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Toleranz und Konfliktfähigkeit. Konkurrierende Tugenden in der pluralistischen Demokratie? | APuZ 38/1977 | bpb.de

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APuZ 38/1977 Werbung für den Gemeinsinn — Erfahrungen und Probleme Toleranz und Konfliktfähigkeit. Konkurrierende Tugenden in der pluralistischen Demokratie? Toleranz — Intoleranz Anmerkungen zu Begriff, Bedingungen und Beeinflussung Persönliche Erfahrungen bei Entscheidungsprozessen in meinem Arbeitsbereich an der Hochschule dürften die Behandlung des Themas wesentlich beeinflußt haben.

Toleranz und Konfliktfähigkeit. Konkurrierende Tugenden in der pluralistischen Demokratie?

Theodor Ebert

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Bewerbung von Kommunisten für den öffentlichen Dienst und die radikale Ablehnung der parlamentarisch legitimierten Energiepolitik durch Bürgerinitiaiven sind ernste Herausforderungen in einer wehrhaften Demokratie, die doch in der Toleranz ihre kardinale Tugend sieht. In einem Rekurs auf die Geschichte der Toleranzidee werden deren pragmatiscne und philosophische Begründung exemplarisch erörtert. Die historische Toleranzpraxis der Obrigkeitsstaaten kann den Ansprüchen einer Demokratie nicht genügen; diese wird ihre Toleranz nicht mit der Nachsorge für historisch überholte Konflikte und mit der Vorbereitung auf andere neue Konfliktformationen begründen können. Wenn die Bürokratien komplexer politischer Systeme keine schweren Planungsfehler begehen wollen, dann sind sie darauf angewiesen, radikale Kritik und auch demonstrativen Wider-stand zu tolerieren. Kirchliche Stimmen zum Radikalenerlaß und seiner einschüchternden Wirkung werden zitiert. Die politische Abwehr von Extremisten sollte möglichst an die Basis der demokratischen Organisationen verlagert und nicht einer bürokratischen Organisation übertragen werden. Diese Möglichkeit wird am Beispiel der internen Auseinandersetzungen von Bürgerinitiativen mit politischen Extremisten erörtert. Eine weitere Konfliktfront könnte sich zwischen Befürwortern eines ausgedehnten industriellen Wachstums und denen eines ökologisch angepaßten Verhaltens ergeben. Damit es hier zu keinem neuen „Religionskrieg" (E. Eppler), aber auch zu keiner Verschleppung fälliger Entscheidungen kommt, werden gewaltfreie Methoden der Konfliktaustragung befürwortet.

I. Fragestellungen

Toleranz — Kardinale Tugend der Demokratie oder Lebenslüge des liberalen Kapitalismus?

Für jedes politische Gebilde, von der Bürgerinitiative bis zur Republik, gibt es kardinale Tugenden, also honorierte Verhaltensweisen, die seinen Bestand garantieren. In den westlichen pluralistischen und liberalen Demokratien gilt als diese kardinale Tugend die Toleranz. Man geht von der Tatsache aus, daß es konkurrierende Interessengruppen gibt und man erwartet, daß sich diese schon arrangieren werden, wenn nur zunächst einmal „das Recht entgegengesetzter Interessen, zu existieren und vertreten zu werden, bereitwillig anerkannt wird" Dieses Bild der pluralistischen Demokratie ist eine Übertragung des Modells der Marktwirtschaft auf den Bereich der Politik. Die Hoffnung im Bereich der Politik ist dieselbe, die Adam Smith im Blick auf die Wirtschaft hatte, daß sich nämlich aus der Konkurrenz der Einzelinteressen das Gemeinwohl ergibt.

Nun haben die optimistischen Vorstellungen von Adam Smith eine umfangreiche Kritik über sich ergehen lassen müssen, und nicht nur aus marxistischer Schule-, entsprechend orientierte Politikwissenschaftler haben im Anschluß daran auch die Theorien der pluralistischen Demokratie ideologiekritisch untersucht

Die intellektuelle Brillianz dieser Untersuchungen ist unbestreitbar; aber wäre es nicht denkbar, daß ein Modell, das sich bei der Regulierung wirtschaftlicher Prozesse nicht bewährt hat, dennoch im Bereich der Politik (gerade bei Änderung der wirtschaftlichen Strukturen) durchaus funktioniert, die Tugend der Toleranz also nicht nur der Ausdruck eines politisch-ökonomischen Systems, sondern eine Tugend des Menschen als „politischem Wesen" ist? Diese Frage ist für die politische Bildung, die sich nicht nur an gegenwärtigen wirtschaftlichen Strukturen orientieren kann, von grundlegender Bedeutung.

Theoretisch wird man diese Frage kaum beantworten können. Die Literatur über das Verhältnis von sozioökonomischer Basis und kulturellem überbau füllt Bibliotheken mit Schriften von Marxisten und Nicht-Marxisten — dabei ist zumindest eines erkennbar: es gibt Wechselbeziehungen zwischen Basis und überbau. Interessant ist dann jeweils nicht die allgemeine Theorie, sondern der konkrete Fall.

Wenn man sich darum mit der Toleranz als politischer Tugend befaßt und die ideologie-kritische Methode nicht in naiver, sondern halbwegs bewußter Weise vernachlässigen möchte, dann geht man von der Vermutung aus, daß sich aus der Struktur einer Gesellschaft mit letzter Stringenz keine Verhaltensweisen ableiten lassen. Man nimmt vielmehr an, daß politische Ideen eine gewisse autonome Wirkung ausüben, und daß im kulturellen überbau entwickelte und gepflegte politische Tugenden hilfreich sein können, wenn es an der sozioökonomischen Basis zu krisenhaften Entwicklungen kommt.

Geht man mit dieser Einstellung an die Grundtugend einer pluralistischen Demokratie, die Toleranz, heran, dann kann man mit einem echten pädagogischen Engagement auch fragen, wo diese Tugend der Toleranz gefährdet ist bzw. wo sie in Widerspruch gerät zu anderen Verhaltensweisen, von denen gleichfalls behauptet wird, daß sie unserer Republik förderlich seien.

Die Frage lautet also zum einen: „Gegenüber welchen Personen oder Gruppen wird Toleranz nicht praktiziert?", und zum anderen: „In welchen Fällen funktioniert der Interessenausgleich zwischen den Gruppen und Institutionen, von denen Toleranz erwartet wird, überhaupt nicht?"

