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„Wenn Sie nicht ins KZ wollen ...". Häftlinge in Bombenräumkommandos | APuZ 16/1977 | bpb.de

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APuZ 16/1977 Nationalsozialistische Filme im historisch-politischen Unterricht „Wenn Sie nicht ins KZ wollen ...". Häftlinge in Bombenräumkommandos

„Wenn Sie nicht ins KZ wollen ...". Häftlinge in Bombenräumkommandos

Norbert Krüger

/ 35 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Während des Zweiten Weltkrieges war es die Aufgabe des Sicherheits-und Hilfsdienstes, nicht detonierte Abwurfmunition unschädlich zu machen. Zu diesen riskanten Arbeiten wurden als Hilfskräfte zeitweise Kriegsgefangene, vor allem aber Strafgefangene und KZ-Insassen herangezogen. Sie mußten die Bomben freilegen und nach dem Entschärfen durch Feuerwerker abtransportieren. Mit der Zunahme der Blindgänger und der Bomben mit Langzeitzündern wuchsen auch die Verluste. Dennoch meldeten sich Strafgefangene, auch politische Häftlinge, freiwillig; dieser Einsatz bot die einzige Möglichkeit, der Einweisung in ein KZ zu entgehen oder dem , Lebendig-begraben-Sein‘ im Zuchthaus zu entrinnen. Vor allem politische Häftlinge trafen die Entscheidung für das Sprengkommando schweren Herzens, da sie dort Hitlers Krieg indirekt unterstützten. Andererseits bot nur dieser Einsatz die Möglichkeit, sich über die Kriegslage zu informieren, Kontakt mit Verwandten und Bekannten aufzunehmen, ein — wenn auch geringes — Maß an persönlicher Freiheit zu erhalten und — gelegentlich — durch Gespräche politisch tätig zu werden.

Vorbemerkung

Abbildung 2

Als die alliierten Luftflotten Anfang 1943 ihre Angriffe auf Deutschlands Städte verstärkten, nahmen die Verluste und Schäden stark zu. Die größten Schäden verursachten die Brand-bomben, wenn sie — zu Hunderttausenden abgeworfen — ganze Stadtteile durch Flächen-brände vernichteten. Unerläßliches Hilfsmittel waren dabei die Sprengbomben, die nicht nur in unmittelbarer Umgebung des Detonationsortes Verwüstungen anrichteten, sondern noch in weitem Umkreis Fenster und Dächer zerstörten und damit dem Feuer — Funkenflug! — Verbreitungsmöglichkeiten schafften. Außerdem hielten die Sprengbomben die Bevölkerung in den Schutzräumen und verhinderten damit frühzeitige Löschversuche; sie zerschlugen Leitungsnetze, die durch Brand kaum beschädigt wurden. Aber nicht nur durch diese Schäden wurde die Rüstungsindustrie beeinträchtigt. Weitere Produktionsverluste entstanden durch Sprengbomben mit Langzeitzünder und durch Blindgänger, die bis zu ihrer Entschärfung Lösch-und Bergungsversuche behinderten, Ausräumungsarbeiten unmöglich machten und Fertigungsstätten stillegten.

Das Unschädlichmachen der nicht detonierten Abwurfmunition war Aufgabe des Instandsetzungsdienstes und vor allem der Sprengkommandos der Luftwaffe, die je nach Einsatzgebiet und Anfall der Arbeit aus mehreren Feuerwerkern und etlichen Hilfskräften bestanden. Die meisten Hilfskräfte kamen aus Zuchthäusern und Konzentrationslagern; es gab unter ihnen politische und kriminelle Häftlinge, anfangs sogar Kriegsgefangene. Den Einsatz der Sprengkommandos aus der Sicht der Feuerwerker hat bereits Walter Merz geschildert Am Beispiel des Sprengkommandos Kalkum im Jahr 1943 sollen hier Einsatz und Alltag aus der Sicht der Häftlinge dargestellt werden, damit die Motive, die einen Häftling die „freiwillige Meldung" unterschreiben ließen, und die Konsequenzen dieser Entscheidung deutlich werden.

Hauptquelle sind die während des Einsatzes 1943 angefertigten Berichte von Heinrich Weinand, die durch Nachkriegsaufzeichnungen und Erinnerungen ergänzt werden. Einige kleine, nach dem Krieg niedergeschriebene Berichte anderer ehemaliger Häftlinge und mündliche Auskünfte konnten Einzelheiten ergänzen. Weitere Informationen konnte der Verfasser vom Hauptstaatsarchiv Stuttgart, vom Internationalen Suchdienst und der deutschen Dienststelle in Berlin erhalten Bei dieser bescheidenen Quellenlage sind Auslassungen, Verzerrungen und Fehler in der folgenden Darstellung nicht auszuschließen. Ergänzungen sind willkommen.

Blindgänger und Langzeitzünder

Anzahl Davon der Blindgänger 1943 Angriffsort abgeworfenen und Sprengbomben

10. /11. 4. Frankfurt 367 zahlreiche 14. /15. 4. Stuttgart 424 42 16. /17. 4. Ludwigshafen 102 12 17. 4.

Bremen 349 7 20. /21. 4. Stettin 438 256 Rostock 43 16 26. /27. 4. Essen 44 2 Oberhausen 215 10 Mülheim 131 4 1. 5. Essen 136 10 4. /5. 5. Dortmund 1 355 159 12. /13. 5. Duisburg 1 166 150 13. /14. 5. Bochum 741 48 14. 5. Kiel 552 52 19. 5. Kiel 205 32 Flensburg 450 24 21. 5. Wilhelmshaven 106 11 25. /26. 5. Düsseldorf 996 105 27. 728. 5. Essen 680 113 29. /30. 5. Wuppertal 1 660 72 7) 11. 712. 6. Düsseldorf 1 396 219 Bochum 857 106 12. 713. 6.

13. 6. Bremen 495 45 14. 715. 6. Oberhausen 145 41 Mülheim 70 15 16. 717. 6. Köln 358 89 20. 721. 6. Friedrichshafen 252 50 21. 722. 6. Krefeld 1 950 165 24. 725. 6. Wuppertal 3 176 86 28. 729. 6. Köln 1 151 147 3. /4. 7. Köln 863 86 8. 79. 7. Köln 945 116 13. 714. 7. Aachen 515 61 25. 726. 7. Essen 1 940 159 30. 731. 7. Remscheid 579 35

Seit Beginn der Luftangriffe befand sich unter den abgeworfenen Bomben eine Anzahl von Blindgängern, d. h. Bomben, deren Zündsystem versagt hatte. Zu diesen echten kamen scheinbare Blindgänger, also Bomben, deren Zünder auf eine bestimmte Laufzeit (von einigen Stunden bis zu mehreren Tagen) eingestellt waren. Die Langzeitzünderbomben waren von den Blindgängern kaum zu unterscheiden.

Bei den Großangriffen wurden rund 10 Prozent der Sprengbomben mit Langzeitzündern (LZZ) abgeworfen nach britischen Unterlagen waren es am 27. /28. Mai 1943 sogar 25 Prozent Da in den Berichten nicht immer zwischen Blindgängern und LZZ unterschieden wird, können nur folgende Angaben (vgl. Tabelle ) gemacht werden: In den fünf Monaten von März bis Juli 1943 lag der Schwerpunkt der Angriffe auf dem Ruhrgebiet. Von 43 Angriffen liegt dem Verfasser die Zahl der gemeldeten Blindgänger und LZZ vor, zusammen rund 3 100! Das sind etwa 11 Prozent der gemeldeten 28 400 Sprengbombenabwürfe. Da nur etwa zwei Drittel der Angriffe und damit nur ein Teil der Blindgänger und LZZ in diesem Zeitraum in der Tabelle erfaßt wird, Brandbomben-und Flakblindgänger und die nicht detonierte Abwurfmunition in den besetzten Gebieten ausgeklammert werden, muß von einer Mindestzahl von 600 Blindgängern und LZZ pro Monat ausgegangen werden. Wahrscheinlicher ist die — hochgerechnete — Zahl von 900!

Diese Durchschnittszahlen geb Prozent der gemeldeten 28 400 Sprengbombenabwürfe. Da nur etwa zwei Drittel der Angriffe und damit nur ein Teil der Blindgänger und LZZ in diesem Zeitraum in der Tabelle erfaßt wird, Brandbomben-und Flakblindgänger und die nicht detonierte Abwurfmunition in den besetzten Gebieten ausgeklammert werden, muß von einer Mindestzahl von 600 Blindgängern und LZZ pro Monat ausgegangen werden. Wahrscheinlicher ist die — hochgerechnete — Zahl von 900!

Diese Durchschnittszahlen geben nur Anhaltspunkte, welche Mengen geräumt werden mußten. Im Raum Düsseldorf—Essen—Wuppertal gab es in den sechs Tagen vom 25. bis zum 30. Mai 290 Blindgänger und LZZ, im Raum Düsseldorf—Bochum—Oberhausen— Mülheim—Köln in den sieben Tagen vom 11. bis zum 17. Juni 470! Nach dem Angriff auf das Hydrierwerk Gelsenberg Benzin AG am 13. Juni 1944 mußten allein im Werk und Werksgelände 222 Blindgänger und LZZ unschädlich gemacht werden 7).

