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Werbung für den Gemeinsinn — Erfahrungen und Probleme | APuZ 38/1977 | bpb.de

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APuZ 38/1977 Werbung für den Gemeinsinn — Erfahrungen und Probleme Toleranz und Konfliktfähigkeit. Konkurrierende Tugenden in der pluralistischen Demokratie? Toleranz — Intoleranz Anmerkungen zu Begriff, Bedingungen und Beeinflussung Persönliche Erfahrungen bei Entscheidungsprozessen in meinem Arbeitsbereich an der Hochschule dürften die Behandlung des Themas wesentlich beeinflußt haben.

Werbung für den Gemeinsinn — Erfahrungen und Probleme

Eberhard Müller

/ 27 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die 1958 gegründete „Aktion Gemeinsinn e. V.“ verfolgt das Ziel, auf dem Weg über verschiedene Medien mit dem Mittel der Werbung Aufgaben des Gemeinwohls zu benennen und Bürger für die Lösung dieser Aufgaben zu gewinnen. Der Versuch, auf diesem Wege ein gemeinschaftliches Verantwortungsbewußtsein zu wecken, wird durch die Unterstützung von Seiten renommierter Werbeagenturen und eines Großteils der deutschen Presseunternehmen ermöglicht. Gleichwohl ist der Verein unabhängig von jeder finanziellen oder andersgearteten Einflußnahme — etwa von staatlichen oder konfessionellen Sonderinteressen. Die Aktion betrachtet dies als Chance und Voraussetzung zugleich, bei ihrer Werbung nicht nur parteipolitisch engagierte Bürger, sondern allgemein politisch Aufgeschlossene zur Lösung gemeinsamer Aufgaben anzuregen.

„Ohne mich"

Die „New York Times“ veröffentlichte im Jahr 1949 einen beachteten Artikel, der viel feststellte, unter den Deutschen werde kein Wort so häufig gebraucht wie das Wort „ohne mich". Der Artikel -schilderte die Ursa chen dieses „Ohne-mich" -Standpunktes. Millionen von Bürgern hatten sich in einem politischen Engagement die Finger verbrannt: zuerst als Sozialisten, Kommunisten, Gewerkschaftler und Demokraten, dann als Nazis bis hin zu ihren harmlosen Helfershelfern. Jetzt wolle man endlich privat sein und bleiben. Dazu kam das traditionelle Staatsbewußtsein der Deutschen: Die Regelung der öffentlichen Angelegenheiten überließ man der „Obrigkeit". Nur wenige wollten wahrhaben, daß demokratische Freiheiten nur dort gedeihen können, wo sie von der Mitverantwortung der Bürger getragen sind.

Dem widerspricht nicht die Feststellung, daß bei ungezählten einzelnen Menschen auch viel guter Wille vorhanden war. Viele wollten mithelfen, der allgemeinen Not der Nachkriegszeit zu steuern. Nicht nur die zerstörten Städte, sondern auch eine freiheitliche Gemeinschaft der Bürger mußte wieder aufgebaut werden. Aber wie sollte ein gemeinsamer Wille zustande kommen, wenn man die Eigenverantwortung der Bürger nicht wieder durch staatliche Manipulation gängeln wollte? Gibt es Mittel und Wege, um Millionen von Bürgern zu bewegen, daß sie versuchen, selber gemeinsam einem Unheil zu steuern und etwas Neues, Besseres zu unternehmen, obwohl doch jeder einzelne und jede Gruppe wieder andere Interessen, Aufgaben und Fähigkeiten haben?

Einige wenige miteinander

Die „Aktion Gemeinsinn", von deren Aufgaben und Entstehung hier berichtet werden soll, setzte sich das scheinbar utopische Ziel, zu gemeinsamem Willen immer neue öffentliche Anstöße zu geben, um Vorurteile zu überwinden, bessere Einsichten zu vermitteln und zu gemeinsamer Verantwortung zu rufen. Es waren nur wenige, die sich vor bald 20 Jahren zu dieser Absicht zusammenfanden: je einer von Presse, Rundfunk und Film, der Meinungsforschung, Werbewirtschaft und der Markenindustrie, ferner einer von der staatlichen Verwaltung, der politischen Bildung und der Kirche. Sie alle waren Teilnehmer einer Tagung, zu der die Evangelische Akademie Bad Boll im Januar 1957 dem Titel unter des „Weckung Gemeinsinns — eine Werbe-aufgabe" eingeladen hatte.

Diese Tagung hatte eine für ihr Thema bedeutsame Vorgeschichte: Man war in Bad Boll der Meinung gewesen, ein entscheidender Grund für den Mangel an Gemeinsinn und bürgerlicher Mitverantwortung sei ein modernes Steuerungsorgan der menschlichen Wünsche, nämlich die Macht der Wirtschaftswerbung. Sie sei es, die den Menschen ständig antreibe, ein Mehr an Sachen zu suchen und darüber sich selbst und die gemeinsame Zukunft zu verlieren. Um darüber miteinander nachzudenken, hatte die Akademie ein Jahr zuvor eine Tagung unter dem Thema „Werbung und Ethik“ veranstaltet. Der Präsident des Zentralausschusses der Werbewirtschaft hatte nach einigen Vorgesprächen zusammen mit dem Leiter der Boller Akademie dazu mit folgendem Vorspruch des Programms eingeladen: „Jeder an der Werbewirtschaft Beteiligte muß den Wunsch haben, daß seine tägliche Arbeit dem Wohl seiner Mitmenschen dient. Manche empfinden aber, daß die Möglichkeiten, sich dafür in persönlicher, sittlicher Wahl zu entscheiden, durch die in der modernen Gesellschaft bestehenden Verhältnisse begrenzt sind. Es lohnt sich, gemeinsam darüber nachzudenken, wie Werbung und Ethik bewußter und wirksamer aufeinander bezogen werden können."

Wissenschaftler der Wirtschaftswerbung, Praktiker der Markenindustrie, der politischen Bildung, der Publizistik und der Theologie bestritten die Referate und Podiumsdiskussionen der Tagung. Es ging um die Frage nach der „Führung und Verführung des Menschen durch die moderne Werbung". Den Schlußvortrag hielt der Nestor der Konsumforschung und Lehrer von Ludwig Erhard, Professor Dr. Wilhelm Vershofen: „Wie können sittliche Impulse in der Werbewirtschaft wirksam werden?"

„Geheime Verführer?“

Vershofen zitierte einen New Yorker Verkaufsleiter, der seine Aufgabe mit den Worten beschrieb: " Our job is to make women unhappy about what they have." Eine solche Zielsetzung, meinte Vershofen, sei zweifellos mit einem christlichen Ethos nicht vereinbar. Man könne aber von der Werbung kein Ethos verlangen, das man nicht von der gesamten Wirtschaft verlange. Da angesichts unserer technischen Entwicklung nun einmal das Bessere der Feind des Guten ist, lasse sich zwar Werbung für Gebrauchsgüter (Werkzeuge), soweit sie der Wahrheit entspricht, mit einem Ethos verbinden. Bei Verbrauchsgütern könne die Werbung nicht erst durch Täuschung des Käufers, sondern schon durch Weckung seiner Begehrlichkeit und seines Neids bedenklich werden.

