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Zur Diskussion um die Neutronenwaffe | APuZ 8/1978 | bpb.de

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APuZ 8/1978 Artikel 1 Zur Diskussion um die Neutronenwaffe Abrüstungsamt der Bundesregierung— Ein Vorschlag für eine aktive Friedenspolitik

Zur Diskussion um die Neutronenwaffe

Manfred Opel

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Neutronenwaffe ist produktionsreif; der US-Kongreß hat die Gelder für ihre Herstellung freigegeben. Der amerikanische Präsident will aber offenbar erst darüber entscheiden, wenn die Europäer auch einer Lagerung auf ihrem Gebiet zustimmen. Die Neutronenwaffe ist eine Gefechtsfeld-Nuklearwaffe. Sie deckt das unterste Spektrum der taktischen Nuklearwaffen ab. Es handelt sich um eine Wasserstoffbombe mit einem Detonationswert im Bereich zwischen tausend bis zehntausend Tonnen TNT. Durch die besonders starke Abgabe schneller Neutronen besitzt sie die Fähigkeit, motorisierte und gepanzerte Verbände zu bekämpfen. Der Schwerpunkt des Aufsatzes liegt bei einer Gegenüberstellung der Auffassungen von Befürwortern und Gegnern hinsichtlich einer Einführung der Neutronenwaffe in das europäische Nuklearwaffenarsenal der NATO. Die Befürworter weisen vor allem auf die geringere Eigengefährdung bei dem Einsatz dieser Waffe sowie auf die erhöhte Abschreckungswirkung und auf das erreichbare Gegengewicht gegen die Überlegenheit des Warschauer Paktes mit konventionellen Waffen in Europa hin. Die Gegner, soweit sie im Rahmen der NATO-Strategie argumentieren, befürchten insbesondere eine Senkung der Nuklearschwelle, einen neuen Rüstungswettlauf und langfristig eine Tendenz zur „Führbarkeit von regionalen militärischen Auseinandersetzungen unter Einschluß von Nuklearwaffen in Europa". Da sich der Warschauer Pakt entschieden gegen die Einführung der Neutronenwaffe und ihre Stationierung in Westeuropa wendet, könnte er — zumindest im Augenblick — Angebote des Westens über einen generellen Verzicht auf dieses System nicht plausibel ausschlagen. Von deutschen Politikern wird daher weitgehend die Auffassung vertreten, die Neutronenwaffe als Verhandlungsgegenstand (bargaining Chip) bei der MBFR einzubringen bzw. zu prüfen, ob ein solches Angebot erfolgreich sein könnte. Die Bundesrepublik Deutschland ist als „potentielles Gefechtsfeld" von der Entscheidung über die Einführung der Neutronenwaffe besonders betroffen; sie befindet sich aus diesem Grund auch in einer speziellen und prinzipiell anderen Situation als ihre Partner.

Vorbemerkung

Wer sich heute des Themas „Neutronenwaffe" annimmt, findet sich unvermittelt im Zentrum des'politischen Spannungsfeldes zwischen Ost und West.

Innerhalb des Westens selbst ist eine teilweise stark emotionsgeladene Diskussion darüber entbrannt, ob diese Waffe produziert und bereitgehalten werden soll oder nicht.

Allein deshalb ist nüchterne Information über den Gegenstand des Disputs und über die Argumente der Beteiligten geboten — „sine ira et studio“, umfassend und möglichst objektiv.

Die Heftigkeit der zuweilen öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzungen deutet aber auch darauf hin, daß es dabei um essentielle, uns alle berührende Fragen geht. Moralische und ethische Gesichtspunkte tragen ohne Zweifel zur Problematik bei.

Eine Beschränkung von Informationen und Meinungsbildung allein auf die Neutronenwaffe als solche — das muß bereits einleitend festgehalten werden — würde jedoch in die Irre führen, weil sie das Problemfeld unzulässig einengte. Es ist unumgänglich, die Rolle von Nuklearwaffen im Rahmen der Militärstrategie als Element einer sicherheitspolitischen Gesamtbetrachtung zu beleuchten. Wer sich mit Nuklearwaffen beschäftigt, ist gezwungen, das Schreckliche zu wägen, das Undenkbare zu denken, Wirkungen zu erörtern, deren Ausmaß in jedem Fall einer Katastrophe gleichkäme, würde sie nun geringer oder größer sein

„Die Neutronenwaffe ist eine typische Nuklearwaffe." Sie ist daher auch mit den grundsätzlichen Fragezeichnen und Optionen von Nuklearwaffen behaftet.

Minister Leber hat mehrfach darauf hingewiesen, daß das Wort „human" nicht mit dem Wort „Waffen" in einem Atemzug genannt werden kann. Das gilt insbesondere für Nuklearwaffen, dabei aber vornehmlich für so-genannte „schmutzige Nuklearwaffen". Die Neutronenwaffe ist keine „schmutzige“ Nuklearwaffe, sie besitzt jedoch — wie sich zeigen wird — durchaus eine eigene Problematik. Die Nuklearwaffen sind ihrerseits in der realen Welt ein Faktum. Eine Vogel-Strauß-Haltung hilft also nicht weiter. Man muß sich mit ihnen zwangsläufig auseinandersetzen. Vorab soll jedoch die Szene skizziert werden, in der Diskussionen und Entscheidungen zur Neutronenwaffe stattfinden, ja stattfinden müssen. Aus dem Zwang zur Entscheidung werden weder die verantwortlichen Politiker noch wir, die potentiell Betroffenen, entlassen.

Funktionsprinzip und Wirkung

Zur Beurteilung der militärstrategischen und politischen Bedeutung der Neutronenwaffe ist es unabdingbar, ihr Funktionsprinzip und ihre Wirkungen im Falle der Anwendung im Grundsatz zu kennen Bei Nuklearwaffen unterscheidet man allgemein zwei anwendungsbezogene Kategorien: 1. Strategische Waffensysteme (z. B. Interkontinentalraketen, Fernbomber) 2. Nuklearwaffen des Kriegsschauplatzes (Theatre Nuclear Forces = TNF), auch taktische Nuklearwaffen genannt.

Sie beinhalten:

— weitreichende nukleare Waffensysteme, -— gegen Aufmarschräume gerichtete nukleare Waffensysteme, — Gefechtsfeld-Nuklearwaffen.

Die Neutronenwaffe wurde bisher ausschließlich im Zusammenhang mit Gefechtsfeld-Nuklearwaffen genannt. Konkret ist ein Neutronenwaffen-Gefechtskopf für das Raketensystem Lance (Bezeichnung: W — 70 MOD 4) entwickelt worden. Nach offiziellen Angaben erreicht diese Rakete 130 km Reichweite und eine Treffsicherheit von 400 m im Umkreis.

Für das 8-Zoll-Geschütz (203 mm) soll es ebenfalls eine produktionsreife Nuklear-Granate nach dem Neutronenprinzip geben; für die 155-mm-Haubitze soll sich die Munition noch in Entwicklung befinden.

Für andere Gefechtsfeld-Nuklearwaffen wie Luftverteidigungsraketen (zum Beispiel NIKE) oder die sogenannten Atomminen (ADM = Atomic Demolition Munition) wird das Prinzip der Neutronenwaffe voraussichtlich nicht vorgesehen, da es hier keine optimale zielorientierte militärische Wirkung verspricht.

Bisher wurden aus technischen Gründen, aber auch aufgrund der damit verbundenen hohen Kosten, kleinere Nuklearwaffen nicht nach dem Prinzip der Kernfusion (wie bei der Wasserstoffbombe) hergestellt, sondern nur nach dem Prinzip der Kernspaltung (Fission) — meist auf der Basis von angereichertem Uran oder Plutonium.

Diese Realisierbarkeitsgrenze lag in der Größenordnung von 100 kt Detonationswert (1 kt entspricht der Sprengkraft von 1 000 Tonnen des konventionellen Sprengstoffes TNT; die erste eingesetzte Atombombe über Hiroshima hatte weniger als 20 kt Detonationswert). Nunmehr ist es den USA gelungen, bis herab zu einem Detonationswert in der Größenordnung von etwa 1 kt nukleare Gefechtsköpfe mit geringen Abmessungen und verhältnismäßig niedrigen Herstellungskosten nach dem Kemverschmelzungsprinzip (= Fusion) herzustellen. Jede derartige Waffe muß mit einer Kernspaltungsladung „gezündet“ werden. Kernstück dieser Fusionswaffen ist offenbar ein miniaturisierter „Zünder" nach dem Kernspaltungsprinzip, dessen Wirkungsanteil gegenüber der Fusionsenergie gering ist

Beide Prinzipien — Fusion und Fission — besitzen bei gleichem Detonationswert unterschiedliche Wirkungen. Bei verhältnismäßig geringen Detonationswerten wirken sich die-se Unterschiede in der Energieabgabe besonders deutlich aus.