Der örtliche Luftschutzleiter von Düsseldorf beschrieb in seinem Erfahrungsbericht die Auswirkung der Blindgänger und LZZ nach dem Angriff vom 11. /12. Juni 1943: „Besonders nachteilig wirkte sich die große Zahl der 208 (später erhöht auf 219) nicht detonierten Sprengbomben aus, da sie noch lange Zeit nach dem Angriff eine große Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellten. Darüber hinaus wurde hierdurch die Ingangsetzung Verkehrs und die Wiederherstellung der des lebenswichtigen Versorgungsleitungen stark verzögert." In Frankfurt gab es am 29. Januar bei Bergungsarbeiten Verletzte, ein 1944 als LZZ detonierte. „Die Nachlöscharbeiten im Schadensgebiet ... waren besonders schwierig später da Teil unmöglich, der untere der Berger Straße wegen eines Blindgängers nicht benutzt werden konnte." 8) Von der Gefährdung der Rettungs-und Löschmannschaften unmittelbar nach dem Angriff abgesehen, bedrohten die LZZ die Bevölkerung bis zu zehn Tagen nach dem Angriff. Von den 63

Blindgängern des Angriffs vom 11. März 1943 auf Stuttgart detonierten innerhalb von zehn Tagen 38; Sprengkommandos beseitigten innerhalb der kritischen Zeit von acht Tagen 13 weitere Bomben, nach acht Tagen 12 Bomben. „Nur zwei Blindgänger im eigentlichen Sinne konnten einwandfrei festgestellt werden — Versagen des Zünders." 9)

Zahlreiche Häuser mußten geräumt werden, wenn Blindgänger in der Nähe lagen. Ebenso mußten Betriebe stillgelegt und Verkehrswege gesperrt werden. Zu den unmittelbaren Schäden durch Brand und Detonation kamen die indirekten Schäden: Produktionsausfall infolge Stillegung. Bei der Thyssenhütte in Duisburg fielen am 10. März 1943 gegen 3 Uhr zwei Blindgänger auf die Kaimauer des Hafens Schwelgern und in die Gleisanlagen. Bereits um 12. 30 Uhr wurde die erste Bombe gesprengt! „Es entstanden durch die beiden Blindgänger Störungen im Umschlagbetrieb, die aber seit der Sprengung des einen Blindgängers nicht mehr wesentlich sind." Bereits beim Angriff in der Nacht zum 9. April 1943 wurde die Thyssen-Hütte von vier Sprengbomben getroffen. „Eine der Sprengbomben blieb als Blindgänger liegen und detonierte am 9. April um 6. 15 Uhr. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte in der Sinterei, die 100 Arbeiter beschäftigt, nicht gearbeitet werden." 10) Einen Zufallstreffer gab es am 26. /27. April 1943 bei der Gelsenkirchener Bergwerks AG Duisburg-Hamborn: „Durch einen Sprengbomben-blindgänger wurde das Kabel für die Wetter-zuführung am Wetterschacht Wittfeld durchschlagen. Bis zur Entfernung des Blindgängers am 28. April 1943 um 8. 20 Uhr konnten 300 Bergleute nicht einfahren. Es entstand ein Förderausfall von etwa 1 000 t Steinkohle, der aber durch Einlegung einer Sonntagsschicht wieder aufgeholt werden kann." 11) In Stuttgart mußte am 11. März 1943 die Firma Groß und Fröhlich KG vorläufig stillgelegt werden, am 14. Mai 1943 lag ein LZZ beim Bochumer Verein in der Kraftzentrale.

In der Nacht zum 10. März 1943 wurde München angegriffen. Die Reichsbahn meldete erhebliche Betriebsstörungen durch 25 Blindgänger. In Stuttgart wurden die Bahnanlagen am 11. März 1943 von 32 Bomben getroffen; darunter waren drei LZZ, die nachträglich detonierten. Sechs Blindgänger mußten entschärft werden. Am 15. April 1943 gab es am Hauptbahnhof erneut Störungen: 25 Blindgänger waren zu entfernen. über Störungen im Bereich der Versorgungsleitungen bringt der Erfahrungsbericht über den Angriff auf Stuttgart am 11. März 1943 Einzelheiten: „Störend wirkten sich die vielen Blindgänger aus, die über mehrere Tage nach dem Angriff laufend detonierten und immer wieder bereits umgeschaltete Fernsprech April 1943 gab es am Hauptbahnhof erneut Störungen: 25 Blindgänger waren zu entfernen. über Störungen im Bereich der Versorgungsleitungen bringt der Erfahrungsbericht über den Angriff auf Stuttgart am 11. März 1943 Einzelheiten: „Störend wirkten sich die vielen Blindgänger aus, die über mehrere Tage nach dem Angriff laufend detonierten und immer wieder bereits umgeschaltete Fernsprechleitungen zerstörten, andererseits durch ihr Vorhandensein Kabelarbeiten verhinderten. .., Am 15. März 1943 wurde der Stadtteil Vaihingen dadurch von jeglicher Wasserzufuhr abgeschnitten, daß die einzige Wasserzubringerleitung nach Vaihingen, die 300 mm weite Eilderwasserleitung von Neckartailfingen, unerwarteterweise durch die Explosion eines Langzeitzünders zerstört wurde. Durch die Herstellung einer Überbrückungsleitung und größte Beschleunigung der Wiederherstellungsarbeiten konnte in Vaihingen eine Versorgungskatastrophe bis zur Wiederingangnahme der geschädigten Leitung am 18. März, 15 Uhr, gerade noch vermieden werden."

Heranziehung von Häftlingen zur Blindgängerräumung

Zu Beginn des Luftkrieges war der Instandsetzungsdienst des SHD (Sicherheits-und Hilfsdienst) für die Beseitigung der Blindgänger und LZZ zuständig, allerdings unter Leitung von Wehrmachtsfeuerwerkern. Einzelheiten regelte z. B. ein Erlaß vom 21. Mai 1941 12). Die dort angeordnete Wartezeit von sieben Tagen zwischen Abwurf und Entfernung eines Blindgängers war 1943 nicht mehr durchführbar: In Industrieanlagen mußten Bomben vorzeitig entschärft werden. Vorher hatte es bereits organisatorische Änderungen gegeben. Nach Merz waren die Verluste des Instandsetzungsdienstes unerträglich hoch geworden, so daß Spezialeinheiten — Sprengkommandos — aufgestellt werden mußten, über die Verluste in den ersten Monaten gibt es in Lagemeldungen und Literatur Einzelheiten: Im Kreis Moers wurden nach dem Bombenabwurf am 11. /12. Mai 1940 ein Feuerwerker und zwei Soldaten bei der Entschärfung eines Blindgängers detonierte getötet 13); in Frankfurt am 7. Juni 1940 ein gerade freigelegter Blindgänger und tötete sieben Angehörige des Instandsetzungsdienstes und einige Strafgefangene 14); am 4. August 1940 wurden im Landkreis Borken zwei Soldaten getötet und vier verletzt, als sie eine Bombe freilegten, die bereits seit 13 Tagen im Boden lag 15); am 28. September 1940 wurden in Hamm sechs Angehörige des Sprengtrupps getötet Die Verluste entstanden nicht nur bei der Entschärfung oder Freilegung der Blindgänger. In der Nacht zum 3. Juni 1941 wurde eine Halle der Deutschen Röhrenwerke in Düsseldorf von sechs Sprengbomben zerstört. Die siebte Bombe lag als Blindgänger auf der Walzenstraße. Als ein Oberleutnant vom Sprengkommando zur Besichtigung kam und prüfte, ob eine vorzeitige Sprengung erforderlich sei, detonierte die Bombe und tötete ihn

Zu den Räum-und Sprengkommandos gehörten, wie oben schon angedeutet, außer Feuerwerkern und Angehörigen des Instandsetzungsdienstes auch Strafgefangene. Merz spricht in seinem Buch von „Zuchthausinsassen" (S. 14, 41), „Strafgefangenen" (S. 15, 16, 21, 45) und „Gefangenen" (S. 17, 18) und erklärt (S. 41 f.), daß es sich um „Politische" und „Kriminelle" handelt, die von der Zuchthausdirektion pauschal als „Strafgefangene" bezeichnet wurden. Die Tätigkeit dieser Strafgefangenen wird nur beiläufig erwähnt, weil es Merz mehr um die Feuerwerker geht. So bleibt es nicht aus, daß das vermittelte Bild einseitig bleibt: Zum Sprengkommando gehörten Gefangene; „sie fühlten sich hier ganz wohl" (S. 15). Von den Wohnbaracken im Waldlager bei Kalkum waren zwei „für die Zuchthausinsassen bestimmt, die ihrer Kleidung wegen hier Zebras genannt werden und dem Kommando als Stamm zugeteilt sind" (S. 14). Der Andrang soll groß gewesen sein. „Immer dann aber, wenn eine oder mehrere Kolonnen , hochgegangen'waren, sehnten sich einige nach der . gesiebten'Luft der Strafanstalt zurück“ (S. 15). Ein ähnlich einseitiges Bild vermittelt Karl Schabrod in seinem Buch „Widerä stand an Rhein und Ruhr', wenn er in einem 1 Kapitel unter der Bezeichnung „Widerstands> aktionen beim Bombenräumkommando Kal[kum bei Düsseldorf" alles zusammenstellt, was iin weitem Sinne mit Widerstand in Beziehung (gebracht werden kann Der Alltag des Getfangenen beim Sprengkommando sah anders aus, wie die Berichte Weinands zeigen.