Gegenwärtige Herausforderungen der staatlichen Toleranz

Das gegenwärtig umstrittenste Toleranz-Problem ist zweifellos das Verhältnis staatlicher (und kirchlicher) Institutionen zu den sogenannten „Radikalen“ bzw. „Extremisten". Mit der Begründung, daß unsere Republik eine „wehrhafte Demokratie" sei, soll den Feinden der Freiheit der Zugang zu öffentlichen Ämtern versperrt werden. Dieses Vorgehen staatlicher Behörden wird von den Gegnern des „Radikalenerlasses" als „Berufsverbot" bezeichnet, da es Ausbildungszweige gäbe, in denen ein Ausschluß vom öffentlichen Dienst praktisch einem Ausschluß von einer bestimmten beruflichen Laufbahn gleichkomme. Unabhängig davon, ob man dieses Verhalten der Behörden für gerechtfertigt hält oder nicht, muß man doch zunächst einmal feststellen, daß es jedenfalls im Widerspruch zu allgemeinen Toleranzgebot. steht einem Verschärft wird das Problem noch dadurch, daß auch die von behördlicher Intoleranz Betroffenen ihrerseits häufig keine Befürworter einer allgemeinen Toleranz, sondern militante Vertreter von Positionen sind, die Vorherrschaft oder Ausschließlichkeit beanspruchen. Im einschlägigen DDR-Lexikon heißt es zur Toleranz, daß diese „ihre Grenzen finde an den Klasseninteressen’'und daß „Toleranz in der Wissenschaft gegenüber unwissenschaftlichen Auffassungen ebenfalls abgelehnt werden muß“

Obwohl der „Radikalenerlaß" so abgefaßt ist, daß er in gleicher Weise gegen den rechten wie den linken Extremismus gewendet werden könnte, ist es in der Bundesrepublik (aber beispielsweise nicht in Italien) doch fast nur die Frage, ob wir Kommunisten, und nicht, ob wir Faschisten tolerieren können. Da ich mich an anderer Stelle mit dem zivilen Widerstand gegen rechtsextreme Gruppen befaßt habe möchte ich im folgenden das Extremistenproblem reduzieren auf die Frage nach einer möglichen Toleranz gegenüber Kommunisten. Das andere Problemfeld, wo die Haltung der Toleranz zu versagen und ein nicht kompromißfähiger Konflikt vorzuliegen scheint, ist der Streit um den Bau von Kernkraftwerken.

Der Vorsitzende der baden-württembergischen SPD, Erhard Eppler, formulierte seinen Eindruck von diesem Konflikt im Bergedorfer Gesprächskreis im Januar 1977 folgendermaßen: „Was wir heute erleben, erinnert mich in manchem an die Religionskriege. In Brokdorf zum Beispiel stehen sich zwei Gruppen gegenüber. Die eine ist fest davon überzeugt, daß wir vor die Hunde gehen, wenn wir Kernkraftwerke bauen, weil dadurch unsere Zukunft zerstört wird. Die andere Gruppe ist genauso überzeugt, daß wir unsere Zukunft zerstören, wenn wir keine Atomkraftwerke bauen. Dieses Sein-oder Nichtsein-Denken war früher das Kennzeichen der Religionskriege. Wenn es nicht blutig endet, ist es ein Wunder.“

In dem von Eppler apostrophierten „Religionskrieg" um die Zulässigkeit der industriellen Nutzung nuklearer Energie geht es letztlich um die Frage, ob die technisch-industrielle Revolution des 20. Jahrhunderts fortgesetzt werden kann oder ob diese Expansion an ökologische Grenzen stoßen wird und wir darum, wie Erich F. Schumacher sagt, an einer „Zeitwende” stehen die als epochale Zäsur derjenigen zwischen Mittelalter und Neuzeit durchaus zu vergleichen wäre.

Man wird von einer ideengeschichtlichen Besinnung auf die Toleranz nicht sogleich eine Lösung der angesprochenen Probleme erwarten können, aber vielleicht zeigt diese Besinnung doch Denk-und Verhaltensmuster auf, die eine Orientierungshilfe in scheinbar ausweglosen Konflikten bieten. Im einen Fall hat Eppler bereits gesagt, daß es fast ein Wunder ist, wenn es nicht gewalttätig endet. Auch der Radikalenerlaß verlagert ja das Problem nur, denn die Betroffenen sind und bleiben Bürger dieses Landes. Es muß also ein Modus vivendi gefunden werden, sonst kann es durchaus geschehen, daß das eine Problem das andere noch verschärft. Wer aufgrund des „Radikalenerlasses" von vornherein mit „Berufsverbot" rechnet, dürfte die geringeren Hemmungen haben, sich im Konflikt um die Kernkraftwerke auch auf blutige Formen der Auseinandersetzung einzulassen.

II. Zur historischen Orientierung

Obrigkeitsstaatliche Toleranz und ihre pragmatische Begründung: Heinrich IV., Friedrich II., Joseph II.

Die Idee der Toleranz ist in blutigen Konflikten entstanden und mußte sich historisch in Situationen bewähren, mit denen verglichen unsere gegenwärtige Lage noch idyllisch wirkt. Man kann sich also von einer historischen Besinnung eine gewisse Orientierungshilfe versprechen.

Die Toleranz ist historisch gesehen kein Konzept der Vor-, sondern der Nachsorge. In blutigen Religionskriegen erschöpft, besann man sich. Das Toleranz-Edikt von Nantes, das Heinrich IV. im Jahre 1598 erließ, um den Kämpfen zwischen Hugenotten und Katholiken ein Ende zu machen, kam im rechten Augenblick, nämlich dem der „allgemeinen Erschöpfung, auch der Hugenotten" Der Konflikt wurde auch nicht wirklich gelöst, sondern in den Hintergrund gedrängt, durch sich herausbildende neuere Konfliktformationen. Jacob Burckhardt hat in den „Historischen Fragmenten" zu den Motiven Heinrichs IV. bemerkt: „Er war vor allem König und Franzose; der Rest mußte sich geben." Das etatische Interesse erzwang die religiöse Toleranz. Vergleichbares läßt sich über die Toleranzpolitik Friedrich II. von Preußen und Joseph II. von Österreich sagen. Wenn der Preußenkönig mit Voltaire auch in dessen Bewunderung Heinrichs IV. übereinstimmt, dann war dies bei Friedrich doch eher pragmatisch begründet. In seinem Reskript über die Toleranz aus dem Jahre 1740 steht zwar der vielzitierte Satz: „Die Religionen müsen alle tolleriert werden und muß der Fiscal nur das Auge darauf haben, das keine der anderen abtrag tuhe, denn hier mus ein jeder nach seiner Fasson selig werden" aber man müßte im gleichen Atemzug hinzufügen, daß Friedrich die Absicht hatte, den endgültig seligen Zustand seiner Untertanen dadurch zu beschleunigen, daß er sie in einen verlustreichen Krieg ge-gen das katholische Österreich führte; eine innere konfessionelle Frontbildung hätte seinen außenpolitischen Zielen geschadet. Durch religiöse Toleranz wollte Friedrich auch Ab

wanderungen vermeiden. In einem seiner politischen Testamente schrieb er, daß Flüchtlinge nur die Nachbarstaaten „mit ihrem Gewerbefleiß bereichern und dessen Volkszahl vermehren" und damit auch zu deren militärischer Stärkung beitragen würden Bei dem Toleranzpatent von Joseph II. aus dem Jahre 1781 ist die Motivation ähnlich. Einer seiner Juristen erläuterte: „Die Duldung hilft Länder bevölkern und reich machen; durch falschen Eifer, der in Verfolgung ausartet, werden sie entvölkert, und nicht selten in Wüsteneyen verwandelt."

