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Das Unbehagen an den Verbänden. Der vorschnelle Ruf nach dem Gesetzgeber | APuZ 8/1977 | bpb.de

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APuZ 8/1977 Innerverbandliche Demokratie — Privatsadie oder Politikum? Verbandsdemokratie durch Recht? Die Diskussion um ein Verbändegesetz in demokratietheoretischer Sicht Das Unbehagen an den Verbänden. Der vorschnelle Ruf nach dem Gesetzgeber Verbände in der Parteiendiskussion. Zu Fragen des Verhältnisses von Parteien und Verbänden in der Bundesrepublik Deutschland

Das Unbehagen an den Verbänden. Der vorschnelle Ruf nach dem Gesetzgeber

Edda Müller

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die ungewisse wirtschaftliche Lage der Bundesrepublik Deutschland und der geringe Handlungsspielraum der Bundesregierung bei der Lösung dringender Probleme haben eine neue Verbändediskussion ausgelöst, überfordern die Verbände den Staat und damit die Allgemeinheit? Sind ihre Forderungen eigentlich durch die Verbandsmitglieder ausreichend legitimiert? Zwei Konzeptionen sind im Rahmen dieser Überlegungen weiterführend: zum einen der Gedanke einer Sozialpflichtigkeit der Verbände und zum anderen die Forderung nach einer Demokratisierung der innerverbandlichen Willensbildungsprozesse. Beide Konzeptionen sollen zum Inhalt eines Verbändegesetzes gemacht werden. Welche Wirkungen hätten solche gesetzlichen Vorschriften im Hinblick auf die innerverbandiichen Entscheidungsprozesse vor allem bei Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden? Schließen sich die Ziele: 1. Steigerung der staatlichen Handlungsfähigkeit und 2. Stärkung des Mitgliedereinflusses in den Verbänden gegenseitig aus? Aufgabe der kommenden Jahre wird es sein, entsprechend dem Modell einer sozialen Marktwirtschaft ein System des „sozialen Pluralismus" zu entwickeln. Der Ruf nach dem Gesetzgeber mag zur Verwirklichung einer freieren und gerechteren Gesellschaft gerechtfertigt sein, er darf aber nicht eine umfassende Analyse der gesellschaftlichen Realitäten behindern oder gar ersetzen.

I. Zur Verbände-Problematik

Unter den Stichworten „Filzokratie", „Mißbrauch gesellschaftlicher Macht", „Unregierbarkeit" sind die Interessenverbände wieder einmal „ins Gerede" gekommen. Hinter dieser Kritik an der Rolle der Verbände verbirgt sich mehr als ein vordergründiger Anti-Verbände-Affekt. Es geht vielmehr zum einen um die Frage, ob das pluralistische System der westlichen Industriegesellschaften auch in Zeiten wirtschaftlicher Stagnation oder Rezession leistungsfähig ist oder ob der Pluralismus „als politische Philosophie der Wohlstandsgesellschaft" in Krisenzeiten versagen muß. Zum anderen stellt sich die alte liberale Frage nach der Freiheit und Autonomie des Individuums in neuer, Form angesichts der weit fortgeschrittenen „Vermachtung" gesamtgesellschaftlicher Entscheidungsprozesse. Konkret geht es bei einer Reform des Verbandswesens also um die Fragen:

— Wie kann die Handlungsfähigkeit des Staates, seine Ausgleichsfunktion gegenüber einer Flut divergierender Anforderungen, angesichts einer stagnierenden Wirtschaft zumindest erhalten und — wie kann der einzelne vor dem Mißbrauch gesellschaftlicher Macht geschützt werden?

Auf eine kritische Auseinandersetzung mit den Vorzügen und Nachteilen des pluralistischen Systems soll hier verzichtet werden; dies ist an anderer Stalle überzeugend geschehen

Als Fazit dieser „Pluralismuskritik“ und als Ausgangspunkt für Reformüberlegungen ergibt sich die folgende Diagnose: — Die Verbände leisten einerseits durch die Bündelung und Kanalisierung von Einzelinteressen einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung der politischen Ordnung. — Die strukturellen Defizite des pluralistischen Systems verhindern andererseits aber einen automatischen Ausgleich aller gesellschaftlichen Interessen. Deshalb muß der staatlichen Ausgleichsfunktion auch bei Ablehnung einer prinzipiellen Trennung von Staat und Gesellschaft ein eigenes normatives Gewicht beigemessen werden.

— Gegenüber dem einzelnen kann unkontrollierte Verbandsmacht gefährlich werden und langfristig zum Freiheitsabbau und zur Reduktion der Interessenvielfalt führen.

II. Konzeptionen zur Reform des Verbandswesens

Die seit Beginn der fünfziger Jahre nie ganz verstummte Diskussion über die Rolle der Verbände und die Möglichkeiten ihrer Kontrolle hat in jüngster Zeit neue Aktualität erhalten. In ihrem Anfang 1977 veröffentlichten Schlußbericht empfiehlt die Enquete-Kommission „Verfassungsreform“ des Deutschen Bundestages eine neue Enquete-Kommission mit der Untersuchung der Frage zu beauftragen, „ob und inwieweit es einer rechtlichen Regelung der Stellung der Verbände in der politischen Ordnung bedarf" Die neuerliche Verbände-Diskussion hat eine Vielzahl i Veröffentlichung ausgelöst Außerdem in letzter Zeit von verschiedener Seite die rderung nach einem Verbändegesetz erhoi worden. Der Ruf nach dem Gesetzgeber wurde von den Meinungsmedien — je nach weltanschaulicher und parteipolitischer Couleur — als kraftvoller Versuch zur Disziplinierung der Verbände oder als anmaßendes Einschüchterungsmanöver kommentiert. Eine sachliche Auseinandersetzung über die Zweckmäßigkeit und Wirksamkeit eines Verbändegesetzes hat bisher nicht stattgefunden. /Die Vorstellungen über den Inhalt eines solchen Verbändegesetzes werden vor allem von zwei Forderungen bestimmt:

— Der Verpflichtung der Verbände zur Gemeinwohlorientierung einerseits und — zur Demokratisierung der innerverbandlichen Strukturen und Willensbildungsprozesse andererseits.