Man darf aber, sagte Vershofen, nicht einseitig die Werbung für die Verführung des Menschen verantwortlich machen: man muß auch beim Verbraucher ansetzen. Hier müsse die Ethik beginnen, um einseitig materialistische Entwicklungen zu verhindern. Aber was kann geschehen, um die Freiheit der Menschen, die auch in den Konsumentscheidungen unaufgebbar ist, mit der Abwehr eines fortschreitenden Warenfetischismus zu verbinden? Vershofen fragte am Schluß, ob man nicht „die an sich doch erstaunliche psychologische, künstlerische, soziologische Leistung unserer führenden Werbefachleute zugleich für eine Art Gegenwerbung einsetzen könnte, die den Menschen deutlich macht, daß sie mit ihrer fortgesetzten Jagd nach materieller Wunscherfüllung am Schluß todunglücklich sind. Das, was die Werbung geschaffen und geleistet hat, läßt sich nicht bloß auf wirtschaftlichem Gebiet verwerten." Damit war die Aufgabe gezeigt, eine völlig andere Art von Werbung zu entwickeln. Man mußte Wege finden, um die Kommunikationsmittel der Werbung noch für wichtigere Ziele als die einer weiteren Steigerung des Konsums verwendbar zu machen.

Aber wer sollte solche Werbung bezahlen? War es möglich, den Verdacht einer Manipulation des Bürgers auszuschalten? Man kann sich heute nicht mehr vorstellen, in welcher Weise damals die Menschen noch durch ihre Erinnerung an die Goebbelssche Propaganda gegen jede Werbung, die den freiwilligen Einsatz des Bürgers mobilisieren sollte, geprägt waren. Typisch für diese allgemein verbreitete Stimmung war die Absage des Publizisten Friedrich Sieburg auf die Einladung, an einer Tagung über „Weckung des Gemein-sinns“ mitzuwirken. Er ließ die Tagungsleitung wissen, „daß ich von der Benutzung moderner Werbemittel im Interesse des allgemeinen Wohles oder im Interesse des Gemeinsinnes wenig halte. Nach meiner Über-zeugung wohnt diesen Werbemitteln eine Autonomie inne, die ihre Anwendung zu einem guten Zweck ausschließt. Wer die Mittel benutzt, verfällt der ihnen innewohnenden Teufelei, und wenn er mit ihnen selbst für die höchsten Güter zu streiten versuchte. Ich halte den Versuch wie er ja in Amerika im größten Stile angewendet wird, für ganz aussichtslos, ja, für verwerflich, weil die Werbemittel selbst ein Wesen darstellen, mit dem sie die Gegenstände, auf die sie angewendet werden, verwandeln." An die Möglichkeit, daß sich auch die Werbung verwandeln könnte, sobald sie mit wachem Interesse sich einem Ziel des Gemeinsinns zuwendet, hatte Sieburg — und mit ihm viele andere — nicht geglaubt. Verstärkt wurden solche Widerstände noch durch eine Publikation des Amerikaners Vance Packard „Die geheimen Verführer". Es war — wie Fachleute sehr bald nachwiesen — ein unseriöses Buch Es versuchte, die Allmacht der Werbung zu beweisen und berichtete dazu unter anderem von Versuchen, Werbedias nur für Sekundenbruchteile in Fernsehsendungen einzublenden, so daß sie vom Publikum nicht bewußt, sondern nur unbewußt wahrgenommen werden können. Die Werbung dringe also, so behauptete er, nicht nur — wie z. B. jede erfolgreiche Verkehrserziehung — bis in das Unterbewußte der Menschen vor, sondern schalte geradezu die Kontrolle des Bewußtseins aus. Obwohl derartige Versuche von Fachleuten sehr bald in das Reich der Fabel verwiesen wurden, erhöhten sie den Verdacht, daß Werbung mit Manipulation gleichzusetzen sei.

Um zu erfahren, wie in demokratischen Staaten für Aufgaben des Bürgersinns geworben wurde, bat man vor der zweiten Tagung von den Kulturreferenten einiger Bonner Botschaften um Mitteilung diesbezüglicher Erfahrungen ihrer Länder. Wesentlich wurde dazu ein Hinweis von Dr. C. C. Schweitzer, damals Mitarbeiter der Bundeszentrale für politische Bildung und später ein Mitbegründer der Aktion Gemeinsinn. Er hatte Anfang der 50er Jahre in USA die Werbemethoden des „Advertising Council" kennengelernt. Beginnend mit der Kriegs-und Nachkriegszeit hatte man dort jährlich Werbeleistungen für Aufgaben des Gemeinsinns im Wert von mehr als einer halben Milliarde DM aufgebracht. Unter anderem war dadurch die Aktion der „Care Pakete" in Gang gebracht worden, die nach dem Krieg ungezählten Familien, auch in Deutschland, über die Hunger-zeit hinweghalf. Durch Schweitzers Vermittlung gelang es, einen der Direktoren dieses amerikanischen „Advertising Council“ zu einem Vortrag für die zweite Tagung in Bad Boll zu gewinnen. Obwohl bald klar war, daß diese amerikanischen Methoden in Deutschland nicht anwendbar waren, überzeugten sie doch die Teilnehmer, daß wir in Deutschland Schritte unternehmen müßten, um auf unsere Weise die Aufgabe einer Werbung für den Gemeinsinn zu lösen. Die Akademie hatte zum Abschluß der Tagung eine „gemeinsame Beratung über praktische Maßnahmen der staatsbürgerlichen Werbung in Deutschland" ins Programm gesetzt. Das Ergebnis der Beratung war die Bildung des eingangs erwähnten kleinen Kreises.

Aktion Gemeinsinn e. V.

Ein Jahr später, im Juli 1958, konstituierte sich dieser Arbeitskreis als „Aktion Gemein-sinn e. V.". Von einem kleinen Büro abgesehen, wird ihre Arbeit ausschließlich von ehrenamtlichen Mitgliedern getragen, die ihre Aufgaben neben ihrem Beruf wahrnehmen. Heute ist allseitig anerkannt, daß durch die Kampagnen, die die Aktion Gemeinsinn zusammen mit Werbeagenturen und der Presse entwickelte, Schritt für Schritt an praktischen Beispielen aufgezeigt wurde, welche Möglichkeiten einer nicht-manipulierten gesellschaftlichen Bewußtseinsbildung in dem Instrument der Werbung enthalten sind. Die Pionieraufgabe dieser Entwicklung war so faszinierend und erschien für die Zukunft unseres Volkes so wichtig, daß der vor 20 Jahren gebildete Kreis bis zum heutigen Tag zusammengehalten hat.

