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Familienpolitik — Bevölkerungspolitik. Eine Stellungnahme zum Aufsatz von Max Wingen in B 52/77 | APuZ 21/1978 | bpb.de

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APuZ 21/1978 Artikel 1 Bevölkerungspolitik in der Bundesrepublik -eine neue gesellschaftspolitische Aufgabe? Familienpolitik — Bevölkerungspolitik. Eine Stellungnahme zum Aufsatz von Max Wingen in B 52/77 Bevölkerungpolitik als Gesellschaftspolitik. Eine Replik

Familienpolitik — Bevölkerungspolitik. Eine Stellungnahme zum Aufsatz von Max Wingen in B 52/77

Heinrich von Loesch

/ 18 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In einer Replik auf Max Wingens Beitrag . Rahmensteuerung der Bevölkerungsbewegung als gesellschaftspolitische Aufgabe'(Aus Politik und Zeitgeschichte, B 52/77, S. 3— 19) wird der bevölkerungspolitische Sinn natalistischer (geburtenfördernder) Familienpolitik bezweifelt. Das hauptsächliche Hindernis des bevölkerungspolitischen Erfolgs einer herkömmlichen Familienpolitik — und damit zugleich ein Hauptgrund des anhaltenden . Geburtenschwunds'— wird in der Krise der gesellschaftlichen Institution . Familie'gesehen. Ein Zahlenbeispiel illustriert die enorme Verlängerung der Zeitperspektive der Kleinfamilie, deren Zahl der Jahre des Zusammenlebens sich binnen weniger Generationen mehr als verdoppelt hat. Der daraus resultierende Streß familiären Zusammenlebens produziert mit steigender Regelmäßigkeit . Familienzerrüttung'und/oder Scheidung. Der Konflikt zwischen der gesellschaftlich tradierten Fikton der . heilen'lebenslangen Klein-familie und der erwarteten (befürchteten) Wirklichkeit der . Zerrüttung'lähmt die Bereitschaft zu mehr als dem subjektiven Minimum an Kindern. Daran kann auch eine subventionsbereite Familienpolitik herkömmlichen Musters wenig ändern. Als Gegenvorschlag werden Umrisse einer nicht an der Familie orientierten Bevölkerungspolitik aufgezeigt, die sich die demographische Mobilisierung des . gesellschaftlich sterilisierten'Fortpflanzungspotentials zum Ziele setzt, nämlich jener unverheirateten, nicht mehr verheirateten oder . unglücklich'verheirateten Erwachsenen im fortpflanzungsfähigen (und -bereiten) Alter, die durch das Klischee der . heilen Kleinfamilie'und ökonomische Diskriminierung alleinstehender oder unverheirateter Eltern wirksam bei der Verwirklichung etwaiger Wünsche nach Kindern behindert werden. Letztlich wird aut das Problem der Zeitkosten bei der Aufzucht von Kindern eingegangen und dargelegt, daß die moderne Bevölkerungstheorie an der bevölkerungspolitischen Wirksamkeit eines . Hausfrauengehalts'und ähnlicher mutterschaftsbezogener Subventionen für Nur-Hausfrauen insofern Zweifel aufkommen läßt, als mit steigendem Geldwertbewußtsein bezüglich Hausfrauenzeit die sehr zeitintensive Kindererziehung im individuellen Nutzenvergleich gegenüber anderen konkurrierenden Zielsetzungen noch weiter an Attraktivität verlieren kann. Als bevölkerungspolitisch sinnvoller wird hingegen ein Fächer von Maßnahmen erachtet, die geeignet wären, den Zeitbedarf von Kindern entweder zu senken oder gleichmäßiger zwischen den Eltern und dem Gemeinwesen zu verteilen.

