritt vorwärts. Ein zweiter Punkt: Arafat spricht von dem weltlichen, demokratischen Volksstaat als ei-nem Traum. Nun, können denn nicht Traum und politische Realität irgendwie zusammen-wohnen? Denken Sie an die Teilung Deutschlands. In der westdeutschen Verfassung gibt es den Begriff der geeinten deutschen Nation; das bedeutet natürlich, daß der Name „Deutsche Demokratische Republik" verschwinden müßte. Trotzdem haben wir die Situation der Teilung. Eine letzte Bemerkung über Signale. Auf einer PLO-Tagung in Kairo am Juni 1974 wurde ausgiebig die Frage diskutiert, ob man in den von Israel geräumten Gebieten sogleich eine palästinensische Verwaltung errichten oder ob man bis zur vollständigen Befreiung Palästinas warten sollte. Die vorherrschende Auffassung war, auf der West Bank, in Gaza usw. eine palästinensische Verwaltung zu schaffen. Das ist ebenfalls wichtig.

Araber C.:

Nicht nur das. Wenn man die beiden Seiten während der letzten drei Jahre oder, sagen wir, seit 1973 vergleicht, so findet man auf israelischer Seite viel weniger Signale als auf arabischer Seite. Und das ist, glaube ich, nicht gut für die Israelis; irgendwann einmal müssen sie den Arabern entgegenkommen, denn diese können nicht auf unabsehbare Zeit immer nur Signale geben. Das einzige Signal, das wir bekamen, war meiner Meinung nach die Truppenverdünnung.

Brecher:

Ich bestehe nicht darauf, daß allein die Palästinenser Signale geben sollen. Es ist eine Art Pattsituation. Die Israelis brauchen ein Zeichen der Anerkennung, aber die Palästinenser sind vielleicht nicht in der Lage, es zu geben; umgekehrt brauchen die Palästinenser Signale, aber die Israelis sind vielleicht aufgrund ihrer eigenen Zwangslage nicht imstande, sie zu geben.

Araber D.:

Die Frage ist nur: Wer soll als erster ein Signal geben?

Brecher:

Beide gleichzeitig.

Araber D.:

Die Palästinenser haben unerfüllte Wünsche, aber keinen Boden, auf dem sie stehen könnten. Die Israelis haben ihren Staat, die Palästinenser haben keinen. Das ist der große Unterschied. Araber C.:

Noch etwas zur Frage der Signale. Die Schwierigkeit ist, daß es manchmal zwei gleichzeitige israelische Signale gibt, die sich gegenseitig aufheben. Ein Beispiel ist die am 5. Juni 1975 erfolgte Truppenverminderung in der Puffer-zone. In dem gleichen Augenblick, in dem sie von Rabin angekündigt wird, erklärt General Herzog, sie sei militärisch ohne Bedeutung: „Militärisch sind wir nach wie vor in sehr starker Position; mit unserer Kampfkraft hat das nichts zu tun." Es ist sehr leicht möglich, daß wir in diesem Fall nur die Botschaft von Herzog aufnehmen, aber nicht die von Rabin.

Es mag sein, daß diese Zweideutigkeit ein Gebot des Zeitabschnitts ist, den wir durchleben. Es ist eine Übergangsperiode im wahrsten Sinne des Wortes, in der alles durcheinander-geht. Vielleicht verlangen wir zuviel, wenn wir Klarheit verlangen, und vielleicht ist dies der Grund, weshalb Botschaften nicht aufgenommen werden. Es ist wohl eine Frage der Zeit; die Zukunft wird weniger Zweideutigkeit und mehr Klarheit bringen.

Araber A.:

Ich möchte Sie aufrichtig und dringend bitten, Ihren Plan eines Drusenstaates nicht publik zu machen. Die Errichtung von Staaten für Minderheiten wurde in der Geschichte immer von kolonialistischer, imperialistischer Seite vorgeschlagen. So war es im Libanon, wo Frankreich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einen Staat für die Maroniten schaffen wollte. Ihr Vorschlag würde als ein kolonialistisches Modell aufgefaßt werden; er würde mehr Schaden als Nutzen stiften. Meiner Ansicht nach gäbe es für die Golanhöhen andere Lösungen — eine Pufferzone, UN-Truppen usw.