Auf den Namen „Aktion Gemeinsinn" einigte man sich bald. Als Symbol wählte man zwei ineinandergreifende Ringe mit der Inschrift: „miteinander — füreinander". Auch eine Definition der Zielsetzung für die Satzung war bald gefunden. Sie lautete: „Der Verein will den Gemeinsinn der Mitbürger und ihr Gefühl für Selbstverantwortung stärken. Zu diesem Zweck will der Verein die Öffentlichkeit durch moderne Methoden der Werbung und der Publizistik auf bestimmte Aufgaben hin-lenken, die nicht (oder nicht ausschließlich) durch staatliche Initiative gelöst werden können, sondern im wesentlichen des selbstverantwortlichen Handelns der Mitbürger bedürfen." Schon bei der ersten Zusammensetzung des Arbeitskreises hatte man den später definierten Grundsatz verfolgt: „Die Aktion Gemeinsinn ist frei von Bindungen staatlicher, konfessioneller und parteipolitischer Art. Ihre Kampagnen beruhen ausschließlich auf den freiwilligen Leistungen aller Beteiligten und dienen nur dem Ziel, die Einrichtungen, die auf die Mitarbeit der Bürger angewiesen sind, publizistisch zu unterstützen."

Einig war sich der Gründerkreis auch in der Auffassung, daß nicht karitative Aufgaben, für die es schon mancherlei Großorganisationen gab, im Vordergrund stehen sollten. Es ging darum, möglichst viele Mitbürger dafür zu gewinnen, daß sie bestimmte Aufgaben des Gemeinwohls selbst mit in die Hand nehmen, statt in selbstgerechter Resignation nur „die da oben“ anzuklagen. Man wollte also Bürgerinitiativen wachrufen, die allerdings nicht den Sinn haben sollten, eigene Interessen gegen staatliche oder kommunale Verantwortungen durchzusetzen. Man wollte öffentlichen Notständen und Fehlentwicklungen entgegentreten, die von der öffentlichen Hand nicht ohne eine aktive Beteiligung der Bürgerschaft zu bewältigen waren.

Vom Gemeinsinn zur Aktion?

Am schwierigsten war es im Anfang, geeignete Themen zu finden. Diese sollten weder so allgemein sein, daß zwar alle ihnen zustimmten, aber keiner etwas tat, noch sollten sie so speziell sein, daß sie nur wenige Menschen etwas angingen. Die eingebrachten Themen-vorschläge zur Werbung für den „Gemeinsinn“ reichten von einer allgemeinen Werbung für Toleranz bis zu konkreten Aufgaben des Verkehrsverhaltens, der Freizeitgestaltung, des Familienlebens und der betrieblichen Zusammenarbeit. Mancherlei dilettantische Versuche mit Werbefilmen für den Gemeinsinn verursachten erhebliche Kosten und entmutigten den Arbeitskreis. Etwas mehr Boden unter die Füße bekam man durch eine Untersuchung des Instituts für Meinungsforschung, „Emnid". Sein Inhaber, Graf von Stackeiberg, veranstaltete auf eigene Kosten eine Umfrage unter dem Thema: „Aktuelle Probleme des Gemeinwohls im Meinungsbild der Öffentlichkeit.“ Vor allem war wesentlich, daß es gelang, in Elisabeth Strauss eine ebenso geschickte wie tatkräftige Geschäfts-führerin zu finden, die bis zum Jahr 1976 nach allen Seiten die Verbindungen herzustellen half und unermüdlich fünfzehn Jahre hindurch die Entwicklung vorantrieb. Trotz dieser Vorarbeiten verhielten sich offizielle staatliche Stellen, die großen Verbände, potente Geldgeber der Wirtschaft und auch die Kirchen zunächst abwartend. Immerhin war es im Laufe der Zeit gelungen, führende Persönlichkeiten der Bundesrepublik für die Idee zu gewinnen. Nach mancherlei Versuchsballons entschloß man sich zur Adventszeit des Jahres 1959, in einem Flugblatt die deutschen Familien aufzurufen, zum Weihnachtsfest ausländische Studenten und Praktikanten in ihre Familien einladen. Die Adressen sollten über das akademische Auslandsamt der nächstgelegenen Universität erfragt werden. Dieser Aufruf war unterzeichnet von allen, die Rang und Namen in der Bundesrepublik hatten: vom Bundespräsidenten, Bundestagspräsidenten, Bundeskanzler, von den Vorsitzenden der großen Parteien, den Spitzenleuten der Kirchen, der Gewerkschaften, der Industrieverbände, der Zeitungsverleger etc. Drei Gründungsmitglieder aus dem Bereich der Publizistik, Jost von Morr, Werner Titze und Gerta Tzschaschel, sorgten dafür, daß der Aufruf ein lebhaftes Echo in der Presse und in Funk und Fernsehen fand. Dadurch wurde die Wirkung so vervielfacht, daß sich in wenigen Wochen annähernd zehntausend Familien meldeten, weit mehr, als überhaupt Studenten und Praktikanten erreicht werden konnten. Mit der Aktion für die ausländischen Studenten wurde zum ersten Mal ein Problem sichtbar, das bis zum heutigen Tag Schwierigkeiten bereitet: Die Aktion Gemeinsinn konnte den Gemeinsinn, soweit sie ihn geweckt hatte, nicht auch noch selbst organisieren. Um es mit einem merkantilen Beispiel zu sagen: Die Werbefirma konnte das geweckte Interesse der „Kunden" nicht ihrerseits befriedigen. Das mußten diejenigen tun, die den geweckten Willen zusammenzufassen und zum Ziel zu führen vermochten.

Werbeleistungen für fünf Millionen jährlich

Immerhin wurde mit dieser Aktion für die ausländischen Studenten der entscheidende Schritt erreicht: Die „Aktion Gemeinsinn e. V.“ war in der Öffentlichkeit vorgestellt. Damit gewannen auch die großen, Werbung treibenden Organisationen, vor allem die Werbeagenturen und die Presse, das nötige Vertrauen, sich nun selber mit zu engagieren.