Spätestens seit Juli 1940 wurden Häftlinge iund Kriegsgefangene den Sprengkommandos I beigegeben. In einer Meldung des Landrats ) des Kreises Reutlingen an den Innenminister in Stuttgart heißt es am 15. Juli 1940: „Der Blindgänger wurde von französischen Kriegs-(gefangenen ausgegraben und hernach gesprengt." Wahrscheinlich hat die Heranzie-Ihung von Kriegsgefangenen Bedenken her(vorgerufen und Proteste ausgelöst, so daß 'Hitler als Führer und Oberster Befehlshaber der Wehrmacht am 12. Oktober 1940 anordneIte, „daß zur Beseitigung von Bomben (Blindgänger, Langzeitzünder) — soweit damit Gelfahr für die Räumungstrupps verbunden ist — mach Möglichkeit Insassen von Konzentrationslagern und Strafgefangene aller Art herangezogen werden. Kriegsgefangene und Wehrmachtsstrafgefangene sind nicht einzusetzen."

Als der Landrat in Göppingen in seinem Erfahrungsbericht über den Bombenabwurf bei . Zell am 30. April 1941 berichtete, daß „französische Kriegsgefangene zur splittersicheren Abdeckung eines Langzeitzünders (Blindgängers) mit Stroh herangezogen" wurden, wurde ihm und den anderen Landräten in den Luftschutzorten II. Ordnung die Anweisung Hitlers bekanntgegeben. In dem Runderlaß, nach dem sie sich bis dahin orientierten, waren Kriegsgefangene nicht ausdrücklich von der Heranziehung ausgeschlossen worden. Es ist dem Verfasser nicht bekannt, ob später gegen diese eindeutige Anordnung verstoßen wurde. Für russische Kriegsgefangene galt sie jedenfalls nicht. Nach Weinand wurden sie bei den Sprengkommandos eingesetzt. Auch Riedel berichtet darüber: „Die Bombe wurde durch russische Kriegsgefangene ausgegraben und von Kaufmann Hils und Obersekretär Ditsch gemeinsam entschärft."

Am 29. August 1940 teilte der Reichsminister der Justiz den Generalstaatsanwälten Einzelheiten über die Auswahl der Gefangenen mit: „In erster Linie sind Gefangene, die sich freiwillig melden, heranzuziehen. In der Auswahl der Gefangenen besteht, abgesehen von der Erfordernis körperlicher Eignung, keine Beschränkung, sofern sich nicht im Einzelfall aus der Person des Gefangenen besondere Bedenken ergeben; insbesondere sind zum Tode Verurteilte, die nicht oder noch nicht begnadigt sind, ausgeschlossen. Die Polizeibeamten, die die Bewachung während des Transports und der Arbeit übernehmen, sind über die Strafe und Straftat sowie über die etwaige Fluchtgefahr hinsichtlich jedes einzelnen Gefangenen genau zu unterrichten. Die technische Leitung ist Aufgabe der zuständigen Luftschutzdienststelle; selbstverständlich müssen alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden und die Gefangenen vor Beginn der Arbeiten entsprechend angeleitet werden."

Nach Auskunft des Internationalen Suchdienstes vom 25. Februar 1975 befanden sich unter den 50 Häftlingen, die am 28. Mai 1943 von der SS-Baubrigade III dem Sprengkommando Kalkum zugeteilt wurden, sechs Freiwillige. Da die Baubrigade dem KZ Buchenwald unterstand, wird es sich wahrscheinlich um KZ-Häftlinge gehandelt haben. Paul Fenske, Häftling im KZ Sachsenhausen, teilte dem Verfasser am 3. Oktober 1976 mit, daß 1940 rund 300 politische Häftlinge in Gruppen zu vier, acht und 16 Mann antreten mußten, wobei sich die Häftlinge ihre Gruppe aussuchen durften. Dann wurde ein Teil zum Bomben-räumen abgestellt. Nach Freiwilligen wurde nicht gefragt. In den Zuchthäusern ist es möglicherweise anders gewesen. Jan Jürgens berichtete nach dem Krieg, daß 1942 der Direktor des Zuchthauses Lüttringhausen etwa 40 politische Häftlinge zusammenrufen ließ, die Auswirkungen der Blindgänger schilderte und sie zur Meldung zum Sprengkommando aufforderte. Frühzeitige Beendigung der Strafzeit und Versorgung der Hinterbliebenen sollen in Aussicht gestellt worden sein. In der anschließenden Diskussion der Häftlinge sollen, wie Jürgens von dem Augenzeugen Rossaint erfahren hat, folgende Argumente genannt worden sein: „Die Alliierten werfen Bomben, um das Kriegspotential Hitlers zu verringern, den Krieg schneller zu beenden und Hitler zu stürzen. Da können wir nicht die Hand dazu bieten, Hitlers Kriegsindustrie durch Beseitigung dieser Bombengefahr intakt zu halten." Die Mehrheit — etwa 30 Häftlinge — meldete sich dennoch freiwillig und begründete diese Entscheidung: „Hier im Zuchthaus sind wir in einem steinernen Sarg und politisch einflußlos. Draußen können wir unter der Bevölkerung und unter den Soldaten agitieren und für ein schnelleres Kriegsende und die Beseitigung Hitlers sorgen. Fatalistisch auf das Kriegsende warten kann jeder."

Bei Weinands Unterlagen befindet sich eine Erklärung, in der ein ungenannter ehemaliger Häftling seine Gründe anführt: „Als ich im Sommer 1943 nach schweren Bedenken freiwillig zum Sprengkommando ging, fand ich Verhältnisse vor, die die Ansicht vieler Kameraden bestätigten, daß man nämlich Gelegenheit fände, in unserem Sinne gegen den Krieg und seine Urheber zu arbeiten. Man konnte es; das Lager war zwar auch mit Stacheldraht . umfriedet', aber es gab doch reichlich Bewegungsfreiheit. Die Bewachung bestand aus Soldaten der Luftwaffe, die bereits kriegsmüde waren und für politische Dinge ein gewisses Interesse besaßen. ... Die Verpflegung war zeitweise schlecht, aber die Kameraden brachten vom Einsatz manches mit ins Lager, und jeder konnte Besuch von draußen ohne strenge Kontrolle der Pakete empfangen. Die Gefangenen unterstanden zwar dem Zuchthaus Lüttringhausen und dessen Strafvollzugsvorschriften, aber die wurden nicht streng beachtet. Unter den Kameraden im Zuchthaus gab es Meinungsverschiedenheiten über die „freiwillige Arbeit'im Sprengkommando, aber wir waren uns bald klar darüber, daß wir hin mußten, wenn wir nicht , freiwillig'gingen. (...) Wir lehnten den Krieg zwar ab, aber wir sahen schließlich bei dieser Form der Kriegsführung keine Schande darin, gefährdete Wohnblocks von nicht krepierten Bomben zu säubern und so der Zivilbevölkerung wenigstens in etwa näher zu kommen."

Auch Weinand rang mit sich und kam nicht leicht zu einer Entscheidung. Er gehörte nicht zur ersten Welle der Häftlinge, die zu den Sprengkommandos kamen. Im Zuchthaus Lüttringhausen erhielt er die ersten Informationen. „Die ersten Kommandos, die ausrückten und jeden Abend zurückkehrten, brachten neue Bestätigungen, daß wir hinter Zuchthausmauern lebend begraben waren. Aber draußen unter den Massen, Polizei, Militär, regten sich neue Gedanken, Zweifel, Neugierde." Nicht die Angst vor den Risiken, sondern die Überlegung, wie die Tätigkeit beim Sprengkommando mit der politischen Über-zeugung in Einklang zu bringen sei, erschwerte dem politischen Häftling die freiwillige Meldung. Weinand begründete seine Haltung an mehreren Stellen in seinen Berichten: „Obwohl wir den Krieg nicht gewollt, so sind wir doch bereit, freiwillig unser Leben einzusetzen für die bedrohten Frauen und Kinder in der Heimat" (7. März 1943). „überall, wo es gilt, Frauen und Kindern ihre Not zu lindern, da sind wir gerne dabei und verrichten unsere Arbeit freudig" (14. April 1943).

Vergünstigungen mögen die Entscheidung gelegentlich beeinflußt und die Abstellung zum Sprengkommando . versüßt'haben. Paul Fenske erinnert sich, daß den Häftlingen im KZ Sachsenhausen versprochen wurde, wöchentlich den Angehörigen schreiben zu dürfen, Zusatzrationen zu erhalten, die Haare wachsen zu lassen und nach Bergung von zehn Blindgängern freigelassen zu werden. Bis auf die Freilassung wurden die Versprechen gehalten. Fenske wurde nach Freilegung des elften Blindgängers nicht mehr zu dieser Arbeit herangezogen.