Während aus der Deutschen Demokratischen Republik eine Steigerung der rohen Geburten-ziffer um angeblich 24 Prozent berichtet wird, seit dem 1976 der Müttergenesungsurlaub nach Geburt (bis zu einem Jahr) und andere nationalistische (geburtenfördernde) Maßnahmen eingeführt wurden, klagen die Bundesrepublik Deutschland und eine zunehmende Zahl anderer Industrieländer über den Rückgang der Fruchtbarkeit, erwarten Stagnation der Bevölkerung trotz Einwanderung (USA) oder langfristige Schrumpfung (Bundesrepublik). Wie Bernard Berelson, der Präsident des (privaten) Population Council in New York in seiner Zusammenfassung der Ergebnisse des Standardwerks über Bevölkerungspolitik in entwickelten Ländern feststellt, sind sich bevölkerungspolitische Probleme und Ansätze in marktwirtschaftlichen und sozialistischen Ländern bemerkenswert ähnlich: „Es ist wert, festgehalten zu werden, daß die wichtigsten Bevölkerungsprobleme und ihre Behandlung in Ländern unterschiedlicher Gesellschaftsordnung recht ähnlich erscheinen, grob gesprochen in kapitalistischen und sozialistisch-kommunistischen Ländern."

In diesem Zusammenhang verdient der in dieser Zeitschrift unlängst (B 52/77) erschienene Beitrag von Max Wingen „Rahmensteuerung der Bevölkerungsbewegung als gesellschaftspolitische Aufgabe" eine kritische Würdigung, repräsentiert er doch eine in offiziellen und akademischen Kreisen in der Bundesrepublik verbreitete Sichtweise der Problematik. Während der mit Intervallen anhaltende Rückgang der Geburtenziffern in der Bundesrepublik im Verein mit Auswirkungen auf die Kinderindustrie und die Grundschulen zu düsteren Prognosen der langfristigen Bevölkerungsentwicklung, der Zukunft der Rentenversicherung, der Kapazitätsnutzung der Bildungseinrichtungen und der langfristigen Wirtschaftsentwicklung überhaupt führt, wäre es vielleicht nützlich, festzuhalten, daß das von Wingen erarbeitete Konzept in Analyse des Sachverhalts und daraus abgeleite-ten Empfehlungen nicht die einzige Sichtweise der Problematik repräsentiert.

Ein Kernpunkt in Max Wingens Darstellung ist sicherlich der Hinweis (Teil III, Abs. 3): „Läßt sich doch Wirklichkeit nur in dem Maße gezielt gestalten, in dem sie zureichend erklärt werden kann". überrascht stößt man dann freilich unter der Überschrift „Beispiele integrativ zu planender Rahmensteuerung" auf einen Maßnahmenkatalog zur Hebung der Fortpflanzungsfreudigkeit, der eine Reihe ungeklärter Fragen auf-wirft. Einige der Empfehlungen, die der Autor in der Rubrik „Sozialpädagogisches Feld" notiert, sind unter anderen als den heute in der Bundesrepublik herrschenden Umständen bereits verwirklicht worden, nämlich:

— Intensivere Information der Öffentlichkeit über die Ursachen und Folgen demographischer Veränderungen;

— Schärfung des Bewußtseins für die gesellschaftliche Relevanz der individuellen Entscheidungen über die Kinderzahl;

— Information insbesondere der nachwachsenden Generation über grundlegende demographische Zusammenhänge usw.;

— Hinwirken darauf, daß eine vernünftige Zielvorstellung über Bevölkerungsentwicklung als ein Orientierungsdatum für die individuellen generativen Entscheidungen angesehen wird;

— Anhebung des sozialen Status der Mutterschaft im öffentlichen Bewußtsein;

— Vorbereitung der verheirateten Frau auch auf die Rolle als Mutter und Trägerin von Sozialisationsleistungen.

Bis auf die vorletzte sind alle diese Empfehlungen seit Jahren fester Bestandteil von Programmen der demographischen Bildung (population education) im Rahmen der Entwicklungspolitik in armen Ländern. Dort freilich sollen diese Zielsetzungen eine Verminderung der Fruchtbarkeit bewirken helfen. Die Propagierung „verantwortlicher Elternschaft" und des Zwei-bis Drei-Kinder-Ideals wird möglicherweise auf die Dauer zu einer Senkung des durchschnittlichen Kinderwunsches pro Ehe/Familie beitragen, obgleich die quantitativen Auswirkungen schwer zu erfassen sind. Nicht erklärt ist aber, wie dieselben Empfehlungen unter umgekehrtem Vorzeichen zu einer Steigerung des durchschnittlichen Kinderwunsches beitragen sollen. Soweit die natali-

stische Bevölkerungspolitik vergangener Diktaturen (Italien, Deutschland) überhaupt zu „positiven" Ergebnissen führte, ist fraglich, wieviel davon der Anwendung des oben zitierten Maßnahmenkatalogs zuzurechnen ist. Hermann Schubnell beispielsweise, einer der führenden deutschen Demographen, erklärte in dem Beitrag „Westdeutschland" des erwähnten Berichts „Man ist sich darüber einig, daß Familienpolitik, vor allem Maßnahmen zur wirtschaftlichen Unterstützung, praktisch keinen Einfluß ausübt auf die Entscheidung, wie viele Kinder ein Ehepaar haben will."