Bei gleichem Detonationswert setzt ein Gefechtskopf auf der Basis des Kernfusionsprinzips (vergleiche Wasserstoffbombe) etwa zehnmal mehr Kernstrahlung in Form von hochenergetischen Neutronen frei als einer auf der Basis des Kernspaltungsprinzips (zum Beispiel Uran-oder Plutoniumbombe).

Diese Neutronen, elektrisch neutrale Elementarbausteine von Atomkernen, besitzen ein hohes Durchdringungsvermögen und bewegen sich fast mit Lichtgeschwindigkeit fort. Neben der Kernstrahlung entsteht bei einer Kernexplosion aber auch Energie in Form von Druck (Fortpflanzung mit Schallgeschwindigkeit durch die Luft) und Wärme (Fortpflanzung mit Lichtgeschwindigkeit als Strahlung). Während bei der Kernfusion bei gleichem Detonationswert etwa zwei Drittel soviel Druckenergie entsteht wie bei der Kernspaltung, wird zugleich bei der Kernfusion nur etwa die Hälfte der Wärmeenergie erzeugt Weil die Gefechtsköpfe nach dem Kemfusionsprinzip bei gleichem Detonationswert im Vergleich zu den herkömmlichen taktischen Atomwaffen nach dem Kemspaltungsprinzip erheblich mehr Neutronenstrahlung abgeben, heißen sie auch Neutronenwaffen, oder im Englischen: Enhanced Radiation Weapons (ER)

Welche Konsequenzen ergeben sich nun daraus?

Kernspaltungswaffen besitzen insbesondere auf dem Gefechtsfeld, also im Einsatz gegen Kampffahrzeuge, vergleichbare Wirkungsradien bei Druck-und bei Strahlungsenergie. Zugleich zerstören aber Druck-und Wärmewirkung im weiten Umkreis über das eigentliche militärische Ziel hinaus zivile Infrastruktur oder gefährden die eigene Truppe. Da Kampffahrzeuge besonders druck-und wärmeresistent sind, entstehen bei deren Bekämpfung mit Kernspaltungswaffen übergroße Nebenschäden, sogenannte Kollateralschäden.

Mit der Neutronenwaffe ist es also gelungen — eine Wirkungskomponente, nämlich die Neutronenstrahlung, zu maximieren, — ungewollte Nebenwirkungen zu vermeiden

— und dadurch den für eine gewünschte Wirkung benötigten Detonationswert auf etwa ein Zehntel des Wertes bei Kernspaltungswaffen zu reduzieren.

Nun ist es keineswegs so, als hätte die Neutronenwaffe überhaupt keine Nebenwirkungen oder als wirke sie nur gegen Lebewesen. Im Zentrum der Explosion wirken Druck und Hitze vernichtend. Allerdings ist der Wirkungsradius bei gleicher Kernstrahlungswirkung gegenüber einer Kernspaltungswaffe drastisch reduziert.

Die Vermeidung von Kollateralschäden hängt allerdings auch von der Zielgenauigkeit der Waffe beziehungsweise des Trägermittels ab

Wie wirken nun die Neutronenstrahlen?

Ihre Stärke wird in der Maßeinheit rem (Roentgen equivalent man) gemessen. Um jemand sofort (d. h. innerhalb von 5 Minuten) kampfunfähig zu machen, muß er 3 000 — 4 000 rem aufnehmen. Bei einer 1 kt-Neutronenwaffe beispielsweise wird diese Dosis innerhalb eines Kreises von etwa 1 km Radius an eine ungeschützte Person abgegeben. Aber noch bei ca. 650 rem ist ein überleben zu we-niger als 50 % wahrscheinlich; ein sofortiger Ausfall tritt jedoch nicht ein. Diese Dosis wird bei gleichem Detonationswert (1 kt) innerhalb eines Kreises von etwa 1, 3 km Radius überschritten. Die 100 rem-Grenze, bei der — richtige medizinische Betreuung vorausgesetzt — kaum noch Spätfolgen zu verzeichnen sind, ist unter gleichen Bedingungen bei einem Abstand von ca. 1, 8 km vom Detonationspunkt erreicht. Die Strahlendosis wird im Körper aber quasi „gespeichert“. Bei mehrfacher Bestrahlung „summiert" sich die aufgenommene Dosis.

Gegen Neutronenstrahlung kann man sich schützen. Die sogenannte Halbwertdicke, welche angibt, wie stark eine Schutzschicht sein muß, um die Hälfte der Neutronenstrahlung abzuhalten, liegt bei üblichen Materialien (Sand, Mauerwerk, Beton, Stahl) etwa zwischen 10 und 15 cm. In einem Panzer würde die Besatzung daher nur etwa die Hälfte der außen ankommenden Strahlung aufnehmen. Der Wirkungsradius für sofortigen Ausfall der Besatzung würde sich in oben genanntem Beispiel damit von ca. 1 000 m auf ca. 800 m reduzieren.

Nebenbei sei bemerkt, daß das altgediente Erdloch gegen diese Art von Waffen der „beste Schutz" zu sein scheint.

Schon 1 m Erde reduziert die einfallende Strahlung auf weit unter 1 °/o des Ausgangswertes. Da die Detonationspunkte der Neutronenwaffen relativ niedrig liegen dürften (die Angaben bewegen sich um etwa 100 m), fällt die Strahlung schon in geringer Entfernung vom Detonationspunkt so schräg ein, daß auch ein flacher Graben dem Infanteristen noch ausreichend Schutz bietet — vorausgesetzt, er befindet sich zum Zeitpunkt der Detonation in Deckung.

Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß Neutronenstrahlung insbesondere elektronische Bauteile funktionsunfähig machen kann.

In jedem Fall entsteht um das Detonationszentrum unvermeidlich ein radioaktiv verseuchtes Gelände mit allen Konsequenzen für die Passierbarkeit (auch durch eigene Truppen). Die genetische Langzeitwirkung der direkten und der induzierten Strahlung bildet in jedem Fall auch eine Gefährdung der eigenen Truppe.

Sicherheitspolitisches Umfelu Vor dem Eintritt in die spezielle Problematik der Neutronenwaffe gilt es, das sicherheitspolitische Umfeld und die allgemeine Nuklearwaffendoktrin anzusprechen.

West und Ost haben sich auf eine Politik des Mächtegleichgewichts verständigt. Sie ist gekennzeichnet durch — den Verzicht auf territoriale Forderungen — keine Störung der essentiellen inneren Stabilität der Gegenseite.

Die Wahrscheinlichkeit eines Angriffes durch den Warschauer Pakt steigt in dem Maße, in dem der Westen wirtschaftliche und soziale Schwächen zeigt. Da die sowjetische Politik der „friedlichen Koexistenz" auf einen unkriegerischen Wandel im Westen zu eigenen Gunsten abzielt, besteht nicht nur aus ethischen und moralischen Gründen eine Verpflichtung zur Verwirklichung und Aufrechterhaltung einer stabilen, sozialen und gerechten Gesellschaftsordnung, sondern sie ist geradezu eine absolute sicherheitspolitische Bedingung. Dieser Weg kann jedoch nur von einem in diesem Ziel einigen Westen durchgehalten werden. Solange im Atlantischen Bündnis Einigkeit über die eigene gemeinsame Interessensphäre und eine Überzeugung der gegenseitigen Abhängigkeit bestehen, erwächst daraus die glaubwürdigste Abschreckungswirkung. Diese „Sicherheitsbedingung der Solidarität" unter den Partnern schließt nicht nur gegenseitiges Vertrauen, sondern mehr noch wechselseitige Risiko-und Interventionsbereitschaft ein. Es ist ein Irrglaube anzunehmen, diese Haltung der Gemeinsamkeit wurde im Falle einer Krise gleichsam spontan und — für die Gegenseite — überzeugend wiedergewonnen werden können. Partikularinteressen (zum Beispiel durch Einzelabsprachen mit dem Osten oder durch fehlende Verteidigungsanstrengungen) schaden der Abschrekkungswirkung und damit der Sicherheit der gesamten Allianz.

Die Politik der Solidarität darf nicht im Verborgenen stattfinden. Dem Warschauer Pakt muß das praktizierte Zusammenstehen der NATO-Partner demonstriert werden. Dazu gehört auch, daß der Osten erkennen soll, welchen Risiken er sich bei einer Aggression aussetzt. Wahrheitsgemäße Information des potentiellen Gegners über die eigenen Fähigkeiten besitzt also Schutzwirkung. Voraussetzung ist jedoch, daß die eigene Abwehrfähigkeit dem Gegner keine Angriffschance bei tragbarem Risiko beläßt.