In der Bevölkerung kursierten ebenfalls Gerüchte, daß der Einsatz der Häftlinge freiwillig erfolge und strafmildernd sei. „Bei der Entschärfung und beim Abtransport dieser Bombe haben Zuchthäusler geholfen, denen man bei freiwilliger Meldung und beim Gelingen der Arbeit Straffreiheit zugesichert hatte. Die Arbeit ist geglückt, und diesen Menschen wird man wohl die Freiheit geschenkt haben. Ob es politische Gefangene oder solche krimineller Art waren, ist nicht bekannt geworB den. Diese Zuchthäusler sollen aus dem Zuchthaus in Münster gewesen sein."

über Straffreiheit bzw. Straferlaß konnte der Verfasser nichts erfahren. Max Mikioweit teilte mit, daß er sich freiwillig meldete, nachdem er seine achtjährige Zuchthausjahre verbüßt hatte und Weinand kam nach Verbüßung seiner fünf Zuchthausjahre zum Sprengkommando. Weinands Bericht zeigt die Hintergründe der .freiwilligen'Meldung: „Im Januar 1943 ließ mich Direktor Engelhardt rufen und teilte mir folgendes mit: , Ich habe Sie rufen lassen und muß Ihnen leider mitteilen, daß Sie nach Verbüßung der Strafe nicht ent-lassen werden. Die Gestapo hat Überführung ins KZ angeordnet. Ich weiß, was in den KZs los ist, und möchte Sie davor bewahren. Draußen in Kalkum haben wir ein Sprengkommando. Die Leute haben gute Verpflegung, und die Sache ist nicht so gefährlich; bis jetzt ist noch nichts passiert. Wenn Sie nicht ins KZ wollen, und das rate ich Ihnen nicht, dann machen Sie sich fertig, denn heute Nachmittag kommt Hauptmann Schweizer. Der kann Sie dann gleich mitnehmen.'Es gab keine lange Überlegung, schnell mußte geschaltet werden." So kam Weinand zum Sprengkommando Kalkum.

Erlebnisse als Häftling beim Sprengkommando Kalkum

Der Bereich des Luftgaus VI (Münster) ist in drei Sprengbezirke unterteilt worden: Münster/Kassel, Köln und Kalkum. Der Sprengbezirk Kalkum umfaßte „das Gebiet der beiden Gaue Düsseldorf und Essen sowie der Kreise Recklinghausen und Emscher-Lippe im Gau Westfalen-Nord und der Kreise Wanne-Eickel, Herne-Castrop-Rauxel, Bochum, Witten, Dortmund, Hagen und Ennepe-Ruhr im Gau Westfalen-Süd." In diesem Gebiet wurden Weinand und andere Häftlinge eingesetzt, über die Ankunft berichtete Weinand „In Kalkum angekommen auf der Straße von Kaiserswerth nach Ratingen kurz vor dem Bahnhof Kalkum, hielt der Hauptmann (Schweizer) und sagte: . Sehen Sie dort im Wald die Baracken? Dort gehen Sie hin und melden sich bei Ihren Kameraden. Morgen früh kommen Sie zur Schreibstube, dann müssen wir noch Ihre Personalien aufnehmen.'Der Fahrer öffnete die Tür, und ich zog auf die Baracken zu. Meine Kameraden standen vor der Tür, denn die Arbeitszeit war schon zu Ende. , Mensch, Heinrich! Du auch jetzt hier?'Es war eine freudige Begrüßung."

Nach den Erinnerungen Hertels waren etwa 60 Häftlinge damals im Lager. Ihre Aufgaben wurden von Weinand folgendermaßen beschrieben: „Bomben wurden noch nicht viel ausgegraben .... Der Tag wurde meist ausgefüllt mit dem Verlegen von Feldbahngleisen und Lagerarbeiten. Es dauerte nicht allzu lange, da wurden die Angriffe immer stärker. Aber noch war das Bombenausgraben nicht gefährlich man warf nur Bomben mit Aufschlagzünder ab. ... Ende Februar 1943 hatte Köln einen Angriff, ganz neue Bomben mit Zeitzünder. (Auf Köln wurden am Abend des 26. Februar 119 Spreng-und 17 000 Brandbomben geworfen.) Die Gesichter wurden ernst, auch die der Feuerwerker. Man erzählte sich unter den Feuerwerkern, daß schon einige Kommandos in die Luft geflogen seien. Auch bei uns wurde darüber gesprochen. Bei den nächsten Ausgrabungen ging man schon sehr vorsichtig zu Werke. Wenn die Bombe gemeldet wurde, ließ man sie oft bis zu 10 Tagen liegen, ehe man daran anfing. Man hörte, daß Bomben oft nach einem Tag oder acht Tagen oder drei Wochen hochgegangen seien. Der Zeitzünder war unberechenbar. Es war ein chemischer Zünder: Auf dem Schlagbolzen war ein Zelluloidplättchen, darüber eine Azetonampulle, die beim Abwurf durch einen kleinen Propeller zerdrückt wurde. Azeton floß nun auf das Zelluloidplättchen und löste es auf. Der Schlagbolzen wurde frei, und die Bombe detonierte."

Nach Hertel arbeiteten die Gefangenen bei der Freilegung schnell, um möglichst rasch aus dem Bereich der Bombe herauszukommen. Allerdings war das nicht immer möglich, da etliche Blindgänger, je nach Abwurfhöhe und Bodenverhältnissen bis zu 10 m in die Erde eingedrungen waren. Einige Bomben konnten nicht geborgen werden. Als zwei Blindgänger bei der Ausrüstungswerft der Flensburger Schiffsbaugesellschaft am 12. Mai 1943 gesprengt werden sollten, mußte der Versuch aufgegeben werden, da die Blindgänger beim Ausgraben immer tiefer sackten. Auch der Erfahrungsbericht vom Angriff auf Stuttgart am 11. März 1943 weist darauf hin, daß die nicht detonierten Bomben in vier bis acht Meter Tiefe lagen.

In der Nacht zum 6. März 1943 wurde Essen von einem Großangriff getroffen. Nach Angaben deutscher Dienststellen wurden 1 130 Spreng-und rund 139 000 Brandbomben abgeworfen. Von den Wohnhäusern wurden 3 018 zerstört und 2 166 schwer beschädigt. Die Zahl der Toten wurde mit 470 angegeben. Da 118 Blindgänger und LZZ im Boden steckten, wurde das Sprengkommando alarmiert. Weinand schrieb am 7. März: (Am 6. März um) „ 5. 00 Uhr Wecken. 6. 30 Uhr Abfahrt. Rauhreif begleitet uns auf der Fahrt. Die ersten Häuser Essens sind sichtbar. Noch nichts zu sehen. Mitten in der Stadt, was sehen wir? Rauchende Trümmer, ein Chaos, ein Schild , Wir siegen", vollkommen ausgebrannte Häuserviertei; .. . Wir sind an Ort und Stelle. Es heißt Totaleinsatz. Es ist eine Hecke; mehrere Bomben liegen dort. (Wir holen) unser Gerät zusammen, fertig, los! Man (schaut) sich gegenseitig an, und kühlen Herzens geht's ans Werk, denn wir sind keine Neulinge mehr. Gerade sind wir fertig und gehen mit der Bombe, die wir am Strick hinter uns herziehen, zum Wagen: ein Knall! Stumm schaut man sich an, im anschließenden Raum ist eine detoniert. Aufsitzen, zur nächsten Stelle. Im Luftschutzkeller liegt eine. Noch keiner war hier. Wir hinein: eine Frau und ein Mann getötet, stark zerrissen. Bombe kann nicht geholt werden, da Langzeitzünder, und muß noch einige Zeit liegen." „Neue Ausfahrt, Ziel Essen. Wieder LZZ gesprengt. ... In den Straßen strömen die Menschen, bewaffnete Polizei überall. Die Menschen werden nach Ausweisen untersucht, alle Zugangsstraßen zur Stadt sind abgeriegelt. Noch rauchen die Trümmer. . .. Alle meine Kameraden sind noch heute (Bericht wurde zwischen dem 8. und 12. März 1943 geschrieben; N. K.) beeindruckt von dem Geschehen. Am Abendtisch großes Schweigen, dann bricht es auf einmal los: , Es ist grauenhaft!" , Mir schmeckt es gar nicht!" Die eine Kolonne mußte einen Blindgänger entfernen, der tief im Boden eine Ferngasleitung zerschlagen hatte. (Es gab) keine passende Gasmaske. Man arbeitete, bis man betäubt war; und dann kam der andere dran; und so ging es weiter, bis endlich das Ziel erreicht war. Dann war man froh, daß es hieß: Schluß für heute." über einige kritische Situationen in Essen berichtete Weinand nach dem Krieg: „Am Polizeipräsidium angelangt, hieß es: Zum Tor 1 bei Krupp, aber nur eine Kolonne. Die andere mußte zur Reichsbahn. Am Tor 1 bei Krupp wurden wir mit ernster Miene empfangen. Der Pförtner sagte: , Hier braucht Ihr nicht mehr hin; die (Bombe) ist vor 10 Minuten hochgegangen. Hauptmann Schweizer habe vor fünf Minuten angerufen, wir sollten zur Zeche (Name entfallen) kommen. Es ging weiter. Ich sagte zu Hermann: , Na, das fängt ja gut an! Zehn Minuten früher, und wir wären schon im Himmel!" ...