Mehrere der größten deutschen Werbeagenturen erklärten sich bereit, kostenlos die Vorarbeit für die einzelnen Aktionen zu übernehmen. Eine von ihnen, die Agentur Walter Thompson in Frankfurt, ging mit der „Aktion Gemeinsinn" als erste ein Geschäft ohne Bezahlung ein. Die Kampagnen der folgenden Jahre wurden mit gleichem Engagement von anderen Firmen — von einigen sogar wiederholt — gestaltet. Obwohl den Agenturen für die sachgemäße Ausarbeitung einer einzelnen Kampagne Selbstkosten zwischen 50 000 und 100 000 DM entstanden, erbrachten die Agenturen diese Leistungen ohne jede Bezahlung. Tätig wurden nacheinander die Agenturen: DIE WERBE GmbH (Essen), LINTAS (Hamburg), McCann (Frankfurt), William Wilkens (Hamburg), Benton & Bowles u. Partner (Frankfurt), Young & Rubicam (Frankfurt), TEAM/BBDO (Düsseldorf), Foote, Cone & Bei-ding (Frankfurt), Masius & D’Arcy-Mc-Manus GmbH (Hamburg) und Dr. Hegemann ABH (Düsseldorf). Damit war man aus dem Stadium des Dilettierens heraus. Bei jeder Aktion unternahm jeweils eine der großen Werbeagenturen eine sorgfältige Untersuchung des Feldes, für das geworben werden sollte. Sie erstellte kostenlos die Konzeption von Text und Bild der Anzeigen.

Insgesamt noch weit größer waren die Gratis-leistungen der Presse. Dem Einsatz des damaligen Sprechers des Verbandes deutscher Zeitungsverleger und Chefs des Süddeutschen Verlages, Hans Dürrmeier, sowie dem vorbildlichen Werbeeinsatz vieler anderer Verlage war es zu verdanken, daß schon bald mehr als 70 Prozent der deutschen Tageszeitungen und Zeitschriften die Anzeigen der Kampagnen der Aktion Gemeinsinn brachten. Das ist durch 15 Jahre so geblieben. Die Werbeleistungen der Zeitungen und Zeitschriften stellten jährlich einen Wert von mehr als 5 Millionen DM dar. Auch Papierfabriken, Plakatanschlagunternehmen, große und kleine Spender von Geldbeträgen halfen mit, die Aktionen auszugestalten und immer wieder neue Themen in die Öffentlichkeit zu tragen. Für jede dieser Kampagnen wurde ein spezieller Kam-pagnenausschuß von Fachleuten zusammengestellt. Dieser sollte mit den Werbeagenturen die sachliche Zielsetzung der Kampagne ausarbeiten.

Die erste „Kampagne"

Die erste groß angelegte Kampagne versuchte, der Not vieler alter Menschen zu begegnen. Sie waren in der Periode des Wirtschaftswunders weithin völlig vergessen worden und fanden in den überfüllten Altersheimen keine Unterkunft. Die Aktion Gemein-sinn wollte die Einstellung der Bevölkerung gegenüber den alten Menschen verändern. Es sollte mehr für sie geschehen. Meldungen für die Unterbringung in einem Altersheim muß-ten oft jahrelang zurückgestellt werden. Fachgemäß, wie es im „Marketing" üblich ist, stellte die Werbeagentur vor Ausarbeitung der Kampagne auch eigene Untersuchungen über die bestehenden Nöte und Widerstände an. Die Untersuchung der Agentur stellte aber fest, daß die Unterbringung in Altersheimen vielen alten Menschen eher als eine letzte verzweifelte Zuflucht erschien. Sie wollten zumeist keineswegs dorthin abgeschoben werden, sondern selber noch aktiv am Leben im Kreis der Familien, ihrer Vereine und der ganzen Gesellschaft teilnehmen. So entstand nach gemeinsamen Beratungen eine Kampagne unter dem Slogan „Das Alter darf nicht abseits stehen". Die Anzeigen dieser Kampagne zeigten neben der Zeichnung eines alten Menschen in wenigen Sätzen das Problem der verlassenen Alten. Sie beschrieben dann unter der Überschrift „Das gute Beispiel“ eine Maßnahme zur Integration und Aktivierung alter Menschen, die einzelne Gruppen oder kommunale Stellen für alte Menschen getroffen haben. Die Anzeige endet mit der Frage: „Kennen Sie ähnliche Beispiele? Schreiben Sie bitte ihre Anregungen an die AKTION GEMEINSINN.“

Die Kampagne wurde von Bundespräsident Lübke eröffnet und fand eine überraschend große Beteiligung der Massenmedien der Bundesrepublik. Der Bundespräsident wurde durch die Kampagne angeregt, das „Kuratorium Deutsche Altershilfe“ zu gründen, das heute noch jährlich mehrere Millionen DM an Förderungsmitteln ausgibt. Die Gelder werden besonders für Pionierprojekte verwendet, mit denen neue Formen der Altenhilfe ausprobiert werden. Da die Kommunen sich im allgemeinen schwer tun, Hilfsaktionen zu unterstützen, die noch keine Bewährungsprobe hinter sich haben, wird auf diese Weise unbürokratisch ein wichtiger Dienst in Bewegung gebracht.

Motiviert oder „außengelenkt"?

Mit dieser öffentlichen Werbung, die für ein besseres menschliches Verhältnis zur älteren Generation warb, wurde ein weiterer Einwand gegen die Werbung für den Gemeinsinn abgebaut. Dieser Einwand glaubte in dem Amerikaner David Riesman einen Kronzeugen gegen die moderne Werbung überhaupt und gegen die Beeinflussung des gesellschaftlichen Verhaltens der Menschen im besonderen gefunden zu haben. In seinem Buch „Die einsame Masse" das ebenfalls ein Bestseller auf dem deutschen Büchermarkt geworden war, hatte er die These aufgestellt, der moderne Mensch sei mehr und mehr „außengelenkt“ und somit nicht mehr aus seinen eigenen Impulsen und Erkenntnissen heraus motiviert. Riesman selbst hatte damit nicht beabsichtigt, die moderne Werbung zu verdächtigen. Er beschrieb lediglich den Tatbestand, daß der moderne Mensch durch die industriellen Arbeitsprozesse und Lebensvorgänge aus seinem traditionellen Verband der Familie, der Sippe, der Wohngemeinschaft herausgerissen werde und gleichsam einsam wie ein Sandkorn in der Masse dahingetrieben werde. Zwar gehört für ihn selbstverständlich auch die Werbung zu den Instrumenten seiner Beeinflussung, aber sie ist nicht die Ursache dafür, daß die Menschen mehr und mehr „außengelenkt" dahinleben. In der Alterskampagne der Aktion Gemeinsinn wurde die Werbung im Dienst der personalen Integration und damit gegen den Trend der Außenlenkung wirksam. Auch das „Kuratorium Deutsche Altershilfe" hat laufend neue Ideen gefördert, die mithelfen, alte Menschen aus der einsamen Masse herauszuholen und ihnen zu helfen, neue Lebensbeziehungen aufzubauen und ihnen mit sozialen Einrichtungen wie fahrbaren Küchen, Altenclubs etc. aus den Ängsten der Vereinsamung herauszuhelfen.