Sie haben sehr richtig darauf hingewiesen, daß dem Rückzug der israelischen Streitkräfte vom Sinai nicht notwendig die Wiederherstellung einer ägyptischen militärischen Präsenz folgen muß. Solche Ideen hat auch Sadat; er hat sich einmal in diesem Sinne geäußert. Er sagte: „Es ist möglich, daß Scharm-el-Scheich in Zukunft einmal einer ägyptischen Zivilverwaltung und einer Art Waffenstillstandskommission oder UN-Truppen unterstehen wird." Er spielt also offenbar mit solchen Gedanken. Eine ähnliche Regelung wäre meiner Ansicht nach für den Golankamm denkbar: entweder eine UN-Verwaltung oder eine syrische Zivilverwaltung mit UN-Truppen, die nur auf Anweisung des Sicherheitsrates abgezogen werden dürften.

Was ich über das Rückkehrgesetz sagte, brachte wirklich eine kollektive Befürchtung zum Ausdruck. Wie viele Menschen in der arabischen Welt haben solche Empfindungen? Ich erwähnte den ägyptischen Außenminister, der darauf eingegangen ist. Das war ein Beispiel; man könnte noch andere nennen. Ich habe nicht die Absicht, mich in die innere Ordnung oder den inneren Aufbau anderer Länder einzumischen, solange ich ihre Rechtmäßigkeit anerkenne. Ich meine jedoch, als Intellektueller muß man auf Dinge hinweisen, die dem Frieden schädlich sein könnten.

Lassen Sie mich darlegen, wie die klassische arabische Logik an das Rückkehrgesetz herangeht. Auf der Welt gibt es achtzehn oder sechzehn Millionen Juden. Diese können zu jedem beliebigen Zeitpunkt einwandern — die theoretische Möglichkeit besteht. Das Stück Land, das Israel jetzt besetzt hält, wird nicht mehr genügen. Dann wird in Israel ein Drang nach Ausdehnung entstehen. Nun haben Sie argumentiert, es würden nicht alle Juden nach Israel einwandern. Wenn das auch die israelische Führung klar zum Ausdruck brächte, könnte sie die Befürchtungen hier bei uns verringern. Israel müßte klarstellen, wie es einige sehr eigentümliche Aspekte seiner inneren Ordnung auffaßt; dazu gehört das Rückkehrgesetz.

Brecher:

Ich verstehe, worauf sie hinauswollen. Ich weiß, welches Szenarium einige arabische Intellektuelle aus diesen Prämissen entwickeln, aber ich bin fest überzeugt, daß es nichts weiter ist als eben ein Szenarium. Auf dem langen und, wie ich fürchte, schmerzvollen Weg der Versöhnung, die konvmen wird, gibt es, wie mir scheint, mehrere „Allerheiligste" — um einen in Luxor immer wieder gehörten Ausdruck zu verwenden. Jeder Tempel hat ein „Allerheiligstes". Sie müssen verstehen: Ein „Allerheiligstes" für Israel als Staat und Gesellschaft ist das Prinzip, daß Israel als einziger Judenstaat jedem Juden, der — aus welchen Gründen immer — den Wunsch oder das Verlangen nach Einwanderung hat, die theoretische Möglichkeit hierzu bieten muß. Aufgrund der historischen Erfahrungen dieses Volkes und aufgrund der mit dem Staatswesen verbundenen Konzeption von Judaismus und Judentum ist dies wirklich ein „Allerheiligstes". Aber ich lasse Ihre theoretischen Implikationen gelten. Araber A.:

Wie steht es mit dem Drusenstaat?