Der politische Erfolg der Toleranzidee scheint in der Vergangenheit darauf zurüdezuführen zu sein, daß die Kontrahenten erschöpft, ja ausgeblutet waren, oder aber darauf, daß die bisherigen Gegenstände der Auseinandersetzung durch neue Konfliktformationen abgelöst wurden. Otto Busch spricht in seiner Untersuchung über die Geschichte des Toleranzdenkens davon, daß der historisch-staatsrechtliche Toleranzbegriff als „Ergebnis des obrigkeitsstaatlichen Denkens" zu begreifen sei. Die Toleranz wurde nicht begriffen als eine menschliche Umgangsform, sondern als „eine Konzession der Obrigkeit, welche , die einmal gemachten Zugeständnisse als widerruflich und nur aus Gunst und Gnade'verliehen betrachtete" , In der Tat sind Toleranzedikte in der Vergangenheit auch wieder rückgängig gemacht worden. In Frankreich wurde das Edikt von Nantes im Jahre 1685 durch Ludwig XIV. wieder aufgehoben und in Preußen wurde den pazifistischen Mennoniten, denen als erwünschten Einwanderern zunächst die Befreiung vom Kriegsdienst gewährt worden war, diese später wieder entzogen Auch bei der Behandlung der Frage der Kriegsdienstverweigerung vor kurzem im Bundestag scheint die Diskussion um Abschaffung und eventuelle spätere Wiedereinführung der Gewissensprüfung in der friederizianischen Tradition der obrigkeitsstaatlich-pragmatischen Handhabung der Toleranz gestanden zu haben.

Andererseits ist es nachweislich so, daß auch die pragmatische Handhabung der Toleranz einer prinzipiellen Legitimation bedurfte. Ohne diesen Vorlauf der Prinzipienbildung ist auch deren pragmatische Manipulation nicht denkbar.

Aktive Toleranz als philosophische Grundhaltung: Voltaire, Goethe, Gandhi

Es lohnt sich also, auch die philosophische Begründung der Toleranz zu berücksichtigen. Die klassische Begründung hat sie in Voltaires „Traite sur la Tolerance" und dem Toleranz-Artikel seines philosophischen Wörterbuchs gefunden. Dort schreibt er: „Was ist Toleranz? Das ist die humanitäre Substanz, von der wir zehren. Ansonsten sind wir ein Gebilde aus Schwachheit und Irrtümern. Verzeihen wir uns darum wechselseitig unsere Torheiten, das ist das oberste Gesetz der Natur."

Die philosophische Basis der Toleranz ist die Erfahrung eigener Irrtümer und das Wissen um die Unzulänglichkeit des bislang Erkannten. Diese Erfahrungen würden aber wahrscheinlich verdrängt, wenn sie nicht mit dem Willen, die Wahrheit noch zu erfahren, einhergingen. Toleranz ergibt sich aus dem Zweifel an der eigenen Kenntnis und der Bereitwilligkeit, von anderen zu lernen. Dazu gehört auch die Bereitschaft, sich mit seinen Zweifeln und Torheiten zu exponieren — was allerdings dann doch wieder von Kindheit an erworbene Ich-Stärke voraussetzt. Als 1 ein Voltaire von den eigenen Torheiten zu sprechen, ist etwas anderes, als befürchten zu müssen, tatsächlich als ein Esel dazustehen. So erklärt sich denn der Zukunftsforscher Robert auch die gegen das „Intoleranz Neue" aus dem Sicherheitsbedürfnis des Menschen, das in krisenhaften Situationen zu einer „kollektiven Untergangsangst" und äußerster Intoleranz führen könne. „Konformismus und die ihm entspringende Intoleranz gegenüber dem Neuen und Zukunftsträchtigen stammt aus einem im Menschen tief verankerten Sicherheitsbedürfnis ... Der positiven Utopie und dem hoffnungsvollen Entwurf fie-len damit eine geschichtstherapeutische Funktion zu, die mit den Auferstehungs-oder Wiedergeburtserwartungen der Religionen zu vergleichen wären."

Aus diesen Überlegungen von Jungk kann man den Schluß ziehen, daß Toleranz vielleicht doch keine selbständige Primärtugend ist, wie Voltaires Satz vom „obersten Gesetz der Natur" annehmen läßt, sondern daß es sich bei der Toleranz um eine Haltung handelt, die mit Zielstrebigkeit und einer aktiven Hinwendung zu anderen Menschen einhergeht. Die Idee der Toleranz ist von solchen Menschen, die uns als Vorbilder der Toleranz gelten, gerade unter dem Gesichtspunkt kritisiert worden, daß eine passive Toleranz mit ihrer distanzierenden, abwartenden Grundhaltung nicht genüge. In den „Maximen und Reflexionen“ hat Goethe die Toleranz als einen Prozeß der Zuwendung begriffen: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen."

Auch Gandhi, der immer für Toleranz gegenüber dem politischen Gegner eingetreten ist, war doch mit diesem Begriff nicht zufrieden: „Ich liebe das Wort Toleranz nicht, aber ich kenne kein besseres. Mit Toleranz kann man die schmeichelhafte Vorstellung verbinden, daß die Überzeugungen anderer den eigenen unterlegen wären, aber eine gewaltfreie Grundhaltung erfordert, daß man den anderen Überzeugungen mit derselben Hochachtung begegnet." Gönnerhafte Toleranz genügt ihm nicht. Er bestand darauf, daß man die Ansichten anderer nicht durch einen gleichgesinnten Interpreten, sondern authentisch durch deren qualifizierteste Vertreter zur Kenntnis nehme. Wer wirklich tolerant sein wolle, müsse sich in die Lage des anderen versetzen, dürfe diesen nicht von außen kritisieren, sondern ihn aus dessen Binnensicht zu qualifizieren suchen. So wandte er sich auch im religiösen Bereich gegen Bekehrungsversuche. Wer hier engagiert sei, solle „einem Hindu helfen, ein besserer Hindu zu werden, einem Moslem helfen, ein besserer Moslem zu werden, und einem Christen helfen, ein besserer Christ zu werden“

III. Zur Synthese der pragmatischen und der philosophischen Begründung

Vom Lernen und überleben toleranter Republiken

Die Frage ist nun, ob dieses philosophische Verständnis der Toleranz sich auch auf die Politik übertragen läßt oder ob es dort allen-falls die pragmatische, mehr machtpolitische Behandlung der Toleranz gibt. Eine Verbindung dieser beiden Auffassungen scheint mir möglich zu sein. So wie die Toleranz und Lernwilligkeit der Entwicklung des einzelnen förderlich ist, so dienen diese Haltungen auch ganzen Republiken. Ein Gemeinwesen und seine dienstleistenden Organe sind darauf angewiesen, dauernd hinzuzulernen. Sie können nicht nur auf gespeichertes oder nach ihren eigenen Fragen recherchiertes Wissen zurückgreifen, ohne in Steuerungsfehler zu verfallen Es muß Möglichkeiten geben, den staatlichen Organen Informationen einzugeben, die sie zunächst gar nicht zur Kenntnis neh-men wollen. Die Grundrechte, die zugunsten des Individuums geschaffen wurden, kommen doch indirekt auch den staatlichen Organen zugute, weil sie aufgrund der Toleranz für nonkonformistische Vereinigungen, Forschungen, Publikationen und Demonstrationen auch der Bürokratie Informationsmöglichkeiten eröffnen.