Mit dieser Alterskampagne der Aktion Gemeinsinn entstanden allerdings auch neue zusätzliche Schwierigkeiten. Die. Wohlfahrtsorganisationen waren nicht entzückt, daß die Aktion Gemeinsinn und das „Kuratorium Deutsche Altershilfe" sich auf ihrem Feld zusätzlich betätigten und — wie sie glaubten — Geldmittel abschöpften. Es gelang aber, den Leiter des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zur Mitgliedschaft in dem Arbeitsausschuß der Aktion Gemeinsinn zu gewinnen und in Zukunft solche Konkurrenz-bedenken abzufangen.

Schwieriger war es, mit den Tausenden von Briefen fertig zu werden, die von Menschen eingingen, die glaubten, endlich eine Stelle gefunden zu haben, bei der sie ihre Sorgen loswerden und Hilfe finden konnten. Wenn aber der Auftraggeber der Werbung nicht in der Lage ist, selbst die Bedürfnisse zu befriedigen, die in seiner Werbung angesprochen werden, führt das naturgemäß zu Schwierigkeiten. Erst recht gilt das, wenn er kaum das Geld aufbringen kann, um das Porto für eine Antwort auf Tausende von Zuschriften zu zahlen. Je erfolgreicher eine Kampagne war, je stärker das Echo auf die Aktion Gemeinsinn zurückkam, desto größer wurden die Überlastung ihres kleinen Büros und die Nöte der Finanzierung. Trotzdem sollte diese Werbung auch in ihrer Finanzierung , staatsfrei'gehalten werden. Bislang gelang es immer wieder, diesen wichtigen Grundsatz durchzuhalten. Die Mitglieder mußten dazu nicht nur ehrenamtlich mitarbeiten, sondern auch für die Finanzierung ihrer Reisen zu den regelmäßigen Sitzungen des „Arbeitsausschusses" und des Kuratoriums selbst sorgen.

Wer steht dahinter?

Die Unabhängigkeit vom Staat und auch von allen Verbänden erschien der Aktion Gemein-sinn bei aller Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit ihnen unerläßlich. Für den Erfolg einer Werbung ist das Image des Werbetreibenden von großer Bedeutung. Wenn staatliche Stellen werben, wirbt — so denken viele — eine politische Gruppe, die jeweils die Hebel der Macht bedient. Es gibt immer eine große Anzahl von Menschen, die gegen diesen Auftraggeber eingestellt sind. Das gilt sogar — wenn auch nur teilweise —, wenn die Wohlfahrtsverbände Auftraggeber von Sozial-werbungen sind. Es sind zumeist ganz verschiedene Personen, die sich von der Arbeiterwohlfahrt oder vom Caritasverband zu einer Hilfsbereitschaft ermuntern lassen. Wollte die „Aktion Gemeinsinn" die gesamte Bevölkerung ansprechen, so müßte sie mit allen Verbänden eine vertrauensvolle Verbindung halten und doch zugleich ihr eigenes Image aufbauen. Auch bei der Werbung für den Gemeinsinn ist also das Image der werbenden Stelle entscheidend für den weiten Kreis, den sie ansprechen kann. Der Verdacht, man betreibe Staatspropaganda, mußte von Anfang an die Wirkung für den Gemeinsinn beeinträchtigen. Dies zeigte sich bei einer folgenden Kampagne.

Eine große Werbeagentur sollte eine Kampagne für die Aktion Gemeinsinn gestalten, die unmittelbar den „Ohne-mich" -Standpunkt bekämpfte. Es ging darum, jene Gesinnung zu bekämpfen, die sich um jedes Engagement — und wäre es nur das, bei Unfällen zu helfen — drückt. Die Agentur erfand dazu die Figur des Herrn „Ohnemichel", der in Anzeigen mit der Erklärung vorgestellt wurde: „Herr Ohnemichel winkt immer ab, wenn es darum geht, zu helfen, Rücksicht zu nehmen, sich mitverantwortlich zu fühlen. Ihm fehlt eben, was den guten Bürger, den sympathischen Mitmenschen ausmacht: ihm fehlt Gemein-sinn.“

Die schwarze Figur des Herrn Ohnemichel, die in der Anzeige mit abgedruckt wurde, er-B innerte aber die älteren Mitbürger in peinlicher Weise an die bekannte Figur des „Kohlenklau", mit der Goebbels im Zweiten Weltkrieg gegen den unnötigen Verbrauch von Heizmaterial agitierte. Dies weckte neue Zweifel an der „Gemeinsinn-Propaganda“. Die Agentur versuchte darum eine Fortsetzung ihrer Kampagne unter dem Slogan „Ohnemichel hierorts unbekannt" und schilderte unter dieser Überschrift Beispiele von Bürgerinitiativen, mit denen Notständen in Eigeninitative abgeholfen wurde.

„So gut funktionieren unsere Gefängnisse“

Es folgten weitere Kampagnen u. a. zur Resozialisierung von Strafgefangenen. Sie arbeiteten mit den Werbesprüchen: „Wir Deutsche züchten unsere Verbrecher selber“ oder „Wer bei uns als kleiner Dieb ins Gefängnis geht, kommt oft als gelernter Einbrecher wieder heraus. So gut funktionieren unsere Gefängnisse." In weiten Kreisen des deutschen Volkes herrschte nicht nur eine völlige Gleichgültigkeit gegenüber Menschen, die eine Gefängnisstrafe abgebüßt hatten. Je mehr die Kriminalstatistik stieg, um so mehr wurde die Parole „Rübe ab“ zum Rezept des Spießbürgers, mit dem er Recht und Ordnung gesichert sehen wollte. Moderne Formen des Strafvollzugs, durch die schon in den Gefängnissen eine Resozialisierung einsetzen sollte, stießen auf den primitiven Einwand: „Gefängnisse sind keine Sanatorien". Nach der Entlassung standen die Gefangenen vielfach zu Hause und in den Betrieben vor verschlossenen Türen. Was blieb ihnen anderes übrig, als die Gemeinschaft mit denen fortzusetzen, mit denen sie im Gefängnis ihresgleichen geworden waren? Psychologen, Beamte des Strafvollzugs, auch viele Politiker hatten diese Tatbestände längst erkannt. Es ist aber sehr schwer, ohne Mithilfe der Bevölkerung, ja gegen ihre ausgesprochene Abneigung Reformen zur Vermenschlichung des Strafvollzugs durchzusetzen.