Am Zechentor stand der Betriebsführer mit einigen Herren. Als wir ausstiegen, sagte er: . Drei Stück liegen hier, eine im Förderhaus, eine im Lampenraum und eine in der Waschkaue. Wichtig ist die im Lampenraum, die liegt auf der Hauptgasleitung." , Also, Jungens,', sagte der Feuerwerker, . zwei Kolonnen machen wir!" Und zählte ab. „Je schneller, je besser, denn es sind alles Zeitzünder." Ich selbst ging mit in den Lampenraum. Dort lag das Ungeheuer und hatte mit der Spitze eine Betonwand durchschlagen und sich im Boden eingefressen. Etwa eine halbe Stunde hatte die Arbeit gedauert, dann wurde die Bombe an einen Strick genommen und nach draußen gezogen. Kaum hatten wir die Bombe vor dem Lampenraum und waren auf dem Weg zu den anderen Kameraden, da gab es einen furchbaren Knall. Dachziegel, Balken und Steine flogen durch die Luft. Alle laB gen durch den Druck am Boden. Jeder hatte die Farbe aus dem Gesicht verloren. Es dauerte eine Weile, ehe wir die Sprache wieder hatten. Ich schaute sogleich zur Bombe, die wir noch eben am Strick hatten, aber sie lag noch dort mit ihrem teuflischen Innern. Auch sie konnte jeden Augenblick in die Luft gehen. Die Bombe in der Waschkaue war hochgegangen. Schnell drehte der Feuerwerker (bei unserer Bombe) den Zünder heraus, um sie dadurch unschädlich zu machen. .. . (Die nächste Einsatzstelle lag bei Krupp, Tor 3.) . Dann machen wir erst Mittag, -sagte der Feuerwerker, , denn der Fahrer muß jeden Augenblick mit dem Essen kommen. Hier sind schon drei Bomben detoniert. Eine liegt noch auf dem Transformatorenhaus.'Dabei zeigte er auf eine menschenleere Halle. Wir setzten uns hin und wollten vor dem Essen nicht mehr anfangen. Das Essen kam und wurde ausgeteilt. Die letzten hatten gerade ihren Schlag bekommen und wollten sich setzen, da lagen wir schon alle mit der Suppe auf dem Boden. „Verdammt!“ sagte Hermann, , Noch nicht einmal essen lassen uns die Tommies!“ Der Feuerwerker kam vom Pförtner gelaufen und rief schon von weitem: , Ist was passiert?“ Als ihm ein einstimmiges Nein entgegenschallte, verlangsamte er sein Tempo. Noch atemlos sagte er: , Für heute ist Schluß, ich habe die Nase bis oben voll!“ . . ."

In weiteren Aufzeichnungen vom 9. und 10. März hielt Weinand seine Eindrücke von der Zerstörung Essens fest. Als Essen in der Nacht zum 13. März mit 476 Spreng-und 53 000 Brandbomben erneut angegriffen wurde und 74 Blindgänger sowie 95 LZZ entdeckt wurden, blieb die Stadt Einsatzort für die meisten Angehörigen des Sprengkommandos. „Alle Kommandos rücken aus nach Essen. Neue brennende Häuser, neue Stätten grauenhafter Verwüstungen. Wir haben Spanien-kämpfer bei uns, die behaupten, daß Madrid nach zweimonatigem Beschuß nicht so ausgesehen habe wie jetzt Essen. . . . Meine Kolonne wird bei der Hauptpost eingesetzt. Zwei Bomben (sind) detoniert, ein Blindgänger liegt noch in der Gepäckkammer. Er hat zwei Dekken durchschlagen und dabei alle Armaturen verloren. Ein Meter tief im Boden, und wir haben ihn. Aber durch das Abschlagen der Armaturen ist nicht zu erkennen, worum es sich handelt. Das Seil wird angelegt, und es heißt: Herausziehen! Mein Freund Ernst flüstert mir zu: , Jetzt fahren wir in die Hölle!“

Alle sind wir stumm. Willi bringt einen kräftigen Ausdruck hervor, und die Spannung ist vorbei. . Jetzt ist sie transportfähig“, sagt Willi. Wir atmen erleichtert auf, und damit ist das Tagespensum erfüllt. Auf dem Heimweg sitzt Ernst neben mir, und wir unterhalten uns über die Gefahr, die uns jetzt täglich umgibt. u (14. März) „Totaleinsatz in Essen. Alles sang auf der Fahrt. . . . Ein Kommando kommt von Bottrop zurück und erklärt, daß es dort noch schlimmer als in Essen ist Montag und Dienstag keine besonderen Ereignisse. Müde und abgespannt kehren wir abends sehr spät zurück und fallen buchstäblich in die Betten." (17. März) „ 6 Uhr Ausrücken, wahrscheinlich immer noch Essen. .. . Auf einmal kommt die Nachricht, daß zwei Kameraden in die Luft geflogen sind. Die Arbeit ist sofort einzustellen, und (wir sollen) zum Sammeln zum Präsidium kommen. Atemlos schauen wir uns an, wer mag das sein? Bald kommt Aufklärung am Präsidium. Seit zwei Tagen haben wir KZ-Leute mit im Einsatz, und zwar Russen. Acht Mann sind dabei als Atome beim Petrus gelandet Wann ist nun die Reihe an uns, fragt sich jeder, und unser Wunsch (ist), wäre doch die Scheiße bald zu Ende. Aber nicht allein wir haben den Wunsch. Aber unser Tagespensum ist noch nicht erfüllt. Es geht in ein Wohnhaus; dort liegt eine Bombe im Keller, durch alle Etagen durchgeschlagen und in Stücke zerrissen. Wir suchten nun die einzelnen Eisenteile zusammen. (. . .) Beim Abend-tisch eisiges Schweigen. Jeder denkt im Inneren an die toten Kameraden. .. . Ganz Krupp kennt uns nun schon. Jeder fragt uns, was und wer wir sind, was wir nun für diese Arbeit bekommen, und (sie) sind alle entrüstet, wenn wir ihnen die Wahrheit sagen . . .". (21. März) „Noch immer sind wir in Essen, und haufenweise begegnen uns die Schilder , Achtung! Blindgänger!“. Es steht uns also noch viel Arbeit bevor. Aber alle scheinen wir vom Glück verfolgt zu sein, denn gestern gab eine Kolonne eine (Stelle) wegen Wasser auf, und in dieser Nacht ging die Bombe hoch. Gerade kommt Karl herein, welcher für kurze Zeit verschüttet war, Essen mit seinen Bomben ist uns bald ein Grauen geworden." (26. März) „Heute eine Bombe im Luftschutzkeller eines Hauses. Beim Aufräumen finden wir die beiden Hände einer jungen Frau, an der linken Hand steckt noch der Ring. ... Meine Kameraden sind alle diese Dinge schon gewöhnt, und niemand achtet darauf. Zuviel Grauen hat vor ihren Augen Revue passiert. Zu stark hat sie selbst das Leben mitgenommen, so daß sie das nicht mehr für eine Besonderheit ansehen. Deshalb wird auf dem Heimweg gesungen, ebenfalls morgens, wenn wir ausfahren. Es geht nicht, daß man immer über die Dinge nachdenkt. Es wäre gar nicht zu ertragen ...

Einen Überblick über den Einsatz in Essen gibt der Erfahrungsbericht des Polizeipräsidenten über die Angriffe vom 5. /6. und 12. /13. März. Darin wird die Tätigkeit des Sprengkommandos „besonders herausgestellt und anerkannt". „Es war ab 5. März bis jetzt (Ende März?) täglich in Essen eingesetzt, seine Stärke wechselte, die Höchstzahl betrug an verschiedenen Tagen alle 5 zuständigen Feuerwerker, dazu 12 Feuerwerkerhilfskräfte und bis zu 130 Mann Strafgefangene!"