Im folgenden werden beide Forderungen in ihrem Spannungsverhältnis zueinander und im Hinblick auf die Problematik ihrer gesetzlichen Fixierung erörtert. 1. Gemeinwohlverpflichtung der Verbände In der Mannheimer Erklärung vom Juni 1975 hat sich die CDU eingehend mit der Rolle gesellschaftlicher Gruppen befaßt. Besondere Beachtung finden einmal die Probleme des . asymmetrischen Pluralismus", der unzureichenden Repräsentanz und Artikulation von Minderheiten und Randgruppen. Unter dem Stichwort „Neue Soziale Frage" erklärte die CDU die Beseitigung dieser Machtungleichgewichte zum politischen Programm, ohne jedoch in diesem Zusammenhang konkrete Eingriffe in den Verbändebereich zu verlangen.

Von grundsätzlicher Bedeutung für das Verbandswirken sind zum anderen die Forderungen nach „Einordnung der autonomen Gruppen und Verbände in das gesellschaftliche Ganze und das Gemeinwohl" Ein konkretes Ergebnis haben diese Überlegungen in einem Vorschlag der Grundsatzkommission des Landesverbandes der CDU in Schleswig-Holstein gefunden, die am 1. Oktober 1975 die Verankerung der Sozialpflichtigkeit bzw.der Gemeinwohlverpflichtung der Verbände im Grundgesetz und die Verabschiedung eines Verbändegesetzes forderte. Es wurde folgende Ergänzung des Art. 9 GG vorgeschlagen: „Soweit Verbände und andere Vereinigungen bei ihrer Tätigkeit in den Bereich wesentlicher öffentlicher Interessen hineinwirken, sind sie verpflichtet, zugleich das Wohl der Allgemeinheit zu beachten. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz."

Die Forderung nach verstärkter Verantwortung der Verbände für das Gesamtwohl wird in weniger konkreter Form auch aus Kreisen der SPD erhoben. (Im übrigen verhält sich die SPD angesichts des gesamten Problemkreises sehr zurückhaltend.) So erklärte Helmut Schmidt in einer Ansprache vor dem Bundes-verband des Deutschen Groß-und Außenhandels: „Verbände müssen ihre eigenen Interessen in sinnvoller, auf das öffentliche Wohl gerichteter Weise filtern. Die Vorschläge, mit denen sie an die Instanzen des Staates herantreten, müssen unter dem Gesichtspunkt des öffentlichen Wohles und ihrer Gesamtwirkung und Gesamtfolgen abgewogen und gefiltert sein."

Maßgeblichen Einfluß auf die Verbandsdiskussion innerhalb der CDU hat K. H. Biedenkopf genommen, der allerdings eine gesetzliche Verankerung der — auch von ihm geforderten — Gemeinwohlbindung verbandlicher Tätigkeit nicht für ein praktikables Mittel zum Abbau gesellschaftlicher Machtkonzentrationen hält. In einem Interview erklärte Biedenkopf im Januar 1976: „Ich bin der Auffassung, daß in unserer Gesellschaft z. B. ein Verbandsgesetz keine geeignete Form der Verwirklichung der Gemeinwohlbindung ist. Wirksamer ist vielmehr die Sicherung des Gleichgewichts unter den verschiedenen Verbandsorganisationen, die Weckung des öffentlichen Bewußtseins in Fragen der Gemeinwohlbindung und die genauere Definition der Rolle des Staates bei der Lösung von Verteilungsproblemen." über die äußere Einbin-düng der Verbände in die gesamtgesellschaftliche Verantwortung hinaus erhofft sich Biedenkopf vom Ausbau der innerverbandlichen Demokratie eine verstärkte Selbstkontrolle und Gemeinwohlbindung der Verbände und gleichzeitig eine Verstärkung der Handlungsfähigkeit von Staat und Gesellschaft: »Wenn ich die Stellung des Einzelnen im Verband stärke, dann stärke ich damit gleichzeitig die Interessenpluralität im Verband und damit schaffe ich gewissermaßen eine interne Gemeinwohlbindung des Verbandes, .. 2. Innerverbandliche Demokratisierung Im Kern und in der Zielrichtung unterscheidet sich die Verbändediskussion innerhalb der FDP von der CDU-Diskussion nicht wesentlich. Ausgangs-und Bezugspunkt ist hier allerdings noch stärker der einzelne und die Notwendigkeit seines Schutzes gegen die Entmündigung durch unkontrollierte gesellschaftliche Macht. Verstärkt werden soll die Freiheit des einzelnen von der Organisation und gegenüber der Organisation. Notwendig dazu sei die Erhöhung der Entscheidungsfähigkeit und Ausgleichsfunktion des Staates; dies wiederum könne über eine öffentliche Kontrolle der Verbände und ihre Sozialpflichtigkeit bzw. Gemeinwohlbindung erreicht werden.