Diese Kampagne der Aktion Gemeinsinn mit ihrer weit verbreiteten Aufklärungsschrift war einer der wichtigsten Anstöße, der ein Umdenken in diesen Dingen einleitete. Vor allem für den Strafvollzug selbst war diese öffentliche Bewußtseinsbildung zu einem wesentlichen Hilfsmittel geworden. Auch in den Jugendorganisationen bildeten sich Gruppen, die Verbindungen zu jugendlichen Straftätern suchten. Die Gefängnisverwaltungen eröffne ten ihnen die Möglichkeiten dazu. Aufgrund all dieser Erfahrungen beschloß man, in Zukunft die Werbung mit dem Vertrieb von Aufklärungsschriften zu verbinden. Das war besonders erfolgreich bei einer Kampagne „Nimm Partei für die Gesundheit“. Sie arbeitete mit wechselnden Slogans: „Es gibt Leute, die es geradezu darauf anlegen, sich mit Messer und Gabel umzubringen." „Es gibt Leute, die lebenslang sitzen, ohne dazu verurteilt zu sein.“ „Es gibt Leute, die ihr Herz solange malträtieren, bis es 13 schlägt." Mit diesen Anzeigen wurde ein Coupon verbunden, mit dem die Leute eine Aufklärungsschrift „Gesundheitskompaß" der Aktion Gemeinsinn bestellen konnten, die zusammen mit dem Bundesgesundheitsministerium herausgegeben wurde. Sie fand eine Million Abnehmer und noch viel mehr Leser.

Öl ins Feuer oder ins Getriebe?

Problematisch in ihrer längerfristigen Wirkung war eine Kampagne der Aktion Gemein-sinn unter dem Slogan „Schick'Dein Kind länger auf bessere Schulen“. Es war die Zeit, in der Georg Picht unter Überspitzung von Sorgen, die auch im Max-Planck-Institut für Bildungsforschung bestanden, eine kommende Bildungskatatstrophe ankündigte. Die Werbeagentur, die mit der Ausarbeitung der Gemeinsinn-Kampagne beauftragt wurde, stellte in einer Felduntersuchung fest, daß der Hauptwiderstand gegen eine bessere Ausbildung der Kinder von den Eltern ausging. Sie waren weithin der Meinung, daß sie selbst es doch auch „zu etwas gebracht hätten" aufgrund der Ausbildung oder auch Nicht-Ausbildung, die sie als junge Menschen genossen hatten. Das müsse auch für ihre Kinder gelten.

Dieser Indolenz wollte die Kampagne wehren. Die wachsende Bedeutung der. Mittelschicht vom Facharbeiter bis zum Ingenieur sollte ebenso ins Bewußtsein gerufen werden wie die Bedeutung einer besseren Grundausbildung. Diese soll Menschen in die Lage versetzen, in einer sich wandelnden Gesellschaft verschiedene Berufswege einzuschlagen. Wie in der begleitenden Broschüre dargelegt wurde, war die Kampagne gemeint als Anstoß zu besserer Ausbildung und Ausrüstung für das Berufsleben. Daß dies nicht präziser ausgesprochen wurde, lag freilich weniger an den Werbeagenturen oder der Aktion Gemeinsinn als an der damals vorherrschenden Meinung der Bildungsforscher. Nötig wäre wohl eine noch differenziertere Werbung für eine bessere Ausbildung gewesen. Verstanden wurde sie freilich weithin als ein Rat zum Übergang ins Gymnasium und möglichst an die Universität. Dies traf zusammen mit der Steigerung des Lebensstandards breiter Volksschichten, der nun in wachsendem Maße in einen höheren Schulbesuch investiert wurde.

Damit wurde eine weitere Aufgabe deutlich, der Werbung für den gestellt die Gemeinsinn war. Sie mußte versuchen, im Zusammenhang mit Fachleuten Verschiedener Richtungen auch die gesellschaftlichen Veränderungen zu bedenken, die ihre eigene Werbung verursachten sowie die Folgen, die daraus entstehen konnten. Es wird jedermann deutlich sein, daß diese Aufgabe niemals mit völliger Treffsicherheit gelöst werden kann.

Rückschläge aus unterentwickelter Solidarität

Es gab auch Rückschläge, die die Aktion Gemeinsinn erlebte. Das gilt vor allem für ihre Kampagne, die den Gedanken der Entwicklungshilfe in der Bundesrepublik populärer machen sollte. Einem Beschluß der Weltorganisationen zur Entwicklungshilfe folgend, soll jedes Industrieland 0, 7 % seines Sozialproduktes für Entwicklungshilfe zur Verfügung stellen. In der Bundesrepublik Deutschland, dem Land, dessen Währungsreserven sogar die der Vereinigten Staaten übertreffen, ist man bisher auf knapp die Hälfte dieses Betrages gekommen. Der damalige Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Erhard Eppler, konnte seine Forderungen nicht durchsetzen, weil dem Parlament die wirtschaftlichen und sozialen Erfordernisse der Bundesrepublik weit wichtiger waren. Das hatte seinen Grund in der Abneigung weiter Teile der Bevölkerung, auf irgendeinen ihrer Ansprüche zugunsten der hungernden Völker der Welt zu verzichten. Die karitativen Organisationen sammelten zwar jährlich viele Millionen Opfergaben. Die Milliarden einer konstruktiven „Weltinnenpolitik", durch die soziale Nöte der Welt zu den eigenen gemacht werden, waren aber nicht bereitzustellen.

Eine Kampagne der Aktion Gemeinsinn wollte unter dem Titel „Vier Milliarden Nachbarn" in breiten Kreisen der Bevölkerung deutlich machen, daß bei der Entwicklungshilfe nicht nur das Schicksal von Millionen hungernder Menschen, sondern auch unsere eigene Zukunft auf dem Spiel steht. Aber das Thema war nicht nur allgemein unbeliebt. Die Kampagne geriet auch in die Turbulenzen eines Zwischenfalls: Deutsche Entwicklungshelfer waren in Afrika teils mißhandelt, teils ermordet worden — als die Aktion startete. Dadurch wurden erneut Gerüchte virulent, die Entwicklungshilfe verschaffe nur einigen Häuptlingen goldene Betten, So fürchteten die Zeitungen eher Widerspruch bei ihren Lesern als positive Reaktionen, wenn sie kostenlos für ein so unpopuläres Thema wie das der Entwicklungshilfe warben. Die Kampagne erreichte nur einen geringen Grad an Publizität. Der mangelnde Wille der Bevölkerung, zugunsten der Entwicklungshilfe Abstriche an anderen staatlichen Leistungen hinzunehmen, ist noch immer beklagenswert. In einem Volk, dem sogar seine eigenen Kriegsgegner nach den Hitlerschen Verbrechen mit MarshallPlan-Hilfe und Care-Paketen wieder auf die Beine geholten hatten, ist das bis zum heutigen Tag unbegreiflich.

„Schenk mir Zeit statt Geld“

Besonderen Anklang bei der Presse und in der Öffentlichkeit fand eine Kampagne „Macht Kindern nicht das Leben schwer". Auf dem Hintergrund eines Kindergesichtes wurden Slogans verbreitet wie „Gib mir Liebe statt Bonbons", „Schenk mir Zeit statt Geld", „Schrei nicht gleich, wenn ich mal schreie". Eine eindrucksvoll gestaltete Aufklärungsschrift für Erziehungsfragen wurde in Hunderttausenden von Exemplaren angefordert, verteilt und sicher jeweils von mehreren gelesen. Eine weitere Kampagne „Gebt der Jugend eine Chance" warb um besseres Verständnis zwischen Jugendlichen und Erwachsenen.