Herkömmliche Informationskanäle versagen immer wieder, ob es sich hier um etablierte Parteien oder Forschungseinrichtungen handelt; dann muß die Möglichkeit da sein, daß mit Informationen und Innovationen quergeschossen wird. Bürgerinitiativen sind mittlerweile ein anerkanntes Warnsystem. Dabei ist die häufig gebrauchte Formulierung „Frühwarnsystem" wohl etwas zu optimistisch, denn häufig melden sich die Bürgerinitiativen erst zu Wort, wenn die Würfel in der Verwaltung bereits gefallen sind. Aber grundsätzlich kann man wohl behaupten, daß die Lernfähigkeit eines Systems, welche durch aktive Toleranz sich ihm eröffnet, mindestens so wichtig ist wie seine Steuerungsfähigkeit.

In der Diskussion um den Umweltschutz ist öfter einmal darauf hingewiesen worden, daß die planwirtschaftlichen sozialistischen Systeme Osteuropas über größere Eingriffs-und Steuerungsmöglichkeiten verfügen als die westlichen Industriestaaten, aber erstaunlicherweise diese Kapazität bislang nicht nutzten Doch diese Systeme kennen eben keine Toleranz gegenüber Bürgerinitiativen, die sie nicht selbst initiiert haben. So erwies sich bislang die Aufnahmefähigkeit dieser Systeme für ökologische Fragestellungen und Warnungen als sehr gering

Die APO als Probe auf die Lernfähigkeit

Eine erste harte Probe auf die Lernfähigkeit des politischen Systems der Bundesrepublik war die Zeit der außerparlamentarischen Opposition Ende der sechziger Jahre. Obwohl einschneidende Strukturveränderungen — vielleicht mit Ausnahme der Reformen an den Hochschulen — nicht vorgenommen wurden, hat doch die Toleranz gegenüber systemkritischen Meinungen und Gruppenbildungen insgesamt zugenommen, wenn man zum Vergleich die fünfziger Jahre heranzieht, wo man sich wohl kaum hätte als Friedensforscher bezeichnen können, ohne sofort in den Verdacht zu geraten, ein Kommunist oder mindestens ein „fellow traveller" zu sein. Es gibt in den siebziger Jahren eine Menge — leider oft berechtigte — Klagen über polizeiliche Übergriffe und beängstigende Versuche umfassender Kontrolle, aber verglichen mit der Haltung der fünfziger Jahre ist die Polizei elastischer, wenn nicht tatsächlich toleranter ge-worden. Der langjährige Berliner Polizeipfarrer Klaus Harms hat das Thema „Toleranz* in seinen Seminaren mit Polizei-und Zollbeamten häufig behandelt.

Die „tatsächliche Toleranz", von welcher der Polizeireformer Hunold spricht wird von Harms auch als Vorübung für echte Toleranz verstanden: „. Ermessen'und , Verhältnismäßigkeit der Mittel'und neuerdings die . Flexibilität'als Grundlage polizeilichen Einschreitens schließen die Idee der Toleranz in sich ein.“ Das Entwicklungsziel für die Toleranz ist für Harms in Anlehnung an das Vorbild der Toleranz Jesu eine überlegte und flexible Toleranz nach unten und eine gewisse Intoleranz nach oben. Er kommt zu dieser Gewichtung der Toleranzen auch unter dem Ein-druck der in APO-Kreisen weitverbreiteten Schrift von Herbert Marcuse über „Repressive Toleranz", welche davon ausgeht, daß bei Gleichsetzung von „Toleranz" mit „Neutralität" das jeweilige Establishment im Vorteil ist. Er schließt seine Ansichten zur Toleranz im polizeilichen Dienst mit folgenden Überlegungen ab: „Um der Polizei diesen Umlernprozeß zu erleichtern, sollte der Gesetzgeber bewogen werden, auch einmal den Begriff der sogenannten . Begünstigung im Amt'nach seinem Demokratiegehalt kritisch zu überprüfen. So, wie dieser Begriff jetzt ausgelegt wird, erscheint er noch immer als das Gängelband eines diffusen Obrigkeitsdenkens und Allgemeinheitsschemas, als könne und müsse die Polizei es objektiv jedermann recht machen. Daher mißbrauchen dann auch genau im Sinne der repressiven Toleranz terroristisch, restaurative und autoritäre Herrschaftsguppen die Polizei für ihre Zwecke." Durch das Auftreten von Stadtguerillagruppen wurde die Entwicklung einer solchen Toleranz nach unten in der Polizei schwer beeinträchtigt. Wo sich Demonstranten einigermaßen konsequent gewaltlos verhielten, hat sich bisweilen auch bei der Polizei eine gewisse Toleranz entwickelt. Das ist sicher auch ein Grund der Erklärung für das Gelingen der zweiten Bauplatzbesetzung in Wyhl

IV. Aktuelle Proben auf historische Exempel

Der Radikalenerlaß aus kirchlicher Sicht

Kann man nun diese historischen und gegenwartsbezogenen Überlegungen zur Toleranz auf unser gegenwärtiges Radikalenproblem und den Konflikt um die Kernkraftwerke anwenden? Ganz einfache Analogieschlüsse sind sicher nicht möglich, denn in der Vergangenheit wurde häufig (und dann in der Regel auch mit Erfolg) Toleranz gefordert für Gruppen, die ihrerseits ein hohes Maß an Bereitschaft zur Toleranz aufwiesen.

Voltaire verwies gerne auf die Quäker. Wenn man heute an die bayrischen Kriegsdienstverweigerer und Lehramtsanwärter denkt, die über ihre Verfassungstreue Aufschluß geben mußten und die bei der Anhörung einen Diakon der evangelischen Kirche als Beistand hatten 2ä), dann stimmt die Parallele fast-, aber wenn man an manche öffentliche Auftritte kommunistischer Mini-Parteien denkt, dann erscheint eine Laissez-faire-Toleranz als unverantwortlich. Eine andere Frage ist, ob man den bürokratischen Apparat und moderne Computertechnik für eine Massenüberprüfung aller Bewerber für den öffentlichen Dienst einspannen sollte. In der Vergangenheit haben sich häufig Regierungen auch zur Toleranz entschlossen, weil nur so die Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt wurde. Als die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland im November 1975 in Freiburg tagte, wurde im Auschuß „Kirche, Gesellschaft und Staat“ ausführlich in insgesamt 63 Diskussionsbeiträgen über den Radikalenerlaß, seine Folgen und die Möglichkeiten der Toleranz diskutiert. Eine Hintergrundinformation war, daß gerade in dem Land der Tagung „innerhalb eines Zeitraumes von zwei Jahren 65 000 Bewerber um Anstellung im öffentlichen Dienst karteimäßig erfaßt und politisch überprüft worden waren. Die Zahl der Ablehnungen hatte sich auf 55 belaufen. In ca. 500 Fällen hatten Überprüfungsgespräche stattgefunden" Der Synodale Dr. Rhein (Berlin) berichtete im Plenum über diese Diskussion: „Wir haben eine sehr intensive, sehr gründliche Diskussion geführt, in die eine Fülle persönlicher Erfahrungen eingegangen sind, auch persönliche Sorgen im Blick auf die Entwicklung von Menschen, die wir im Auge haben, und der Entwicklung in unserem Land. Ganz verschiedene Erfahrungen und Sorgen in sehr verschiedener Richtung. Universitätsprofessoren und Studenten, Synodale, die in Prüfungsämtern für den öffentlichen Dienst sitzen oder verantwortlich sind für die Einstellung von Theologen in den kirchlichen Dienst, Eltern von Kindern, die sich Sorge darüber machen, daß ihre Kinder in der Schule politischer Indoktrination ausgesetzt sind: viele Stimmen, viele Hinweise auf ängstlich gewordene oder resignierende junge Men-schen, aber auch auf Menschen, die die Uber-Prüfungen zu vollziehen haben und oft durch diese Aufgabe überfordert sind."

Das Ergebnis dieser Diskussion im Ausschuß wurde von einer Redaktionskommission unter Federführung des Bundesverfassungsrichters Dr. Simon zusammengefaßt und dann vom Ausschuß bei zwei Enthaltungen verabschiedet: „Unsere freiheitliche Verfassung eröffnet den Bürgern vielfältige Möglichkeiten zu demokratischer Mitverantwortung. Deren Wahrnehmung ist für die Bewältigung der großen und schwierigen Zukunftsaufgaben wichtiger denn je. Manche Beobachter befürchten, daß die Bereitschaft zu mitverantwortlichem Einsatz in Teilen der jungen Generation neuerdings abnehme. Verschlechterte Ausbildungsund Berufsaussichten erzeugten Ängste und Hoffnungslosigkeit. Auf einem solchen Hintergrund begünstigten Umfang und Art der Ermittlungen, die mit der Ausschaltung von Extremisten aus dem öffentlichen Dienst verbunden seien, eine Haltung übervorsichtiger Angepaßtheit. Im einzelnen sind die Berichte (gemeint sind die Berichte, die im Ausschuß gegeben worden sind; Anmerkung des Berichterstatters) widersprüchlich und erlauben noch kein gesichertes Urteil. Sie fordern aber die Aufmerksamkeit auch der Kirche heraus und verpflichten uns, möglichen Gefahren der Extremisten-Bekämpfung rechtzeitig entgegenzuwirken. 1. Es ist das Recht der freiheitlichen Demokratie und ihre Pflicht, sich gegen ihre erklärten Gegner zu wehren. Freiheit schließt aber stets die Bereitschaft zum Risiko ein, da übermäßige Sicherungsmaßnahmen die Freiheit ersticken. Für eine Demokratie ist laues Mitläufertum ebenso gefährlich wie Extremismus. Wir bitten daher die staatlichen Organe, auch bei der Abgrenzung gegen den Extremismus die Überlegenheit der demokratischen Ordnung glaubwürdig zu praktizieren. Insbesondere müssen junge Menschen darauf vertrauen dürfen, daß aus jugendlichem Fehlverhalten keine dauernden Nachteile für den Beruf entstehen. Für die Art der Ermittlung sollten die Warnungen des Bundesverfassungsgerichts im Extremisten-Beschluß vom 22. Mai 1975 beherzigt werden 2. Es ist das Recht der Jugend, auch über Irrtümer neue Einsichten zu gewinnen. Soweit Maßnahmen gegen wirkliche Feinde der Demokratie geboten sind, sollten sie der Jugend nicht zum Vorwand für Verhärtungen oder politische Resignation dienen. Zu wehleidiger Übervorsicht besteht kein Anlaß. Wir ermutigen unsere jungen Mitbürger, im politischen Engagement für die Demokratie nicht zu erlahmen und sich den Herausforderungen der Zukunft zu stellen. Als Kirche schulden wir ihnen in ihren Ängsten, Nöten und Schwierigkeiten tätigen Beistand."

Die Reaktion auf diese Stellungnahme des Ausschusses war nicht einheitlich. Eine Jugendsynodale sagte, sie könne „auf Anhieb die Namen von mindestens zehn Kommilitonen nennen, die ihre Prüfungsthemen zurückgegeben haben, um sich zu politisch brisanten Themen nicht zu äußern, weil sie sonst hinterher nicht mehr eingestellt werden". Obwohl sie in keiner Gruppe organisiert sei, habe sie bei ihrer Überprüfung „ein sehr beklemmendes Gefühl“ gehabt, und ihr Wunsch sei es gewesen, daß die Stellungnahme des Ausschusses „noch ein bißchen offener, ein bißchen freier und ein bißchen liberaler ausgefallen" wäre Demgegenüber verwies die Berliner Kultur-Politikerin Dr. Ursula Besser auf das aggressive, keineswegs ängstliche Auftreten extremistischer Gruppen an den Universitäten. Hier habe die Kirche die Aufgabe, „mäßigend einzuwirken, (um) sie damit wieder zu den Formen zurück(zu) führen, die in einem freiheitlich parlamentarischen Staat erträglich sind“

Das Problem scheint seine zwei Seiten zu haben. Man könnte auch von einem Dilemma sprechen. Einerseits ist es nicht nur ein obrigkeitsstaatliches, sondern ein allgemeines republikanisches Interesse, daß innere Konflikte ohne Gewalt ausgetragen werden und die in-dividuellen Grundrechte der Verfassung dauerhaft gesichert sind; andererseits scheint die gegenwärtige Abwehr von extremistischen Gruppen, die ihrerseits intolerant und gewaltsam sind, auch diejenigen zu treffen, die wirklich „radikal" sind, weil sie nicht nur die Herrschaftsverhältnisse ändern, sondern überhaupt keine Herrschaft von Menschen über Menschen wollen. Die gegenwärtige Abwehr von Verfassungsfeinden scheint wie das scharfe Breitbandtherapeutikum eines unerfahrenen oder ängstlichen Arztes zu wirken: Es trifft zwar auch den Krankheitsherd, aber schwächt insgesamt die körperliche Konstitution des Patienten so sehr, daß er in Zukunft nur noch anfälliger ist.

Toleranz und wehrhafte Demokratie in basisnahen Organisationen

Wenn die massenhafte bürokratische Überprüfung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst eine typisch obrigkeitsstaatliche Verhaltensweise ist, so ist das demokratische Gegenteil sicherlich nicht die Laissezfaire-Toleranz gegenüber extremistischen Gruppen. Demokratie bedeutet vielmehr, daß die Entscheidung über das Verhalten zu Extremisten möglichst basisnah ist. Der Verfassungsschutz darf dem Bürger die Konfrontation mit extremistischen Positionen nicht abnehmen, sondern der Bürger sollte möglichst selbst entscheiden, ob er bestimmten Personen öffentliche Aufgaben übertragen will oder nicht.

Daß diese prinzipielle Überlegung in der Durchführung auf Schwierigkeiten stößt, liegt nicht zuletzt daran, daß eine direkte Mitwirkung von betroffenen Bürgern an Personalentscheidungen im öffentlichen Dienst nicht üblich ist; in der Universität gibt es dieses Mitspracherecht; in der Schule ließe es sich ausweiten. In einer wehrhaften Demokratie müßten die Bürger in den Mitbestimmungsund Selbstverwaltungsorganen in der Lage sein, im konkreten Einzelfall sich mit Extremisten auseinanderzusetzen und sie abzuwehren. In den Bürgerinitiativen, wo isolierte extreme Gruppen gelegentlich Fuß zu fassen suchen, müssen die Bürger sich auch mit Vertretern kommunistischer Gruppen befassen. Hier gibt es unterschiedliche Reaktionen, die vom Ausschluß bis zu Arrangements der Zu-'sammenarbeit reichen. Die internen Auseinandersetzungen sind Zerreißproben, und manchmal bleibt nur die Spaltung oder Trennung. Aber es laufen während der Auseinandersetzung auch Lernprozesse ab, die zu einer Neueinschätzung der Lage und wechselseitigem Respekt führen können. Ein Winzer aus dem Kaiserstuhl erzählte mir von seiner ersten Begegnung mit radikalen Studenten. Als er auf dem besetzten Platz in Wyhl mit ihnen zusammengetroffen sei, habe er gedacht: „Also diese Typen können Deutschland nicht retten und Frankreich nicht retten." Mit der Zeit habe sich jedoch seine Einstellung geändert: „Wenn man aber weitergeht, gründlich untersucht und mit derselben Brille auch die Leute, die eine weiße Weste und gute Kleider anhaben, betrachtet, also Vertreter der internationalen Konzerne, dann muß man sich sa-gen, daß diese Leute dem Volk schon mehr geschadet haben und daß diese Leute in weißen Westen schon mehr Kriege angezettelt haben als diese kleine Minderheit, die in lan-gen Haaren an den Lagerfeuern sitzt.“

In den badisch-elsässischen Bürgerinitiativen hat es scharfe Auseinandersetzungen mit Vertretern kommunistischer Gruppen gegeben aber die Initiativen sind dadurch nicht handlungsunfähig geworden. Es gibt allerdings auch Bürgerinitiativen, die von kommunistischen Gruppen durch Konzentration derer Kräfte kurzfristig umfunktioniert, mittelfristig eigentlich nur gespalten wurden. Im allgemeinen läßt sich an der Fähigkeit der Bürgerinitiativen, extremistische Einflüsse abzuwehren, jedoch gerade erkennen, daß wir tatsächlich eine wehrhafte Demokratie sind. Mann kann die Tätigkeit des Verfassungsschutzes eben nicht nur als Hilfe, sondern auch als Bevormundung empfinden. Warum sollen denn Schüler und Eltern nicht in der Lage sein, sich gegen dogmatische Indoktrination im Unterricht zur Wehr zu setzen? Aus solchen Auseinandersetzungen könnten sie vielleicht mehr lernen als von ausgewogenen Darstellungen mausgrauer Neutralisten. Solche offenen Auseinandersetzungen bieten auch Extremisten die Möglichkeit, ihre Positionen zu überdenken. Die Maßnahmen des Verfassungsschutzes haben demgegenüber wohl nur eine repressive, keine erzieherische und integrierende Funktion.

Der Schutz politisch hochempfindlicher Positionen vor Extremisten wäre mit sehr viel weniger Aufwand, als ihn die gegenwärtige Überprüfung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst erforderlich macht, möglich. Für solche Positionen kommen ohnehin nur Personen in Frage, deren Lebenslauf einigermaßen durchsichtig ist. Dann kann ohne Grundsatzbeschlüsse ad personam entschieden werden. Das ist die allgemeine Praxis in den westlichen Demokratien, die keine Extremistenerlasse kennen, aber auch kein beklemmendes Gefühl haben, wenn ein Kommunist die Post bringt, die Lokomotive fährt oder auch mal Geschichtsunterricht erteilt.

Wenn man die historischen Erfahrungen mit Toleranzedikten berücksichtigt, dann ist mit solchen vor allem dann zu rechnen, wenn historische Fronten nicht mehr so aktuell sind. Es könnte sein, daß der Konflikt der nahen Zukunft der von Eppler apostrophierte „Religionskrieg" ist und daß die neue Front zwischen Expansionisten und Ökologen verläuft. Dann würden die Expansionisten diejenigen Kommunisten tolerieren, welche wie die Ostblockstaaten auf industrielles Wachstum und internationalen Handel setzen, und die Ökologen würden ihrerseits die anderen Kommunisten tolerieren, welche vor wirtschaftlicher Expansion warnen Dann wäre Toleranz wieder nur Nachsorge.

Konfliktfähigkeit und Toleranz im Streit um die Energiepolitik

Läßt sich aber die Idee der Toleranz auch direkt in den brisanten, sich gerade erst entwikkelnden Konflikt um die Kernenergie bzw.

die wirtschaftliche Expansion vorsorglich einführen? Es hat solche Bemühungen von staatlicher Seite unter dem Stichwort „Bürgerdialog“ gegeben. Viele aktive Gegner der Energiepolitik haben sich an diesen Bürgerdialogen, die sie als Public-Relations-Veranstaltung der Regierung empfanden, nicht beteiligt. Ist dies als ein Zeichen von Intoleranz zu interpretieren? Sicherlich gibt es intransigente Positionen bei Gruppen der KKW-Gegner, aber ein Eingehen auf den Dialog bei gleichzeitiger Fortsetzung des Bauprogramms für -Kernkraft werke hätten auch undogmatische Bürger ihrerseits als Laissez-faire-Toleranz empfunden. Sie hatten das Bedürfnis, erst einmal die eigene Widerstandfähigkeit zu entwickeln. Sind nun aber Konfliktfähigkeit und Toleranz einander widersprechende demokratische Tugenden? Wie Voltaire und andere philosophische Vertreter der Toleranz betonten, beruht Toleranz auf der Einsicht in die eigene Fehlbarkeit. Konfliktbereitschaft ist aber doch nur vorhanden, wenn man etwas, das man für richtig hält, durchsetzen will. Kann man denn für ein Ziel kämpfen, das man gleichzeitig in Frage stellt? Ist der Zweifler nicht von vornherein im Nachteil gegenüber dem zu allem Entschlossenen? Das scheinbar Widersprüchliche läßt sich vereinbaren, wenn man die richtige Methode für sein Vorgehen wählt. Gandhi hat diese Methode mit einem Kunstwort „Satyagraha“ genannt. Es war ein neues Wort für die soziale Erfindung, die Grundhaltung der Toleranz mit einem pointierten politischen Engagement zu verbinden. Man hat „Satyagraha" meist mit „gewaltfreie Aktion“ übersetzt; wörtlich bedeutet es jedoch „Festhalten an der Wahrheit". Gandhi war der Überzeugung, daß man für etwas, das man als richtig erkannt zu ha-ben meint, eintreten und Unterdrückern dieser Position entschlossenen Widerstand entgegensetzen müsse, daß man aber immer auch die Möglichkeit des eigenen Irrtums einkalkulieren müsse. Sein Leben lang leitete er Kampagnen gegen rassische, religiöse und soziale Diskriminierung. Er sah darin „Experimente mit der Wahrheit"; Erfolgsbedingung war für ihn das Ausscheiden von Gewaltmethoden, weil er dadurch seine Lernfähigkeit entscheidend beeinträchtigt hätte

Zwischen gewaltfreien und gewaltsamen Widerstandsorganisationen bestehen Unterschiede, die den Personen, welche Entscheidungen über die Methode des Vorgehens zu fällen haben, häufig nicht bewußt sind.

Gewaltsames Vorgehen erfordert hierarchische Strukturen — im Extremfall ein Funktionieren nach Befehl und Gehorsam. Das physische Verletzen und Töten von Gegnern bedarf spezieller Legitimationen — und es ist sehr schwer, wenn es Tote gegeben hat, Fehler zuzugeben.

Gewaltfreie Aktionen sind grundsätzlich freiwillig, und ohne eine basisdemokratische Struktur gibt es keine Widerstandsfähigkeit. Auch gewaltfreie Aktionen schaffen Legitimationszwänge; aber da keine irreparablen Schäden entstehen und die eigene Opferbereitschaft der ausschlaggebende Faktor ist, kann man Fehler leichter zugeben und mit dem politischen Gegner in Verhandlungen eintreten. Gandhi hat einmal eine ungenügend vorbereitete Kampagne Zivilen Ungehorsams als einen „himalayagroßen Irrtum" bezeichnet, und er war jederzeit bereit, mit seinen Kontrahenten in einen Dialog einzutreten. Wenn man sich heute den Konflikt zwischen Industrialisten und Ökologen ansieht, dann ist dies sicher ein Konflikt, in dem die Erhaltung der Lernfähigkeit oberste Priorität hat, denn keine der beiden Seiten weiß, wie es weitergehen soll. Die Industrialisten können nach den diversen Berichten an den Club of Rome nicht völlig leugnen, daß es absolute Grenzen der industriellen Expansion gibt, und die Ökologen müssen zugeben, daß sie auch nicht wissen, wie wir jetzt von der industriellen Expansion zum ökologischen Gleichgewicht kommen sollen. Man kann mit einem neuen ökologisch angepaßten Lebensstil anfangen, aber man muß noch auf Schritt und Tritt Kompromisse mit der Anwendung harter Technologien schließen, um überhaupt zu überleben.

Dabei tickt die Uhr. Die einen sehen in naher Zukunft Energielücken, die anderen ökologische Krisen. Man kann also die Konflikte nicht verdrängen, sondern muß sie vorantreiben, damit die Positionen und hoffentlich auch die konstruktiven Alternativen deutlich werden. Unter diesem Zeitdruck erfordert aktive Toleranz auch neue Spielregeln. Wenn jemand an die „Energielücke“ glaubt, dann muß man ihm auch zugestehen, daß er es bei der Errichtung von Kernkraftwerken auf die „sofortige Vollziehbarkeit" anlegt.

Wenn dagegen jemand mit jedem neuen Kraftwerk das ökologische Risiko vergrößert sieht, dann muß man auch ihm zugestehen, daß er dieses Kraftwerk durch den Einsatz seiner ganzen Person zu verhindern sucht. Aktive Toleranz bedeutet in dieser Situation: Man erwartet von der Beschleunigung des Konfliktverlaufs und von der Mobilisierung der Bevölkerung, daß der Konflikt sich in der öffentlichen Debatte auf eine konstruktive Lösung hinentwickelt. Worin diese Lösung liegt, ist im voraus nicht zu sagen. Diese kann reichen von wirklich sicheren und umweltfreundlichen Kraftwerken über alternative, sanfte Technologien bis zu neuen ökologisch orientierten Gesellschaftsordnungen. Zu dieser aktiven Toleranz gehört aber auf der Seite der Inhaber „legitimer Gewaltsamkeit", daß sie die Polizei nur äußerst zurückhaltend zum Einsatz bringen; auf der Seite der Ökologiebewegung verlangt aktive Toleranz, daß sie auch bei Aktionen Zivilen Ungehorsams sich strikt an die Lernbedingung der Gewalt-freiheit halten.

Das ist zunächst nur der fromme Wunsch von Demokraten. Man muß einkalkulieren, daß andere relativ blind ihre partikularen Interessen durchzusetzen suchen. Aber hat denn die Demokratie eine Zukunft, wenn wir nicht der Idee der aktiven Toleranz die Chance geben, vom kulturellen überbau her die ökonomischen Konflikte zu regeln? Wer das Gegenteil behauptet, wird auch dies erst im nachhinein beweisen können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Robert Paul Wolff, Jenseits der Toleranz, in: R. P. Wolff u. a., Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt 1965, S. 27.

  2. Zur Darstellung siehe: E. Fraenkel, K. Sontheimer, Zur Theorie der pluralistischen Demokratie, 1964; F. Nucheler, W. Steffani (Hrsg.), Pluralismus, Hamburg 1972. Zur Kritik siehe vor allem die Zeitschrift: „Leviathan" und die Arbeiten von Wolf-Dieter Narr.

  3. Artikel „Toleranz" In Meyers Neues Lexikon, Leipzig 1976.

  4. Gernot Jochheim, Konfrontation mit der NPD. Bürgerinitiativen in den Landtags-und Bundestagswahlen 1968 und 1969, in: Th. Ebert (Hrsg.), Ziviler Widerstand. Fallstudien aus der innenpolitischen Friedens-und Konfliktforschung, Düsseldorf 1970, S. 57— 76.