Oder anders formuliert: „Unsere Strategie verlangt nicht, Streitkräfte zu unterhalten, einen militärischen Sieg im klassischen Sinne — die Vernichtung des Gegners — zu erringen. Sie fordert, daß man seinem Gegner die Hoffnung auf einen Sieg nimmt, das heißt ein Potential, das geeignet ist, einem gegnerischen Angriff zu widerstehen."

Die Strategie des westlichen Bündnisses gründet also auf zwei Säulen:

1. Abschreckung und Konfliktbeherrschung durch defensiv orientierte, ausreichende Kampfkraft, 2. Politik des Ausgleiches und der Konflikt-verhütung.

Nuklearwaffen als Element der Sicherheitspolitik

Das militärische Potential ist deshalb ein politisches Instrument zur Friedenssicherung und der Abwendung politischer Erpreßbarkeit.

„Die Abschreckungsstrategie der NATO braucht eine ausgewogene Struktur des Abschreckungspotentials: konventionelle, nuklear-taktische (= Nuklearwaffen des Kriegsschauplatzes, d. Verf.) und nuklear-strategische Mittel. In dieser Triade kann eine Einzelkomponente die andere nicht ersetzen. Die Abschreckungswirkung dar Triade hängt vom Eskalationsverbund ihrer Komponenten ab... Ersteinsätze nuklearer Waffen sollen weniger eine militärische Entscheidung herbeiführen, als vielmehr politische Wirkungen erzielen."

Für den Einsatz (auch Ersteinsatz) taktischer Nuklearwaffen gilt im westlichen Bündnis fol-gender Grundsatz: Er „muß so spät wie möglich, aber so früh wie nötig erfolgen, das heißt, daß die Doktrin der (grenznahen) Vorneverteidigung Geltung behält, die konventionellen Kräfte des Verteidigers nicht erschöpft sind ..

Dabei ist sich die Bundesregierung darüber im klaren, daß „vor allem die Bundesrepublik Deutschland ... schon vor einer Eskalation bis zur nuklear-strategischen Stufe Schlachtfeld eines Krieges sein (würde), der mit konventionellen und womöglich auch mit nuklear-taktischen Mitteln geführt wird"

Falls es in Europa zu einem militärischen Konflikt zwischen den beiden Machtblöcken käme, läge es mit Sicherheit im Interesse beider Supermächte, ihr Kernland nicht involviert zu sehen. Mit anderen Worten: Beide Führungsmächte besitzen voraussichtlich ein vitales Interesse, derartige Konfliktsituationen zu regionalisieren und in der Eskalationswirkung zu begrenzen. Faktisch bedeutet dies, daß ein Element der Triade, nämlich das nuklear-strategische, nur sehr locker dem strategischen Verbund der NATO zuzurechnen ist Politisch heißt das, daß es einem

Angreifer gelingen könnte, innerhalb der Schicksalsgemeinschaft des westlichen Bündnisses durch die Schaffung bestimmter Konfliktsituationen Interessengegensätze zu etablieren bzw. zu verstärken. Dadurch litte aber die Glaubwürdigkeit der Abschreckung.

Die Bundesrepublik Deutschland hat zudem aus geostrategischer Sicht den Nachteil, an der Nahtstelle beider Militärblöcke zu liegen. Was bei ihr Kernland ist, kann für andere Partner als vorgeschobenes oder direktes Vorfeld gelten. Für die Bundesrepublik ist die Bedrohung aus dem Osten am unmittelbarsten: mit möglichen Folgen für die eigene Bevölkerung und die staatliche Identität verbunden Ihr Interesse an der Vorneverteidigung, unmittelbar an der Demarkationslinie, ist deshalb vital und unverzichtbar. Dadurch unterscheidet sie sich aber auch von allen ihren Partnern im Bündnis.

In diesem Lichte wird deutlich, warum die öffentliche Meinung in unserem Staat so empfindlich auf alle Veränderungen der sicherheitspolitischen Landschaft reagiert. Für die Bundesrepublik besitzen deshalb auch die Nuklearwaffen des Kriegssschauplatzes eine andere Dimension. Sie gefährden bei einem Einsatz ihre staatliche Existenz; sie besitzen aus dieser Sicht strategische Dimensionen.

Während bei SALT über strategische Nuklear-und Trägerwaffen verhandelt wird, gel-ten die Wiener MBFR-Gespräche vor allem dem Abbau konventioneller Truppen in Mit-teleuropa. Dazwischen befindet sich eine „Grauzone", die insbesondere von den Nuklearwaffen des Kriegsschauplatzes ausgefüllt wird. An deren sicherheitspolitischer Einbindung müßte aber die Bundesrepublik vor allem aus folgenden Überlegungen heraus interessiert sein:

1. Eine Festschreibung der strategischen Parität bei SALT bedeutet zugleich eine Anerkennung der erheblichen konventionellen und insbesondere der taktisch-nuklearen Disparität in Europa.

2. Bei einem militärischen Konflikt in Europa ist es infolge der konventionellen Überlegenheit des Warschauer Paktes möglich, daß taktisch-nukleare Waffen eingesetzt werden müssen Dabei ist die Bundesrepublik als Zielgebiet überdurchschnittlich gefährdet. 3. Die Sowjetunion verwendet auch bei taktisch-nuklearen Waffen (wahrscheinlich wegen der geringen Zielgenauigkeit ihrer Trägermittel) Gefechtsköpfe mit vergleichsweise hohem Detonationswert. In der dichtbesiedelten Bundesrepublik würde deren Einsatz, zum Beispiel als (ideologisch begründete, fast zwanghaft zu erteilende) Antwort auf einen Ersteinsatz durch die NATO, zu erheblichen Zerstörungen über das eigentliche militärische Ziel hinaus führen. 4. Die sowjetische Aufrüstung auf taktisch-nuklearem Gebiet wird mit unverminderter Intensität fortgeführt. Die Entwicklung moderner mobiler Mittelstreckenraketen (wie die SS 20 mit Mehrfachsprengkopf) und Atombomber (wie das Schwenkflügelflugzeug mit dem NATO-Code-Namen BACKFIRE) hat die nuklearen Fähigkeiten des Warschauer Paktes in Europa deutlich erhöht.

Diese Problematik ist erkannt. Der Sonderberater des amerikanischen Außenministers für sowjetische Angelegenheiten, Marshall D. Shulman, erklärte deshalb am 26. Oktober 1977: „Wir sind in dem Punkt unsicher, ob Verhandlungen über diese Systeme, welche in der , Grau-Zone'zwischen SALT und MBFR angesiedelt sind, wünschenswert und durchführbar sind. Das Problem gewinnt jedoch an Bedeutung, und wir werden viel darüber nachdenken."

Die Neutronenwaffe als Instrument zur „Modernisierung der Nuklearwaffen des Kriegsschauplatzes" wurde erstmals im Sommer 1977 breit in der Presse diskutiert. Auslöser war eine Nachricht aus den USA, daß es nunmehr gelungen sei, diese Waffe, deren Prinzip seit langem in der Fachwelt bekannt ist, zur Produktionsreife zu entwickeln.

Stimmen aus dem Warschauer Pakt Die Medien der Staaten des Warschauer Paktes, allen voran die der DDR, läuteten unverzüglich auf breiter Front einen Propagandakrieg gegen diese Nuklearwaffe ein. Man redet bewußt von Neutronenbombe, um Assoziationen mit der Kampagne „Kampf dem Atomtod" und der aktuellen Haitu.. g westlicher kommunistischer Parteien zum Kernkraftwerkbau im Westen zu wecken.

Die östliche Presse nannte sie „Neutronenbombe — die Waffe des Aggressors". Die Bezeichnungen „Terrorbombe", „PentagonPhantasie" und „Schreckensvision" fanden verbreitete Aufnahme in den Agitationswortschatz. In der Presse des Warschauer Paktes und in den kommunistischen Zeitungen im Westen wird täglich gegen die Neutronenwaffe zu Felde gezogen.

Um die Jahreswende hat sogar der Generalsekretär der KPdSU Breschnjew in einem vertraulich behandelten Brief an mehrere westliche Regierungschefs, darunter auch Bundeskanzler Schmidt, seine Bedenken gegen die Stationierung der Neutronenwaffe in Europa offiziell angemeldet und sich damit — wie fast einhellig von den politischen Kommentatoren geäußert — in die inneren Angelegenheiten souveräner westlicher Staaten eingemischt. Festzustellen ist: Der Warschauer Pakt hat sich gegen die Einführung der Neutronenwaffe im Westen ausgesprochen. Einen eigenen Verzicht hat er nicht geleistet.