In der Nacht zum 30. März wurden bei einem Angriff auf Bochum auch auf Essen Bomben geworfen. Von drei Sprengbomben im Bereich der Ruhrtalstraße und der Ruhrwiesen blieb eine als Blindgänger im Boden. In der Nähe des Güterbahnhofs Segeroth detonierte eine Sprengbombe in der Mathiasstraße, die andere blieb als Blindgänger in der Gabelsberger Straße liegen. Weinand sollte sich darum kümmern. „Und zwar wurde gesagt: , Die ist erst am Montag gefallen; sie ist noch jung!', Warum muß die denn schon raus?'fragen wir. Eine andere in der Nebenstraße hat die Gas-und Wasserleitung, die zur Zeche Helene führt, zerschlagen. Mit gemischten Gefühlen haben wir den ganzen Tag gearbeitet und wir waren froh, als es hieß Feierabend! Lim 6 Uhr wurde Schluß gemacht, und um 9 Uhr abends ging die Bombe in die Luft." (Am nächsten Abend fuhr die Kolonne nochmal zum Detonationsort.) „Die Leute stehen her-um. Als sie uns kommen sehen, rufen sie uns strahlend zu: , Na, Jungens, da habt Ihr ja nochmal Glück gehabt!'Es handelt sich um ein Arbeiterviertel, wo die Leute froh sind, daß wir noch leben, überall, wo wir hinkommen und die Leute hören, wer wir sind, da ist gleich die Sympathie auf unserer Seite, und es geht mit Fragen los .. „Am Abend des 13. April war große Appetitlosigkeit. Dunkle Gesichter, gefaltete Stirne waren Ausdruck des Geschehens. Kamerad Anton Andreicak kehrte nicht zurück. (Man fand von ihm nur den linken Fuß und ein Stück Kopfhaut.) Wiederum wurde allen der Emst unserer Lage klar. Es war in einer Arbeiterkolonne in Haltern wo über 50 Familien wohnten. Diese hatten räumen müssen, weil dort eine noch nicht detonierte Bombe lag. ... Nur die beiden vorhin genannten Überreste waren es, die uns sagten, daß er nichts von seinem Tod gespürt hatte. Wir hatten nun am 11. April Verstärkung bekommen, und zwar alles Kriminelle. Einer dieser Burschen hielt es nun für die erste Aufgabe seiner Pietät, dem soeben in die Luft geflogenen Kameraden die Taschen räubern zu müssen, doch am Abend noch mußte er es mit blutigen Augen und zerschlagenem Gesicht bezahlen."

Die Abneigung gegenüber den kriminellen Häftlingen zeigt sich in den Aufzeichnungen vom 14. April noch deutlicher: „Es sind alles kriminelle Leute mit hohen Strafen und vielen Vorstrafen. Schon im Gesicht äußerte sich ihr tierisches Wesen. Sie schlenderten dahin, keinen äußeren und inneren Halt, vollkommen apathisch, nur an eines denkend: an Futtern und Ruhe." Auch in einem Gespräch 30 Jahre nach diesen Ereignissen betonte Weinand, daß sich die . Politischen'von den . Kriminellen'fernhielten. „Am Morgen des 14. April wurde beim Antreten durch das Absingen der ersten Strophe vom Guten Kameraden seiner (Anton Andreicaks) gedacht. .. . Nun sind wir gespannt, wo man seine Reste verscharrt. Weit über 2 000 Bomben hat er ausgegraben, tausende von Menschenleben gerettet Zehn Jahre Zuchthaus waren seine Strafe; im Mai 1943 wäre sie zu Ende. Nicht einmal ein Wort des Dankes, nicht eine Vergünstigung, noch nicht einmal die Wahrung der Pietät, das war der Lohn, den er geerntet hat." „Am zweiten Osterfeiertag (26. April) war nachts wieder ein Großangriff aufs Ruhrgebiet. Wiederum leuchtete der Horizont hellrot, ein Zeichen, daß dort große Brände ausgelöst worden sind. Essen ist noch nicht frei von Bomben, da fallen schon wieder neue, und heiße Arbeit steht bevor. Diesmal waren es Duisburg, Oberhausen und Mülheim. Von DuiSburg geht es zunächst nach Büttgen bei Neuss. Eine Sofortsprengung, denn die Bombe liegt auf dem Bahngleis und muß sofort entfernt werden. Es war ein abgeschossenes Flugzeug, das noch Bomben bei sich trug, als es abgeschossen wurde. In den brennenden Trümmern des Flugzeugs rauchten noch die Leichen der Besatzung. Ein furchtbarer Gestank verbreitet sich. Wir entfernen die Bombe und fahren auf dem schnellsten Weg nach Oberhausen, aber den ganzen Tag werde ich den Geruch des brennenden Menschenfleisches nicht los. An der Straße von Anfang Duisburg bis durch ganz Oberhausen steht fast kein Haus mehr, auch die Stadt Oberhausen selbst läßt Essen nichts nach. Zunächst fahren wir nach Bottrop zur Zeche Prosper III. Die Zeche selbst liegt fast still; vier Volltreffer hat sie erhalten, und neben dem Schacht liegt noch ein Blindgänger, den wir schnell entfernen. Dann geht es zurück nach Oberhausen. Ein ganzer Häuserblock ist von einer Mine niedergerissen worden; der Sicherheitsund Hilfsdienst ist schon mit Aufräumungsarbeiten beschäftigt, denn in den Kellern liegen noch 28 Personen. Leben kann kaum noch jemand, denn die Trümmer stehen noch fast alle in Flammen. . . . Die Zahl der Toten steigt von Tag zu Tag. Allein in Duisburg und Meiderich spricht man von hunderten von Toten. Die Zahl in Oberhausen steht noch nicht fest. In einem Konzentrationslager in Meiderich gab es allein 85 Tote, überall stöhnt man: Wäre es doch vorbei!"

Nach den Lagemeldungen des Luftgaus wurden 30 KZ-Häftlinge getötet und 40 verwundet. Nach Unterlagen aus Duisburg wurde ein Deckungsgraben durch Volltreffer eingedrückt und dabei 32 KZ-Häftlinge getötet Von den in Duisburg eingesetzten KZ-Häftlingen waren, wie Weinand in seinem Bericht am 17. März erwähnte, einige als Verstärkung zum Sprengkommando gekommen. Dem Internationalen Suchdienst ist darüber nichts bekannt; dort sind nur Unterlagen über den Einsatz von KZ-Häftlingen beim Kommando Düsseldorf. Otto Hertel spricht in seinem Bericht nur allgemein von KZ-Häftlingen: „Vom 30. April auf den 1. Mai war wieder ein Angriff auf das Ruhrgebiet. Essen, Gladbeck, Recklinghausen und Bottrop waren das Ziel. Am l. Mai rückten wir aus nach Essen. Der Hauptpunkt war Altenessen. Sieben Bomben habe ich an diesem Tage ausgegraben, wirklich eine Höchstleistung zum nationalen Feiertag. . . . Auch die Prominenten haben diesmal etwas abgekriegt. Dort werden natürlich die Bomben zuerst weggeholt. Im Arbeiter-viertel, wo Tausende nicht in ihre Wohnung können, dort hat es noch Zeit. Die dort liegende (Bombe) ist 5 bis 6 Meter tief, und wir sind nicht mehr in der Lage, sie heute noch zu entfernen. Aber was ist das schon, die Prominenz kann beruhigt schlafen, und die vielen Arbeiter können ja noch warten."

Aus diesen Bemerkungen geht nicht hervor, ob den Häftlingen irgendein Einfluß auf die Reihenfolge oder das Tempo der Bombenfreilegung möglich war. Nach Hertel wollten die KZ-Häftlinge grundsätzlich nur langsam arbeiten. „Sie ließen sich von dem Gesichtspunkt leiten: Je länger so eine Bombe liegen bleibt, desto länger wird die Wirtschaft gestört. Das war politisch sehr richtig, und wir arbeiteten alle nach dieser Devise. Auf der anderen Seite barg natürlich der lange Aufenthalt bei der Bombe — obwohl sich nur die unbedingt benötigten Kräfte dort aufhielten — eine große Gefahr in sich, da man nicht wußte, welcher Art die Bombe war."

Nach dem 5. Mai notierte Weinand: „Wieder ging in der Nacht vom 4. zum 5. Mai ein Bombenangriff voraus, und zwar in der Hauptsache (auf) Dortmund. Schon am frühen Morgen erfuhr ich, daß auch in Düsseldorf auf der Schloßstraße ein Flugzeug brennend abgestürzt ist und einige Häuser mit in Brand gesteckt hat. Große Nervosität erfaßt mich, denn dort wohnt meine Familie, Frau und Kind. . . . Endlich erfahre ich um 2 Uhr mittags, daß zwar noch einige Häuser brennen, meine Familie aber unversehrt ist. Erleichtert atme ich auf." (Nach dem 17. Mai) „Heute ein Glückstag. Sechs Bomben hatten wir geladen und wir waren gerade im Begriff, die siebte zu laden, da detonierte sie vor unseren Augen. Zwei Minuten später, dann wäre es geschehen gewesen. Gegenseitiges stummes Anschauen und dann ein Lächeln: na, die hat uns wieder Arbeit erspart! Die ganze Woche fast kaum ein Auge zugemacht. Dortmund und Bochum sind unser Arbeitsfeld geworden. Verheerend sind die Wirkungen der Angriffe gewesen. In Bochum spricht man allein von 500 Toten;

das ist allerdings die amtliche Zahl. Die Bevölkerung schüttelt den Kopf, wenn sie diese Zahl nachspricht. Allein in einem Russenlager gab es 100 Tote Wir mußten Holz zum Verbauen holen. Der Lastwagenfahrer erzählte uns, daß er allein in den letzten 48 Stunden über 80 Leichen gefahren habe. .. . Wir fahren weiter nach Hattingen. Auch diese Stadt ist sehr stark mitgenommen. Gestern war sie noch stark überschwemmt (Möhnekatastrophe am 16. /17. Mai), doch nun, nachdem das Wasser abgelaufen ist, sieht man die ganze Verwüstung. Ganze Straßen sind aufgerissen, totes Vieh liegt überall umher. . .. Gestern wurde die erste neue Mine geholt in einem Gewicht von 60 Zentnern."