Mit diesen und einigen folgenden Kampagnen war endgültig das Eis der Ablehnung von Werbung für Gemeinsinn in der öffentlichen Meinung gebrochen. Anhand von praktischen Aktionen, die selbst die verbissensten Kritiker überzeugten, hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, die der Kommunikationsforschung natürlich schon lange bekannt war: In der modernen Massengesellschaft müssen immer neue Mittel der Kommunikation geschaffen werden, wenn der gute Wille des Menschen, der latent in vielen vorhanden ist, nicht in seiner Vereinzelung erlahmen soll. Ein erfolgreiches Handeln ist weithin nur möglich, wenn es sich in die Handlungszusammenhänge der Gesellschaft einordnet und diese gleichzeitig zu verändern sucht. Dazu bedarf es zunächst der Information über Tatbestände und ihre Zusammenhänge. Angesichts der unermeßlichen Fülle der auf den Menschen zukommenden Eindrücke bedarf es der immer erneuten Erinnerung an das, was für ihn und für andere wichtig ist. Die Handlungsabläufe müssen koordiniert und auf ein gemeinsames Ziel gerichtet werden, wenn sich nicht alles verzetteln soll.

Die neuen Aufgaben

Es ist eine bekannte Klage all der Menschen, die etwas für den Gemeinsinn oder zur Linderung von Nöten tun wollen: Sie sind ständig von Resignation bedroht, die ihre Wurzel in ihrer Isolierung hat. „Jeder primelt vor sich hin", beschrieb vor kurzem die Leiterin einer Bürgerinitiative für Kinder ihre Lage. Die Segel aller Gutwilligen, selbst derer,'die in so-genannten Machtpositionen in Staat, Wirtschaft und Verbänden stehen, werden schlaff und verlieren ihre Schubkraft. Sie brauchen den Rückenwind einer öffentlichen Meinung, die eine Sache für notwendig und unterstützungswert hält. Sie brauchen freiwillige Mit-helfer, die — statt nur über „die da oben“ zu schimpfen und ihnen möglichst ein Bein zu stellen — aktiv mithelfen, bestimmte Probleme zu lösen.

Die Aktion Gemeinsinn hat in ihrer nahezu zwanzigjährigen Geschichte die Idee der werblichen Kommunikation für den Gemein-sinn populär gemacht. Diese Tatsache wird weder in der Presse noch bei den Werbeagenturen bestritten. Aber hat sie nun nicht das ihre getan und sich damit selbst überflüssig gemacht? Die öffentliche Hand ist inzwischen mit Aufgaben des Gemeinsinns selbst zum größten Auftraggeber für eine solche Werbung in der Bundesrepublik geworden. Viele dem Gemeinwohl dienende Organisationen geben heute Millionen für Werbung zum Gemeinsinn aus. Was soll da noch der Verein „Aktion Gemeinsinn"?

Man kann diese Frage nicht einfach mit der Formel abtun: „Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen." Keine Einrichtung, die der öffentlichen Wohlfahrt dient, kann den Anspruch erheben, für früher erworbene Verdienste auf Dauer honoriert zu werden. Sie muß sich immer wieder etwas Neues einfallen lassen, um solche Funktionen zu übernehmen, die wichtig sind und sonst von niemandem wahrgenommen werden. Die Aktion Gemeinsinn steht darum vor einem neuen Stadium ihrer Entwicklung. Bis jetzt zeichnen sich folgende Erkenntnisse ab: Viele Einzelaufgaben der Sozialwerbung, die von Verbänden und staatlichen Organisationen aufgegriffen, organisiert und finanziert werden können, bedürfen einer Art „Dachkampagne". Darunter ist eine Werbekampagne zu verstehen, die grundlegende Einsichten vermittelt. Sie bilden oft die Voraussetzung für speziellere Werbungen, die der Funktionsfähigkeit und Menschlichkeit in einer freiheitlichen Gesellschaft dienen.

Tolerante Konfliktgesellschaft

Als erster Versuch einer solchen „Dachkampagne" wird zur Zeit in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung und der Agentur Dr. Hegemann — Düsseldorf eine Kampagne zum Thema „Toleranz" entwickelt.

Diese Aktion wird jedoch nicht das viel mißbrauchte und schillernde Wort „Toleranz" in den Mittelpunkt stellen. Sie wird das deutlich machen, was in einer pluralistischen Gesellschaft mit ihren antagonistischen Meinungsund Interessengruppen jedem Menschen immer wieder ins Bewußtsein gerufen werden muß: Wir wollen keine Harmonisierung der Gesellschaft, in der Interessengegensätze überdeckt statt ausgetragen werden. Wir können aber in einer Welt, in der alles mit allem zusammenhängt, nicht Aufheizungen des Gruppenhasses und der persönlichen Abneigung hinnehmen, sonst gehen mehr und mehr die Erkenntnisse der Vernunft in einer Woge irrationaler Emotionen unter. Man irrt, wenn man meint, das Gute und Vernünftige setze sich von allein durch. Im Mittelpunkt dieser Kampagne wird wahrscheinlich die These stehen: „Gegnerschaft ja — Feindschaft nein". Sie will helfen, daß der heutige Mensch in der organisierten Konfliktgesellschaft zurechtkommt, ohne zu resignieren oder sich erbittern zu lassen.

Auch der Gruppengegner, der Ausländer, der unerträgliche Nachbar darf — selbst, wo ihm widerstanden werden muß — nicht zum Feind werden, den es schlechthin zu vertreiben oder gar zu vernichten gilt.

Eine zweite Aufgabe, über die in der Aktion Gemeinsinn zur Zeit Überlegungen angestellt werden, bezieht sich auf die Kinder ausländischer Arbeitnehmer. Eine Million Kinder von „Gastarbeitern" leben zur Zeit in der Bundesrepublik. Sie sind die eigentlichen Opfer einer zwiespältigen Politik und der ungeklärten persönlichen Zielsetzungen, die bei allen beteiligten Ländern wie bei den Gastarbeitern selbst zu beobachten sind. Niemand weiß recht, ob sie zu künftigen Bürgern der Bundesrepublik erzogen oder für die Rückkehr in das Heimatland vorbereitet werden sollen. Kann man beides angesichts der Sprachen-vielfalt miteinander verbinden? Man wird in dieser Sache nur weiterkommen, wenn staatliche Maßnahmen, öffentliche Bewußtseinsbildung, Weckung der Mitarbeit der Bevölkerung, Aufgeschlossenheit aller Erziehungsträger, vor allem aber ein Abbau der Ausländer-feindlichkeit unter der Bevölkerung erreicht wird. Das wird nur möglich sein, wenn durch allgemeine und spezielle Werbemaßnahmen eine großzügige Zusammenarbeit zwischen werbetreibenden Organisationen, Wohlfahrtsverbänden, Bürgerinitiativen und vielerlei staatlichen Maßnahmen zustande kommt.