Diskussion im Westen Vor einer Gegenüberstellung von Pro und Contra zur Neutronenwaffe sollen einige Äußerungen westlicher Politiker und Fachleute wiedergegeben werden, die den Ablauf der Debatte seit dem Sommer 1977 charaktrisieren. US-Präsident Carter 18) erhielt (aufgrund eigenen Antrages) am 7. Juli 1977 (und endgültig am 3. Nov. 1977) Haushaltsmittel für die Produktion der Neutronen-Gefechtsfeldwaffe bewilligt.

Der Senat sicherte sich jedoch zugleich ein Widerrufrecht. Am 12. Juli 1977 sagte der Präsident bei einer Pressekonferenz in Washington: „Die hochwirksame Strahlung (Enhanced Radiation) der Neutronenwaffe ist schon seit 15 oder 20 Jahren erörtert worde Jahren erörtert worden, und schon solange ist an ihrer Entwicklung gearbeitet worden. Es handelt sich hierbei nicht um eine neue Konzeption und auch nicht um eine neue Waffe ... Sie ist streng als taktische Waffe gedacht .. . Ich glaube, ... daß Zerstörung, die aus der Explosion einer Neutronenwaffe herrühren würde, wesentlich geringer ist, als die Zerstörung durch eine entsprechende Waffe anderen Typs. Die Hauptfrage ist: Sollten die Neutronenwaffen oder andere Atomwaffen jemals gegen feindliche Streitkräfte auf besetztem Gebiet unserer Verbündeten oder unserem Gebiet eingesetzt werden müssen, dann würde die Zerstörung bedeutend geringer."

US-Senator Nunn 19) erklärte mit Blick auf die derzeit verfügbaren taktischen Atomwaffen, die eine so große Zerstörungskraft hätten, daß ein potentieller Gegner der Meinung sein könnte, sie sei zu groß, um im stark bevölkerten Westeuropa überhaupt eingesetzt zu werden: „Die Sowjets werden nicht von Waffen abgeschreckt, welche die Allianz wahrscheinlich gar nicht einsetzen kann."

Demgegenüber meinte US-Senator Clark , die massive Zerstörungskraft gegenwärtig eingeführter taktischer Nuklearwaffen sei notwendig. „Ein Nuklearkrieg muß derartig klar ein Schritt in das unbekannte Schreckliche sein, daß keiner wagen wird, es zu versuchen.“ Er warnte im übrigen, daß der Gefechtskopf der Neutronenwaffe die Auffassung nähren könnte, ein Atomkrieg könne innerhalb bestimmter, annehmbarer Grenzen geführt werden, was die Möglichkeit eines solchen Krieges nur wahrscheinlicher mache.

Präsident Carter 20) begründete seine Forderungen an den US-Senat auf Freigabe der

Finanzmittel für den Bau der Neutronenwaffe in einem Brief an Senator Stennis. Darin heißt es unter anderem: .. Ich bin gegenwärtig der Ansicht, daß die hochwirksame Strahlungswaffe (Enhanced Radiation Weapon), wie sie im Budget der amerikanischen Behörde für Energieforschung und Entwicklung (ERDA) enthalten ist, im Interesse der Sicherheit unseres Landes (Hervorhebung durch den Verf.) liegt ... Es ist hier nicht die Rede von irgendeiner neuen Waffenart, sondern von der Modernisierung von Kernwaffen. Solange es keine zufriedenstellenden Abkommen über die Reduzierung von Kernwaffen gibt, müssen wir unsere Kapazität bei nuklearen Gefechtsfeldwaffen beibehalten und modernisieren, insbesondere hinsichtlich der Unterstützung der NATO-Abschreckungsstrategie der flexiblen Antwort. Taktische Nuklearwaffen, einschließlich derer für den Einsatz auf dem Gefechtsfeld, haben nachdrücklich zu der Abschreckung eines Konfliktes in Europa beigetragen. Ich bin der Überzeugung, daß wir die Optionen, die sie bieten, beibehalten müssen, und sie modernisieren. Diese Waffen sind keine strategischen und haben keine Beziehung zu SALT.

Man muß erkennen, daß die NATO ein Verteidigungsbündnis ist, das möglicherweise auf eigenem Territorium kämpfen muß. Ein Aggressor sollte mit der Ungewißheit konfrontiert werden, ob die NATO Kernwaffen gegen seine vorderen Spitzen einsetzen würde. Für diese Zwecke bietet die Fähigkeit zur besonnenen Anwendung von Gewalt — welche die Enhanced Radiation Weapons bereitstellen können — (zumindest in diesem Sinne) eine attraktive Option. Ob diese Waffen bedeutsame destabilisierende Aspekte besitzen oder nicht, muß und wird in der Erklärung über die Auswirkungen auf die Rüstungskontrollbemühungen geprüft werden.

Die Enhanced Radiation Weapons würden also darauf abgestellt sein, die Abschreckung zu erhöhen; aber wenn die Abschreckung fehlschlägt, zwei Kriterien erfüllen:

— erstens, die Fähigkeit der NATO erhöhen, dem Aggressor bedeutenden militärischen Schaden zuzufügen, — zweitens, Zerstörungen und Verluste an Einzelpersonen, die sich nicht im unmittelbaren Zielgebiet befinden, auf ein Mindestmaß beschränken; einschließlich befreundeter Truppen und Zivilisten.

Die Entscheidung über den Einsatz von Nuklearwaffen jeder Art, einschließlich der Neutronenwaffen, würde in meinen Händen bleiben und nicht in den Händen örtlicher Kommandeure auf dem Kriegsschauplatz. Eine Entscheidung, die nukleare Schwelle zu überschreiten, wäre die qualvollste Entscheidung für jeden Präsidenten. Ich kann Ihnen versichern, daß diese Waffe die Entscheidung in keinem Fall leichter machen würde. Aber durch Erhöhung der Abschreckung könnten sie es weniger wahrscheinlich machen, daß ich mich vor eine solche Entscheidung gestellt sähe ..."

In diesem Schreiben tauchte auch das Problem des Ersteinsatzes von Nuklearwaffen auf NATO-Territorium auf. Deshalb wurde es in die Diskussion um die Neutronenwaffe mit einbezogen

Am 21. September 1977 erklärte der Vorsitzende der Arbeitsgruppe Verteidigung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion der Bundestagsabgeordnete Weiskirch, zur Frage des Veto-Rechtes der Bundesregierung gegen einen Nuklearwaffen-Ersteinsatz auf deutschen Boden unter anderem: , ein nationales Veto-Recht gegen den Einsatz von Nuklearwaffen würde die atomare Abschrekkung zur Farce machen und damit die friedenssichernde Aufgabe des Bündnisses unterlaufen. Was nämlich den Deutschen recht wäre, müßte den übrigen Partnern billig sein... Die Entscheidung, ob und wann in einer kritischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West Nuklearwaffen eingesetzt werden, liegt allein in der Kompetenz des amerikanischen Präsidenten. Diese Kompetenz erstreckt sich auch auf die in letzter Zeit viel diskutierte Neutronenwaffe .. . Daß es keinen Atomwaffen-Einsatz auf deutschem Boden ohne vorherige Konsultation mit den zuständigen deutschen Instanzen geben wird, liegt in der Natur des NATO-Bündnisses selbst. .

Die schwedische Außenministerin Frau Sader hatte bereits im September die Befürchtung geäußert, die Einführung der Neutronenwaffe könne ein neues Wettrüsten verursachen und bedeute im übrigen eine Gefahr für die Weiterverbreitung von Nuklearwaffen.

Der Direktor des renommierten Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstitutes* (SIPRI), Dr. Barnaby, hat seine Meinung zur Neutronenwaffe am 3. Oktober 1977 in folgenden Punkten zusammengefaßt

— Nuklearkrieg läßt sich nicht begrenzen.

Deswegen wird der für begrenzbar und damit beherrschbar gehaltene Einsatz einer „humaneren"

Waffe wie die Neutronenwaffe vermutlich zum allgemeinen Nuklearkrieg führen.

— Mit Einführung der Neutronenwaffe könnten die Skrupel vor deren Anwendung gemindert werden.

— Weitere Staaten würden zwangsläufig versuchen, nuklear zu rüsten.

— Das könne auch Schweden zwingen, an eine eigene nukleare Rüstung zu denken, weil durch Einführung der Neutronenwaffe auch das konventionelle militärstrategische Gleichgewicht zuungunsten Schwedens verändert werden würde.

Unterdessen hatten intensive Gespräche innerhalb des Bündnisses stattgefunden. Am Vorabend der Herbstkonferenz 1977 der Nuklearen Planungsgruppe der NATO (22. Ministertagung derNPG) erklärtedeshalb der amerikanische Verteidigungsminister Brown er wolle den Verbündeten keine Entscheidung aufzwingen.