Es ist auch schwer zu begreifen, warum das dem Gemeinwesen ohnehin schon mit Steuern, Wehrdienst, Gesetzestreue erheblich verpflichtete Individuum und seine Familie nun auch noch demographische Leistungen erbringen soll. Das mag in ideologisch hoch motivierten Gesellschaftsformen unter erheblichem Druck erreichbar sein, kaum jedoch in freiheitlichen Gesellschaften in Zeiten der Skepsis und Hinterfragung tradierter Verhaltensregeln. Berelson vermerkt daher: „In jedem Fall scheint die Wirksamkeit der , Bevölkerungspolitik’ in den meisten dieser (entwik-kelten, d. V.) Länder nicht sonderlich groß zu sein, was beispielsweise die Ermutigung zu höherer Fruchtbarkeit einerseits oder die Entmutigung der Tendenz zur Verstädterung andererseits anlangt. Und wegen der Erforderlichkeit der Mitarbeit einer sehr großen Zahl von Einzelmenschen können die Zielsetzungen der Bevölkerungspolitik vielleicht nicht sehr präzise verwirklicht werden. Obgleich die Datenbasis nicht sehr solide ist, läßt sich doch im weltweiten Überblick wohl sagen, daß die Entwicklungsländer bei der Senkung ihrer Geburtenraten mehr Erfolg gehabt haben als die entwickelten Länder bei deren Steigerung, oder anders ausgedrückt, daß es leichter ist, Geburtenraten durch politische Maßnahmen zu verringern als zu erhöhen."

Angesichts des starken und anhaltenden Wachstums der Weltbevölkerung und des schier unerschöpflichen Einwanderungspotentials erscheint es kaum möglich, dem Individuum in der Bundesrepublik plausibel zu machen, daß die Steigerung der Fruchtbarkeit der angestammten deutschen Bevölkerung bis zur Erreichung des , Quasi-Nullwachstums'ein erstrebenswertes Ziel sei, dem tunlichst jedermann in der Privatsphäre Rechnung tragen solle.

Was die oben zitierte Empfehlung „Anhebung des sozialen Status der Mutterschaft im öffentlichen Bewußtsein" anlangt, so kann man Max Wingen herzlich zustimmen, was ledige und geschiedene oder verwitwete Mütter betrifft, deren Ansehen sich zwar langsam bessert, aber vom Status der verheirateten Mutter immer noch weit entfernt ist. Hingegen scheint ein staatlich propagierter Kult der verheirateten Mutter — abgesehen vom üblen politischen Beigeschmack aus der Vergangenheit — überflüssig. Er könnte von der Generation junger Frauen als ein Rückfall ins Patriarchat, in die Apartheid der Geschlechter, verstanden werden, der den mühsamen Prozeß der Erziehung der Männer und Väter zu mehr Mitarbeit und Mitverantwortung in der Aufzucht der Kinder nur behindern kann.

Angesichts der faktischen Diskriminierung der Frau in Ausbildung, Beschäftigung und Bezahlung kann die ex-post-Glorifizierung der Nur-Hausfrau/Ehemutter von Staats wegen eher wie Hohn wirken. Kommt der bevölkerungspolitische Drang, aus Staatsräson den Nachwuchs zu vermehren, dazu, so wird das Ansinnen einigermaßen peinlich.

Ist Familienpolitik eine Bevölkerungspolitik?

Interessant an Max Wingens Darstellung ist die implizite Annahme, das demographische Heil liege in einer wie auch immer gearteten Familienpolitik. Gar nicht geprüft wird hingegen die Möglichkeit, daß die herkömmliche Familienidee Ursache des demographischen Dilemmas sein könnte — mit der Konsequenz, daß jede prinzipiell restaurativ orientierte „Familienpolitik" das Übel nur verschlimmern würde. Immerhin finden sich in dem Artikel einige Hinweise auf das zentrale Problem Familie, beispielsweise in der letzten Empfehlung der Rubrik „Sozialpädagogisches Feld", wo es heißt: „Vermittlung einer neuen Sicherheit der Eltern dem Kind gegenüber (als Aufgabe einer systematischen, von einer umfassenden Familienpolitik zu gewährleistenden Elternbildung), d. h. Abbau einer Un-Sicherheit, die aus nicht gelungener Bewältigung von Entwicklungsproblemen der Jugendlichen erwächst und eine zusätzliche Zurückhaltung bei Erwachsenen fördern mag, die Verantwortung für eigene Kinder zu übernehmen." Hier ist die Scheu vor der Verantwortung als möglicherweise wichtigste aller fruchtbarkeitsbeschränkenden Motivationen----bedeutungsvoller als die wirtschaftlichen Gründe, die bei Befragungen so gerne vorgeschützt werden — richtig angesprochen, doch unzureichend begründet.

übersehen wird gerne in der populären Diskussion über die Krise der Institution „Familie", die mit Ausdrücken wie „Entwicklungsprobleme der Jugendlichen" oder „Verantwortung für eigene Kinder" vorsichtig umschrieben wird, daß dem Geschehen demographische Veränderungen von massiver Quantität zugrunde liegem. Nehmen wir beispielsweise an, daß sich im Ablauf weniger Generationen die Lebenserwartung der Erwachsenen von rund 50 auf etwa 75 Jahre verlängert hat, so bedeutet das bei einem mittleren Heiratsalter von 25 eine Verdopplung der gemeinsam von den Ehepartnern verlebten Jahren. Nehmen wir des weiteren an, daß der Rückgang der Sterblichkeit von Kindern und Jugendlichen und die Verlängerung der Ausbildungsdauer von 14 auf 20, 25, ja 30 Jahre zu einer erheblichen Vergrößerung der Zahl der pro Familie verlebten gemeinsamen Eltern/Kind-Jahren geführt hat, so ist der daraus resultierende Streß der familiären Gemeinschaft unmittelbar ersichtlich. (Das obige Zahlenbeispiel ist stark vereinfacht, gibt aber einen brauchbaren Anhaltspunkt.)

Sind beispielsweise gemäß obigem Beispiel die gemeinsamen Elternjahre (EE) von 25 auf 50 gestiegen und — vorsichtig angenommen — die Kinder/Elternjahre (EK) — vom Kinde gezählt — von 15 auf 25, so erhöht sich bei der Familie mit einem Kind die Zahl der gemeinsam verlebten Jahre 2 mal EE + 1 mal EK) von 65 auf 125, also fast das Doppelte.

Dieses einfache Beispiel berücksichtigt jedoch einen wichtigen Faktor nicht, nämlich den Rückgang der exogenen „Zufalls" -Komponente der Sterblichkeit. Der Rückgang der Streuung individueller Lebenslängen um den statistischen Mittelwert beeinflußt sowohl die Dauer der Ehen, die ja durch die Lebenslänge des zuerst sterbenden Partners bestimmt wird, als auch die Zahl der Kind/Elternjahre. Nimmt man an, daß der Anteil der Halbwaisen und Witwer/Witwen von grob geschätzt einem Drittel auf ein Sechstel aller Eltern/Kinder sinkt, so steigt die Nettozahl der gemeinsam verlebten Jahre von 43, 5 auf 103, 5 oder auf 236 Prozent des Anfangswertes.

Bei Mehrkinder-Familien verlängert sich — abgesehen von der Geschwistererfahrung der Kinder miteinander — die Periode der Eltern/Kinderjahre um das Geburtenintervall zwischen ältestem und jüngstem, das Erwachsenenalter erreichende Kind.

Wie auch immer man das Rechenbeispiel wählen mag: Die Tatsache einer außerordentlichen Verlängerung der Zeitperspektive, die sich schrittweise im Ablauf weniger Generationen vollzog, hat Funktion und Inhalt der Familie als gemeinsame Lebensform verändert. Was ursprünglich ein von hoher Sterblichkeit und ökonomischer Unsicherheit diktierter Zweckverband zur gegenseitigen Daseinsgarantie war, ist dieser beiden Motivationen weitgehend entkleidet. Lange gemeinsame Ehejahre und Jahre der Kinder/Elternerfahrung, einst dem Todesroulette abgetrotztes Glück, werden zunehmend als Belastung, ja Sinnentleerung des auf Wandel und vielseitige Erfahrung zunehmend orientierten Daseins empfunden.

So haben Scheidung und Trennung in gewisser Weise den einstigen Frühtod — oft des Mannes im Kriege und der Frau im Kindbett — ersetzt. Trotz großer Liebe und gegenseitiger Beteuerungen sind sich viele Brautpaare heute eben doch insgeheim klar, daß das Gelöbnis auf Ewigkeit nur eines auf Zeit sein mag.

Gleichzeitig fordern aber Sitte und Brauchtum wie ehedem, daß Kinder in heilen Familien aufzuwachsen hätten, besagen, daß getrennte Eltern schlechtere Eltern seien, daß jede Alternative zur herkömmlichen Modell-Dauer-ehe zu Lasten der Kinder gehe. So leben denn Millionen und Abermillionen von Ehepaaren „den Kindern zuliebe" weiter zusammen, belasten deren Kindheit mit ihren Frustrationen, isolieren sich einzeln und gemeinsam von jener Welt, in der ihre Kinder leben zu lernen versuchen, und sind letzlich weder zum Dialog mit ihren Kindern noch mit der Welt — ausgenommen gleichgesimnte isolierte Paare — fähig. Die Einpuppung solcher Eltern im Kokon eines krampfhaft aufrechterhaltenen Familiengehäuses führt zu Schwierigkeiten, die als „Entwicklungsprobleme der Kinder" verkannt werden.

Muß die Ehe doch geschieden werden — oft nach langer Unschlüssigkeit und Jahren psychischer Belastung für die Kinder —, so tritt in der Regel Schuldgefühl gegenüber den Kindern an die Stelle ehemaliger elterlicher Überheblichkeit. Dieses Schuldgefühl er-Schwert erneut den Dialog mit den Kindern und erhöht deren durch die verschleppte Scheidung erzeugte Unsicherheit.

Leider werden die durch das gesellschaftskonforme, aber unvernünftige Elternverhalten erzeugten Kinder-und Jugendprobleme als Ergebnis von „Familienzerrüttung" verbucht — als ob „Familie" im herkömmlichen Sinne richtig, „Zerrüttung" aber falsch wäre —, anstatt zu erkennen, daß es die traditionelle Familienidee an sich ist, die den demographischen und anderweitigen Bedingungen unseres Lebens nicht mehr entspricht und mit steigender Wahrscheinlichkeit „Zerrüttung" gebiert, samt einer Reihe anderer gesellschaftlicher Mißstände, die hier nicht zur Diskussion stehen.

Abschließend wäre festzuhalten, daß Max Wingens Aufsatz, von den hier erörterten Vorschlägen abgesehen, eine Reihe, im demographischen Sinne sehr nützlicher Empfehlungen gegeben hat, die im Rahmen einer gründlichen, die ganze Gesellschaft erfassenden Reform der Familienidee ihre positive demographische Wirkung entfalten könnten.

Bezweifelt wird jedoch, daß eine im Prinzip restaurative Familienpolitik mit einer natali-stischen Bevölkerungspolitik vereinbar sei. Entweder das eine — und eine auf lange Sicht schrumpfende Bevölkerung — oder das andere; entscheident ist, wo die Priorität liegt. Man sollte aber erkennen, daß herkömmliche Familienpolitik kein Weg zu einer Steigerung der gewünschten Fruchtbarkeit sein kann.

Die Familie als demographisches Phänomen

Aus dem demographischen Blickwinkel betrachtet ist ja die Familie, die auf der legal und religiös sanktionierten Einehe beruht, nicht anders als eine der vielen fruchtbarkeitshemmenden Regeln und Maßnahmen, die der Mensch seit prähistorischer Zeit ersonnen hat, um eine die Existenz des Gemeinwesens (Sippe, Stamm, Volk) gefährdende übermäßige Bevölkerungsvermehrung zu verhindern und gleichzeitig den mit dem Vorzugsrecht der Fortpflanzung bedachten Wenigen, nämlich den Verheirateten, die zur Sicherung besserer Kinderqualität (Ernährung, Ausbildung) erforderlichen wirtschaftlichen Vorteile zu verschaffen. Dieser Aspekt ist deutlich in der steuer-und sozialpolitischen Bevorzugung von Verheirateten als offiziell anerkanntem „Fortpflanzungsstand" zu erkennen. Demographisch betrachtet verzichtet also eine Gesellschaft, die die Kleinfamilie kultiviert, auf einen erheblichen Teil ihrer möglichen Fruchtbarkeit, indem sie nicht oder nicht mehr verheiratete oder „unglücklich" verheiratete Erwachsene — also großteils potentielle Eltern — diskriminiert, sie gewissermaßen sozial „sterilisiert". An dieser fundamentalen Tatsache ändern auch punktuelle Erfolge traditioneller „Bevölkerungspolitik", wie in der DDR praktiziert, nichts. Ein Hinaufschnellen der (ehelichen) Geburtenziffern nach Einführung massiver Vergünstigungen sagt noch nichts über eine Änderung des durchschnittlichen Kinderwunsches pro Familie aus. Nach bisheriger Erfahrung ist eher anzunehmen, daß Mangel an Vertrauen in die Beständigkeit solcher Vergünstigungen viele Eheleute animiert, ohnehin erwünschte weitere oder erste Geburten zeitlich vorwegzunehmen, um sich den Vorteil beizeiten zu sichern. Am demographischen Endergebnis braucht sich deswegen nichts zu ändern.

Langfristig gesehen ist es für ein Land wie die Bundesrepublik sehr viel billiger und erfolgversprechender, den traditionellen „familienpolitischen" Ansatz fallen zu lassen und statt dessen jene brachgelegte Fortpflanzungsreserve zu erschließen, die aus den nichtverheirateten, nicht mehr verheirateten und „un-

glücklich" verheirateten Erwachsenen im Reproduktionsalter besteht, möglicherweise gar die Mehrheit aller solcher Erwachsenen.

Diese Erschließung erfordert freilich einen erheblichen Wandel sozialer Einstellungen, der ohne eine massive öffentliche Diskussion kaum erreicht werden kann, bedeutet er doch eine Abkehr von vergangener politischer Praxis.

Aus anderer Perspektive betrachtet ist eine „Entkrampfung" des Verhältnisses zum Kind erforderlich, wenn die Fruchtbarkeit nachhaltig gefördert werden soll. Die Freiheit, Kinder in Freude, mit gesellschaftlicher Billigung und einem Minimum an sozialer Sicherung zu bekommen, darf nicht mehr als Privileg eines „Fortpflanzungsbestandes" bleiben, sondern sollte ein selbstverständliches Recht aller Erwachsenen sein, unbeschadet ihres Zivilstands und ihrer Steuerklasse. Dies wäre gleichbedeutend mit der Anerkennung der Mündigkeit des erwachsenen Bürgers, nämlich seiner (ihrer) Fähigkeit, Kinder ohne seelische und andere Schäden auch außerhalb des legalen Instituts „Ehe" und notfalls allein aufzuziehen. Bis zu dieser Anerkennung ist es freilich ein weiter Weg, solange Schule, Kirchen, Staat, Kultur — und damit Nachbarschaft und eigene Verwandte — in der Ehe das einzig wahre Fortpflanzungsinstitut erblicken und verkünden. Denn es ist diese Überhöhung des Klein-familien-Klischees, das Kindern, die nicht in solchen Familien leben, Trauma und teilweise auch Isolierung bedeutet, was wiederum auf Vater und Mutter Druck ausübt.

Man darf freilich erwarten, daß jede Bemühung um Liberalisierung der Elternschaft erhebliche Widerstände auf den Plan ruft. Nicht jeder Vorschlag, der in Sachen „Bevölkerungspolitik" vorgetragen wird, ist wirklich von der Sorge um den künftigen Bevölkerungsbestand getragen: oft dient die bevölkerungspolitische Diskussion und die daraus mitunter resultierende Bevölkerungspolitik nur als willkommenes Vehikel für die Erreichung anderer Zielsetzungen. In den USA wird derzeit an einer Studie gearbeitet, die diesen Zusammenhängen anhand von Fallstudien nachgeht. Bei Versuchen zur Erklärung des Fruchtbarkeitsrückganges in der Bundesrepublik treten gewöhnlich zwei Problemkomplexe in den Vordergrund: die Kosten der Kinderaufzucht und der Zeitmangel außer Hause beschäftigter Mütter. Beide Probleme stellen sich natürlich erst recht, wenn der Gedanke an Liberalisierung der Elternschaft diskutiert wird.