  5. Diskussionsbeitrag in Bergedorfer Gesprächskreis zu Fragen der freien industriellen Gesellschaft, 56. Tagung am 31. Januar 1977 in Bonn zum Thema „Ein anderer , Way of Life'— Ist der Fortschritt noch ein Fortschritt?', Hamburg 19771 S. 14.

  6. Erich F. Schumacher in seinem einleitenden Vortrag zu dem 56. Bergedorfer Gespräch (Anm. 5) S. 6— 7.

  7. Jacob Burckhardt, Historische Fragmente. Aus dem Nachlaß gesammelt von Emil Dürr, Stuttgart 1957, S. 180.

  8. Ebenda, S. 180.

  9. Nadi Josef Feiner, Gewissensfreiheit und Duldung in der Aufklärungszeit, Leipzig 1919, S. 11. Hier zit. n. Otto Busch, Zur Geschichte des Toleranzdenkens, Bonn 1967, S. 32— 33.

  10. Zit. n. O. Busch (Anm. 9), S. 34.

  11. Zit. n. O. Busch (Anm. 9), S. 40.

  12. Arthur Vermeersch, Die Toleranz, Freiburg i. Br. 1914, S. 5; zit. n. O. Busch (Anm. 9) S. 43.

  13. Vgl. Einleitung zu Guido Grünewald, Der Verband der Kriegsdienstverweigerer (VK) 1958— 1966. Ein Beitrag zur Geschichte des Pazifismus, Hamburg 1977, S. 9— 10.

  14. Artikel: . Tolerance'in: Voltaire, Dictionaire Philosophiques (1764), Paris 1954, S. 401.

  15. R. Jungk, Von der Intoleranz gegen das Neue, in: Christian Fenner und Bernhard Blanke (Hrsg), Systemwandel und Demokratisierung, Festschrift für O. K. Flechtheim, Frankfurt 1975, S. 53 u. 58.

  16. M. K. Gandhi, From Yeravada Mandir, Ahmed-abad 1935, zit. n. Nirmal Kumar Bose (ed.), Selec-tions from Gandhi, Ahmedabad 1957, S. 257.

  17. Ebenda, S. 259.

  18. Zur Verarbeitung von Informationen in politischen Systemen siehe Karl Deutsch, Politische Kybernetik, Freiburg 1970.

  19. Martin Jänicke, Umweltschutz in Osteuropa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 23/77.

  20. Eine im Westen publizierte Ausnahme bildet Wolfgang Harich, Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der , Club of Rome', Reinbek 1976.

  21. T. Hunold, Eine demokratische Bewährungsprobe, in: Die Polizei 7/1968, S. 185 ff.

  22. Klaus Harms, Mandat der Freiheit. Grundriß einer Sozialethik der Polizei als Beitrag zur politischen Bildungsarbeit, Berlin 1970, S. 113.

  23. Ebenda, S. 114. Es ist bemerkenswert, daß der Berliner Polizeipräsident diesem Buch in einem Geleitwort eine weite Verbreitung wünscht.

  24. Vgl. Wolfgang Hertle, Törichtes und Menschliches. Eindrücke von der zweiten Bauplatzbesetzung in Wyhl, in: Gewaltfreie Aktion, Berlin, 24/25, 1975, S. 46— 49.

  25. Martif Greiffenhagen, Zurück zu Metternich? Radikale und Verfassungsfeinde im demokratischen Rechtsstaat, in: M. Greiffenhagen/H. Scheer (Hrsg.), Die Gegenreform. Zur Frage der Reformierbarkeit von Staat und Gesellschaft, Reinbek 1975, S. 74— 75.

  26. Freiburg/Breisgau 1975, Bericht über die vierte Tagung der 5. Synode der EKD vom 2. -7. 11. 1975, Hannover 1976, S. 338.

  27. In seinem Beschluß vom 22. Mai 1975, der sich mit der Übernahme von Referendaren in den Vorbereitungsdienst befaßt, beurteilt das Bundesverfassungsgericht die Verwendung systematisch zusammengetragener Ermittlungsergebnisse von taatsschutzbehörden wie folgt:Ermittlungen’ der letztgenannten Art können nur Verhaltensweisen zutage fördern, die in die Ausbildungs-und Studienzeit eines jungen Menschen fallen, häufig Emotionen in Verbindung mit engagiertem Protest entspringen und Teil von Milieu-und Gruppenreaktionen sind, also sich wenig eignen als ein Element (von vielen), aus dem man einen Schluß auf die Persönlichkeit des zu Beurteilenden ziehen könnte; sie vergiften andererseits die politische Atmosphäre, irritieren nicht nur die Betroffenen in ihrem Vertrauen in die Demokratie, diskreditieren den freiheitlichen Staat, stehen außer Verhältnis zum . Ertrag'und bilden insofern eine Gefahr, als ihre Speicherung allzu leicht mißbraucht werden kann. Deshalb sind solche Ermittlungen und die Speicherung ihrer Ergebnisse für Zwecke der Einstellungsbehörden schwerlich vereinbar mit dem im Rechtsstaatsprinzip verankerten Gebot der Verhältnismäßigkeit."

  28. Ebenda, S. 339— 349.

  29. Frau Kaiser, ebenda, S. 348.

  30. Syn. Dr. Besser, ebenda, S. 349.

  31. Interview des Verf. mit Karl Meyer (Niem-burg-Bottingen) am Palmsonntag 1975.

  32. Eine ausführliche Darstellung dieser Auseinandersetzungen bietet Wolfgang Sternstein, Droht eine Spaltung der Bürgerinitiativbewegung, in: Gewaltfreie Aktion, 33/34.

  33. Aufschlußreich hierfür Wolfgang Harich, Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der , Club of Rome'. Reinbek 1975.

  34. Vgl. Th. Ebert, Gandhis Theorie der gewaltfreien Aktion, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 24/69 v. 14. 6. 1969, S. 14— 31.

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Theodor Ebert, geb. 1937, Dr. phil., Professor für Politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin, Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Kuratoriums der Deutschen Gesellschaft für Friedens-und Konfliktforschung. Schriftleiter von . Gewaltfreie Aktion. Vierteljahreshefte für Frieden und Gerechtigkeit". Veröffentlichungen u. a. : Gewaltfreier Aufstand. Alternative zum Bürgerkrieg, Freiburg 1968, 2. überarbeitete Aufl. Frankfurt 1970; Herausgeber von: Macht von unten. Bürgerrechtsbewegung, außerparlamentarische Opposition und Kirchenreform, Hamburg 1968 (zusammen mit H. J. Benedict); Ziviler Widerstand. Fallstudien zur innerpolitischen Friedens-und Konfliktforschung, Düsseldorf 1970; Demokratische Sicherheitspolitik. Von der territorialen zur sozialen Verteidigung, München 1974.