Im offiziellen Kommunique der NPG-Sitzung vom 11. /12. Oktober 1977 heißt es:

„Im Zusammenhang mit der Modernisierung der nuklearen Kräfte in Europa hatten die Minister einen weiteren Meinungsaustausch über Nuklearwaffen mit verringerter Druckund verstärkter Strahlungskomponente. Diese Waffen beschränken ihre Wirkungen auf einen durch den militärischen Zweck enger begrenzten Bereich. Die Minister stimmten darin überein, daß ihre Regierungen die Prüfung dieses Themas fortsetzen."

Am 14. Oktober 1977 veröffentlichte das Bundesverteidigungsministerium eine offizielle Information über Funktion und sicherheitspolitische Bedeutung der Neutronenwaffe.

Wichtigste Aussagen sind:

— Die Neutronenwaffe ist eine typische Nuklearwaffe in Form einer Wasserstoffbombe von geringem Detonationswert. — Ihren Namen hat sie erhalten, weil sie in ihrer Kernstrahlung 6— 8mal mehr Neutronen erzeugt als die herkömmlichen Kernspaltungswaffen mit gleichem Detonationswert.

— Einen bestimmten, militärisch notwendigen Schaden beim Gegner kann sie aufgrund ihrer Kernstrahlung mit einem 10-bis 60mal kleinerem Detonationswert erzielen. Unerwünschte Nebenwirkungen (sogenannte Kollateralschäden) infolge Druck und Wärmestrahlung, wie sie bei herkömmlichen Kernspaltungswaffen auftreten, können weitgehend vermieden werden.

— Die Kontrollmöglichkeit bei den Kollateralschäden macht die Androhung ihres Einsatzes glaubwürdiger und stärkt damit die Abschreckungskraft der NATO.

— Sie ändert nichts daran, daß Nuklearwaffen kein Ersatz für konventionelle Kampfkraft sind, die Grenze zu konventionellen Waffen nicht verwischt wird und ihr Einsatz eine politische Entscheidung des Präsidenten der USA nach ausreichender Konsultation im Bündnis bleibt.

— Das Risiko für einen Angreifer wird erhöht, da der Verteidiger die unmittelbaren Auswirkungen seiner vorbedachten Eskalation besser kontrollieren kann.

— Die Produktionsentscheidung liegt bei den USA; über eine Lagerung in Bündnisländern wird im Bündnis gemeinsam entschieden.

Am 22. Oktober 1977 erläuterte Bundesverteidigungsminister Leber darüber hinaus:

.. Wir haben Zeit, das alles in Ruhe zu überlegen und stehen von keiner Seite her unter Druck, auch nicht unter Zeitdruck! . . . Militärische Konflikte (werden) zwar mit Waffen ausgetragen, aber nicht durch Waffen verursacht ..."

Unterdessen hatten sich die ehemaligen Bundeswehrgenerale Trettner, Steinhoff, Bennecke und Graf Baudissin zu Wort gemeldet. Sie alle warnten vor der Produktion der Neutronenwaffe bzw.deren Lagerung in Europa.

Am 28. Oktober 1977 hielt Bundeskanzler Schmidt vor dem Institut für Strategische Studien in London eine Rede „... Die Neutronenwaffe ist daraufhin zu prüfen, ob sie als ein zusätzliches Mittel der Abschreckungsstrategie, als Mittel zur Verhinderung eines Krieges, für das Bündnis von Wert ist. Wir sollten uns aber nicht auf diese Prüfung beschränken, sondern auch untersuchen, welche Bedeutung und welches Gewicht diese Waffe in unseren Bemühungen um Rüstungskontrolle zukommt..."

Obgleich der Kongreß die Mittel für eine Produktion der Neutronenwaffe unterdessen freigegeben hat, zögert der amerikanische Präsident, die endgültige Zustimmung zu geben, überraschend wurde Anfang Dezember ein Junktim zwischen der endgültigen Produktionsentscheidung durch Präsident Carter und der europäischen Zustimmung zur Lagerung der Neutronenwaffe gebildet. US-Verteidigungsminister Brown erklärte noch unmittelbar vor der Wintersitzung des NATO-Verteidigungs-Planungs-Ausschusses (DPC) in Brüssel, daß „es am Ende eine amerikanische Entscheidung sei, ob sie produziert werde", unabhängig davon, ob sie in Europa gelagert würde

Am 6. Dezember 1977 sagte Brown dem ZDF-Korrespondenten L. Rühl: „Wenn solche Waffen (d. h. Neutronenwaffen — d. Verf.) nicht nach Europa gebracht werden sollen, dann würden wir dies bei der Entscheidung über die Beschaffung sehr genau erwägen müssen." Zum Abschluß der NATO-Wintertagung erklärte Brown dann plötzlich sehr deutlich: „Wir wollen es nicht dazu kommen lassen, daß wir sie herstellen und unsere Verbündeten dann beschließen, sie nicht dislozieren zu lassen." Und weiter: „Natürlich müßte die Ankündigung der Dislozierung der Ankündigung der Produktion folgen."

Damit ist in der Praxis den Europäern die Verantwortung für die Produktionsentscheidung übertragen. Anders ist diese Bedingung der US-Administration für die Produktionsfreigabe nicht interpretierbar. Anfang 1978 haben sich der NATO-Generalsekretär Luns, der Oberkommandierende der NATO-Streitkräfte in Europa, Haig, und des-sen neu ernannter zweiter Stellvertreter Schmückle mehrfach mit vielfältigen Argumenten für die Einführung der Neutronenwaffe ausgesprochen, da sie unbestreitbare militärische Vorteile biete.

Der für gewöhnlich gut unterrichtete Militärjournalist Weinstein gab in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28. Januar 1978 eine neue und interessante Begründung für die Einführung der Neutronenwaffe. Er geht dabei davon aus, daß das Konzept der „flexible response" überarbeitet werden muß: „Der Feind würde vom ersten Tag an atomar operieren. Wir aber auch." Daraus leitet er zwei Konsequenzen ab: 1. Die klassische (konventionelle) Schlacht ist eine Illusion. 2. Regionale Atomkriege sind heute möglich. Folglich brauche die NATO in Europa eine „regionale Abschreckungswaffe" — insbesondere gegen die „sowjetische Panzerwaffe". Dies könne aber nur die Neutronenwaffe sein.

Neutronenwaffe als Gefechtsfeld-Nuklearwaffe in Europa

Die öffentliche Auseinandersetzung über die Produktion und die Aufnahme der Neutronenwaffe in das Europäische Waffenarsenal der NATO hält unvermindert an. Es beteiligen sich — befürwortend und ablehnend — Politiker, ehemalige und aktive Militärs, Journalisten sowie breite Schichten der Bevölkerung. Deshalb sollen die wichtigsten Argumente einmal kurz zusammengefaßt angeführt werden. Die Befürworter meinen: 1. Die geringeren Neben-oder Kollateralschäden erlauben den Einsatz mit genau berechenbarer Wirkung. Zusammen mit der hohen Genauigkeit der Trägersysteme (delivery Systems) ist deshalb eine Nuklearwaffe verfügbar, die sehr nahe an den eigenen Truppen eingesetzt werden könnte. Sie könnte auf NATO-Territorium ohne Vernichtung und nicht zu verantwortender Gefährdung der eigenen Bevölkerung eingesetzt werden (geringe „collateral damage "). 2. Die Begrenzbarkeit der Wirkung macht es dem Verteidiger leichter, diese Waffe einzusetzen. Sie ist besonders geeignet, den feindlichen Angriffsschwung zu brechen.

Damit steigt für einen Aggressor zugleich das Risiko, daß die Waffe eingesetzt wird; die Abschreckungswirkung wird also im Sinne der NATO-Doktrin erhöht 3. Die Höhe der nuklearen Schwelle wird in der Realität nicht durch die Art der verfügbaren Nuklearwaffen bestimmt, sondern — vom Gegner, der als erster Nuklearwaffen einsetzt, und — von der konventionellen Kampfkraft des Verteidigers.