Die Verfechter einer auf massive wirtschaftliche Subventionierung des „Fortpflanzungsstandes" ausgerichteten Familienpolitik übersehen gewöhnlich zwei wichtige Aspekte: Zum einen die jetzt schon viel kritisierte (vor allem steuerliche) Diskriminierung der Nicht-begünstigten und zum anderen die Gefahr der Negativwirkung einer Ubersubventionierung: Es kann sich in der Bevölkerung die Überzeugung herausbilden, daß Kinder weniger ein einzelmenschliches als viel mehr ein staatliches Anliegen sind und es daher nicht im Interesse des Individuums liegt, sich allzusehr um die eigene Fortpflanzung zu bemühen.

Als Indiz für die Wirksamkeit eines solchen Paradoxons kann man beispielsweise den Fall Italien zwischen den beiden Weltkriegen anführen: Wie Livi-Bacci erläutert ist trotz der extrem natalistischen Politik des Faschismus die durchschnittliche Familien-Endgrö-ße in Italien bei den zwischen dem Ende der Zwanziger Jahre und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges verheirateten Paaren kontinuirlich gesunken. Man könne allenfalls vermuten, daß die Maßnahmen den Zeitpunkt der Geburten beeinflußt haben.

Anhänger der Subventionsidee („Müttergehalt" u. a. m.) weisen gewöhnlich auf die soziale Statuseinbuße hin, die Eltern mit mehreren Kindern in entwickelten Ländern wie der Bundesrepublik im Vergleich zu kleineren Familien hinzunehmen hätten. Auch Max Wingen („Sozio-ökonomisches Feld") empfiehlt verschiedene direkte und indirekte Subventionen, die freilich im Vergleich mit anderen Äußerungen zu diesem Thema durchaus maßvoll klingen.

Es lohnt sich, einige grundsätzliche Überlegungen zum Thema „Subventionen" anzustellen und den Kern des sozialpolitischen Anliegens vom bevölkerungspolitischen Ansatz zu trennen.

Noch wird eine beachtliche Zahl von Kindern in deutschen Landen geboren, die beweist, daß der Wunsch nach Fortpflanzung und dem Erlebnis des eigenen Kindes unverändert eine starke menschliche Triebfeder ist, für die Eltern Konsumkraftverzicht, Unbeweglichkeit und, wie schon dargelegt, oft sogar eine fragwürdige Ehegemeinschaft für lange Jahre auf sich nehmen. Was die ersten beiden Opfer anlangt, so ist der „trade-off" von Kaufkraft und Mobilität gegen Freude am Kind ökonomisch richtig, und kein übereifriger Bevölkerungspolitiker sollte daran rühren. Was natürlich nicht heißt, daß Eltern von sozialen Härten betroffen werden dürften. Hier ist der erwähnte sozialpolitische Ansatz fraglos berechtigt, doch sollte er konsequenter gehandhabt werden, nämlich zugunsten der Meistbetroffenen unter den Eltern, und zwar den ökonomisch alleinstehenden Elternteilen, die — aus welchen Gründen auch immer — nicht verheiratet sind und keine oder nicht ausreichende Alimente vom anderen Elternteil, falls lebend und bekannt, erhalten. Ohne Ansehen des Geschlechts muß vor allem den ökonomisch alleinstehenden Müttern und Vätern geholfen werden, gleichgültig, ob ihre Kinder ehelich oder außerehelich sind, wobei das Ziel die wirtschaftliche Gleichstellung mit verheirateten Eltern sein sollte, wenn man die Sonderlasten, die den alleinstehenden Elternteil treffen, in Ansatz bringt.