Konkrete Maßnahmen zur Realisierung dieses Programms werden gegenwärtig in einer vom Bundesvorstand der FDP beauftragten Kommission „Gesellschaftliche Großorganisationen" erwogen. Der von der Kommission ausgearbeitete Entwurf eines Verbändegesetzes wurde vor kurzem veröffentlicht Er scheint auch innerhalb der FDP keine einhellige Zustimmung zu Analog zum finden

Parteiengesetz will der Entwurf für solche Verbände, die einen erheblichen Einfluß auf politische Entscheidungen ausüben, einen demokratischen innerverbandlichen Willensbildungs-und Entscheidungsprozeß vorschreiben. Die entsprechenden Verbandssatzungen müßten demnach vor allem die folgenden Bedingungen einer demokratischen Struktur berücksichtigen — Aufbau des Verbandes von unten nach oben, demokratische Willensbildung sowohl hinsichtlich der programmatischen Richtungsbestimmung wie auch der personellen Auswahl;

—Notwendigkeit einer Kompetenzverteilung innerhalb des Verbandes zur Ermöglichung gegenseitiger Kontrolle der verschiedenen Verbandsorgane; — weitgehende Offenheit innerhalb des Verbandes, so z. B. schriftliche Fixierung der Grundprinzipien des Verbandes zur leichteren Information aller Mitglieder; — grundsätzliche Offenheit des Verbandes gegenüber denjenigen Bevölkerungsgruppen, die er zu repräsentieren vorgibt; — Ausschluß von Mitgliedern nur auf Grund allgemeiner Ausschlußgründe bei schuldhafter Schädigung des Verbandes und nach Gewährung rechtlichen Gehörs und nachträglicher Überprüfung;

— Garantie innerverbandlicher Meinungsfreiheit und innerverbandlicher Opposition.

Der Entwurf will außerdem den Wettbewerb der Verbände untereinander wiederherstellen, für eine hinreichende Transparenz verbandlieher Aktivitäten sorgen und die Einhaltung der Vorschriften von einem „Verbände-Beauffragten" kontrollieren lassen.

III. Problematik eines Verbändegesetzes

Es stellt sich die Frage, ob die von beiden Konzepten verfolgten Ziele:

— Stärkung der Handlungsfähigkeit des Staates beim Ausgleich widerstreitender Interessen und — Schutz der individuellen Freiheitsrechte gegenüber einer Mediatisierung durch Interessenorganisationen durch gesetzliche Eingriffe in das Verbands-wesen verwirklicht werden können oder ob nicht beide Zielsetzungen und Konzepte in einem Spannungsverhältnis zueinander 1, Handlungsfähigkeit des Staates Die gesellschaftliche Entwicklung hat bewiesen, daß der ungezügelte Pluralismus eine Tendenz zur Machtkonzentration, zur Unterdrückung neuer Gruppen, zur Reduktion der Interessenvielfalt und zur Zementierung des Status quo in sich birgt. In diesem Prozeß darf sich der Staat nicht lediglich als neutrale Umschaltstelle, als bloßer Vollstrecker von Gruppenkompromissen verstehen, er muß dem ungleichgewichtigen Interessenkampf vielmehr eine eigenständige Handlungsfähigkeit entgegensetzen. Die Problematik ist unmittelbar mit der vergleichbar, die zur Abkehr vom reinen Modell der freien Marktwirtschaft und zur Hinwendung zum Modell der sozialen Marktwirtschaft geführt hat. Aufgabe einer zeitgemäßen Pluralismusdiskussion müßte es deshalb sein, ein System des „sozialen Pluralismus“ zu entwerfen, in dem der Handlungsfähigkeit des Staates ein entscheidender Stellenwert zukommt. Wie ist es nun gegenwärtig um diese Handlungsfähigkeit bestellt?

Neuere Gesellschaftstheorien kennzeichnen den politischen Entscheidungsprozeß in der pluralistischen Demokratie als einen incrementalen Vorgang, d. h. als ein Vorgehen, bei dem für die Gestaltung sozialer Verhältnisse nur wenig Veränderungsspielraum besteht und daher der Status quo nur durch marginae Veränderungen fortentwickelt wird. Die Gründe werden darin gesehen, däß sich im Pluralismus der soziale Wandel pareto-opti-

mal vollziehen muß, d. h. daß keine Gruppe in ihrem Nutzen stark benachteiligt sein darf, wenn das politische System nicht seine Legitmitätsbasis, die Zustimmung der Betroffe39 nen, aufs Spiel setzen will In Zeiten hohen gesellschaftlichen Konsenses und einer stetigen Entwicklung der sozialen Verhältnisse braucht diese incrementale Politik nicht zur Legitimitätskrise zu führen. Schwierigkeiten können aber dann auftreten, wenn plötzlich neu auftretende Probleme einschneidende Veränderungen verlangen. Dann besteht die Gefahr, daß die pluralistische Demokratie angesichts von Krisen, von gesunkenen Erträgen und drohenden Haushaltslücken versagt.

Die bereits im Wohlstand schwierige Ausgleichsfunktion des Staates wird bei stagnierendem Wachstum und stärker werdenden Verteilungskämpfen um ein Vielfaches komplizierter. Der Staat kann bei steigenden Wachstumsraten vielfältige und widersprüchliche Forderungen und Ansprüche befriedigen. Indem er allen etwas gibt, braucht er nicht Partei zu ergreifen und vermeidet dadurch Konflikte. In einer ungünstigeren Wirtschaftssituation, die angesichts möglicher weiterer Probleme in der Rohstoffversorgung und angesichts der realistischen Möglichkeit eines Verdrängungswettbewerbs auf dem Weltmarkt durch die sogenannten Schwellenländer wahrscheinlich ist, könnte die Verteilung öffentlicher Gelder einem „Nullsummenspiel“ gleichen, „bei dem, wie beim Poker, immer jemand das verlieren muß, was ein anderer gewinnt" Der Staat würde in konflikthafterer Weise sich für die einen und gegen die anderen organisierten Interessen entscheiden müssen. Er müßte außerdem den gerechten Ausgleich zwischen den organisierten und den nicht organisierten Interessen herstellen und schließlich darauf achten, daß das öffentliche Interesse gegenüber dem privaten nicht zu kurz kommt.

Wie schwierig bereits heute — in einer im internationalen Vergleich noch relativ stabilen Wirtschaftslage — diese Ausgleichsfunktion für die Bundesregierung ist und wie sehr ihre Handlungsautonomie begrenzt ist, haben erst kürzlich die Ereignisse im Zusammenhang mit der Sanierung der Rentenversicherung, der Novellierung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes, der Besteuerung der Landwirte und der Senkung der Kosten im Gesundheitswesen gezeigt. In allen Fällen wurden die Bundesregierung oder die sie tragenden Parteien — angesichts der massiven Proteste der Betroffenen und ihrer Verbände — in dem Bemühen verunsichert, die für notwendig erachteten Maßnahmen durchzusetzen.

Aus diesem Dilemma versucht die Konzeption einer Sozialpflichtigkeit bzw. Gemeinwohl-orientierung der Verbände einen Ausweg zu weisen, indem die Verbände zur Verhaltensänderung aufgefordert werden. Der Verpflichtung der Verbände zur Gemeinwohl-orientierung und Zurückhaltung geht dabei weder eine eingehende Analyse der staatlichen noch der verbandlichen Wirklichkeit voraus. So müßte ein Konzept zur Erweiterung der staatlichen Handlungsspielräume zunächst die Frage klären, wer eigentlich dieser Staat ist. Geht es etwa darum, die Handlungsfähigkeit des Parlaments, der Regierung oder der Bürokratie gegenüber den Gruppeninteressen zu steigern, oder liegt das Problem vielleicht bereits im Charakter unseres Parteien-systems und in der abnehmenden Integrationsfähigkeit der „Allerweltsparteien" begründet? Als nächstes wäre zu klären, welchen Bedingungen eigentlich das verbandliche Wirken unterworfen ist, ob allein der normative Anspruch einer gesetzlichen Gemeinwohlverpflichtung verbandliches Handeln verändern kann, und welche Auswirkungen eine solche Gemeinwohlverpflichtung auf die Integrationsfunktion der Verbände hätte? Die Notwendigkeit einer solchen Wirkungsanalyse zeigt sich vor allem dann, wenn man den Verbänden durch Gesetz nicht nur die Verpflichtung zur Gemeinwohlorientierung vorschreibt, sondern von ihnen außerdem verlangt, den Einfluß der einzelnen Mitglieder auf die Verbandsentscheidungen durch Demokratisierung der innerverbandlichen Willensbildungsprozesse zu stärken. 2. Stärkung der individuellen Freiheit im Verband Die Forderung nach Demokratisierung der innerverbandlichen Strukturen erhält ihre Rechtfertigung zunächst aus ihrem normativen Anspruch, nämlich der Sicherung eines Höchstmaßes individueller Freiheit nicht nur im staatlich-politischen sondern auch im gesellschaftlichen Bereich. Das Verlangen nach innerverbandlicher Demokratie wird jedoch auch mit Effizienzargumenten begründet. Nach Steinberg ist die Leistungsfähigkeit und Integrationskraft der Verbände abhängig von den Mitspracherechten der Mitglieder im Verband: „Die Leistungsfähigkeit der Verbände für das Gemeinwesen wird gemindert und in Frage gestellt durch die Herausbildung oligarchischer, nicht-repräsentativer Führungsgruppen, deren Stellung durch die Verfügung über soziale Kontrollmittel gesichert, deren Legitimität jedoch gering ist. Der Wert der Informationen, die die Verbände den staatlichen Stellen über die Mitgliederinteressen liefern, ist zweifelhaft; Ausmaß und Richtigkeit der Information der Mitglieder über Maßnahmen der Regierung entziehen sich der Kontrolle. Als Folge verlieren auch die staatlichen Entscheidungen an Repräsentativität und legitimierender Kraft. Die möglichen Leistungen der Verbände erweisen sich dadurch als Fehlleistungen, die Vereinigungsfreiheit der gesellschaftlichen Gruppen wird zum Privileg einer kleinen Führungs-und Funktionärsschicht; die freiheitssichernde Wirkung der Vereinigungen wird für den einzelnen durch Freiheitsverkürzungen im innerverbandlichen Bereich entwertet."

Das Effizienzargument kann aber auch — aus der Sicht des Verbandsmitgliedes — für die gegenteilige Begründung herangezogen werden. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß das Ziel möglichst breiter innerverbandlicher Mitwirkung und Kommunikation im Widerstreit zum allgemeinen Verbandszweck und den Interessen der Mitglieder nach einer möglichst erfolgreichen, schlagkräftigen Verbandspolitik stehen könnte. Autoritäre Entscheidungen müssen nicht unbedingt den Interessen der Mitglieder zuwiderlaufen. Föhr vermutet vielmehr: „Dem einzelnen Mitglied geht es zunächst um eine möglichst effektive Durchsetzung seiner Interessen, vertreten durch seinen Verband, gegenüber den jeweiligen Kontrahenten, auch wenn darunter die eigene Mitwirkungsmöglichkeit innerhalb des Verbandes leidet.“

Vermutlich wird es jeweils von der Art des Verbandes und der jeweiligen Beitrittsmotit vation der Mitglieder abhängen, ob der normative Anspruch auf Demokratisierung und nach einem Schutz der individuellen Freiheit vor Verbandsoligarchie einem echten Bedürfnis entspricht. Für manche Verbandsmitglieder mag es Ausdruck individueller Freiheit sein, einem Verband wegen seiner Dienstleistungen beizutreten und sich im übrigen um allgemeinpolitische Ziele und Aktivitäten des Verbandes nicht kümmern zu müssen.

Die Konzeption innerverbandlicher Demokratie müßte daher zunächst ihren Anwendungsbereich näher definieren. Es kann z. B. vermutet werden, daß eine Beeinträchtigung individueller Freiheit und die Notwendigkeit stärkerer Mitspracherechte der Verbandsmitglieder immer dann wahrscheinlich ist, wenn — ein Verband wichtige — nicht nur marginale — Interessen seiner Mitglieder vertritt,

— Zwangsmitgliedschaft ohne vorliegt, daß der Verbandsauftrag hinreichend klar eingegrenzt ist, — ein Verband generelle — auch Nichtmitglieder bindende — öffentliche Funktionen wahrnimmt,, — die Integrationsfunktion von Verbänden erkennbar geschwächt ist.