Die Neutronenwaffe besitzt deshalb auch von daher keinen unmittelbaren Einfluß auf die Höhe der nuklearen Schwelle. Ihr zusätzlicher Abschreckungswert könnte aber den Gegner abhalten, als erster Nuklearwaffen einzusetzen und damit diese Schwelle zu übersteigen. 4. Der Übergang vom konventionellen zum nuklearen Einsatz wird nicht verwischt, da die Neutronenwaffe überwiegend Kern-oder Primärstrahlung abgibt, also die typische Nuklearwaffen-Wirkungskomponente besitzt. 5. Der Einsatz bleibt in der Hand des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Dieser entscheidet erst nach ausreichender Konsultation im Bündnis. Eine Delegation auf Militärs findet nicht statt. So ist sichergestellt, daß die Entscheidung stets bei den verantwortlichen Politikern liegt. 6. Eine wirksame, ausschließlich konventionelle Verteidigung ist der NATO in Mitteleuropa gegenüber dem Warschauer Pakt — zumindest im Augenblick — nicht möglich. Deshalb kann auf taktische Nuklearwaffen nicht verzichtet werden.

Die Neutronenwaffe bedeutet aber nichts weiter als eine Modernisierung und damit eine Verbesserung dieses Arsenals Diese Verbesserung liegt insbesondere darin, daß mit der Neutronenwaffe motorisierte und auch gepanzerte Verbände — zugeschnitten auf Art und Größe des Zieles — zerstört bzw. zum Stillstand gebracht werden können.

Die Neutronenwaffe ist daher die für den Einsatz in Mitteleuropa optimierte taktische Nuklearwaffe. 7. Im Falle der Notwendigkeit des Einsatzes von taktischen Nuklearwaffen ist das Eskalationsrisiko bei Verwendung der Neutronenwaffe geringer als bei den derzeitigen Nuklearwaffen. Das beruht auf der Möglichkeit zum eng begrenzten Einsatz, wodurch eine weitere nukleare Option eröffnet wird, die unterhalb der Schadensschwelle derzeit verfügbarer Systeme liegt.

Zudem kann ein solcher Einsatz mit genauer Wirkungsprognose dem Gegner angezeigt werden, um auf diese Weise die Wiederherstellung der Abschreckung zu fördern. 8. Die Neutronenwaffe besitzt überwiegend defensiven Charakter. Lediglich ein Aggressor sähe sich auf dem Gefechtsfeld mit der Gefahr ihres Einsatzes konfrontiert.

Sie stellt also ein stabilisierendes Element im Rahmen der NATO-Doktrin (flexible response) dar. Aus dieser Sicht ist eine Behinderung von Abrüstungsverhandlungen, einschließlich MBFR, nicht zu erwarten. 9. Es ist nicht anzunehmen, daß die UdSSR ihrerseits auf die Entwicklung moderner Nuklearwaffen freiwillig verzichtet. Ein einseitiger westlicher Verzicht auf die Einführung der Neutronenwaffe hieße also nur, die Chance auf einen potentiellen technologischen Vorsprung des Westens nicht zu nutzen. Würde aber die UdSSR die Neutronenwaffe als erste einführen, würden sich die nuklearen Fähigkeiten in Europa weiter zuungunsten des Westens verschieben. 10. Im Gefolge einer Ablehnung der Neutronenwaffe ist zu erwarten, daß erneut eine kernwaffenfreie Zone in Europa gefordert wird. Ohne nukleare Abschreckung ist aber die Bundesrepublik nicht zu verteidigen. 11. Ein vorzeitiger Verzicht auf die Neutronenwaffe (ob Produktion, ob Lagerung) würde die technologische und militär-strategische Verhandlungsoptionen des Westens ohne adäquate Gegenleistung des Warschauer Paktes preisgeben.

Unter den Gegner der Neutronenwaffe findet man natürlich auch alle jene, welche Nuklearwaffen — aus den verschiedensten Gründen — grundsätzlich ablehnen. Die Forderungen nach Abschaffung aller Massenvernichtungsmittel auf der ganzen Welt ist eine von der Friedens-sehnsucht der Menschen getragene, breit unterstützte politische Forderung. Die christlichen Kirchen haben sich ausnahmslos grundsätzlich gegen die Einführung und Beibehaltung von Massenvernichtungswaffen ausgesprochen. Diese fundamentalen Fragen sollen in diesem Zusammenhang nicht betrachtet werden. Vielmehr soll dargestellt werden, welche Argumente innerhalb der geltenden NATO-Strategie gegen die Produktion der Neutronenwaffe bzw.deren Aufnahme in das in Europa liegende amerikanische Nuklear-Potential angeführt wurden:

1. Die Technologie der Neutronenwaffe erlaubt ihren Einsatz mit geringen, klar bestimmbaren Nebenwirkungen. Damit wird die Risikobereitschaft, diese Waffe auch einzusetzen, bei Politikern, aber insbesondere bei den Militärs größer. Deshalb sinkt die nukleare Schwelle; ein Nuklearwaffeneinsatz wird wahrscheinlicher. Dieses Argument wird u. a. durch ein Anfang 1978 veröffentlichtes Gutachten der amerikanischen Abrüstungsbehörde gestützt.

2. Wenn erst einmal eine Nuklearwaffe eingesetzt ist — gleich welcher Bauart —, wird ein Gegner, schon aus Gründen der Außen-wirkung, mit hoher Wahrscheinlichkeit in gleicher Qualität antworten. Die Auseinandersetzung würde eskalieren. Es besteht die Gefahr der unbeherrschbaren Ausweitung. Damit würde aber genau das erreicht, was vermieden werden sollte: Der Eintritt in einen nuklearen Schlagabtausch.

Dabei würden vom potentiellen Gegner die ihm verfügbaren „schmutzigen“ Nuklearwaffen eingesetzt werden. 3. Selbst Neutronenwaffen besitzen für die eigene Operationsführung des Verteidigers mehr Nachteile als Vorteile, weil die Träger-mittel (Lance, 203-mm-Haubitze) nur geringe Reichweiten haben. Eine Gefährdung der eigenen Truppe — insbesondere in realen Gefechtssituationen — ist nicht auszuschließen.

Durch eine Neutronenwaffe würden nur verhältnismäßig wenige Kampfflugzeuge ausgeschaltet. Eine deutlich entlastende militärische Wirkung ginge deshalb nur von einem Einsatz in großer Zahl aus. Dies ist jedoch wegen der Eskalationswirkung nicht zu vertreten. 4. Die Gefechtsfeld-Nuklearwaffe muß flexibel, entsprechend den schnell wechselnden Lagen auf dem Gefechtsfeld eingesetzt werden können.

Die Freigabe durch den Präsidenten der USA, einschließlich des erforderlichen Konsultationsprozesses, würde daher im Einzelfall viel zu lange dauern, — wollte jeder Entscheidungsträger sich vorher genügend mit der konkreten Lage vertraut machen oder — um die gewünschte Wirkung (auch gegen mobile Ziele) zu erreichen.

Deshalb wäre die Delegation des Einsatzes fast unausweichlich und die politische Kontrolle im Einzelfall nicht gewährleistet. 5. „Eine amerikanische Regierung könnte bei Vorhandensein von Neutronenwaffen eher dazu neigen, in bestimmten Krisen Westeuropa als angeblich selbständigen Kriegsschauplatz sicherheitspolitisch, zumindest strategisch abzukoppeln. Damit rückte Westeuropa aus dem strategisch-nuklearen Abschrekkungsschirm heraus; die Abschreckung verlöre den entscheidenden Faktor ihrer Glaubwürdigkeit." (Generalleutnant a. D. Graf Baudissin am 27. November 1977 im „Vorwärts".) 6. Die Neutronenwaffe würde primär gegen einen eingebrochenen motorisierten Feind, vornehmlich Kampfpanzer, eingesetzt. Dies geschieht in jedem Fall auf dem Territorium der Bundesrepublik. Auch der Gegenschlag des Warschauer Paktes würde mithin auf bundesrepublikanischem Boden erfolgen. Unser Land würde deshalb vorgeplant und ohne Alternative einem nuklearen Inferno ausgesetzt. Andere nukleare Optionen würden nämlich zwangsläufig hinter diese (zumindest aus amerikanischer Sicht) am wenigsten eskalationsfördernde Möglichkeit zurückstehen. Insofern ist das Interesse der Bundesrepublik grundsätzlich von dem seiner Verbündeten verschieden und erfordert deren Verständnis. 7. Ein gezieltes Interventionsrecht der Bundesregierung gegen bestimmte Nuklearwaffeneinsätze (z. B. in Form eines Vetorechtes)

ist zwar theoretisch denkbar, aber nicht praktikabel. Es ist damit auch im Falle der Neutronenwaffe nicht anwendbar.

Der Grund hierfür ist darin zu sehen, daß ein potentieller Gegner gezielte Sanktionen gegenüber der Bundesrepublik androhen könnte, falls diese von einem bestehenden Interventionsrecht nicht Gebrauch machen würde. Dadurch würde ein Aggressor sein eigenes Risiko generell deutlich vermindern können.

Die Kollektivität der Verantwortung bei einem Nuklearwaffeneinsatz besitzt somit essentielle Bedeutung für die NATO.