Brecher:

Ich will mich auf diese Idee nicht versteifen; überhaupt nicht auf eine bestimmte Formel. Ich habe die Sache nur zur Sprache gebracht, um zu illustrieren, daß man irgendwie mit dem echten Sicherheitsproblem fertig werden muß, das die Golanhöhen darstellen und daß meiner Ansicht nach viel schwieriger ist als das Problem Scharm-el-Scheich. Hier machen Sie nämlich, glaube ich, abermals einen Fehler. Manche arabische Intellektuelle, die sich mit dem Konflikt befassen, behandeln alle seine Probleme als gleich schwierig. Nun wissen Sie aber sehr gut, daß das historische Verhältnis zwischen Israel und Syrien, was den Grad der Spannung und Feindseligkeit anlangt, qualitativ anders ist als das Verhältnis zwischen Israel und Ägypten. Eine Lösung von der Art, wie sie für Scharm-el-Scheich in Frage käme, könnte mithin für die Golanhöhen ganz unmöglich sein.

Arabische Souveränität in den entmilitarisierten Zonen?

Araber B.:

Für die Araber ist wohl die territoriale Frage von gleichem Gewicht. Es geht dabei nicht so sehr um Grenzberichtigungen — arabische Staatsmänner haben ihre Bereitschaft zu kleineren Berichtigungen bekundet. Es geht auch nicht um bestimmte Regelungen für bestimmte Gebiete, wie etwa entmilitarisierte Zonen, eine UN-Präsenz, eine Präsenz der Großmächte und dergleichen. Ägypten und andere Konfrontationsstaaten haben viele Vorschläge gemacht. Das Entscheidende ist aber die Frage der Souveränität. Und die ist den Arabern mindestens so heilig wie das Rückkehrgesetz den Israelis. Deshalb bin ich etwas enttäuscht von dem, was Sie über den Golankamm und über Scharm-el-Scheich als Vorposten und schließlich sogar über Bab-el-Mandeb sagten. Eine israelische Präsenz kann es dort einfach nicht geben. In unserer Zeit, wo die Waffen-technik so hoch entwickelt ist, kann doch ein Höhenkamm, ein Wassergraben, eine Grenze in 5 oder 20 Kilometer Entfernung nicht von so großer Bedeutung sein. Sie sprachen von hypothetischen palästinensischen Raketen, die aus 9 Kilometer Entfernung auf israelische Ziele gerichtet werden könnten — ja, aber Sie können hypothetische Raketen auch von Kairo und sogar von Tripolis aus auf diese Ziele richten. Ein Gebietsaustausch kann nicht Teil einer Friedensregelung sein, oder aber Sie bekommen einen Friedensschluß wie den von Versailles, der den Keim eines neuen Krieges in sich trägt.

Brecher:

Ich glaube, Sie haben mich mißverstanden. Wenn ich von gemeinsamen Patrouillen spreche, dann ist das nur eine von vielleicht zehn verschiedenen Formeln, die ich mir vorstellen könnte. Aber die Unterhändler müssen Lösungen finden, die dem Souveränitätsbedürfnis und dem Sicherheitsbedürfnis gleicherweise Rechnung tragen. Das — und nur das — wollte ich sagen. Wir müssen erkennen, daß die Entwicklung von der Feindschaft zur Verständigung in mehreren Etappen vor sich geht. Der erste Schritt führt vom offenen Krieg zur — wie ich es nenne — feindlichen Koexistenz, dann geht es allmählich weiter zur friedlichen Koexistenz, und am Ende steht die Zusammenarbeit. Wie lange jede dieser Etappen dauern wird, läßt sich nicht genau voraussagen, weil man nicht recht weiß, wie sich die Parteien verhalten werden, wenn das offizielle Stück Papier erst einmal unterschrieben ist. Ich kann hier kein detailliertes Szenarium entwerfen. Aber mir liegt daran, Ihnen deutlich zu machen, daß viele Israelis, die ich kenne, bei dem Wort „Frieden" nicht bloß und nicht einmal in erster Linie an ein Stück Papier denken. Ein Stück Papier ist ein formales Symbol; dahinter muß Inhalt und Sinn stehen. Faßt man den Friedensschluß nur als formalen Akt der Anerkennung auf, nach dem der Krieg eine Generation lang weitergehen oder die tiefe Kluft zwischen den Parteien fortbestehen kann, so läßt dies für die Zukunft nichts Gutes erwarten. Natürlich kann nicht über Nacht alles anders werden. Aber viele Menschen auf der anderen Seite machen sich Gedanken über diese Dinge, und sie fragen nicht einfach, ob man vielleicht nach einem weiteren Waffengang zu einem Friedensvertrag kommen könnte. Vielmehr sehen sie einen Friedensvertrag als eine Station auf dem Weg zu jener Art von Verständigung, wie sie zwischen Frankreich und Deutschland nach acht Jahrhunderten des Konflikts erreicht worden ist. Wir hoffen, daß es hier bei uns keine acht Jahrhunderte dauern wird.

Araber C.:

Das Verhältnis Frankreich—Deutschland ist in dieser Hinsicht interessant. 1945 waren Haß und Mißtrauen riesengroß. Dann kamen die NATO, die Römischen Verträge, der Gemeinsame Markt, die Europäische Gemeinschaft mit ihren verschiedenen Organen. . . Der Wandel vollzog sich in weniger als einer Generation, die Aussöhnung ging sehr rasch vonstatten.

Araber B.:

Man hört häufig die Forderung, es müsse zum Touristenaustausch kommen, Frau Meir müsse den Chan-el-Chalili aufsuchen können (sie wäre sicher gut im Feilschen), und so fort. Wir haben manchmal den Eindrude, daß solche unerfüllbaren Forderungen nur aufgestellt werden, um die Dinge zu erschweren. Aber sehen Sie sich Resolution 242 an, die von sehr vielen Israelis geringgeschätzt wird. Sie sieht Freiheit der Seefahrt sofort nach der Friedensregelung vor. In dem Augenblick, in dem die Kriegführung für beendet erklärt wird, erhält Israel das Recht, den Suezkanal zu durchfahren. Was bedeutet die Durchfahrt durch den Kanal? Sie bedeutet, daß ein israelisches Schiff mit israelischer Flagge ägyptisches Territorium durchquert. Sie bedeutet, daß ein ägyptischer Lotse an Bord des Schiffes geht. Sie bedeutet, daß der Schiffseigner Kanalbenutzungsgebühren bei einer Bank einzahlt. Das sind eine Menge Beziehungen. Die Schiffe werden Ankerrechte brauchen; sie werden alle möglichen Dienstleistungen brauchen. Ich will sagen: Wenn man uns mitten im Krieg mit der Forderung nach Touristenaustausch kommt, dann scheint man die Lage absichtlich komplizieren zu wollen.

Brecher:

Darf ich gleich darauf antworten? Es scheint mir wichtig. Wir müssen unterscheiden zwischen Nebensächlichkeiten, wozu ich einen Einkaufsbummel durch die Basare Kairos rechne, und der realen Substanz von Beziehungen nach der Unterzeichnung eines Stücks Papier. Ich meine, Sie sollten diese Dinge nicht unterschätzen — und ich will Ihnen sagen, warum. Die Herstellung wirklicher Beziehungen bald nach einem Friedensvertrag ist in israelischer Sicht ein wesentliches Kriterium dafür, ob dieses Stück Papier einen Sinn hat. Wenn die Israelis von normalen Beziehungen bald nach einem Friedensschluß sprechen — sie haben ja schließlich normale Beziehungen mit hundert Ländern —, dann meinen sie folgendes: Ob die arabische Unterschrift unter ein Stück Papier wirklich ernst gemeint ist, läßt sich daran ermessen, wie lange die Herstellung einigermaßen normaler arabisch-israelischer Beziehungen dauert und wie intensiv diese normalen Beziehungen sein werden. Sie mögen sagen, das können die Araber nicht akzeptieren, und vielleicht haben Sie recht. Aber Sie müssen hinnehmen, daß die Israelis im Lichte der vergangenen 27 Jahre immer skeptischer über die Ernsthaftigkeit arabischer Zusicherungen denken, je länger es dauert. Das ist eine Wechselwirkung.

e Zur Illustration ein Beispiel. Kürzlich ‘ hat Ägypten bekanntgegeben, daß israelische Frachten auf Schiffen unter anderer Flagge, die von israelischen Häfen kommen oder nach israelischen Häfen gehen, den Kanal nicht passieren dürfen. Meines Wissens (und ich habe das sehr sorgfältig nachgeprüft) steht das im Widerspruch zu einer grundsätzlichen Zusage, die von der ägyptischen Seite bei der Unterzeichnung des ersten Entflechtungsabkommens gemacht wurde. Warum erwähne ich das? Wenn man bei den ersten Schritten auf dem Weg zur Verständigung, in einer Atmosphäre tiefen Mißtrauens, eine solche Abmachung nicht einhält, so bewirkt man, daß die Gegenseite sich fragt: Was nützen all diese Vereinbarungen, wenn der verantwortliche Führer der Gegenpartei morgen sterben oder abtreten kann und dann niemand mehr da ist, der die getroffenen Abreden bestätigt und nach ihnen handelt?

Noch etwas anderes. Wie alle hier am Tisch habe ich die März-Verhandlungen und ihr Scheitern sehr genau studiert. Meiner Über-zeugung nach bieten sie das klassische Beispiel einer dreifachen Fehleinschätzung in der modernen internationalen Politik. Die Verhandlungen scheiterten hauptsächlich deswegen, weil alle drei Parteien sich über die Grenzen täuschten, bis zu denen die anderen Parteien gehen konnten.

Kissingers Mission — zum Scheitern verurteilt!

Ich nehme an, Präsident Sadat und seine Ratgeber sagten sich: „Wir haben hundertmal klargemacht, daß wir eine förmliche öffentliche Erklärung der Nichtkriegführung nicht abgeben können. Die Israelis haben es gehört. Dr. Kissinger hat es gehört. Und doch kommt der amerikanische Außenminister und unternimmt diesen diplomatischen Pendelverkehr. Er muß aus unseren Erklärungen wissen, daß dieser Punkt für uns nicht zur Verhandlung steht; trotzdem kommt er. Folglich ist er sich darüber im klaren, daß unsere Konzessionsbereitschaft hier ihre Grenze hat." Die Israelis sagten sich: „Wir haben hundertmal verkündet, daß wir nicht auf einen Schlag strategisch wichtige Pässe und Ölfelder zurückgeben und uns damit allen möglichen strategischen und wirtschaftlichen Gefahrn aussetzen können, ohne daß die Ägypter eine ernsthafte, öffentliche Erklärung der Nichtkriegführung abgeben, die unserem Volk das Gefühl gibt, daß wir uns rasch in Richtung auf einen förmlichen Friedensvertrag bewegen. Wir haben das den Ägyptern gesagt. Wir haben es dem amerikanischen Außenminister gesagt. Und doch kommt er. Er muß also wissen, daß dies ein Punkt ist, über den wir nicht hinausgehen können."

Dr. Kissinger sagte sich: „Es stimmt, Präsident Sadat und Ministerpräsident Rabin haben das gesagt, aber sie haben mich in den Nahen Osten eingeladen. Und ich kenne das Spiel der internationalen Politik: Die Parteien sagen zwar bestimmte Dinge, aber es gibt immer einen kleinen Spielraum, ein bißchen Ballast, der abgeworfen werden kann. Ich kann also erwarten, daß Präsident Sadat ein wenig nachgibt, und ich kann erwarten, daß die Israelis ein wenig nachgeben. Ich unternehme die Reise in der Annahme, daß die Parteien zwar öffentlich bestimmte Standpunkte vertreten, daß aber ihre wirklichen Verhandlungspositionen flexibler sind."

Also kommt der Außenminister in den Nahen Osten. Und was entdeckt er da? Er stellt fest, daß Sadat wirklich meint, was er sagt — und daß die Israelis wirklich meinen, was sie sagen. Infolgedessen gerät er in die peinliche Lage, mit seiner Mission öffentlich Schiffbruch zu erleiden — und das erklärt viel von seiner Gereiztheit. Mit all dem will ich sagen: Diese Verhandlungen waren zum Scheitern verurteilt, ehe Dr. Kissinger aus Washington abreiste.