Am 21. Mai berichtigte Weinand diese Angabe. Die Mine habe 80 Zentner gewogen, einen Durchmesser von 1, 20 m und eine Länge von 1, 40 m gehabt. Da er in einem Gespräch 1974 sich daran erinnerte, nördlich von Kirchhellen eingesetzt gewesen zu sein, kann es sich nur um die Rotationswasserbombe handeln, die damals bei Haldern gefunden wurde „Es war am 26. Mai, als es hieß, nach Bochum, denn dort war noch viel Arbeit. Recht war uns dieses nicht, denn Düsseldorf hatte wieder mal einen Angriff gehabt, und ich war besorgt um meine Angehörigen. Auf einmal hieß es: . Wieder absteigen!'. Vorläufig abwarten!'Dann hieß es endlich: . Aufsteigen, nach Düsseldorf!'Alle waren wir ganz froh, es war mal wieder etwas anderes." Einsatzort war die Reuschenberg-Kolonie in Neuss. „Es war mittlerweile 1 Uhr geworden; wir holten zusammen 2 Bomben, welche ganz flach lagen.

Dann wurden wir eingeteilt in zwei Kolonnen (um zwei weitere Bomben zu bergen). Eine lag hinter einem Haus und eine im Luftschutzkeller eines Einfamilienhauses. Ich mußte die aus dem Keller entfernen; da diese aber beim Durchschlagen der Mauer zerschellt war, mußten wir durchgraben, erst das Stück hinten .... Gerade kommt Richard Fröhlich herunter und löst meinen Freund Kurt ab. Von oben grub nur ein früherer SS-Mann, König, der ins Zuchthaus gekommen war, weil er auf der Post Feldpostpakete entwendet hatte. Im Keller waren nur Richard und ich, bei der Nachtruhe Kurt und Ernst.

Ich weiß nicht, welche Zeit vergangen war, als ich nur für Sekunden Hermanns Stimme hörte und mir zum Bewußtsein kam, was geschehen war. Mit ungeheurer Kraft und äußerstem Willen müssen meine Kameraden ans Werk gegangen sein, um uns aus der starken Verschüttung zu bergen. Erst draußen gewann ich nochmal ganz kurz das Bewußtsein sah und Hans Finger mit einem Cognac vor meinem Mund. Ob ich den getrunken habe, weiß ich nicht. — Im Herz-Jesu-Kloster kommen wir beide, Richard und ich, eigentlich erst voll zum Bewußtsein. An unserer Seite steht Ernst mit einer klaffenden Wunde am Kopf. Es war mittlerweile 4 Uhr geworden.

Man wußte im Krankenhaus nicht recht, was aus uns werden sollte. Wir waren doch Gefangene! Konnte man die hier aufnehmen?

Endlich kamen die Feuerwerker und entschieden, daß wir hier bleiben sollten. Wir wurden geröntgt und dann zu Bett gebracht. Die erste Nacht haben wir wie besinnungslos geschlafen. — Am nächsten Tag kam unser Hauptmann und besuchte uns. Auch unsere Kameraden kamen nachmittags und freuten sich, daß wir noch lebten, denn im Lager hatte man auch noch meinen Tod verbreitet. ... König wurde vier Tage später hier in Neuss beerdigt. Zwei Tage nach uns gehen in Essen sechs Mann von uns hoch: vier Tote, zwei Verletzte; die vier Toten sind Kriminelle aus der Anstalt Rheinberg, die Verletzten zwei Politische, Josef Bender aus Elberfeld und Paul Maskei aus Gerresheim. Somit wurden in drei Tagen fünf Kriminelle getötet und vier Politische verletzt. Also beträgt in der Zeit, in der ich beim Kommando bin, die Zahl der Toten 15, die der Verletzten 4."

Am 14. Juni detonierte in Düsseldorf wieder ein Blindgänger. Ein Wehrmachtangehöriger wurde getötet, zwei verwundet. Außerdem wurden fünf Strafgefangene schwer verB letzt Wilhelm Paulick wurde am 16. Juni von einem Blindgänger getötet. In seinem Nachlaß befand sich eine Liste über die von ihm freigelegten Blindgänger, in der Fundort, Größe der Bombe und Name des Feuerwerkers verzeichnet sind. Leider fehlt das Datum. Dennoch läßt sich rekonstruieren, daß Paulick in der Zeit vom 8. April bis 16. Juni 1943 an der Freilegung von rund 140 Bomben beteiligt war. Am 20. Juni wurden ein Feuerwerker und ein Häftling in Düsseldorf getötet. Hertel schrieb darüber: „Es war eine Bombe mit Kippzünder, die an einer Hausecke ca. 4 m tief ausgeschachtet worden war. Der Mechanismus sollte ausgebohrt werden. Der Feuerwerker, Unteroffizier S., hat diese Arbeit allein besorgt, während Wilhelm Reeks oben auf dem Trichter stand. Der Kippzünder durfte nicht gedreht werden. Als die Bombe detonierte, ist der Feuerwerker S. restlos verschwunden. Bei Wilhelm Reeks war eine Körperseite aufgerissen. Man konnte das schlagende Herz sehen. Eine Rettung war nicht möglich." Max Mikioweit berichtete dem Verfasser 1974, daß er zusammen mit einigen anderen Häftlingen im Juni 1943 im Stahlwerk Becker, Krefeld, Bomben räumen mußte. „Eine zum Teil sichtbare, nur halb in den Boden eingedrungene LZ-17-Bombe (erkennbar am gelben Anstrich) wurde durch einen lebensgefährlichen Vorgang entschärft. Als Deckung galt eine Mauerwand, einige Meter von der Bombe entfernt. Beim Anziehen von allen vier Häftlingen an einem Hanftau detonierte die Bombe (Zeitzünder!), wobei wir zum Teil von Gestein und Mauersand verschüttet wurden."

Weinand konnte nach seiner Genesung im Lager Kalkum bleiben und betreute dort den Wagenpark, bis er im April 1944 von der Gestapo abgeholt wurde, ins KZ kam, gegen Kriegsende zur Einheit Dirlewanger eingezogen wurde und schließlich in russische Kriegsgefangenschaft geriet.

Die Verluste beim Sprengkommando Kalkum stiegen an. Ersatz kam aus den Zuchthäusern und Außenkommandos der Konzentrationslager. Einige Zahlen sind noch bekannt. Am 28. Mai 1943 wurden 50 Häftlinge von der SS-Baubrigade III zum Sprengkommando Kalkum abgestellt. Ein Jahr später, am 19. Mai 1944, betrug die Stärke der Häftlingsgruppe in Kalkum zwar immer noch 50 Mann, allerdings waren es nicht mehr die Häftlinge vom Mai 1943! Von den 50 Häftlingen, die im Mai 1944 zum Einsatz kamen, lebten am 8. Februar 1945 noch 20; die anderen waren tot, ins Lager zurückgeschickt worden oder geflohen Am 3. Juli 1944 wurden 19 Häftlinge, am 1. September 1944 weitere 16 Häftlinge als Ersatz geschickt. Die Gruppe umfaßte am l. März 1945 noch 35 Mann, die vor dem 13. März zum KZ Buchenwald zurückgeschickt wurden. Zu diesen Häftlingen kamen weitere aus den Zuchthäusern Lüttringhausen, Rheinberg, möglicherweise aus der Strafanstalt Essen. Karl Zellerhoff, 1944 Feuerwerker im Sprengkommando Kalkum, erinnert sich daran, daß bei den Einsätzen in Duisburg-Hamborn Gefangene aus der Strafanstalt in Hamborn herangezogen wurden.

Natürlich waren auch die Verluste der Feuerwerker groß. Vom Sprengkommando Kalkum sind nach einer zufällig erhaltenen Liste in der Zeit vom 5. Oktober 1943 bis 31. Januar 1945 zehn Feuerwerker und Gehilfen ums Leben gekommen. Genaue Zahlen über die Verluste der Häftlinge und Feuerwerker konnte der Verfasser nicht ermitteln. Aus Weinands Berichten und anderen zufällig erhaltenen Notizen wird die Belastung deutlich, unter der die Angehörigen des Sprengkommandos bei ihrer Tätigkeit standen. Die ständig anwachsenden Abwurfmengen mit komplizierteren Zündsystemen ließen die Verluste ansteigen; die Über-lebenschancen waren gering. Weinand hat Zuchthaus, Sprengkommando, KZ, die Einheit Dirlewanger und die russische Gefangenschaft ertragen und überlebt — er hat Glück gehabt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Walter Merz, Feuerwerker: Namenlose Helden der Bombennächte, Rastatt 1970.