Da aber eine besondere Einspruchsmöglichkeit der Bundesregierung (über die bestehenden Rechte und Verfahren hinaus) gegen den Einsatz der Neutronenwaffe nicht mehr gegeben ist, wenn sie erst einmal dem europäischen Waffenarsenal angehört, ist die Ablehnung der Lagerung in Europa die letzte Möglichkeit, ihren Einsatz im Konfliktfalle mit großer Sicherheit auszuschließen. 8. Die Abschreckungswirkung der Nuklearwaffen beruht — auf ihrem Verbund in der Triade und — der permanenten Bedrohung des Kernlandes eines Aggressors, einschließlich des Kernlandes einer Nuklearmacht.

Die Neutronenwaffe vermag aber weder den Verbund der Triade zu stärken noch das Kern-land des Warschauer Paktes unmittelbar zu bedrohen. Sie stärkt also nicht die Abschrekkung. Sie ist zudem deshalb besonders gefährlich, weil sie die Tendenz unterstützt, Kriege wieder „führbarer" zu machen. Insofern stünde ihre Einführung sogar im Widerspruch zur geltenden NATO-Doktrin der Abschreckung. 9. Die Mittel, die für die Produktion der Neutronenwaffe erforderlich sind, könnten wesentlich kosteneffektiver zum Ausbau des konventionellen Potentials genutzt werden. Insbesondere in Europa würde so die konventionelle Disparität ausgeglichen werden können. Im übrigen wäre man auf diese Weise der Sorge enthoben, es könnte (z. B. in den USA) langfristig die Neigung bestehen, vermehrt konventionelle Kampfkraft zugunsten der Neutronenwaffe in Europa abzubauen Davon wäre insbesondere die Bundesrepublik Deutschland betroffen.

Zum einen ließe sich die Konzeption der Vorneverteidigung nicht mehr aufrechterhalten und zum anderen müßten Nuklearwaffen (zunächst in Form der Neutronenwaffe) noch früher eingesetzt werden als bisher vermutet. 10. Durch die Einführung der Neutronenwaffe auf dem europäischen Kriegsschauplatz ist aus amerikanischem Blickwinkel ein „ideales" Gegenmittel zu den sowjetischen Panzermassen gefunden. Dadurch erklärt sich auch das amerikanische Interesse an der Einführung der Neutronenwaffe. Unterstellt, eine Eskalationsgefahr bestehe beim Einsatz der Neutronenwaffe nicht, so gelänge es den USA, den europäischen Kriegsschauplatz auch bei Anwendung nuklearer Waffensysteme zu regionalisieren.

Damit verbindet sich für die Europäer eine doppelte Gefahr:

— für die Supermächte wird ein Krieg (auch ein Nuklearkrieg!) in Europa nicht existenzbedrohend, — die Verantwortung für die Verteidigung Westeuropas würde von den USA (möglicherweise langfristig) verstärkt auf die Europäer abgewälzt werden.

Als Konsequenz wäre eine beträchtliche konventionelle Aufrüstung der europäischen NATO-Partner unausweichlich, wobei gleichzeitig eine Entlastung der USA einträte. Eine derartige Entwicklung kann aber insbesondere von der Bundesrepublik (da dann ihr weiter zunehmendes politisches Gewicht in Westeuropa bedacht werden muß) nicht gewollt werden. 11. „Der Einsatz der Neutronenwaffe ... wird ... nur dann in Erwägung gezogen, wenn der potentielle Gegner eine großangelegte konventionelle Aggression gegen die Staaten der NATO begonnen oder seinerseits im Rahmen einer anlaufenden Aggression bereits Nuklearwaffen eingesetzt hat... Wenn der potentielle Gegner angesichts von Doktrin und Bewaffnung der NATO eine großangelegte konventionelle Aggression beginnen würde, wäre er auch zum unbegrenzten Nuklearkrieg entschlossen." (Manfred Wörner in „Europäische Wehrkunde" 12/77.)

Wenn diese Feststellungen zutreffen, gibt es überhaupt keine sinnvolle Option für die (gegen Kampfpanzer wirkungsoptimierte) Neutronenwaffe. Die Abschreckung könnte nur mit anderen als Gefechtsfeldnuklearwaffen wiederhergestellt werden.

In jedem anderen Szenario aber — beispielsweise einer Aggression mit begrenztem Ziel — würde eine rein konventionelle Verteidigung durch die NATO möglich sein.

Unter dieser Prämisse gibt es mithin keinen vernünftigen Grund für die Einführung der Neutronenwaffe in Europa, darüber hinaus erscheinen in diesem Lichte auch heutige Gefechtsnuklearwaffen von minderem Wert.

Politische Argumente im Umfeld der militärstrategischen Diskussion

Neben diesen militärstrategisch orientierten Diskussionen gewannen in der öffentlichen Auseinandersetzung auch allgemeinpolitische, völkerrechtliche und sicherheitspolitische Probleme an Bedeutung.

Der Vertrag über die Nichtverbreitung von Nuklearwaffen (NPT) würde, so wird befürchtet, an Wert verlieren. Nach Einführung der Neutronenwaffe müßten sich (ausschließlich) konventionell ausgerüstete kleinere Länder nuklear bedroht fühlen. Deshalb, so wurde argumentiert, würden auch diese Länder die nukleare Aufrüstung wünschen; die Verbreitung von Nuklearwaffen sei dann nicht mehr einzudämmen.

Durch die Einführung der Neutronenwaffe im Westen sei der Abschluß eines allgemeinen Teststopp-Abkommens unwahrscheinlich geworden. Schließlich könne der Sowjetunion nicht verwehrt werden, die technologische Entwicklung nachzuvollziehen — und dazu seien Tests nun einmal erforderlich. Des weiteren wurde befürchtet, die Rüstungskontrollverhandlungen könnten — zumindest aufgrund einer allgemeinen Klimaverschlechterung — behindert werden. In diesem Zusammenhang ist auch von der Gefahr eines neuen Wettrüstens die Rede.

Besonders gewichtige Argumente sprechen nach Ansicht einiger Politiker für die Einbeziehung der Neutronenwaffe in laufende Gespräche zur Streitkräftebegrenzung oder zumindest für die Wahrung dieser Option”). Der Osten hat sich klar gegen die Neutronenwaffe im Westen ausgesprochen; es dürfte ihm deshalb im Augenblick schwerfallen, dieses Waffensystem für sich selbst vor der Weltöffentlichkeit zu reklamieren.

Ein Verzicht des Westens auf die Anwendung neuer Technologie sollte aber der Gegenseite nicht „geschenkt" werden. Da die Zeit in dieser Frage auf politischem und technischem Gebiet für den Warschauer Pakt arbeitet, sollte entweder die amerikanische Produktionsentscheidung — wie in Aussicht genommen — fallen, gleichzeitig aber ein zeitlich limitiertes Verhandlungsangebot bezüglich der Stationierung (z. B. in Europa) gemacht oder die weiterreichende Offerte eines Produktionsmoratoriums in den ost-westlichen Abrüstungsdialog eingebracht werden. Beide Optionen könnten Teil einer umfassenden MBFR-Verhandlungsleitlinie des Westens bzw.der Bundesrepublik Deutschland werden.

Schlußbetrachtung

Die Neutronenwaffe ist nur ein Symbol für die „Findigkeit" menschlichen Geistes. Heute gibt es glücklicherweise Beispiele für die Ächtung bestimmter Waffen und Kampf-mittel. Die Fortschritte bei Rüstungskontroll-, Abrüstungs-und Kriegsvölkerrechts-Verhandlungen sind zwar gering, bergen aber den Schimmer einer Hoffnung. Der „technische Fortschritt", der in der Waffentechnologie besonders zu Hause ist, folgt einer umfassenden Eigendynamik. Er ist die Folge der weltweiten Arithmetik der Drohsysteme.

Wir beobachten das Phänomen, daß eine Aussage über die Neutronenwaffe erst dann sinnvoll möglich ist, wenn neben ihrem „militärischen Wert" auch die „konkrete Situation ihrer Anwendung" beurteilt wird Beide Faktoren sind untrennbar miteinander verknüpft. Von daher ist es auch verständlich, wenn verschiedene NATO-Partner das Thema Neutronenwaffe in der Diskussion'unterschiedlich akzentuieren.

Wir in der Bundesrepublik müssen uns als vorgeschobener Posten des Atlantischen Bündnisses wohl damit abfinden, daß unser Land mit oder ohne Neutronenwaffe im Kriegsfälle Gefechtsfeld wäre. Das erklärt wohl auch, warum dieses Thema die Gemüter gerade in unserem Lande so bewegt.