In allen diesen Fällen wäre eine innerverbandliche Demokratisierung unter dem Ziel-aspekt der Verwirklichung eines Höchstmaßes individueller Freiheit und Unabhängigkeit 1 notwendig. Es stellt sich allerdings die Frage, I ob sich dieses Ziel mit dem einer Stärkung I der staatlichen Handlungsfähigkeit vereinba-'renläßt. 1 Mögliche Auswirkungen am Beispiel der Wirtschaftsverbände Die Verpflichtung der Verbände zur Gemein-I wohlorientierung und der Aufbau stark partizipativer innerverbandlicher Entscheidungsstrukturen können in einem Zielkonflikt stehen. Wie oben dargestellt, ist die Handlungsfähigkeit des Staates sehr stark abhän7 gig von der Verantwortlichkeit der Verbände oder — mit anderen Worten — von der Fähigkeit der Verbände, ihre Aufgabe der Selektion und Filterung von Interessen mit Verantwortung für das ganze Staatswesen wahrzunehmen. Für die Verbände wird damit aber die Aufgabe der Integration und „Befriedung" ihrer Mitglieder schwieriger.

Ein Ausbau innerverbandlicher Demokratie könnte in einer solchen Situation — vor allem angesichts der vermutlichen Apathie vieler Mitglieder und der Tendenz zu einer „schweigenden gemäßigten Mehrheit" — zum Wachsen der Anspruchsinflation an den Staat führen bei gleichzeitiger Abnahme der systemstabilisierenden Funktion der Verbände. Es könnte zu einer Situation kommen, die Kielmansegg so beschrieb: „. .. für den Staat (wird es) ganz allgemein immer schwieriger, Zustimmung für Entscheidungen zu mobilisieren, von denen kein unmittelbarer, individueller Nutzen, sondern vielleicht sogar das Gegenteil für eine Mehrheit der Betroffenen zu erwarten ist" Damit soll nicht grundsätzlich der pessimistischen Sicht von Kielmansegg zugestimmt werden, der generell befürchtet, daß eine Intensivierung von Partizipation die Fähigkeit des politischen Systems, die ihm gestellten Aufgaben zu lösen, verringern würde

Bevor durch gesetzliche Vorschriften innerverbandliche Prozesse verändert werden, erscheint es notwendig, Klarheit zu gewinnen zum einen über die Unterschiede der Verbandsstrukturen und zum anderen über die möglichen Auswirkungen einer Schwächung der verbandlichen Führungsschichten.

Die gegenwärtige Zusammenarbeit zwischen Staat und Verbänden basiert in weiten Bereichen auf dem „Miteinanderredenkönnen" staatlicher und gesellschaftlicher Funktionsträger. Abstimmungsgremien wie die Konzertierte Aktion würden viel von ihrer Steuerungskraft einbüßen, wenn sich an den Verhandlungstischen nur Träger eines imperativen Mandats gegenübersäßen. Diese Kehrseite der Medaille „Oligarchisierung“ wird auch von Steinberg gesehen. Er schreibt: „Das Festhalten an bestimmten Formen des politisehen Verfahrens wird insbesondere durch die heute in allen größeren Verbänden anzutreffende Bürokratie und deren Funktionäre verstärkt. Sie sind wie die staatlichen, Büro-kratien an rationalen Verfahrensabläufen interessiert, werden zum großen Teil aus denselben Bevölkerungsschichten rekrutiert und haben ungeachtet der sachlichen Interessen-gegensätze einen ähnlichen Arbeitsstil und grundsätzlich vergleichbare Arbeitsprobleme.

Empirisch gesicherte Kenntnisse über verbandliche Willensbildungs-und Entscheidungsprozesse fehlen heute noch weitgehend. Im folgenden sollen daher nur einige Fragen aufgeworfen werden, die sich vor allem hinsichtlich der Funktion der Wirtschaftsverbände stellen. Vermutlich würden gesetzliche Vorschriften über innerverbandliche Entscheidungsverfahren Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in unterschiedlicher Weise treffen. Aus der Sicht des Staates können diese Auswirkungen jedoch gleichermaßen problematisch werden.

Die Gewerkschaften sind Einzelmitgliederorganisationen; in den Arbeitgeberverbänden sind Unternehmen — sehr unterschiedlicher Größe und Marktbedeutung — zusammengeschlossen. Eine Verstärkung der Willensbildung von unten nach oben könnte möglicherweise zu einer Schwächung der Ordnungsfunktion dieser Verbände führen. Dies soll zunächst hinsichtlich der Gewerkschaften erläutert werden.

Es gilt als unbestritten, daß die verantwortungsbewußte Politik der Gewerkschaften einen entscheidenden Beitrag zur positiven Entwicklung der Bundesrepublik geleistet hat. Dieses Verantwortungsbewußtsein hat sich nicht zuletzt hinsichtlich jener Wirtschaftsbereiche gezeigt, in denen in der Vergangenheit durch Rationalisierung Arbeitskräfte in erheblichem Umfang entlassen wurden. Die Gründe für die gesamtwirtschaftlich positive Rolle der deutschen Gewerkschaften werden im internationalen Vergleich vor allem in zwei Faktoren gesehen: Die Einheitsgewerkschaft hat gegenüber den Richtungsgewerkschaften den Vorteil, daß radikale Strömungen leichter aufgefangen werden können und — wegen des Fehlens konkurrierender Gewerkschaften — ein geringerer Zwang zur Profilierung und damit zur Eskalation von Ansprüchen besteht Die zentralistische Entscheidungsstruktur deutscher Gewerkschaften macht es überdies möglich, daß das Machtpotential der Gewerkschaften nicht nur zur Durchsetzung von Forderungen eingesetzt wird, sondern auch zur Erfüllung von Ordnungsfunktionen.