  2. Heinrich Weinand notierte 1943 seine Erlebnisse und vergrub die Aufzeichnungen im Lager Kalkum, bevor er sie heimlich aus dem Lager bringen konnte. Diese Notizen und eine 54 Seiten umfassende Abschrift befinden sich im Archiv der VVN in Düsseldorf; außerdem liegt dort der nach dem Krieg niedergeschriebene, rund 30 Seiten umfassende Lebenslauf. Durch freundlich gewährte Hilfe von Ernst Schmidt, Essen, konnte ich diese Unterlagen benutzen, ebenso das Tonband eines Gespräches zwischen Schmidt und Weinand vom 15. 6. 1974, eine Tabelle von Paulick und nach dem Krieg angefertigte Berichte von Mikioweit, Jürgens und Hertel. Sie werden ergänzt durch Auskünfte von Paul Fenske, Essen. Im Bestand E 151 c I, Bü 2 des Hauptstaatsarchivs Stuttgart befinden sich etwa 20 Seiten über den Einsatz von KZ-Häftlingen und Kriegsgefangenen bei Bombenräumkommandos. Der Internationale Suchdienst in Arolsen gab mir am 13. 9. 1974 und 25. 2. 1975 Informationen, die deutsche Dienststelle am 26. 11. und 17. 12. 1974. über keine Unterlagen verfügen der Regierungspräsident in Düsseldorf (Brief vom 22. 3. 1974), das Bundes-archiv, Zentralnachweisstelle (Brief vom 7. 8. 1974), das Hauptstaatsarchiv in Düsseldorf (Brief vom 16. 8. 1974). Von den angesprochenen bzw. angeschriebenen Feuerwerkern, die damals zum Sprengkommando Kalkum gehörten und noch leben, hat keiner Auskunft geben wollen. Feuerwerker, die später zu diesem Kommando kamen oder bei anderen Kommandos waren, haben freundlicherweise geholfen.

  3. Fritz Meinhardt, Konventionelle Abwurfmittel, Schriftenreihe Luftschutz, Heft 11, Berlin 1962, S. 188.

  4. Bomber Command Report on Night Operations — 27/28th May, 1943. Night Raid Report No. 338, Public Record Office, London.

  5. In einigen Unterlagen, z. B.des Werkluftschutzes und der örtlichen Luftschutzleitung, werden 55 Blindgänger und 125 LZZ aufgeführt. In Berichten des Luftgaukommandos erscheinen nur 118 Blindgänger und LZZ.

  6. Im Luftgau fielen in dieser Nacht insgesamt 1 713 Sprengbomben, davon 102 Blindgänger und LZZ.

  7. Bericht des Polizeipräsidenten, Stadtarchiv.

  8. Lagemeldung des Höheren SS-und Polizeiführers im Wehrkreis VI vom 4. 8. 1940, Staatsarchiv Münster, Bestand Oberpräsidium Nr. 5072.

  9. S. o. Lagemeldung vom 28. 9. 1940.

  10. Kriegstagebuch des Rüstungskommandos Düsseldorf, Bundesarchiv — Militärarchiv, Freiburg, RW 21— 16/6.

  11. Karl Schabrod. Widerstand an Rhein und Ruhr 1933— 1945, Düsseldorf 1969, S. 130 ff. Auch Detlev Peukert, Ruhrarbeiter gegen den Faschismus, Frankfurt 1976, bringt auf S. 260 f. nur einige Hinweise auf Widerstand in Kalkum.

  12. Aktenzeichen OKW/WFSt/Abt. L Nr. 0586/40 geh. Abschrift im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Bestand E 151 c I, Bü 2. Dort befinden sich auch die Meldungen der Landräte.

  13. Hermann Riedel, Villingen 1945, Villingen 1968, S. 142. Zwei Seiten vorher erwähnt er, daß eine entschärfte Bombe „durch russische Kriegs-gefangene abtransportiert" wurde.

  14. Aktenzeichen III s 1 1512 g. Abschrift im Haupt-staatsarchiv Stuttgart.

  15. Archiv der VVN in Düsseldorf, Signatur 3690.

  16. Serie „So erlebte Ibbenbüren den 2. Weltkrieg", in: Ibbenbürener Volkszeitung vom 7. 4. 1962.

  17. Schriftliche Mitteilung von Max Mikioweit, 1974.

  18. Rundschreiben der Werkluftschutz-Bereichsstelle für den Steinkohlenbergbau von Rheinland/Westfalen, G. -Nr. L 140/43 vom 25. 1. 1943, Archiv Bergbau-Museum Bochum, Signatur 20/112/80.

  19. Heinrich Weinands Berichte wurden vom Verf. gekürzt. Gelegentlich wurde von mir der Satzbau geändert; zum Verständnis notwendige Ergänzungen habe ich in Klammern eingefügt.

  20. In der Merkblättersammlung für Feuerwerker, abgeschlossen nach dem Stande vom 25. 7. 1944, werden als Aufgaben für Strafgefangene angegeben: Erdarbeit (S. 9) und Transport von Bomben mit unbeschädigtem LZZ ohne Kippzünder (S. 11). Die Angabe des Luftgaukommandos VI am 18. 8. 1940, daß ein Blindgänger in Duisburg durch „Zuchthäusler gesprengt" worden sei, muß mit Vorsicht betrachtet werden (Staatsarchiv Münster, Bestand Oberpräsidium Nr. 5072). Glaubhafter ist die Erinnerung Otto Hertels: „Jeder Gefangene aus dem Zuchthaus hatte einige KZ-Häftlinge bei sich und spielte selbst den Feuerwerker, sofern es sich um wirkliche Blindgänger handelte."

  21. Die Streuwirkung des gegen Essen gerichteten Angriffs traf Bottrop mit 120 Spreng-und 40 000 Brandbomben. Es wurden dort 30 Menschen getötet, 85 Häuser zerstört, 156 schwer beschädigt; vgl. Luftkriegsunterlagen des Reichspropagandaministeriums, Bundesarchiv — Militärarchiv, E 624. „Schlimmer als in Essen" konnte es in Bottrop nicht sein.

  22. Im Lebenslauf ergänzte Weinand: „Mittags erreichte uns die Nachricht, daß ein Kommando von 15 Mann in die Luft geflogen war. Fünf Mann tot, die anderen mehr oder weniger verletzt. Sofort wurde angeordnet, daß immer nur 2— 3 Mann an der Bombe sein durften."

  23. Stadtarchiv Essen, Rep. 102 I 1126 d, S. 22 ff.

  24. Es kann auch Haldern sein, wo im Zusammenhang mit dem Angriff auf Duisburg am 8. /9. April 10 Sprengbomben fielen.

  25. Die Zahl von 2 000 Bomben mag übertrieben oder auf einen Schreibfehler zurückzuführen sein. Der Feuerwerker Zellerhoff berichtete dem Verfasser allerdings, daß er in der Zeit vom März 1944 bis Anfang 1945 etwa 1 700 Blindgänger entschärft hat (Brief vom 25. 9. 1976).

  26. In Bochum gab es am 13. /14. Mai nach einer ersten Meldung 212 Tote, darunter 60 Russen; vgl. Bundesarchiv, Schadensmeldung bei Fliegerangriffen an den Reichsschatzmeister, NS 1/vorl. 274. Nach einer undatierten Schadensmeldung einiger Bochumer Großbetriebe gab es beim Bochumer Verein durch mehrere Volltreffer im Russenlager über 100 Tote; vgl. Historisches Archiv der GHH, Oberhausen, 4001510/46. Nach einem Lagebericht des Luftgaukommandos VI erhöhte sich die Gesamtzahl auf 410, vgl. Bundesarchiv — Militärarchiv E 2461.

  27. Vgl. dazu den Bericht des Verf.: Die Zerstörung der Staumauern, in: Wehrforschung, Heft 3/1975. Weinand hat die Bombe überraschend genau beschieben.

  28. Chef der Ordnungspolizei, Lagemeldung vom 29. 6. 1943, Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK und SED, Berlin (Ost), St 3/581, fol. 149.

  29. Die Angaben stammen vom Internationalen Suchdienst. Daß es einem Häftling vom Bomben-kommando gelungen ist, in Köln unterzutauchen, erwähnt Dirk Gerhard, Antifaschisten — Proletarischer Widerstand 1933— 1945, Berlin 1976, S. 149.

Weitere Inhalte

Norbert Krüger, geb. 1940 in Wuppertal; Oberstudienrat an einem Gymnasium in Oberhausen. Veröffentlichungen u. a.: Wuppertal als Beispiel für Probleme der Luftkriegsgeschichte, in: Wehrwissenschaftliche Rundschau, Heft 12/1967; Die Zerstörung der Wuppertaler Verschiebebahnhöfe, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins, Bd. 85/1972; Der Luftangriff auf Mönchengladbach und Rheydt am 30. /31. 8. 1943, in: Rheydter Jahrbuch für Geschichte, Kunst und Heimatkunde, Bd. 10/1973; Der Luftangriff auf Essen am 12. /13. 3. 1943, in: Münster am Hellweg, Heft 3/1974; Die Zerstörung Wuppertal-Barmens im Zweiten Weltkrieg, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins, Bd. 86/1974; „. ..dem Rufe des Führers begeistert folgend ..." — Essener Schüler und Lehrlinge als Luftwaffenhelfer im Totalen Krieg, in: Münster am Hellweg, Heft 2 und 3/1975; Die Zerstörung der Staumauern, in: Wehrforschung, Heft 3/1975.