Die UdSSR ist unterdessen, zumindest verbal, zum Gegenangriff angetreten. Radio Moskau zitierte am 8. Dezember 1977 eine westliche „nüchterne, warnende Stimme: Es gibt kein Monopol auf die neue Waffe! Man darf die andere Seite nicht provozieren, nicht zu Gegenmaßnahmen nötigen und die ganze Welt dadurch zu einer neuen Verschärfung der Rivalität im militärischen Bereich hindrängen!"

Wie immer sich der US-Präsident entscheiden mag, er wird daran gemessen werden, um wieviel sicherer der Friede durch sein Votum geworden ist. Seine Entscheidung wirkt deshalb weit über den Tag hinaus.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Christian Potyka formuliert das so: „Beschäftigung mit militärtheoretischen Fragen wird für unnötig, ja unmoralisch gehalten — vor allem wegen der dabei verwandten Kriegsbilder, Szenarios und Schadensanalysen von Waffenwirkungen" (aus: Strategiekritik als Sisyphusarbeit — Zur Kunst des überlebens im Abschreckungszeitalter, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 13/77, S. 3— 18).

  2. BMVg, Informations-und Pressestab: Material für die Presse V/17 vom 14. Oktober 1977: Die Neutronenwaffe. Fünf Fragen — fünf Antworten.

  3. Die im folgenden Abschnitt genannten Wirkungsdaten entstammen entweder offiziellen Angaben der amerikanischen Atomenergiebehörde oder beruhen auf gemittelten veröffentlichten Schätzwerten verschiedener Forschungsinstitute oder einzelner Wissenschaftler. Sie bilden insofern nur einen Anhalt und können insgesamt nicht als verbindlich angesehen werden.

  4. Für eine intensivere Befassung mit dem Thema eignen sich folgende Quellen:

  5. Deutsche Fassung in: Amerika-Dienst (Hintergrundmaterial) vom 20. Juli 1977.

  6. „Enhanced Radiation“ steht für verstärkte Strahlungswirkung (dabei handelt es sich im vorliegenden Fall streng genommen nicht um Strahlung im engeren Sinne, d. h. um elektromagnetische Energieabgabe, sondern um Energiefreisetzung in Form schneller Neutronen, also um korpuskulare „Strahlung“).

  7. Es sind neben diesem „Optimierungsprinzip" durchaus noch weitere Auslegungsmöglichkeiten denkbar, die andere Wirkungskomponenten von Nuklearwaffen (zusammen mit bestimmten Anwendungsprinzipien) besonders ausnutzen.

  8. Die Zielgenauigkeit des Trägermittels (delivery vehicle) muß deutlich größer sein als der Wirkungsradius der Waffe. Sonst entstehen weit überproportionale Nebenschäden durch den Zwang, eine „zu große" Waffe wählen zu müssen.

  9. Vgl. Oberstleutnant i. G. Dr. Schilling und Oberstleutnant i. G. Huber vom Führungsstab der Streitkräfte, Stabsabteilung Militärpolitik/Führung: Sicherheitspolitische und strategische Aspekte des Problems der Gewalt und Gewaltabwehr, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik, 20. Jg. Heft 4/Oktober 1976.

  10. Weißbuch 1975/76 zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Entwicklung der Bundeswehr. Herausgegeben im Auftrag der Bundesregierung vom Bundesminister der Verteidigung.

  11. Ebd.

  12. Ebd.

  13. Vgl. Manfred Wörner, in: Europäische Wehrkunde 12/77: „Es gibt, das ist unstreitig, einen natürlichen Interessen-Unterschied zwischen den

  14. Eine weitere — hier nicht zu diskutierende — Komplizierung des sicherheitspolitischen Eigeninteresses liegt im Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zur DDR und den in ihr lebenden Menschen begründet.

  15. Vgl. dazu Paul H. Nitze: Die Sicherung der strategischen Stabilität in der Ära der Entspannung, in: Beiträge zur Konfliktforschung 2/76, S. 5— 34, Köln 1976.

  16. Vgl. dazu General a. D. Ulrich de Maiziere: Verteidigung in Europa-Mitte. Studie im Auftrag der Versammlung der Westeuropäischen Union, München 1976.

  17. Wireless Bulletin from Washington vom 27. Oktober 1977.

  18. Vgl. Fußnote 5.

  19. Ebd.

  20. Vgl. Fußnote 5.

  21. Eine ausführliche Wiedergabe der amerikanischen Debatte findet sich bei H. G. Brauch in: Die Neue Gesellschaft 12/77.

  22. Deutschland-Union-Dienst, Nr. 181, 31. Jhrg. vom 21. September 1977.

  23. Gemeint sein dürfte: auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland (d. Verf.).

  24. Interviews mit „Dagens Nyheter" und „Svenska Dagbladet", beide vom 3. Oktober 1977.

  25. Gegenüber der „International Herald Tribune", Ausgabe vom 12. Oktober 1977.

  26. BMVg, Informations-und Pressestab: Mitteilungen an die Presse XIV/58 vom 14. Oktober 1977.

  27. Vgl. Fußnote 2.

  28. Minister Leber bei der Sicherheitspolitischen Informationstagung der SPD-Bundestagsfraktion in Leverkusen 22. /23. Oktober 1977.

  29. Diese Meinung wurde am 24. Oktober 1977 vom damaligen Niederländischen Außenminister van der Stoel gestützt. Seine Aussage lautete, auf eine Kurzformel gebracht: Die Diskussion muß aus einer Gesamtsicht der nuklearen Verteidigung heraus geführt werden. Es geht um die nukleare Verteidigungswaffe der achtziger Jahre. Angesichts der internationalen Situation benötigt die NATO eine effektiv betriebene Abschreckung, wobei es keine Entwicklung geben darf, die das nukleare Risiko noch vergrößern würde.

  30. Vgl. „International Herald Tribune'und „The Times", beide vom 29. Oktober 1977. Auszugsweise veröffentlicht in: Sozialdemokratische Sicherheitspolitik, Ausgabe 10/77, Dezember 1977.

  31. Wireless Bulletin vom 6. Dezember 1977.

  32. Wireless Bulletin vom 12. Dezember 1977.

  33. Amerika-Dienst vom 14. Dezember 1977.

  34. Vgl. US-Senator Sam Nunn in einem Interview mit dem Wochenmagazin „U. S. News and World Report" vom 25. Juli 1977 und General Schulze, Oberbefehlshaber der Streitkräfte Europa-Mitte, nach einer Meldung der „Frankfurter Allgemeine" vom 10. Dezember 1977.

  35. In diesem Zusammenhang wird häufig auf das Interview des Ministers für Nationale Verteidigung der DDR, Armeegeneral Heinz Hoffmann, hingewiesen, das am 23. November 1977 in „Neues Deutschland“ erschien. Dort führte er u. a. aus: ..... Man (sollte) dabei beachten, daß es sich bei allen Unterschieden in der Wirkungsweise und den Einsatzmethoden zu den bisherigen Kernwaffen nicht um ein grundsätzliches neues Waffensystem handelt, dessen Einführung in die NATO-Streitkräfte ihnen eine umwälzende Überlegenheit verschaffen würde, wie das im Westen häufig behauptet wird..."

  36. Diese Vermutung wird durch ein Interview des US-Verteidigungsministers Brown vom 9. Dezember 1977 in Brüssel (Wireless Bulletin vom 12. Dezember 1977) genährt. Dort hatte er erwähnt, die Neutronenwaffe reduziere die Zerstörungswirkung gegenüber „befreundeten Truppen oder Zivilisten und städtischen Regionen“. US-Streitkräfte hatte er in seine Überlegungen nicht einbezogen. Dies geschah zweimal im gleichen Interview. Fast identische Formulierungen hatte er bereits in einem Interview am 7. Dezember 1977 (AmerikaDienst vom 14. Dezember 1977) gebraucht, so daß eine zufällige Unterlassung unwahrscheinlich ist. In diesem Zusammenhang muß aber darauf verwiesen werden, daß die USA ab 1979 ihre konventionelle Kampfkraft in Europa auch personell verstärken wollen. Dies wurde von den europäischen NATO-Verbündeten ausdrücklich begrüßt.

  37. Zum Beispiel: Erwin Hom in „Vorwärts" vom 27. Oktober 1977, Hans Koschnick am 23. September 1977 in Hamburg, Manfred Wörner in „Europäische Wehrkunde" 12/77.

Weitere Inhalte

Manfred Opel, geb. 1938, Oberstleutnant; Studium der Ingenieurwissenschaften und Wirtschaftswissenschaften in München; Diplom-Ingenieur der Luftund Raumfahrttechnik; Generalstabsausbildung an der Führungsakademie der Bundeswehr.