Es wird allgemein angenommen, Israel habe den letzten Vorschlag Sadats und Kissingers im März 1975 deshalb abgelehnt, weil Präsident Sadat nicht bereit war, eine Erklärung der Nichtkriegführung abzugeben. Meiner Einschätzung nach war das nicht der Grund des Scheiterns. Der Grund war, daß nach israelischer Auffassung Leistung und Gegenleistung in keinem angemessenen Verhältnis standen. Für die Rückgabe der Pässe und der Ölfelder an Ägypten wurde angeboten, 5 von 300 Firmen aus der arabischen Boykottliste zu streichen, die internationale Propaganda gegen Israel zu mildern und die Konfrontation in internationalen Organisationen allmählich zu vermindern. Und äußerst wichtig war auch die Frage, wie dauerhaft das Abkommen sein werde. Hier kommen wir wieder zum Phänomen des Mißtrauens. Wie Sie wissen, ging man zwischen 1957 und 1967 davon aus, daß die UN-Streitmacht nicht ohne Zustimmung der Vollversammlung abgezogen werden dürfe. Aber 1967 wurde sie plötzlich abgezogen. Menschen, die politische Entscheidungen treffen müssen, sind Gefangene ihrer Vergangenheit. Die israelischen Politiker hatten die Ereignisse von 1967 vor Augen, wenn sie an die Zukunft dachten. Daß die Erklärung der Nichtkriegführung ausblieb, war nicht das Entscheidende. Ausschlaggebend war die Überzeugung, daß die ägyptischen Gesten, die die Bereitschaft zu einer Friedensregelung bekunden sollten, zu geringfügig waren; sie rechtfertigen weder für die Regierung noch für die Öffentlichkeit ein so substantielles Zugeständnis wie die Übergabe der Pässe und der Ölfelder.

Araber B.:

Ich schließe die Diskussion und darf mir selbst das Schlußwort geben. Im März 1975 hatten einige von uns hier das Gefühl, Sadat sei bei seinem letzten Treffen mit Kissinger in Assuan zu weit gegangen. Viele von uns waren erleichtert, daß die letzten ägyptischen Vorschläge nicht, angenommen wurden. Wir haben auch gehört, daß diese Vorschläge Frau Meir vorgelegt worden sind, die weiß Gott keine Taube ist, und sie soll gesagt haben, wenn sie noch Ministerpräsidentin wäre, hätte sie sie angenommen.

Ich möchte eines hinzufügen: Sie sagten, Territorium sei für Israel nicht wichtig, nur Sicherheit. Nun, das ist ja für uns sehr schön. Ich kann Ihnen versprechen: Wenn eine Lösung für Scharm-el-Scheich und danach für Sinai gefunden wird, die die Souveränität Ägyptens über diese Gebiete wiederherstellt, auch wenn es sie nicht für militärische Zwecke nutzen darf — die Form der Kontrolle ist gleichgültig: Amerikaner, Russen, die UN, die ganze Welt —, wenn also eine solche Lösung gefunden wird, dann wird sie, so meine ich, akzeptiert werden. Und ich glaube auch, daß die Syrer eine entsprechende Lösung für den Gebirgskamm akzeptieren würden.

Zur Anerkennung Israels: Wenn Sie eine Äußerung von jemandem wie dem König Chaled bekommen — er hat gesagt, er sei dafür —, so ist das ein Schritt, der vielleicht nicht richtig verstanden wird, denn Chaled ist Chaled und nicht Arafat. Ich glaube, Begin und Arafat haben mehr miteinander gemein als ich mit beiden. Sie sprachen vom „Allerheiligsten“. Ich fürchte, in letzter Zeit — und besonders seit 1967 — sind eine Menge „Allerheiligste" geschaffen worden. Sie fragten uns zu Beginn, ob das Jahr 1973 einen Wendepunkt in den Einstellungen im Nahen Osten darstelle. Ich möchte Ihnen eine Frage stellen, deren Beantwortung für uns vieles klären könnte: Meinen Sie, daß der Krieg von 1967 einen Wendepunkt für viele israelische Einstellungen bedeutete? Es stimmt, seit 1967 sprechen wir mehr über die Al-Aksa-Moschee (in Jerusalem; d. Red.) als vorher. Es stimmt aber auch, daß auf israelischer Seite viele, viele Dinge zum „Allerheiligsten" geworden sind — die Mauer (in Jerusalem; die Red.) und die Moschee Abrahams (in Hebron; die Red.) beispielsweise. „Allerheiligste" (Güter; die Red.) können jederzeit geschaffen werden. Und auf der West Bank ...

Brecher:

Das einzige „Allerheiligste", das ich ausdrücklich nannte, war das Rückkehrgesetz.

Araber B.:

Einverstanden. Auch dazu möchte ich etwas bemerken. Fahmi sagte in jener Erklärung etwas über das Rückkehrgesetz, und er wurde dafür von mehreren Leuten hier kritisiert, auch von mir. Meiner Meinung nach sagte er es, weil er gerade eine sehr verletzende Äußerung von israelischer Seite gehört hatte und etwas ähnlich Verletzendes erwidern wollte. Es ist das einzige Mal, daß Fahmi das Rückkehrgesetz und dergleichen Dinge erwähnt hat. Es ging nur darum, etwas ebenso Scharfes zu sagen wie unmittelbar zuvor die Gegenseite. Das erklärt Fahrnis Verhalten.

Daß es Mißverständnisse und Mißtrauen gibt, ist natürlich und menschlich. Ich könnte es verstehen, wenn die Israelis nicht vor dem Beginn von Verhandlungen ihre Bereitschaft kundtun wollten, sich unter bestimmten Bedingungen aus allen 1967 eroberten Gebieten zurückzuziehen. Was ich aber nicht verstehe, ist, daß sie viel weiter gehen und schon vor Verhandlungsbeginn sagen: „Nein, dies ist kein Verhandlungsgegenstand, da gibt es keinen Rückzug." Ich meine, das sollten sie den Verhandlungen überlassen; das würde ich als normal akzeptieren. Daß sie aber von vornherein sagen: „Hier gibt es nichts zu verhandeln", das erhöht das Mißtrauen.

Brecher:

Lassen Sie mich nur noch eines sagen: Ich glaube fest daran, daß aus israelischer Sicht alle nach dem Krieg von 1967 entstandenen Streitfragen Verhandlungsgegenstand sein können, wenn es erst einmal zu Verhandlungen gekommen ist. Sie müssen die israelischen Äußerungen in ihrer Gesamtheit nehmen, dann ist, denke ich, der Tenor klar. Der Tenor ist: Gebietsfragen sind keineswegs das Entscheidende. Territorien waren und sind für die Israelis ein Tauschobjekt, um das Ziel der Sicherheit zu erreichen. Ich habe schon an anderer Stelle in Kairo betont und kann es auch Ihnen gegenüber nicht genug betonen: Die Sicherheitsfrage ist der Angelpunkt, um den sich alles dreht. Sie ist so beherrschend, daß jede Diskussion über eine arabisch-israelische Friedensregelung von ihr ausgehen muß. (Übersetzer: Karl Römer)

Fussnoten

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Michael Brecher lebt seit 1969 in Jerusalem. Er war viele Jahre lang Professor für politische Wissenschaften an der McGill-Universität in Montreal, Kanada. Von 1970 bis 1974 bekleidete er eine Gastprofessur für internationale Beziehungen an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Für sein Werk „The Foreign Policy System of Israel" erhielt er 1972 den Woodrow-Wilson-Preis, mit dem die American Political Science Association jährlich das beste in den USA erschienene Buch über Politik, Staatslehre und internationale Fragen auszeichnet. Der thematisch anschließende Band „Decisions in Israel's Foreign Policy" erschien Anfang 1975.