Trotz dieser relativ starken Stellung der Gewerkschaftsorganisationen haben die Gewerkschaften nicht geringe Probleme bei der Durchsetzung wirtschaftskonformer Entscheidungen gegenüber ihrer Basis. Diese Probleme wachsen vor allem in den Zeiten, in denen der Staat von den Gewerkschaften besondere Mäßigung und Verantwortung fordert, nämlich in wirtschaftlichen Schwächeperioden. Die Wahrscheinlichkeit relativ hoher Arbeitslosenzahlen bis zur Mitte der 80er Jahre angesichts der demographischen Situation und vor allem das Problem der Jugendarbeitslosigkeit werden die Gewerkschaften gerade in den kommenden Jahren vor eine harte Probe stellen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß gerade von Gewerkschaftsseite die Widerstände gegen Eingriffe in die innergewerkschaftlichen Willensbildungsprozesse besonders stark sind. Sie können nicht ohne weiteres als das „Beharrungsvermögen von Führungsoligarchien" abgetan werden. Die besondere Situation der Gewerkschaften gegenüber ihren Mitgliedern — auch die Gefahr von wilden Streiks, der Druck von Nicht-Mitgliedern — machen die gewerkschaftliche Führungsarbeit zu einer Gratwanderung zwischen gesamtgesellschaftlicher Verantwortung und der Erhaltung der Zustimmung der Mitglieder. Im Zweifel wird jede Gewerkschaftsführung deshalb Konflikte zugunsten der Mitgliederinteressen entscheiden müssen. Damit sind der Bevormundung des einzelnen durch die Interessenorganisation — zumindest in diesem Bereich — Grenzen gesetzt, gleichzeitig allerdings auch der Verpflichtung zur Gemeinwohlorientierung. Die Durchsetzungsprobleme der Unternehmer-verbände gegenüber ihren eigenen Mitglie-dem sind nicht geringer. Faktisch besitzen diese Verbände keine Einflußinstrumente gegenüber den ihnen angeschlossenen Unternehmen. Sie können diese lediglich repräsentieren, aber nicht disziplinieren. Das gilt natürlich besonders gegenüber Großunternehmen Tarifabschlüsse binden die Unternehmen zwar als Untergrenze, die Preispolitik der Einzelunternehmen bestimmt sich jedoch nach der Marktlage und der Kostenstruktur.

direkten Einen Einfluß auf die Preisgestaltung können die Verbände nicht ausüben.

Die schwache Stellung der Arbeitgeberverbände gegenüber den Unternehmen ist einer der Hauptgründe für die Legitimitätsproblematik der Gewerkschaften. Während die Mindestlöhne durch kollektive Vereinbarungen fixiert werden, sind einzelne Unternehmen in der Lage, übertarifliche Löhne zu zahlen; sie können zugleich die Kosten auf die Preise abwälzen und so durch eine Erhöhung der Inflationsrate die Ausgangsbasis der Gewerkschaften bei den Tarifverhandlungen desavouieren.

Die Gewerkschaften sind auch nicht davor geschützt, daß die Unternehmen die Ausweitung des Investitionsspielraums — der volkswirtschaftlich mit einem Verzicht auf ein Anwachsen des konsumtiven Geldvolumens gekoppelt ist — dazu benutzen, ihre Kostensituation durch Rationalisierungsmaßnahmen, d. h. durch Einsparung von Arbeitsplätzen zu verbessern.

Die gegenwärtigen Lohndiskusssionen zeigen, daß gerade der letztere Unsicherheitsfaktor es den Gewerkschaften sehr schwer macht, den Appellen von Bundesbank und Wirtschaftspolitikern nach mäßigen Lohnabschlüssen Folge zu leisten.

Besteht also für die Gewerkschaften keine Möglichkeit, zu „weiche” oder zu „harte"

Verhandlungsergebnisse zu korrigieren, so können sie für Fehlentscheidungen von ihren Mitgliedern voll zur Verantwortung gezogen werden. Die Abhängigkeit der Gewerkschaften vom Verhalten der Unternehmen begrenzt daher wiederum die „Willkür“ der Gewerkschaftsführer gegenüber ihrer Basis, es macht aber auch die Forderung nach größerer gewerksdraftlicher Verantwortung für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und erst recht eine entsprechende gesetzliche Auflage problematisch. Der verbandlichen Gesamtverantwortlichkeit sind aber nicht nur angesichts der verbands-internen Verpflichtungen gegenüber den Mitgliedern Grenzen gesetzt, die Befürworter einer solchen gesetzlichen Vorschrift müssen sich auch die Frage vorhalten lassen, wie sich ein solches Gebot in unserem gegenwärtigen Wirtschaftssystem verwirklichen lassen soll. Zwar ließe sich auf der einen Seite die Forderung nach lohnpolitischer Verantwortung der Gewerkschaften noch im Rahmen der Marktwirtschaft realisieren, was würde auf der anderen Seite aber die wirtschaftspolitische Verantwortung der Unternehmerverbände angesichts des marktwirtschaftlichen Preis-mechanismus bedeuten? Konsequenterweise müßte eine solche Verantwortung auch mit Einflußinstrumenten auf die Preisgestaltung gekoppelt sein. Dies würde aber die Befürwortung von Preis-und Kapazitätsabsprachen, d. h. von Kartellen bedeuten.

Noch deutlicher als im Bereich der Konjunkturpolitik wird der Formelcharakter verbandlicher Gemeinwohlverpflichtung und Verantwortung im Bereich der wirtschaftlichen Strukturpolitik. Welche Möglichkeiten haben Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände gegenwärtig, ihre Forderungen mit Rücksicht auf strukturpolitische Notwendigkeiten zu formulieren? Voraussetzung für eine solche strukturpolitische „Verantwortung" wäre eine Leitlinie, d. h. die Existenz einer wirksamen staatlichen Strukturpolitik bzw. zumindest das Vorliegen entsprechender Konzeptionen. Gegenwärtig gibt es aber beides nur in Ansätzen. Nicht zuletzt auf Grund der Einflüsse des pluralistischen Systems auf die staatlichen Entscheidungen haben staatliche strukturpolitische Maßnahmen zumeist den Charakter von Erhaltungssubventionen, oder die öffentlichen Mittel werden — um keinem wehzutun — nach dem „Gießkannenprinzip" verteilt. Eine grundsätzliche Alternative hierzu stellen die Überlegungen zu staatlicher Investitionslenkung dar. Gegenwärtig ist nicht zu sehen, daß die Befürworter einer gesamtwirtschaftlichen Verantwortlichkeit der Wirtschaftsverbände diese Konsequenzen zu ziehen bereit sind.

Es zeigt sich, daß die vorliegenden Konzepte zur Korrektur (und damit zur Erhaltung) unseres pluralistischen Systems viele Fragen aufwerfen. Solange die Antworten hierauf nicht gegeben werden können, wäre es leichtfertig, die Konzepte in einem Verbändegesetz festzuschreiben. Ein solches Gesetz, dessen gesellschaftliche Wirkungen ungewiß sind, könnte statt zu einer Verbesserung der staatlichen Handlungsfähigkeit zu deren Ver-schlechterung führen, ohne daß die Nachteile durch eine Vergrößerung der individuellen Freiheitsräume in unserer Gesellschaft ausgeglichen würden.

IV. Schlußfolgerungen

Die skeptische Beurteilung eines Verbändegesetzes auf der Basis der Konzeptionen „verhandliche GemeinwohlVerpflichtung" und „innerverbandliche Demokratisierung" soll jedoch nicht als Kapitulation vor der Verbände-Problematik mißverstanden werden. Im folgenden wird — in Form von Thesen — versucht, die Gesamtproblematik und die Richtung, in der Lösungen gesucht werden sollten, aufzuzeigen.

1. Die Disfunktionalität des gegenwärtigen pluralistischen Systems ist offensichtlich. Der Staat kann sich nicht mehr auf einen pluralistischen Selbstregelungsmechanismus verlassen; es ist deshalb seine Pflicht, das System im Sinne eines „sozialen Pluralismus“ zu steuern und zu verändern.

2. Neben dem Problem des asymmetrischen Pluralismus, d. h.der mangelnden Chancen-gleichheit der Interessenartikulation, liegt die entscheidende Problematik in der Begrenzung und Behinderung der staatlichen Handlungsfähigkeit und Ausgleichsfunktionen.

3. Es ist wahrscheinlich, daß diese Probleme weder mit deklaratorischen Forderungen nach mehr Verantwortung und Gemeinwohlorientierung noch mit einem verbandsspezifischen umfassenden Gesetzeswerk zu lösen sind.

4. Erarbeitet werden sollte das Konzept eines „sozialen Pluralismus". Dies setzt eingehende empirische Analysen der ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen des Verbandswirkens voraus. Das Verbändephänomen ist vielgestaltig; notwendig ist daher eine differenzierte Programmatik und Strategie hinsichtlich einzelner Verbands-typen und Tätigkeitsformen. Punktuelle Eingriffe und Konzeptionen, die nicht auf dem Hintergrund einer solchen umfassenden Wirkungsanalyse entwickelt werden, können zu unkontrollierbaren und unerwünschten Auswirkungen führen.

5. Vermutlich wird sich staatliche Verbands-politik als Programm inhaltlich und zeitlich aus einer Vielzahl von Einzelregelungen zusammensetzen müssen. Eine solche Politik wird selbstverständlich bereits betrieben, wenn z. B.den Verbänden in Gesetzen, Verordnungen und sonstigen Bestimmungen Mitwirkungsrechte eingeräumt werden. Gerade dieses schrittweise Vorgehen erfordert jedoch eine klare Richtungsbestimmung, die nur mit Hilfe einer grundsätzlichen Konzeption gefunden werden kann.

6. Das Spektrum möglicher Einzelmaßnahmen ist breit, es umfaßt praktisch alle Politikbereiche.

Notwendig wird sein:

— Die Beeinflussung und Aktivierung der Meinung, damit diese ihre Kritik-und Kontrollfunktion voll entfalten kann;

— die Überprüfung des gegenwärtigen Trends zum „Korporatismus" in der Politik, der sich in der immer weitergehenden Einbindung der gesellschafts-und wirtschaftspolitisch bedeutsamen Verbände in die staatliche Verantwortung zeigt;

— ein Abbau des asymmetrischen Pluralismus mit Mitteln der Sozial-und Gesellschaftspolitik;

— eine Beseitigung der die Handlungsfähigkeit des Staates beeinträchtigenden internen Strukturprobleme der Staatsorganisation;

— schließlich wird auch die Rechtsprechung zum Ausgleich gesellschaftlicher Ungleichgewichte beitragen können.

Die Idee des „sozialen Pluralismus“ wird — wie die Idee der „sozialen Marktwirtschaft” — eine Handlungsmaxime für künftige Politik sein müssen. Dabei darf jedoch nicht aus den Augen verloren werden, daß Homogenität und Konfliktlosigkeit keine Werte an sich darstellen, vielmehr sichert innerhalb einer Gesellschaft der Wettstreit von Meinungen und Interessen letztlich den höchsten Grad an Rationalität Technokratische oder autoritative Modelle werden der komplexen gesellschaftlichen Realität nie gerecht werden können;

ebensowenig wird ein Verbändegesetz durch Gebote und Verbote in der Lage sein, die vielfältigen Probleme unseres pluralistischen Gesellschaftssystems zu lösen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Walter Euchner, in: Der CDU-Staat, Frankfurt 1967.

  2. Vgl. u. a. Klaus von Beyme; Interessengruppen in der Demokratie, München 1969.

  3. Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages, Kapit 5 13, S. 2, BT-Drucksache 7/5924, Bonn, Januar 1977

  4. Vgl. insbesondere W. Dettling (Hrsg.), Macht der Verbände — Ohnmacht der Demokratie?, München, Wien 1976.

  5. Vgl. Mannheimer Erklärung der CDU vom Juni 1975.

  6. Grundsatzkommissiom des CDU-Landesverbandes Schleswig-Holstein, Pressemitteilung vom 1. Oktober 1975.

  7. Helmut Schmidt, Ansprache vor dem Bundes-verband des Deutschen Groß-und Außenhandels am 22. Oktober 1975 in Bad Godesberg, in: Der Arbeitgeber, Nr. 22/27, 1975, S. 977.

  8. Kurt H. Biedenkopf, Der Bürger zwischen Gruppeninteresse und Staatsbürokratie, in: Herder Korrespondenz, Monatshefte für Gesellschaft und Religion, H. 1, Jan. 1976, S. 15.

  9. K. H. Biedenkopf, a. a. O„ S. 17.

  10. „Südwest-liberal", FDP-Zeitung für Baden-Württemberg, 0/1977.

  11. Wie die FAZ berichtete, nannte der Parlamentarische Staatssekretär Baum den Entwurf „perfektionistisch" und bezweifelte, ob „ein Gesetz überhaupt das geeignete Mittel sei, in den Verbänden ein Mindestmaß an demokratischer Willensbildung und Transparenz der Entscheidungsprozesse zu sichern". FAZ vom 6. 1. 1977, S. 1.

  12. Vgl. H. Föhr. Anforderungen des Grundgesetzes an den Aufbau von Verbänden, NJW 1975, H. 14 und vor allem Rudolf Steinberg, Die Interessenverbände in der Verfassungsordnung, PVS 1973, H. 1, S. 27 ff.

  13. Vgl. v. Beyme, a. a. O., S. 17.

  14. Vgl. F. W. Scharpf, Krisenpolitik, in: v. Oertzen/Ehmke/Ehrenberg (Hrsg.), Thema: Wirtschaftspolitik-Materialien zum Orientierungsrahmen 1985, Bonn 1974, S. 11— 28.

  15. Christian Graf von Krockow, Reform als politisches Prinzip, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 9/76, S. 34.

  16. Vgl. hierzu Wilhelm Hennis, Probleme der Regierbarkeit, in: Die politische Meinung, Nov. /Dez. 1976, S. 85 ff.

  17. Steinberg, a. a. O., S. 50.

  18. Föhr, Innere Demokratie in den Verbänden, in: Freiheit in der sozialen Demokratie; Materialien zum 4. Rechtspolitischen Kongreß der SPD am 6. bis 8. Juni 1975 in Düsseldorf, S. 50.

  19. Übrigens sollte bei der Diskussion über die Awangsverbände nicht übersehen werden, daß diese meist — mit entsprechender RechtsgrundlageAufgaben im Auftrag des Staates und zu dessen Entlastung wahrnehmen.

  20. Die große Zahl von Bürgerinitiativen der letzen Jahre kann in diesem Zusammenhang nicht ur als Reaktion auf die unzureichende Repräsen-stivfunktion, sondern auch als eine Schwäche der verbandlichen Integrationsfunktion interpretiert werden.

  21. Peter Graf Kielmansegg, Demokratieprinzip und Demokratiekrise, MS, 1974, S. 6.

  22. Vgl. Kielmansegg, a. a. O., S. 9.

  23. Steinberg, a. a. O., S. 39.

  24. Dies zeigt die Grenzen „countervailing powers" des Gedankens der zumindest für den Gewerkschaftsbereich.

  25. Unter der Überschrift: „Mehr Kompetenzen für die Bundesorganisation der GEW“ begrüßt die FAZ vom 10. Juni 1974 (S. 5) „liberale" Entwicklungen innerhalb dieser Gewerkschaft. In einem Beschluß des GEW-Bundeskongresses werden der Bundesorganisation der GEW gegenüber den Landesverbänden mehr Kompetenzen übertragen. Die FAZ kommentiert dies: „Durch diese Vereinheitlichung und Zentralisierung wird eine Stärkung der GEW erreicht. Sie wird der in einigen Ortsvereinen und Landesverbänden erschreckend fortgeschrittenen Polarisierung Grenzen ziehen, die GEW auf diese Weise handlungsfähiger machen, aber auch gewerkschafts-und verfassungsfeindlichen Kräften besser entgegenwirken.'

  26. Hierbei wird deutlich, daß sich die Problematik gesellschaftlicher Machtkonzentrationen nicht ®ur hinsichtlich der Verbände stellt. Nationale ®d multinationale Großunternehmen brauchen ihren Einfluß nicht über Verbände geltend zu machen. Ihre Wirkungen auf den Staatsapparat und een Freiheitsraum des einzelnen sind gleichwohl nicht geringer.

  27. Vgl. v. Beyme, a. a. O., S. 201.

Weitere Inhalte

Edda Müller, Dipl. Pol., geb. 1942; seit 1970 Hilfsreferentin im Bundesministerium des Innern. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit H. Schatz) Die Reorganisation im BML, Ms, Bonn 1974; Aufbau-und Ablauforganisation des Bundesministeriums für Verkehr, in: Projektgruppe Regierungs-und Verwaltungsreform beim Bundesminister des Innern, Untersuchung zur Reorganisation des Bundesministeriums für Verkehr, Bd. 1, Bonn, 1975, S. 127 ff.