Natürlich sieht es zunächst so aus, als ob solche Koordinierungsmaßnahmen eigentlich die Aufgabe des Staates wären. Die staatlichen Stellen haben aber längst erkannt, daß die bestgesinnte Verwaltung Grenzen ihrer Wirkungsmöglichkeiten hat. Eine Gruppe wie die Aktion Gemeinsinn, die lediglich Anstöße und Anregungen gibt und nicht für sich selbst eine große Organisation aufzubauen versucht, kann hier als Medium wirksam werden. Sie vermag allen Beteiligten nützen und keine ihrer Wirkungsmöglichkeit durch konkurrierende Maßnahmen einschränken.

In einer solchen Zusammenarbeit kann dann auch das erfolgen, was in der Geschichte der Aktion Gemeinsinn fortlaufend erreicht wurde: nämlich eine ständige Weiterentwicklung des Know-how der Sozialwerbung.

Wodurch ändert sich das Bewußtsein?

Im Anfang hat die Aktion Gemeinsinn dank der kostenlosen Mitwirkung der Werbeagenturen und der Presse einfach die Medien benutzt, deren sich auch die Wirtschaftswerbung bediente: Anzeigen, Plakate und Werbeschriften. Das hat aber nur eine begrenzte Wirkung, wenn damit nicht immer mehr eine Mund-zu-Mund-Werbung und die Bereitstellung von geeignetem Aufklärungs-und Arbeitsmaterial verbunden ist. Die moderne Massenpsychologie hat schon vor Jahrzehnten erkannt, daß bei der Willensbildung des Menschen sogenannte opinion-leaders eine große Rolle spielen. Noch entscheidender ist oft der Gruppengeist. Diese Einsicht wurde wissenschaftlich erforscht, als die Amerikaner nach dem Krieg das Phänomen der erstaunlichen Durchhaltekraft der deutschen Wehrmacht zu enträtseln versuchten. Sie waren zunächst der Meinung, diese Durchhalte-kraft habe ihren Grund in der Naizpropaganda oder in einer Verblendung des deutschen Volkes über die Chancen des Krieges gehabt. Die Untersuchung ergab, daß diese Durchhaltekraft in etwas ganz anderem bestand: nämlich im Gruppengeist der kämpfenden Soldaten. Keiner wollte den Kameraden und die Nachbargruppe im Stich lassen

Änderungen des öffentlichen Bewußtseins kommen darum nur zustande, wenn die Menschen nicht nur als einzelne angesprochen werden, sondern wenn die ganze Gruppe, in der sie ihr Leben verbringen, zugleich mit ihnen mobilisiert wird. Diese Erkenntnisse sind in der Aktion Gemeinsinn und in der gesamten Sozialwerbung der Bundesrepublik bisher nur teilweise realisiert. Sie sprechen Millionen einzelner Menschen an. Weithin kommt aber nur dann tatsächlich etwas in Bewegung, wenn die Angesprochenen selber Opinionleaders sind, die ganze Gruppen zu mobilisieren und zu motivieren vermögen.

Es ist darum ein Mangel der bisherigen Werbung der „Aktion Gemeinsinn", daß sie fast nur durch Zeitungen und Zeitschriften werben konnte. Soweit sie damit opinion-leaders erreichte, die meinungs-und willensbildend wirkten, hatte sie eine tatsächliche Wirkung. Diese Wirkung würde erheblich verstärkt, wenn ihre Werbung auch in den Publikationen der Verbände und all der vielfältigen Gruppen der Arbeits-und Freizeitgesellschaft veröffentlicht und diese Gruppen für gemeinsame Aktionen der öffentlichen Willensbildung gewonnen würden. Das sollte in Zukunft mehr und mehr erreicht werden. Die wirtschaftliche Werbung kann zumeist die opinion-leaders und ihre Intimgruppen nicht direkt erreichen, da sie diese nicht kennt oder sie nur von außen mit hohen Werbekosten erreichen kann. Gelänge es über vielerlei Verbände und Gruppen der Arbeits-und Freizeit-welt, diese Intimgruppen selbst zu Trägern der Werbung für den Gemeinsinn zu machen, würde die Wirkung bei weit geringeren finanziellen Mitteln ungleich größer sein als bei der WirtschaftsWerbung. Es gibt viele Aufgaben des Gemeinsinns, die weder politisch noch gesellschaftlich oder weltanschaulich umstritten sind. Umstritten ist oft nur, ob sie lösbar sind, solange es nicht möglich ist, eine allgemeine Willensbildung dafür auszulösen. Gemeinsinn kann sich in einem Volk nur durchsetzen, wenn diejenigen Personen und Institutionen, die ihm dienen wollen, zuerst in ihrer eigenen Arbeit Gemeinsinn entwickeln. Die Unterschiede konfessioneller Motivierung und Organisierung sind in einer pluralistischen Gesellschaft nur natürlich, ja unentbehrlich. Sie sollen nicht beseitigt, aber immer wieder relativiert werden. Die Vielfalt muß in unserer freiheitlichen Gesellschaft zur Kraft ihrer gemeinsamen Verantwortung werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Protokolldienst der Evangelischen Akademie Bad Boll, Nr. 7/1956.

  2. Archiv Bad Boll.

  3. Vance Packard, Die geheimen Verführer, Düsseldorf 1958; vgl. ferner Burkhard Müller, Kommunikation kirchlicher Organisationen — Funktionen der Werbung, Gütersloh 1975, S. 49.

  4. David Riesman, Darmstadt 1956.

  5. Dazu Burkhard Müller, a. a. O., S. 88.

  6. Cohesion and Disintegration in the Wehrmacht in World War II, in: Public Opinion Quarterly, Band 12, 1948, S. 280 ff.

Weitere Inhalte

Eberhard Müller, geb. 1906, Studium der Philosophie und Theologie. 1935 Generalsekretär der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung, aus der nach deren Verbot durch die Gestapo die Evangelischen Studentengemeinden hervorgingen. Von 1935 bis 1937 im Auftrag der Bekennenden Kirche Organisation der sogenannten „Evangelischen Wochen“, die in kleinerem Maßstab Vorläufer des Deutschen Evangelischen Kirchentags waren. Nach vierjähriger Felddienstzeit in Rußland 1945 Gründung der ersten Evangelischen Akademie in Bad Boll. Leitung der Akademie und des Leiterkreises der Evangelischen Akademien in Deutschland bis 1971; von 1951 bis 1966 zugleich auch Vorsitzender der Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen. Seit 1962 bis heute Vorsitzender der Kammer für soziale Ordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland.