Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Stalinismus | APuZ 4/1977 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 4/1977 Artikel 1 Vorbemerkung Artikel 3 Stalinismus Die Auswirkungen eines Parteitages. Vom XX. zum XXII. Parteitag der KPdSU

Stalinismus

Hermann Weber

/ 33 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Stalinismus, ein neuartiges politisches und gesellschaftliches System kommunistischer Macht, war eine Willkürherrschaft mit despotischer Gewalt der Führung. Während im vorstalinistischen Kommunismus die bolschewistische Gewaltanwendung (vor allem im Bürgerkrieg) dem überleben des Regimes galt, war der Stalinismus Gewalt par excellence. Die Gegensätze zwischen der russischen Realität und den Zielen des Bolschewismus bereiteten die Machtübernahme Stalins (und seiner Fraktion) vor. Nach der Festigung der Herrschaft Stalins (ab 1929) wurden Gewalt und Terror wesentliche Stützen des Regimes, zunächst vor allem gegenüber Bauern und Arbeitern, mit der großen Säuberung 1934— 1938 auch gegenüber der kommunistischen Elite. Die Säuberung, der die Mehrzahl der kommunistischen Führer aus der Lenin-Ära und Hunderttausende Parteimitglieder zum Opfer fielen, schuf die Grundlage eines neuen Systems und schaltete zugleich jede potentielle Opposition aus. Ein zweiter Aspekt der Gewalt in der Stalin-Ära war die rasche Industrialisierung des rückständigen Rußland. Allerdings boten weder die „Notwendigkeit" der Industrialisierung noch der Druck von außen eine hinreichende Begründung für die Gewalt; der Terror war eher Signal für die neue Herrschaft der Apparate über die Massen.

In den zwanziger Jahren entwickelte sich in der Sowjetunion ein neuartiges politisches und gesellschaftliches System, das wesentlich von Joseph W. Stalin geprägt wurde und das daher mit „Stalinismus" zutreffend definiert ist

Die bolschewistische Oktolerrevolution hatte 1917 in Rußland eine radikale Umwälzung der bestehenden Ordnung gebracht: Dip Eigentumsverhältnisse waren durch weitgehende Verstaatlichung verändert, die politische Macht lag bald ausschließlich bei der Kommunistischen Partei. Das Ziel der Revolution, eine neue soziale Ordnung ohne Klassen und Privilegien aufzubauen, wurde nicht erreicht, wohl nicht zuletzt, weil die Revolution isoliert blieb und Rußland wirtschaftlich und kulturell zurückgeblieben war. Eine bürokratische Funktionärsherrschaft verfestigte sich nach Lenins Tod (1924) und gipfelte schließlich in der Herrschaft Stalins.

Der Stalinismus ging zwar aus dem Leninismus hervor, er bedeutete gleichwohl aber die Negierung vieler Prinzipien des Kommunismus. Auch wenn die Entartung des revolutionären Sowjetregimes zum Stalinschen Polizeistaat bereits in der Lenin-Ära wurzelte, entwickelte sich unter Stalin doch eine durchaus eigenständige neue gesellschaftliche und politische Ordnung.

Werner Hofmann definierte den Stalinismus als „exzessiv machtorientierte Ordnung der Innen-und Außenpolitik einer Gesellschaft des erklärten Überganges zum Sozialismus" Der Stalinismus ist m. E. allgemeiner als die Herrschaft der Apparate, der Bürokratie zu kennzeichnen. Auf der Grundlage der revolutionären Veränderungen (Staatseigentum an Produktionsmitteln, Planwirtschaft, Macht der Kommunistischen Partei) bestimmten die Führung und der Apparat (d. h. die hauptamtlichen Angestellten in Partei, Verwaltung, Wirtschaft, Massenorganisationen und Kommunikationsmitteln, das Offizierskorps der Armee und die Geheimpolizei) als politisch und materiell privilegierte Oberschicht. über Arbeiter, Bauern und Intelligenz.

Die politische Form des Stalinismus war die kommunistische Einparteienherrschaft; bei völliger Ausschaltung der innerparteilichen Demokratie lag die gesellschaftliche und politische Entscheidungsgewalt und damit die Macht in den Händen der hierarchisch strukturierten Parteispitze. Die Volksvertretungen (Sowjets) wurden nicht von der Bevölkerung, sondern von der Partei eingesetzt und übten lediglich Scheinfunktionen aus. Die Partei beherrschte auch die Staatsverwaltung, die Justiz und die Massenorganisationen, die straff zentralistisch aufgebaut wurden; sie verfügte über das Monopol der Meinungsbildung. Weitere Kennzeichen des Stalinismus waren das Fehlen jeder politischen Freiheit und Diskussion in Gesellschaft, Staat und Partei, die Beherrschüng des öffentlichen Lebens und terroristische „Säuberungen" durch die politische Geheimpolizei, Militarisierung und Reglementierung aller Lebensbereiche, Ausschaltung der Grundrechte des Bürgers, chauvinistische Unterdrückung der nichtrussischen Nationalitäten der UdSSR, schließlich eine dogmatische Ideologie („Marxismus-Leninismus"), die die Herrschaft der Apparate verschleiern und absichern sollte und im Personenkult um Stalin gipfelte. Als soziale Merkmale des Stalinismus sind zu nennen: eine starke soziale Differenzierung der Gesellschaft, die Beherrschung der zentralistisch geplanten, verstaatlichten bzw. kollektivierten Wirtschaft durch den Apparat, eine materielle Privilegierung der bürokratischen Oberschicht, das Fehlen jeder ernsthaften Mitbestimmung der Arbeiter und Bauern in der Wirtschaft und im Betrieb, die völlige Unterordnung der Gewerkschaften unter den Löhne und Normen festsetzenden Staat, die Ein-Mann-Leitung in Betrieb und Gesamtwirtschaft.

Die Machtausübung im Stalinismus stellte eine politische Willkürherrschaft dar; die despotische Gewalt der Führung war in der Realität weder durch Gesetze noch durch Institutionen beschränkt. Mit ihrem Hinweis auf die „Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit" lieferten Chruschtschow und andere kommunistische Parteiführer auf dem XX. und insbesonders dem XXII. Parteitag der KPdSU Informationen über das Ausmaß der Brutalitäten in der Stalin-Ära. Auch wenn bei weitem nicht das ganze Ausmaß des Terrors dieser Periode der Sowjetunion enthüllt wurde, vermittelte Chruschtschow einen Einblick in das Machtsystem: Der Stalinismus war Gewalt par excellence, und zwar Gewalt in der barbarischsten Form des Terrors. Kein Geringerer als der Chef des sowjetischen Sicherheitsdienstes nach 1956, Schelepin, sagte auf dem XXII. Parteitag der KPdSU 1961 über die Verantwortlichen der Massaker in der Stalin-Zeit: „Manchmal kommt einem der Gedanke: Wie können diese Menschen überhaupt ruhig über die Erde gehen und ruhig schlafen? Alpträume müßten sie verfolgen, sie müßten das Schluchzen und die Flüche der Mütter, Frauen und Kinder der unschuldig ums Leben gekommenen Genossen hören."

Doch auch diese bemerkenswerten Worte des ehemaligen Leiters der politischen Polizei und die Kenntnis des grauenhaften Terrors der Stalin-Ära sind nur ein Aspekt — wenn auch sicherlich der wichtigste —, der eine nähere Untersuchung der Bedeutung der Gewalt im Stalinismus nicht überflüssig macht.

Die Rolle der Gewalt im vorstalinistischen Bolschewismus

Als das bolschewistische Zentralkomitee am 23. Oktober 1917 (dem 10. Oktober alten Kalenders) erklärte, daß der „bewaffnete Aufstand auf die Tagesordnung gestellt" sei begann ein neuer Abschnitt der russischen Geschichte — und er begann mit Gewalt. Allerdings war sie — sowohl, was die militärische Unterdrückung als auch die revolutionäre Gesetzgebung angeht — zunächst ausschließlich gegen die konterrevolutionären Kräfte gerichtet. Die Bolschewiki waren ja durchaus keine „verschwindende Minderheit", die sich nur auf ihren Fanatismus und auf Machtmißbrauch stützen konnte. Durch ihre Politik zwischen Februar und Oktober 1917 hatten sie einen solch gewichtigen Einfluß auf die Arbeiterschaft und Kreise der armen Bauern gewonnen, daß Diktatur über die Mehrheit zunächst keineswegs zu erwarten war.

Rußland war als rückständiges Land durch den Weltkrieg besonders in Mitleidenschaft gezogen worden und 1917 total erschöpft. Obwohl der Sturz des Zarismus hauptsächlich durch die Kriegsmüdigkeit der Massen bedingt gewesen war, führte die Provisorische Regierung an der Seite der Entente den Krieg gegen Deutschland weiter. Nach den Niederlagen an der Front im Juli 1917 wuchs allerdings der Einfluß der Bolschewiki sprunghaft, da sie als einzige bedeutende Partei den sofortigen Frieden forderten und ihn für den Fall versprachen, daß sie die Macht erlangten. Diese im Vordergrund der Agitation stehende Friedensparole trug wesentlich zum Sieg der Bolschewiki bei. Nicht weniger gefördert wurde ihr Aufstieg durch die Übernahme der sozialrevolutionären Losung, den Boden zu nationalisieren und das Land der Großgrundbesitzer aufzuteilen.

Ihre radikalen Losungen „Alle Macht den Sowjets", Herrschaft der Arbeiter, Arbeiterkontrolle in den Betrieben und Übergang zum Sozialismus im Rahmen der Weltrevolution brachten den Bolschewiki schließlich zwischen Februar und Oktober 1917 die Mehrheit der russischen Arbeiter. Bei den Wahlen zur (von den Bolschewiki später aufgelösten) Konstituante Ende 1917 erhielten sie zwar insgesamt nur 25 0/0 der Stimmen, errangen aber im Zentralindustriegebiet 44 °/o, im nördlichen und westlichen Gebiet 40 % und bei der Armee an der Westfront 68 °/o Ihren größten Rückhalt hatten die Bolschewiki dabei gerade in den Arbeiterbezirken: Im Gouvernement Petrograd entschieden sich 50 °/o, in Moskau 56 °/o, in Livland 72 °/o, in Twer 54 °/o, in Wladimir 56 0/0 der Wahlberechtigten für sie. Die taktische Richtigkeit der Leninschen Politik allein hatte nicht genügt; das Instrument der Machtergreifung war die Bolschewistische Partei gewesen, die sich auch als stark und geschlossen genug erwies, die Macht zu halten. Ihre Bedeutung bei der Lenkung und Revolutionierung war erheblich, auch wenn in späteren Verherrlichungen ihre Rolle stark übertrieben wurde. Es war der ungestüme Wille der Massen nach Veränderung, der letztlich zur Revolution führte, aber es war die Partei, die ihn ausnutzte und ihm die Richtung gab.

Die ersten Gesetze der neuen Regierung waren Eingriffe in die Rechte der Besitzenden und damit Akte der „Gewalt": Der Boden wurde den Bauern, die ihn inzwischen meist durch direkte Aktionen in Besitz genommen hatten, auch offiziell zugestanden; in den Betrieben proklamierte man die „Arbeiterkontrolle", d. h. die Mitbestimmung der Arbeiter; alle „ständischen Vorrechte und Beschränkungen" wurden aufgehoben; das Bankengeschäft wurde zum Staatsmonopol erklärt. Diese Form der Eingriffe und damit der Gewaltanwendung durch ein revolutionäres Regime war in der Geschichte nichts Ungewöhnliches. Neu war jedoch die Art, wie die Beschlüsse gegen die Besitzenden durchgesetzt wurden: Das neue Regime stütze sich dabei direkt auf die untersten Schichten der Bevölkerung, die dadurch in den ersten Monaten an der Macht teilhatten. So kam es, daß die Revolution bald weiter ging, als beabsichtigt war. Die Zielsetzung der Bolschewiki unter Lenin und Trotzki war der Sozialismus, doch hatten sie natürlich nicht die utopische Vorstellung, im rückständigen Agrarland Rußland diesen Sozialismus nun sofort verwirklichen zu können. Nur im Rahmen der Weltrevolution und erst im Gefolge der Überwindung der russischen Rückständigkeit glaubten sie die neue Gesellschaft errichten zu können.

Das war die allgemeine Linie der bolschewistischen Politik nach der Revolution, die zwar noch keine sofortige Sozialisierung bringen, wohl aber die Richtung einer sozialistischen Transformation einschlagen sollte. Die Revolution ging in ihrem weiteren Verlauf jedoch über diesen Ansatz hinaus. Es blieb nicht bei der Arbeiterkontrolle, sondern es kam zur Nationalisierung der Industrie. „Denn die bewaffneten, über ihren Sieg begeisterten Arbeiter waren in den Schranken einer solch maßvollen Reform nicht zu halten. Sondern sie jagten überall die Unternehmer fort und bemächtigten sich der Betriebe."

Auch der Staat unter Führung der Kommunistischen Partei bediente sich schließlich der Nationalisierung, um den ständigen Niedergang der Produktion aufzuhalten War bis Mai 1918 noch kein ganzer Industriezweig nationalisiert; gewesen, so wurden durch Dekret vom Juni 1918 alle Großbetriebe mit über 1 Million Rubel Kapital verstaatlicht; im November 1920 waren dann alle Betriebe mit mehr als fünf Beschäftigten im Besitz des Staates.

Dies war keineswegs das einzige Beispiel der bolschewistischen Praxis, in der die leninistische Theorie durch die Macht der Verhältnisse korrigiert wurde. Sehr rasch hatte sich (besonders weil die Weltrevolution zum erwarteten Zeitpunkt ausblieb) eine ungeheure Diskrepanz zwischen den leninistischen Zielvorstellungen und den realen Möglichkeiten von Wirtschaft, Politik und Kultur gezeigt. So prägten die russische Rückständigkeit, die Isolierung Rußlands und der Jahre dauernde Bürger-und Interventionskrieg die Praxis des Leninismus. Beobachter mit unterschiedlichen politischen Ansichten waren sich darüber einig, daß die Kommunisten eine völlig zerrüttete Wirtschaft in einem ohnehin zurückgebliebenen Land übernommen hatten: „Die Hinterlassenschaft des Zarismus und der kurzlebigen Interimsregierung war ein in jeder Hinsicht zerrüttetes Land."

Dieses Chaos prägte auch die Form der Gewaltanwendung: Der Terror spielte eine immer größere Rolle. Das galt in erster Linie für das politische Regime, das mit dem Bürgerkrieg und der ausländischen Intervention einen Kampf auf Leben und Tod zu bestehen hatte. So setzte es unter den Verhältnissen des Bürgerkriegs die Möglichkeit der freien Kandidatenwahl für die Sowjets aus und verbot die bürgerlichen Parteien als gegenrevolutionär. Am 14. Juni 1918 wurden auch die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre aus den Sowjets ausgeschlossen, so daß 1918 nur zwei legale Sowjet-Parteien, Bolschewiki und linke Sozialrevolutionäre, übrigblieben; nach ihren Aufstandsversuchen wurden jedoch auch die letzteren noch ausgeschaltet. In steigendem Maße wurden die Sowjets zu Instrumenten der bolschewistischen Partei, die in ihnen die Mehrheit besaß und von der die Herrschaft ausging. Schon 1919 erwies sich, daß die zentrale Macht von einer kleinen Schar bolschewistischer Führer ausgeübt wurde und die Partei über das Land bestimmte. Auf dem VIII. Parteitag 1919 sagte Lenin: „Wenn einmal der künftige Historiker die Daten darüber zusammenstellen wird, welche Gruppen während dieser siebzehn Monate in Rußland regiert haben, wie viele Hunderte oder Tausende Menschen die ganze Arbeit, die ganze unglaubliche Last der Regierung des Landes getragen haben, wird niemand glauben wollen, daß man dies mit einer so verschwindend kleinen Zahl von Kräften erreichen konnte. Diese Zahl war deshalb so verschwindend klein, weil es in Rußland nur eine kleine Zahl verständiger, gebildeter, befähigter politischer Führer gab."

Wie in der gesamten Politik wurde die bolschewistische Führung von der Wirklichkeit mehr gedrängt, als daß sie selbst freier Herr ihrer Entscheidung war. Trotzki versuchte dies später zu rechtfertigen: „Was das Verbot der anderen Sowjetparteien betrifft, so entsprang es jedenfalls nicht aus der . Theorie'des Bolschewismus, sondern war eine Maßnahme zum Schutze der Diktatur in einem rückständigen und erschöpften, von allen Seiten von Feinden umgebenen Land. Den Bolschewiki war es von Anfang an klar, daß diese Maßnahme, die später durch das Verbot von Fraktionen innerhalb der herrschenden Partei selbst ergänzt wurde, eine Gefahr ankündigte. Jedoch die Quelle der Gefahr lag nicht in der Doktrin oder Taktik, sondern in der materiellen Schwäche der Diktatur, in den Schwierigkeiten der inneren und der Weltlage.“

Als der Bürgerkrieg beendet war, hatte der Bolschewismus gesiegt, aber der Sieg war erkauft worden durch den Verzicht auf viele theoretische Vorstellungen und Errungenschaften der Revolution. Im Widerspruch zur geforderten allgemeinen Volksbewaffnung und der Abschaffung der Armee war eine straffe und disziplinierte Rote Armee aufgestellt worden, die sogar die alten Offiziere übernahm. Auch die ursprüngliche Absicht, die Polizei ihres politischen Charakters zu entkleiden, geriet ins Gegenteil: Zur Bekämpfung der Gegenrevolution wurde mit der Tscheka eine neue Geheimpolizei mit großen Befugnissen eingesetzt. Die Konstituante, deren Einberufung die Bolschewiki zuvor gefordert hatten, wurde auseinandergejagt, als sie nicht sofort die Ergebnisse der Oktoberrevolution bestätigte.

Der Bürgerkrieg hatte die bolschewistische Alleinherrschaft, eine rigorose Niederhaltung aller Gegner gebracht, auch wenn das zunächst nicht bedeutete, daß jede andere Meinung unterdrückt wurde.

Die entscheidenden Änderungen brachte die Praxis des Leninismus vor allem im Jahre 1921: Der X. Parteitag verbot die Fraktionen innerhalb der Kommunistischen Partei, dem einzigen politischen Forum des Landes, und leitete damit die Ausschaltung der letzten Reste von politischer Demokratie ein. 1921 war zugleich das Jahr, in dem der Kronstädter Aufstand die Unzufriedenheit breiter Massen mit der bolschewistischen Herrschaft widerspiegelte. Die Leninisten gaben dem Druck von unten nach: Sie änderten die Wirtschaftspolitik und führten mit der NEP (Neue ökonomische Politik) eine bedingte Zulassung des Kapitalismus ein. Zugleich hielten die Bolschewiki aber an der politischen Macht fest, zogen hier die Zügel sogar noch fester an. Dahinter standen ihre Überzeugung, noch immer allein die sozialistische Zukunft zu verkörpern und ihr Glaube an die Weltrevolution. Da der Rückzug zur NEP mit geschlossener Kraft vollzogen werden sollte, bedeutete das Fraktionsverbot nur ein Rädchen der Politik. Eine Maßnahme bedingte die andere, und die Praxis entfernte sich immer weiter von den theoretischen Vorstellungen. Zum Aufbau der neuen Gesellschaft schienen alle Mittel gerechtfertigt. Die Führung sah die Sowjetunion indes immer noch als Vorhut der Weltrevolution und des Sozialismus an und wollte dieses Bollwerk als isolierte Festung verteidigen. Dazu kamen ihr alle Mittel gelegen (und jeder Kritiker wurde als Feind bekämpft): „Unsere Aufgabe, als wir als sozialistische, proletarische, kommunistische Partei an die Macht gelangten in einem Moment, da in den anderen Ländern noch die kapitalistische bürgerliche Herrschaft aufrecht erhalten blieb, — unsere nächste Aufgabe war, ich wiederhole es, diese Macht zu behaupten, diese Fackel des Sozialismus, damit sie weiterhin möglichst viele Funken für den stärker werdenden Brand der sozialen Revolution gebe."

Wachsender Terror und Zwang resultierten aber nicht allein aus diesem Bewußtsein, sondern zunächst aus dem Druck der politischen Gegner. Die Praxis in Rußland zwischen 1921 und 1923 machte die Widersprüchlichkeit zwischen den Zielen und Grundvorstellungen des Leninismus dann noch augenscheinlicher. Da Lenin wegen seiner schweren Krankheit nach 1922 nur noch hin und wieder in die Politik eingreifen konnte, zeigten sich auch bei ihm tiefe Resignation und Pessimismus.

Das Dilemma schien unauflösbar. Während des Bürgerkriegs waren die Freiheiten und Rechte der Massen immer stärker eingeschränkt, die Prinzipien und die Zielvorstellungen des Erfolges wegen politischer „Notwendigkeiten" geopfert worden. Nach dem Sieg und der Festigung der Macht zeigte sich jedoch, daß diese Einschränkungen ihre eigene Gesetzlichkeit hervorgebracht hatten und sich bedrohlich eine Herrschaft der Apparate abzeichnete.

Im März 1922 erklärte Lenin: „Wenn man Moskau nimmt — 4 700 verantwortliche Kommunisten — und dieses bürokratische Ungetüm, diesen Haufen, wer leitet da und wer wird geleitet? Ich zweifle sehr, ob man sagen könnte, daß die Kommunisten diesen Haufen leiten. Um die Wahrheit zu sagen: nicht sie sind die Leiter, sondern sie werden geleitet." Lenin mußte nicht nur das Anwachsen des Bürokratismus konstatieren, sondern sogar erkennen, daß „unser Staat ein Staat mit bürokratischen Auswüchsen" ist. Lenin sprach vom „Tropfen im Meere, der sich Kommunistische Partei nennt", und erklärte, mit dem Staatsapparat „steht es bei uns derart traurig, um nicht zu sagen abscheulich", daß man überall „Wirrwarr und Liederlichkeit" finde. Nachdrücklich forderte er, unbedingt „die Aufgabe der Umgestaltung unseres Apparates, der gar nichts taugt", in Angriff zu nehmen

Lenins Warnung vor Stalin, der Bürokratie und dem Apparat, die verzweifelten Versuche des Todkranken, mit untauglichen Mitteln (Erhöhung der Mitgliedszahl des ZK, Ausbau der Kontrollkommission usw.) die gefährliche Entwicklung zu bremsen, zeigen, daß er zuletzt wohl doch die Gefahr erkannte, die aus der stückweisen Opferung des revolutionären Ziels an die „Sachzwänge", Unausweichlichkeiten, Unvermeidbarkeiten der Politik erwachsen war.

Der mögliche Übergang zu diesen Zielvorstellungen war dabei noch nicht völlig verbaut. Ohne aus der Not eine Tugend zu machen, hatten die Bolschewiki ein Abweichen von ihren Prinzipien meist zugegeben. Die alten Revolutionäre hatten ihre sozialistischen Vorstellungen bewahrt und suchten nach Wegen zu deren Verwirklichung.

Die Gewalt im stalinistischen System

Die historische Notwendigkeit, das rückständige Agrarland Rußland zu industrialisieren, zu zivilisieren und damit das Kulturniveau zu heben, war nicht nur eine theoretische Nahvorstellung des Leninismus, sie wurde auch von allen sozialistischen Gruppen nach der Revolution anerkannt. Da Industrialisierung und wirtschaftliche Modernisierung parallel mit dem Übergang zum Sozialismus verlaufen sollten, spielte der „Aufbau des Sozialismus" bei allen Auseinandersetzungen eine nicht geringe Rolle.

Nach Beendigung des Bürgerkriegs verbreitete sich ein immer stärkerer Glaube an die Technik und die Meisterung der Wirtschaft. Eine fast mythische Rolle wurde dabei der „amerikanischen Zivilisation" zugeschrieben, die man nun nach Rußland verpflanzen wollte.

Auseinandersetzungen entzündeten sich innerhalb der herrschenden Kommunistischen Partei an der Frage des Tempos und des Weges der Industrialisierung. Die Fraktion, die sich um den Generalsekretär Stalin scharte — 12 zumeist war es die Parteibeamtenschaft —, orientierte sich zunächst an den Theorien Bucharins und schlug aus Rücksichtnahme auf die Bauern eine gezügelte Geschwindigkeit vor. Die linken Gruppen um Trotzki und Sinowjew traten für eine raschere Industrialisierung ein, was ihnen den Vorwurf der „Uberindustrialisierer" eintrug. Natürlich wurde dieser Kernpunkt der Kontroversen von anderen Problemen überdeckt, ging die Diskussion zunächst keineswegs um die Frage der Gewalt. Alle Gruppen stimmten nämlich darin überein, daß im Interesse der Machterhaltung allen gegenüber nichtkommunistischen Vereinigungen politischer Zwang anzuwenden sei. Gegen die ehemals herrschenden Bevölkerungsschichten befürworteten sie damit ein Vorgehen, das sie in bezug auf Arbeiter und Bauern als unzulässig ansahen. Doch waren dies nur theoretische Erwägungen.

In der Praxis erwies sich die Gewaltanwendung dagegen als vielschichtig. Nachdem der Bürgerkrieg beendet und die direkte Gefahr einer Aggression von außen gebannt waren, nahm der Druck zunächst „gesetzliche" Formen an. Die politische Macht lag in den Hän13 den der KPdSU, die über die Sowjets den Staatsapparat anleitete. Die wirtschaftliche Herrschaft war geteilt: Der Staat befehligte die nationalisierte Industrie, Gewerkschaften und Partei hatten Mitbestimmungsrechte. In der Landwirtschaft war bis 1929 sogar noch das Privateigentum vorherrschend. Während des „rechten Kurses" der KPdSU war die Macht der Partei über die Wirtschaft also nur auf einigen Gebieten eine direkte; die Gewalt spielte eine sekundäre Rolle. 1928 schwenkte die herrschende Fraktion Stalins jedoch jäh um und schlug den Kurs der raschen Industrialisierung ein. Die Gründe sind vielfältig und brauchen hier nicht untersucht zu werden. Das Ergebnis war nicht nur eine neue Wirtschaftspolitik (Fünfjahrpläne, Kollektivierung der Landwirtschaft), als Resultat entstand auch die „monolithische" Partei, in der nur noch die Stalinsche Fraktion (die mehr und mehr mit dem Parteiapparat identisch wurde) bestimmte. Da aber die Partei den Staat und damit die Wirtschaft lenkte, erweiterte sich die Macht der Führung beträchtlich. Schließlich bedeutete die Verfügung über die Instrumente der direkten Gewalt, nämlich die Armee und die politische Geheimpolizei, ebenfalls einen Kompetenzzuwachs in den Händen einer Parteispitze, die nun alles allein befehligte.

Von 1922 bis 1934 durchlief Sowjetrußland eine Entwicklpng, die typisch für ein nachrevolutionäres Regime ist: Erstarrung des politischen Lebens, Verlagerung der politischen Macht auf eine herrschende Gruppe, juristische Fixierung der neuen Verhältnisse und wirtschaftliche Neuordnung. Der Gewalt kam in dieser Phase eine bedeutende Rolle zu, wurde sie doch von der herrschenden Partei-fraktion als Mittel gegen politische Feinde wie Kritiker des wirtschaftlichen Systems und Aufbaus unnachgiebig eingesetzt. Die Kollektivierung 1929/30 und die Vertreibung von Millionen Bauern waren drastischer Ausdruck dieser Taktik, die nun nicht mehr allein gegen die „feindlichen Klassen" gerichtet war. Die Zwangskollektivierung unter Stalin war „ebenso grausig wie der furchtbarste Bürgerkrieg" Als Stalin Ende 1929 und Anfang 1930 mehrmals die Parole der „Liquidierung des Kulakentums als Klasse" ausgab wurden über fünf Millionen Bauern als angebliche „Kulaken" enteignet und verjagt; ein großer Teil kam in der Verbannung ums Leben; die meisten Bauern wurden in die Kolchosen gepreßt. Gewalt und Terror waren die Hauptpfeiler dieser Aktion. Allein in den sechs Wochen zwischen dem 20. Januar und dem l. März 1930 stieg die Zahl der in Kolchosen aufgegangenen Bauernbetriebe von 4, 4 auf 14, 3 Millionen, was ein Ergebnis des harten Drucks war, der auf die verängstigten Bauernmassen ausgeübt wurde Wie gegen Bauern, so wuchs die Gewaltanwendung durch die Führung auch gegen die Arbeiter, also die angeblich in der Sowjetunion herrschende Klasse (worauf noch zurückzukommen sein wird). Zum Höhepunkt des Terrors aber wurden die Säuberungen von 1936 bis 1938, die zu einem Zeitpunkt einsetzten, da Stalin eine neue Verfassung und den „Sieg des Sozialismus" in der Sowjetunion verkünden ließ.

Stalin am Hebel der Gewalt

In den Jahren bis 1934 übte die Fraktion Stalins in Partei und Staat die Macht aus, Ausschreitungen gegen Bauern und Arbeiter waren üblich, jedoch bildete die Gewaltanwendung gegenüber nichtstalinistischen Kommunisten noch die Ausnahme. Das änderte sich 1936/37, als Stalin tatsächlich zum Diktator wurde: Jetzt wurden die meisten der in Revolution und Bürgerkrieg führend tätig gewesenen Kommunisten verurteilt, später erschossen. Höhepunkt dieser Säuberungen waren die drei großen Schauprozesse, in denen über fünfzig maßgebende Führer des Sowjetkommunismus vor Gericht gestellt wurden: im August 1936 der „Prozeß der Sechzehn" gegen Sinowjew, Kamenew u. a., im Januar 1937 der „Prozeß der Siebzehn" gegen Pjatakow, Radek, Solkolnikow u. a. und schließlich im März 1938 der „Prozeß der Einundzwanzig" gegen Bucharin, Rykow, Jagoda, Krestinski, Rakowski u. a. Die Urteile gegen die einstigen Führer des Bolschewismus beruhten fast ausschließlich auf den Geständnissen der Angeklagten. Diese Methode war bereits im „Schachty-Prozeß" 1928 und den Prozessen gegen die „Industriepartei" und das soge-nannte „Unionsbüro der Menschewiki® 1930/31 praktiziert worden In den Schauprozessen von 1936 bis 1938 waren die grotesken Beschuldigungen und Selbstbeschuldigungen jedoch weitreichender, vor allem richteten sich die Anklagen nunmehr gegen die eigentlichen Führer des Bolschewismus und gegen die Gründer des Sowjetstaates. Immer wieder wurden mit stereotypen Worten die gleichen Beschuldigungen vorgebracht: Die Angeklagten hätten „terroristische Gruppen" organisiert, deren Aufgabe „verbrecherische sowjet-feindliche Spionage, Diversions-und Terror-tätigkeit war".

Gerade die Revolutionäre von 1917 und Gründer des Sowjetstaates sollten den „Sturz der Sowjetmacht und Wiederherstellung des Kapitalismus und der Macht der Bourgeoisie in der Sowjetunion geplant haben" Es wurde behauptet, die Angeklagten hätten" eine Reihe praktischer Maßnahmen zur Ermordung der Genossen Stalin, Woroschilow, Shadanow, Kaganowitsch, Kirow, Kossior, Ordshonikidse und Postyschew vorbereitet" Im Prozeß von 1938 kam schließlich noch die Beschuldigung „systematischer Schädlingsarbeit" hinzu. Solche Vergehen wurden u. a. beispielsweise dem Angeklagten Selenski vorgeworfen. Seit 1906 Bolschewik, war er 1921 Kandidat und 1922 Mitglied des ZK der KPdSU geworden; lange Jahre fungierte er als Sekretär der Moskauer Parteiorganisation und Vorsitzender der sowjetischen Konsumgenossenschaften. Selenski sollte eine „Organisation" gebildet haben, die „in die Butter Glas warfen". Der Ankläger Wyschinski (der übrigens 1917 noch zu den Menschewiki gehörte, als Selenski bereits ein Dutzend Jahre Bolschewik war) inszenierte folgenden grotesken Dialog:

„Wyschinski: Kam es vor, daß Ihre Komplicen, Ihre Komplicen bei der verbrecherischen Verschwörung gegen die Sowjetmacht und das Sowjetvolk, Nägel in die Butter warfen?

Selenski: Es kam vor.

Wyschinski: Zu welchem Zweck? Damit sie , besser schmeckt'?

Selenski: Das ist klar.

Wyschinski: Dies ist eben die Organisierung von Schädlings-und Diversionsarbeit. Dessen bekennen Sie sich schuldig?

Selenski: Ich bekenne mich dessen schuldig."

Es erübrigt sich nach den Enthüllungen Chruschtschows, beim Niveau der Prozeßführung und solchen „Geständnissen" auf die verlogenen Beschuldigungen näher einzugehen. Die Parteiführer, die wegen solch absurder Anklagen erschossen wurden, mußten vorher zudem noch die schlimmsten Beschimpfungen über sich ergehen lassen. So rief der staatliche Ankläger Wyschinski zum Schluß seiner Anklagerede gegen Sinowjew und 15 Mitangeklagte in den Saal: „Ich fordere, daß diese tollgewordenen Hunde allesamt erschossen werden."

Außer den Schauprozessen gab es unter Ausschluß der Öffentlichkeit geführte Prozesse, so gegen Tuchatschewski und die Armeeführer im Juni 1937 und gegen die Altbolschewiki Jenukidse, Karachan u. a. im Dezember 1937. Neben diesen zentralen Tribunalen fanden ungezählte in der Provinz statt, denen die lokalen Führer zum Opfer fielen. Noch weit größer ist die Zahl der Erschossenen, die stillschweigend verschwanden, nachdem sie als angebliche „Volksfeinde" ihre Positionen verloren hatten. Auf diese Weise vernichtete die NKWD Stalins während der Jahre 1936— 1938 fast die gesamte Führergarnitur der KP aus der Zeit Lenins

Zu Lenins Lebzeiten waren folgende KP-Führer Mitglied des Politbüros geworden: Swerdlow, er starb 1919; Bucharin, Kamenew, Kre-stinski, Rykow, Sinowjew und Serebrjakow; sie alle wurden in Schauprozessen verurteilt; Preobraschenski, ihn liquidierte die NKWD ohne Prozeß als „Volksfeind"; Tomski beging Selbstmord und Trotzki wurde ermordet. Der einzige überlebende war Stalin.

Dem Zentralkomitee gehörten in der für das Bestehen der Sowjetmacht entscheidenden Periode zwischen 1919 und 1921 insgesamt 25 Personen an. Davon starben vier vor den Säuberungen: Lenin, Dzierzynski, Artem und Stutschka. Zwei verloren allen Einfluß: Muranow und Stassowa. Allein zehn wurden in Schauprozessen verurteilt: Sinowjew, Kamenew, Jewdokimow, I. N. Smirnow, Radek, Serebrjakow, Bucharin, Rykow, Rakowski und Krestinski. Vier wurden ohne öffentlichen Prozeß als „Volksfeinde" erschossen: Beloborodow, Preobraschenski, Rudsutak und Smilga. Tomski verübte Selbstmord. Trotzki wurde ermordet. Außer Stalin überstanden nur Andrejew und Kalinin die Säuberung unbeschadet

Von den 32 Mitgliedern des Politbüros zwischen 1919 und 1938 fielen nicht weniger als 17 der Säuberung zum Opfer. 40 Mitglieder des Zentralkomitees der KPdSU wurden liquidiert. 18 frühere Volkskommissare (d. h. Regierungsmitglieder), 16 Botschafter und Gesandte, fast sämtliche Vorsitzende der einzelnen Republiken wurden erschossen oder verschwanden in Sibirien. Nicht anders erging es den meisten ausländischen Kommunisten, die sich zu jener Zeit in Rußland befanden. Ohne große Schauprozesse aber wurden Zehntausende alter Kommunisten erschossen oder in die Verbannung geschickt, wovon die Öffentlichkeit kaum etwas erfuhr. Auch in der Armee wütete die Säuberung; ihr fielen fast alle 80 Mitglieder des 1934 geschaffenen Obersten Kriegsrates und vermutlich 35 000 Offiziere zum Opfer. Allein im höheren Offizierskorps verschwanden drei von fünf Marschällen (Tuchatschewski, Blücher, Jegorow), 13 von 15 Armeekommandeuren, 57 von 85 Korpskommandeuren, 110 von 195 Divisionskommandeuren. Sämtliche Befehlshaber der Flotte wurden erschossen. Die Folgen dieser Dezimierung der Armeeführung 1937/38 mußte die

Sowjetunion beim Überfall Hitler-Deutschlands verspüren

Die große Säuberung von 1936 bis 1938 zog einen Schlußstrich unter die gesellschaftliche Entwicklung, die — basierend auf der Grundlage der verstaatlichten Industrie und der kollektivierten Landwirtschaft — seit Anfang der zwanziger Jahre zur politischen und wirtschaftlichen Herrschaft der Apparate geführt hatte. Die blutige Säuberung beseitigte die Kräfte, die durch ihre Verbundenheit mit der revolutionären Tradition der neuen Herrschaft bei der Unterdrückung der Arbeiter latent gefährlich werden konnten.

Die politische Seite dieser Säuberung war die Ausschaltung jeder potentiellen Opposition gegen das Stalin-Regime durch die Ausrottung der Kader, der in irgendeiner Situation (z. B. in einem Krieg) einen Gegenpol zur Stalin-Führung zu bilden in der Lage waren. Der unumschränkte Terror der Geheimpolizei sollte zugleich jeden möglichen Oppositionsfaktor von unten ausschalten.

In der Säuberungsphase wurden aber nicht nur tatsächliche und potentielle Gegner des Stalinismus liquidiert, sondern auch viele derjenigen, die Stalin mit an die Macht gebracht hatten Dies war der Ausgangspunkt eines völlig neuen Machtsystems, nämlich der Ein-Mann-Herrschaft Stalins auch über die Apparate. Damit wurde die politische Polizei — der Sicherheitsdienst — auch zur entscheidenden Gruppe innerhalb der Bürokratie.

Die Säuberung lieferte gleichzeitig Sündenböcke für alle Fehler und Mängel in Wirtschaft und Verwaltung. „Jetzt ist es klar, warum es bei uns bald hier bald dort Stokkungen gibt, warum auf einmal bei uns trotz Reichtum und Überfluß diese oder jene Produkte fehlen. Eben deswegen, weil diese Verräter daran schuldig sind" erklärte z. B. Wyschinsky im Schauprozeß. Diese Praxis steigerte sich zu einem solchen Ausmaß, daß Molotow schon 1937 bremste: „Andererseits versuchen jetzt viele Mitarbeiter, alle ihre Sünden auf die Schädlinge abzuwälzen. Ist ir-gend etwas schlecht, so sagt man, der Schädling ist schuld."

Zwei Faktoren gelangten im Verlaufe der Säuberungsaktion zu immer größerer Bedeutung und führten zu einer sprunghaften Ausdehnung der Säuberung: „Erstens hatte jeder NKWD-Beamte ein Interesse daran, möglichst viele Geständnisse zu produzieren . . . Jeder polizeiliche Untersuchungsrichter, der die Beweise gewissenhaft prüfte und zögerte, einen . Fall'zu verfolgen, weil eine Schuld nicht vorzuliegen schien, riskierte, selbst als Beschützer gegenrevolutionärer Saboteure entlarvt zu werden: zu viele seiner Kollegen und Untergebenen beneideten ihn um seinen Posten, als daß er dieses Risiko hätte auf sich nehmen können. Der zweite Faktor bestand darin, daß die zur Zwangsarbeit Verurteilten, als die Zahl in die Millionen wuchs, anfingen, eine Rolle in der nationalen Wirtschaft zu spielen..."

Schließlich haben Karrierismus und persönliche Rachsucht die Säuberung katastrophal ausgeweitet. Im Januar 1938 mußte das ZK konstatieren: „Es ist an der Zeit, solche, mit Verlaub zu sagen, Kommunisten zu entlarven und sie als Karrieristen zu brandmarken, die bestrebt sind, auf Grund von Parteiausschlüssen hochzukommen, die bestrebt sind, sich mit Hilfe von Repressalien gegen Parteimitglieder eine Rückversicherung zu schaffen."

Terror und Gewalt nahmen 1938 unvorstellbare Formen an. Niemand, bis in die höchsten Spitzen des Staates und der Partei hinein, war davor sicher, Opfer Stalins, Jeshows und der NKWD zu werden. Der Kommunistenführer Barmine, zuletzt sowjetischer Gesandter in Athen, äußerte sich unmißverständlich: „Es war nicht die Liquidierung einer Verschwörung, es war nicht der Versuch feindlicher Parteien, es war nicht die Unterdrückung einer Opposition. Es war die systematische Vernichtung aller jener, die mit ihrem klaren Verständnis der sozialistischen Sache gedient hatten und sich der kaltblütigen Verwandlung ihres Staates in einen totalitären Sklavenstaat widersetzen. Es war eine Gegenrevolution."

Im März 1939 trat der XVIII. Parteitag der KPdSU zusammen, und Stalin verkündete nach der Säuberung, daß der „Sozialismus" nun endgültig aufgebaut sei. Die KPdSU zählte noch 1 600 000 Mitglieder, 300 000 weniger als vor der Säuberung (Mitglieder und Kandidaten zusammen gingen von 2, 8 Millionen auf 2, 47 Millionen zurück) Nur etwa 20 000 Veteranen aus der Zeit vor 1918 waren 1939 übriggeblieben. Da die Partei 1918 immerhin 270 000 Mitglieder gezählt und es sich dabei meist um junge Menschen gehandelt hatte, muß der größte Teil der Altkommunisten bei den Stalinschen Säuberungen ausgeschlossen und liquidiert worden sein. 130 000 Mitglieder der Partei waren 1939 seit dem Jahre 1920 in der KP. Damals aber zählte die Kommunistische Partei 730 000 Mitglieder. Auch der Großteil dieser 600 000 Kommunisten ist wohl Stalin zum Opfer gefallen Innerhalb von 15 Jahren, zwischen 1923 und 1938, wurden nicht weniger als 2, 5 Millionen Mitglieder aus der KPdSU ausgeschlossen, d. h. mehr, als die Partei im Jahre 1939 überhaupt an Mitgliedern zählte. Allein während der Säuberung von 1934 bis 1938 betrug die Zahl der Ausgeschlossenen über eine Million — und Ausschluß war in der damaligen Zeit gleichbedeutend mit Verbannung oder Todesurteil.

Solche Zahlen zeigen auf drastische Weise, mit welchen Mitteln die Leninsche Partei durch Stalin verändert worden war. Durch Gewalt schuf sich Stalin eine neue, eine eigene Partei.

Die große Säuberung wurde zum tiefgreifenden Einschnitt in die sowjetische Geschichte. Sie war mehr als nur Ausdruck der persönlichen Machtentfaltung Stalins, wenn sie auch von dessen Herrschsucht und barbarischen Methoden geprägt wurde. Die Säuberung war der Schnitt, der die Sowjetunion von ihrer eigenen revolutionären Vergangenheit trennen sollte. Die gesellschaftlichen Probleme ließen sich jedoch nicht auf Dauer mit Terror regeln. Auch wenn Stalin bis zu seinem Tode die Macht halten konnte (und 1949 und 1952/53 nochmals durch Säuberungen diese Methoden der Gewalt praktizierte), zeigen die Veränderungen nach seinem Ableben doch die zwiespältige Rolle des Stalinismus.

Der Weg zur modernen Industriegesellschaft

Die Veränderungen in der Sowjetunion waren nicht nur politischer und gesellschaftlicher Art. Viele Methoden der Gewaltanwendung galten anderen Zielen; sie sollten den wirtschaftlichen Durchbruch bringen. Ohne Zweifel hat es das stalinistische System — wenn auch unter Machtmißbrauch — verstanden, in dem unterentwickelten Agrarland Ruß-land eine moderne Industriegesellschaft aus dem Boden zu stampfen. Unter Stalin überwand Rußland seine wirtschaftliche und technische Rückständigkeit und seinen kulturellen Nachholbedarf. Die Erfolgspalette reichte von der Beseitigung des Analphabetentums bis zur Entwicklung der Weltraumtechnik. Diese großartigen Erfolge der „Kulturrevolution" wurden aber mit stalinistischen Mitteln erreicht und zeigten so eine erschreckende Kehrseite. Das wissenschaftliche und kulturelle Leben (das gerade in der Revolutionszeit in Vielfalt aufgeblüht war) erstarrte in Monotonie. Die Reglementierung von Kunst und Wissenschaft geschah ebenfalls mit Methoden der Gewalt und führte zum Konformismus, zum kleinbürgerlichen Spießertum und zur sterilen Konservierung überkommener Verhaltensnormen. Das geistige Leben verkümmerte unter der Einwirkung der Gewalt.

Andererseits führte die Industrialisierung zu überragenden Ergebnissen. So wurden die Erträge der Schwerindustrie von 1928, dem Beginn der eigentlichen Industrialisierung, bis 1955 verzehn-bis verzwanzigfacht (die Stahl-produktion stieg z. B. von 4, 3 Mill, t auf 45, 3 Mill. t). Die Folge war eine soziale Umwandlung: Der Anteil der Arbeiter und Angestellten erweiterte sich von 17, 6 im Jahre 1928 auf 58, 3 Prozent im Jahre 1955, die Stadtbevölkerung vermehrte sich im gleichen Zeitraum von 17, 9 auf 43, 4 Prozent

Es ist umstritten und fraglich, ob die Veränderungen der politischen Struktur, d. h.der mit dem Übergang von Lenin auf Stalin stattfindende Wechsel der Methoden — vor allem die Rolle der Gewalt —, Voraussetzung dieser großen Erfolge war. Ebenso ist schwer zu entscheiden, inwieweit der äußere Druck der isolierten Sowjetunion die innere Gewaltanwendung aufzwang oder sie zumindest förderte.

Hier dürften Ursache und Wirkung schwer auseinanderzuhalten sein. Ohne Zweifel wirkte die drohende Gefahr, die der deutsche Faschismus seit 1933 für die Sowjetunion bedeutete, auf die inneren Verhältnisse zurück. Doch war der Sieg des Nationalsozialismus andererseits auch durch die sowjetische Außenpolitik gefördert worden. Stalins Kampf gegen die Sozialdemokratie als „Hauptfeind", seine Theorie vom „Sozialfaschismus", hatten die antifaschistischen Kräfte entscheidend geschwächt. Mit dem Sieg Stalins hatte sich auch der Weltkommunismus gewandelt. Die Kommunistische Internationale, die zentralistische Kampforganisation aller Kommunistischen Parteien, war in der Lenin-Ära auf die Weltrevolution fixiert und die sowjetische Außenpolitik war ursprünglich diesem Ziel untergeordnet gewesen. Doch im gleichen Maße, in dem der Sowjetstaat erstarkte und gleichzeitig die revolutionäre Welle in Europa abebbte, änderte sich die Beziehung zwischen der Komintern und der Sowjetunion: die Sowjetunion Stalins diktierte nunmehr den Kurs der Komintern und legte die Kommunistischen Parteien in aller Welt auf ihre Interessen (oft sogar nur ihre vermeintlichen Interessen) fest.

Während der Stalinschen Säuberungen wurde auch der Komintern-Apparat in Moskau dezimiert, und ein Großteil der in die Sowjetunion emigrierten ausländischen Kommunisten wurde umgebracht Im Innern der Sowjetunion nahmen Gewalt und Terror in der Spät-phase des Stalinismus insofern nochmals besondere Formen an, als sie sich gegen ganze Nationalitäten in der UdSSR richteten. Die Revolution von 1917 hatte die russische Unterdrückung der nationalen Minderheiten beendet. Unter dem Leninismus war der russische Chauvinismus bekämpft worden. Bereits Mitte der dreißiger Jahre, besonders aber in und nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde der russische Nationalismus von Stalin in die Ideologie einbezogen. Die Konsequenz dieser antileninistischen Nationalitätenpolitik enthüllte Chruschtschow auf dem XX. Parteitag: Ende 1943 wurden sämtliche Karatschajer aus ihrem angestammten Land deportiert, und Ende Dezember 1943 erlitt die gesamte Bevölkerung der autonomen Kalmückenrepublik dieses Schicksal. Im März 1944 deportierte man sämtliche Tschetschenen und Inguschen (fast eine halbe Million Menschen!) nach Sibirien und löste ihre autonome Republik auf. Im April 1944 ließ Stalin alle Balkaren in entlegene Gebiete verschleppen. Die Ukrainer entgingen diesem Schicksal nach Meinung Chruschtschows lediglich deshalb, „weil sie zu zahlreich sind und kein Raum vorhanden war, wohin man sie hätte deportieren können" Gar nicht erwähnt im Geheimbericht Chruschtschows sind die 700 000 Krimtataren und die Wolgadeutschen, die ebenfalls verschleppt wurden. Solchermaßen angewandte Methoden der Gewalt sind jedenfalls typisch für die Ausartung des Stalinismus, einer Willkürherrschaft ohne jede Rechtsstaatlichkeit.

Für die politische Struktur des Systems sind insbesondere die Gewaltmaßnahmen charakteristisch, die gegen die angeblich „herrschende Klasse" der Sowjetunion, nämlich gegen die Arbeiterschaft, ausgeübt wurden. Diese Methoden waren differenzierter und subtiler, veränderten aber die Lage der Arbeiter radikal. Die Oktoberrevolution hatte unter dem Zeichen der Arbeiterkontrolle gestanden, die den Übergang zum Sozialismus bringen sollte. So erklärte Lenin zum ersten Jahrestag der Revolution: „. . .der erste grundlegende Schritt, der nicht nur für jede sozialistische, sondern auch für jede Arbeiterregierung obligatorisch ist, müßte die Arbeiterkontrolle sein" Auch das Programm der Bolschewiki von 1918 forderte eine „wirkliche Volks-kontrolle" gegen jede „Bürokratisierung des wirtschaftlichen Apparats" Tatsächlich gelang es den Arbeitern, „die Herrschaft über das gesamte Wirtschaftsleben durch die Eroberung der Betriebe zu erlangen" An-fangs übten die Betriebsräte, später die Gewerkschaften eine wirkliche Kontrolle in der Industrie aus.

Unter dem Stalinismus zeichnete sich dann gerade eine umgekehrte Entwicklung ab: Der Einfluß der Arbeiter an ihrem Arbeitsplatz wurde immer geringer, die Rechte ihrer Vertreter eingeschränkt. Formal übernahm die „Troika" (Betriebsdirektor, Parteisekretär und Gewerkschaftssekretär) die Leitung des Betriebes, doch war schon zu Beginn des ersten Fünfjahrplans (1928) der vom Staat eingesetzte Betriebsdirektor die allein bestimmende Person. Die „Ein-Mann-Führung", die jede Mitbestimmung der Belegschaft und jede Arbeiterkontrolle ausschloß, wurde vom Stalinismus zum „sozialistischen Prinzip" erhoben. Stalin forcierte die Heranbildung dieser Machtstrukturen, indem er die Betriebsleiter 1931 aufforderte: „Bist Du Direktor eines Betriebs — so mische Dich in alle Dinge, dringe in alles ein, lasse Dir nichts entgehen." Eine offizielle Verlautbarung von 1947 bestätigte: „Die Ein-Mann-Führung in der Industrie bedeutet, daß an der Spitze der Betriebe und der Wirtschaftsorgane einzelne Führer stehen, die von den bevollmächtigten Staatsorganen ernannt sind. Sie sind mit allen Vollmachten ausgerüstet, die für eine erfolgreiche Tätigkeit des Betriebes und der Wirtschaftsorgane notwendig sind. Die Vorgesetzten sind Führer mit unumschränkten Vollmachten."

Unter dem Stalinismus erfolgte nicht, nur eine allgemeine soziale Differenzierung, auch innerhalb der Arbeiterschaft selbst wurden — besonders durch das Stachanow-System — die Entlohnungs-Unterschiede immer größer. Hatte man nach der Revolution dem Gedanken einer möglichst großen Lohngleichheit gehuldigt und den verhaßten Akkordlohn abgeschafft (80 °/o der Petrograder Lohnarbeiter waren 1918 im Zeitlohn beschäftigt gewesen), wurde ab 1935 mit dem Stachanow-System eine neue Form des Akkords zur Erzielung besserer Ergebnisse eingeführt. Während 1928 der höchstbezahlte Arbeiter etwa zweieinhalbmal soviel verdiente wie der am niedrigsten Entlohnte, war 1938 der Spitzenlohn eines Stachanow-Arbeiters schon 121/2mal hö-her als der Durchschnittserwerb. 1940 lag der Spitzensatz bereits 30mal über dem der durchschnittlichen Einkommen. Gewisse Lohndifferenzierungen waren im Rahmen der Industrialisierung zweifellos ebenso unvermeidbar wie Rationalisierungen; die Übersteigerungen sind aber auch aus dem Interesse der Bürokratie erklärlich, die Arbeiterschaft zu spalten.

Ein anderes Beispiel der Beschneidung der Rechte der Arbeiter sind die verschiedenen Anlässe, die zur Entlassung führen konnten. Nach dem Arbeitsgesetzbuch von 1922 hatte der Arbeitgeber dieses Recht für den Fall, daß der Arbeiter »für länger als drei Tage hintereinander oder für länger als sechs Tage im Monat im ganzen ohne wichtige Gründe nicht zur Arbeit" erschienen war Nach einer Bestimmung vom August 1927 sollte schon ein unentschuldigtes Fernbleiben von der Arbeit während dreier beliebiger Tage eines Monats als fristloser Entlassungsgrund genügen. Seit dem 15. November 1932 war der Arbeitgeber verpflichtet (nicht wie vorher berechtigt!), bei unentschuldigtem Fehlen an einem Tag den Arbeiter zu entlassen. Am 20. Dezember 1938 beschloß die Regierung der UdSSR gar, daß eine einzige Verspätung von nur 20 Minuten zur Entlassung ausreiche. Dieses Gesetz erwies sich jedoch insofern als zweischneidiges Schwert, als es den Bestrebungen, den Arbeiter an den Betrieb zu binden, zuwiderlief. Wollte der Arbeiter den Arbeitsplatz wechseln (was ständig erschwert wurde), so kam er einfach 20 Minuten zu spät.

Das Ende des freien Arbeitsverhältnisses brachten die Arbeitsgesetze vom Juni 1940, die dem Arbeiter den eigenen freien Arbeitsplatzwechsel untersagten. In den entscheidenden Passagen hieß es: „Das eigenmächtige Weggehen eines Arbeiters oder Angestellten von Unternehmungen und Behörden der Regierung, der Genossenschaften und der Gesellschaft, ebenso das eigenmächtige Hinüber-wechseln von einer Unternehmung oder Behörde zu ist . . . einer anderen verboten Ein Arbeiter oder Angestellter, der eigenmächtig von einer staatlichen, genossenschaftlichen, öffentlichen Unternehmung oder Behörde weggeht, soll gerichtlich verurteilt und entsprechend dem Urteil des Volksgerichts Gefängnis für die Zeit von zwei bis vier Monaten erhalten."

Dieses Gesetz verlängerte außerdem den Arbeitstag und ahndete eine Verspätung des Arbeiters um 20 Minuten und jedes Arbeitsversäumnis „mit Erziehungsarbeit am Arbeitsplatz bis zu sechs Monaten, wobei bis zu 25 °/o des Lohnes einbehalten werden können" Diese mittelalterlich anmutende Gesetzgebung wurde durch ihre Auslegung noch verschärft, da (in der offiziellen Darstellung) als „eigenmächtige Aufgabe des Arbeitsplatzes" auch galt: ,, a) die Nichtbefolgung einer durch das Ministerium ... ausgesprochenen Versetzung in einen anderen Betrieb oder in eine andere Dienststelle, b) die Verletzung der Arbeitsordnung in der Absicht, damit die Entlassung zu bewirken ..."

Diese Beispiele zeigen deutlich zwei Tendenzen: Sicherlich waren viele der Maßnahmen, die alle einen Akt der Gewalt gegen die Arbeiterschaft darstellen, nur ein Ausdruck der schnellen Industrialisierung. Die soziale Differenzierung sollte Anreize schaffen und der Druck auf die Arbeiter diese nicht nur zur modernen Industriedisziplin erziehen, sondern auch eine rasche Industrialisierung herbeiführen. Natürlich spielte dabei der Einfluß, der von der kapitalistischen Umgebung auf die Sowjetunion ausgeübt wurde, eine Rolle. Letztlich boten aber weder die Notwendigkeit der Industrialisierung noch der Druck von außen eine hinreichende Rechtfertigung für die Gewalttätigkeiten. Der Terror warszuallererst ein Signal der Verselbständigung der neuen „Bürokratie", der Herrschaft der Apparate über die Massen.

Wie Stalin durch drastische Säuberungen die „monolithische Einheit" von Staat und Partei zu erreichen glaubte, sollte in der Wirtschaft durch die diktatorische Überspitzung der Gewalt und mit barbarischen Methoden der „Fortschritt" vorangetrieben werden. In den Kreisen der kommunistischen Parteiführung, die alle drakonischen Maßnahmen unterstützen, um die rasche Industrialisierung als Voraussetzung für den „Aufbau des Sozialismus" zu gewährleisten, tauchten sicherlich öfter Zweifel an der Richtigkeit des eingeschlagenen Weges auf. Schließlich mußten sie sich ja auch die Frage stellen, ob die Militarisierung des gesamten Lebens, die Ausschaltung der Initiative von unten, die Zerstörung des revolutionären Elans, die die stalinistischen Führungsmethoden bewirkten, nicht mehr Nachteile für den Aufbau brachten als der straffe Zentralismus Vorteile. Nach Stalins Tod zeigten die veränderten sowjetischen Leitungsmethoden, daß auch in der Wirtschaft die Gewalt durch andere Komponenten ersetzt werden kann. Doch zahlreiche Probleme aus der Tradition der Gewalt und daraus abgeleitetem hierarchischem Denken sind geblieben.

Die Sowjetunion wuchs — schneller als je ein Land zuvor — vom rückständigen Agrarzum fortschrittlichen Industriestaat. Am Ende der Stalin-Ära wurde die moderne Industriegesellschaft allerdings mit Methoden der Gewalt beherrscht, die nicht nur den Theorien des Sozialismus widersprachen, sondern auch das weitere Wachstum des Landes behinderten. Sollte tatsächlich einmal eine „historische Notwendigkeit" für die stalinistische Form der Gewaltanwendung bestanden haben, dann war sie jedenfalls längst vor Stalins Tod überholt und hinderlich geworden. Blickt man hinter die ideologischen Rechtfertigungen und Verschleierungen des Stalinismus, so ist festzustellen, daß die Methoden der Gewalt, vor allem des Terrors, wohl kaum „historische Notwendigkeit" waren, sondern den Interessen (manchmal nur den vermeintlichen) der herrschenden Apparate oder der Macht Joseph Stalins dienten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die vorliegende Arbeit ist in ihren Grundzügen bereits 1962 für die Zeitschrift „Periodikum für wissenschaftlichen Sozialismus" (München) geschrieben worden. Der Beitrag erschien damals nicht, ein Blick in Heft 22 der von Arno Peters herausgegebenen Zeitschrift („Stalin, Stalinismus, Entstalinisierung“) zeigt, daß die Kritik nicht in die apologetische Darstellung des Herausgebers paßte. Bei der Überarbeitung konnte auf die seitherige Diskussion des Problems nur am Rande eingegangen werden. Es kam auch im wesentlichen darauf an, die Gewaltmethoden der stalinistischen Willkürherrschaft zu beschreiben und zusammenfassend zu bewerten.

  2. Werner Hofmann, Stalinismus und Antikommunismus, Frankfurt/M. 1967, S. 13; vgl. auch Leo Trotzki, Die verratene Revolution, Zürich 1957, S. 87 ff.; Isaac Deutscher, Die unvollendete Revolution 1917— 1967, Frankfurt/M. 1967, S. 51 ff.; Ossip K. Flechtheim, Bolschewismus 1917— 1967,

  3. Die Presse der Sowjetunion Nr. 135 vom 10. November 1961, S. 2972.

  4. Illustrierte Geschichte der russischen Revolution 1917, Berlin 1928, S. 336.

  5. Illustrierte Geschichte des russischen Bürgerkrieges, Berlin 1928, S. 123; Lenin, Ausgewählte Werke, Band 6, Moskau-Leningrad 1933, S. 475.

  6. Arthur Rosenberg, Geschichte des Bolschewismus, Berlin 1933, S. 113.

  7. Karl Radek, Proletarische Diktatur und Terrorismus, Hamburg o. J., S. 28 f.

  8. W. H. Braun, Unter Zarenherrschaft und Sowjet-system, Graz 1930, S. 159.

  9. Lenin, Ausgewählte Schriften, hrsg. und eingeleitet von H. Weber, München 1963, S. 942.

  10. Leo Trotzki, Kommunismus oder Stalinismus, o. O. 1947, S. 21.

  11. W. I. Lenin, Sämtliche Werke, Bd. 23, Moskau 1940, S. 199.

  12. Lenin, Ausgewählte Schriften, a. a. O. (Anm. 9), S. 1132.

  13. Lenin, a. a. O., S. 1136, 1178 f.

  14. J. Moneta, a. a. O. (Anm. 2), S. 63.

  15. J. W. Stalin, Werke. Bd 12, Berlin (Ost) 1954, S. 157.

  16. T. Hartwig, F. Lewy u. a.: Unsere Stellung zu Sowjetrußland. Vorwort von Max Seydewitz, Berlin o. J. (1932), S. 112. Vgl. auch Die UdSSR in Zahlen, Berlin (Ost) 1956, S. 91. Die Zwangskollektivierung brachte die Landwirtschaft an den Rand des Abgrunds. Die Bauern schlachteten das Vieh ab, ehe sie in die Kolchose gingen — eine Hungersnot war die Folge.

  17. Im Prozeß gegen die Menschewiki hatten international bekannte Persönlichkeiten wie der Historiker Suchanow und der Nationalökonom Groman phantastische „Geständnisse" abgelegt und waren verurteilt worden.

  18. Prozeßbericht über die Strafsache des sowjet-feindlichen trotzkistischen Zentrums, 23. — 30. Januar 1937. Stenogr. Bericht, Moskau 1937, S. 19.

  19. Prozeßbericht über die Strafsache des trotzkistisch-sinowjewistischen, terroristischen Zentrums, 19. — 24. August 1936, Moskau 1936, S. 37. Die Namensliste der zu ermordenden „Kandidaten"

  20. Prozeßbericht über die Strafsache des antisowjetischen „Blocks der Rechten und Trotzkisten", 2. — 13. März 1938, Stenogr. Bericht, Moskau 1938, S. 361.

  21. Prozeßbericht 1936, a. a. O. (Anm. 19), S. 167. Von den 54 Angeklagten der drei Schauprozesse wurden 48 zum Tode verurteilt und erschossen. Rakowski erhielt 20 Jahre, Radek und Sokolnikow je zehn Jahre Gefängnis, drei weitere Angeklagte zwischen acht und zehn Jahren, auch sie wurden während des Krieges liquidiert.

  22. über die Säuberungen und die Prozesse gibt es inzwischen eine umfangreiche Literatur. Hier sei verwiesen auf: -Robert Conquest, Am Anfang starb Genosse Kirow, Düsseldorf 1970; Joel Carmichael, Säuberung, Berlin (West) 1972; Borys Lewytzkyj, Vom roten Terror zur sozialistischen Gesetzlichkeit, München 1961; Roy A. Medwedew, Die Wahrheit ist unsere Stärke, Frankfurt/M. 1973.

  23. Vgl.: Illustrierte Geschichte der russischen Revolution, Berlin 1928, S. 336; Georg Schueller, The Politbureau, Stanford 1951; Max Shachtman, Behind the Moscow Trial, New York 1936, S. 123; Leo Sedow, Rotbuch über den Moskauer Prozeß, Antwerpen 1936, S. 32 ff.; „Russische Korrespondenz", 1. Jg. Nr. 6/7, April/Mai 1920, S. 69; Kommunistische Partei der Sowjetunion. Historischer Abriß. Statistisches Material, Berlin (Ost) 1967, S. 148 ff.; auch Anm. 21. ,

  24. Vgl. dazu: Pjotr Grigorenko, Der sowjetische Zusammenbruch 1941, Frankfurt/M. 1969. Zur Säuberung der Armee: L. Nikulin/A. Gorbatow, Geköpfte Armee, Berlin (West) 1965; Michel Garder, Die Geschichte der Sowjetarmee, Frankfurt/M. 1968.

  25. Auf dem XX. Parteitag sagte Chruschtschow, daß 70 Prozent der vom XVIII. Parteitag 1934 gewählten Mitglieder und Kandidaten (die fast alle Stalin-Anhänger waren) in den Säuberungen „verhaftet und liquidiert" wurden.

  26. Prozeßbericht 1938, a. a. O. (Anm. 20), S. 731.

  27. W. M. Molotow, Die Lehren der Schädlings-arbeit der Diversionen und der Spionage der japa-nisch-deutsch-trotzkistischen Agenten, Strasbourg 1937, S. 61.

  28. H. Seton-Watson, Von Lenin bis Malenkow, München 1955, S. 156.

  29. über die Fehler der Parteiorganisationen beim Ausschluß von Kommunisten aus der Partei, über das formal-bürokratische Verhalten zu den Appellationen aus der KPdSU(B) Ausgeschlossener und über die Maßnahmen zur Beseitigung dieser Mängel, Moskau 1938, S. 9. In diesem Beschluß wurde auch ein Ausspruch Stalins zitiert, nach dem „für die einfachen Parteimitglieder das Verbleiben in der Partei oder der Ausschluß aus der Partei eine Frage von Leben und Tod ist" (a. a. O., S. 14).

  30. A. Barmine, Einer der entkam, Wien o. J. (1947), S. 453.

  31. Die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU), Berlin (Ost) 1958, S. 90.

  32. Vgl. Wolfgang Leonhard, Schein und Wirklichkeit in der Sowjetunion, Berlin (West) 1952, S. 68 f. Vgl. auch Roy Medwedew, Wo blieb die eine Million verhafteter Kommunisten? „Archipel Gulag II", in: Rudi Dutschke/Manfred Wilke (Hrsg.): Die Sowjetunion, Solschenizyn und die westliche Linke, Reinbek b. Hamburg 1975, S. 226 ff.

  33. Die UdSSR in Zahlen, a. a. O. (Anm. 16), S. 9 und 11.

  34. Vgl. Borys Lewytzkyi, Die rote Inquisition, Frankfurt/M. 1967, S. 133 ff.; Günter Nollau, Die Internationale, Köln 1959, S. 150 ff.; Hermann Weber, Die Kommunistische Internationale, Hannover 1966, S. 305 ff. Zur Stalinisierung der KPD: Hermann Weber, Die Wandlung des deutschen Kommunismus, 2 Bde, Frankfurt/M. 1969.

  35. Chruschtschow rechnet mit Stalin ab. Wortlaut der Rede von Chruschtschow auf der Geheimsitzung des XX. Moskauer Parteitages am 25. Februar 1956, Köln o. J., S. 17.

  36. Lenin, a. a. O. (Anm. 11), S. 317.

  37. Das Programm der Kommunistischen Partei Rußlands. Angenommen auf dem VIII. Parteitag (1918). Mit Einführung von K. Radek, Zürich 1920, S. 55.

  38. Heinrich Freund (Hrsg.), Das Arbeitsgesetzbuch Sowjetrußlands, Ausgabe 1922, Hamburg-Berlin 1923, S. 5.

  39. J. W. Stalin, Fragen des Leninismus, Moskau 1938, S. 612.

  40. Zit. bei Leonhard, a. a. O. (Anm. 32), S. 15. Entsprechend hatte der Arbeiter keinerlei Mitbestimmung, für ihn hieß es: „Die Anordnung eines Vorgesetzten ist für die ihm Unterstellten Gesetz. Sie ist vorbehaltlos, genau und pünktlich zu befolgen." (Lehrbuch des sowjetischen Arbeitsrechts, Berlin [Ost] 1952, S. 251.)

  41. Freund, a. a. O. (Anm. 38), S. 53.

  42. Zit. in W. Grottian, Das sowjetische Regierungssystem, Bd. 2, Köln 1956, S. 131 f.

  43. Lehrbuch des sowjetischen Arbeitsrechts, a. a. O. (Anm. 40), S. 296.

  44. Lehrbuch, a. a. O., S. 271.

Weitere Inhalte

Hermann Weber, Dr. phil., geb. 1928 in Mannheim, o. Professor für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte an der Universität Mannheim. Veröffentlichungen u. a.: Von Rosa Luxemburg zu Walter Ulbricht, Hannover 1961 (4. verb. Aufl. 1970); Der deutsche Kommunismus, Dokumente, Köln 1963 (3. Aufl. 1973); Lenin. Ausgewählte Schriften, München 1963; Konflikte im Weltkommunismus, München 1964; Die Kommunistische Internationale, Hannover 1966; Von der SBZ zur DDR, Hannover 1968; Der Gründungsparteitag der KPD, Frankfurt/Main 1969; Die Wandlung des deutschen Kommunismus, 2 Bände, Frankfurt/Main 1969 (einbändige Studienausgabe 1971); Demokratischer Kommunismus?, Hannover 1969; Lenin, Hamburg 1970; Ansätze einer Politikwissenschaft in der DDR, Düsseldorf 1971; Das Prinzip links, Hannover 1973; Lenin-Chronik (zusammen mit Gerda Weber), München 1974; Die SED nach Ulbricht, Hannover 1974; DDR-Grundriß der Geschichte 1945— 1976, Hannover 1976; SED-Chronik einer Partei 1971— 1976, Köln 1976.