Dieser soziale Ausgleich würde auch helfen, die Existenzangst potentiell kinderreicher Eltern zu vermindern, die sich das Kind (n + 1) weil das dann Nr. versagen, sie für vielleicht schon fortgeschrittene Alter des wichtigeren oder einzigen Einkommensbeziehers der Familie die Ablebens-oder Invaliditätsgefahr fürchten, die bei mehr als (n) Kindern für den übrigbleibenden Elternteil trotz möglicher Versicherungen und Besitztitel den Sturz in wirtschaftliche Nöte bedeuten würde. Grundsätzlich zeigt ja ein Blick in die Geburtenordnung der Bundesrepublik, daß es weniger an Erstgeborenen als an zweiten, dritten Kindern mangelt. Und da bekanntlich das größte wirtschaftliche und mobilitätsmäßige Opfer für das erste Kind erbracht wird, die weiteren aber „billiger" zu stehen kommen, geht die Annahme, die Bürger der Bundesrepublik seien schlechthin „kindesmüde", in diesem Sinne am Problem vorbei. Im Gegenteil: Da Kinderfragen in den sechziger und siebziger Jahren Modethemen der Öffentlichkeit geworden sind, eine üppig sprießende Er-ziehungs-, Kinder-und Elternhilfeliteratur sich ausbreitete, Schulen und Kindergärten um-gemodelt wurden, die Kinderpflege-und Unterhaltungsindustrie für ein Übermaß der Versorgung der Kinder mit Medizinen, Spielzeug, Sport, Reisen, Spezialmode, Speziallektüre usw. sorgte, da also alles Erreichbare getan wurde, um die „Kinderdaseinsqualität" zu steigern, verwundert es nicht, daß die Kinder-kosten entsprechend in die Höhe geschnellt sind. ökonomisch gesehen ist man versucht zu sagen, daß das Problem „zu wenige und zu teure Kinder" lautet. Es kann hier nicht auf die Gründe eingegangen werden, die zu der rapiden „Verteuerung" deutscher Kinder führten;

es sei nur festgehalten, daß psychologische und sozialpolitische Maßnahmen, die potentiellen und wirklichen Eltern helfen, weniger Geld gezielter für ihre Kinder auszugeben, ökonomisches und psychologisches Potential für weitere Kinder, namentlich solche höherer Geburtenordnung, freisetzen könnten. Der Augenschein allein bezeugt schon deutlich, daß die Bundesrepublik im Rahmen des bisherigen familiären Aufwands für Kinder mit wenigen, aber gezielten sozialpolitischen Maßnahmen durchaus in der Lage wäre, jene Mehrzahl an Kindern aufzuziehen, die für ein langfristiges Quasi-Gleichgewicht der Bevölkerungsgröße erforderlich ist. Entgegen populärer Aussage sind die allgemeinen Bedingungen durchaus günstig: Selten hat das Land eine längere Periode von Frieden und Entwicklung erfahren, selten manifestierte sich das Vertrauen in die Zukunft stärker in einer Sparneigung der Deutschen, die mitunter die Wirtschaftspolitiker zur Verzweiflung treibt. Durch die Verhäuselung weiter Landstriche entstand mehr Wohnraum denn je; die Schulen sind besser und freundlicher als früher; die Haushalte sind weitgehend mechanisiert. Wo also liegt das Problem?

Die demographische Relevanz des Zeitproblems

Das Hauptproblem der unzureichenden Fruchtbarkeit liegt wohl in erster Linie im Zeitmangel wirklicher oder prospektiver Eltern begründet. Die neue Hauswirtschaftstheorie des Fruchtbarkeitsverhaltens, die ihren Ursprung an der Universität Chicago nahm hat für diese Zusammenhänge das geeignete analytische Werkzeug entwickelt. Wesentlich ist dabei die Untersuchung, wie eine Familie — oder ein Haushalt — nicht nur das Einkommen in Form von Gütern und Dienstleistungen, sondern auch die zur Verfügung stehende und nicht vom Einkommenserwerb absorbierte Zeit verwendet. Dabei wird ein Zusammenhang zwischen dem Zeitpreis außer Haus, beispielsweise dem herrschenden Stundenlohn, und dem Wert (Schattenpreis) der innerhalb des Haushalts verbrachten übrigen Zeit gesucht. Gronau vermutet beispielsweise 7), daß der Wert oder Schattenpreis einer Stunde Hausfrauenzeit in den USA bei ei-* nem Zehntel des Stundenlohns für Frauenarbeit außer Haus liegen dürfte. Darin drückt sich die (überraschend niedrige) subjektive Wertschätzung, die Hausfrauen ihrer Arbeit beimessen, aus — wobei sich die Unabhängigkeit und relative Dispositionsfreiheit der Hausfrau im Vergleich etwa zur Industriearbeiterin mindernd auf den Schattenpreis der Hausfrau auswirkt. Steigt der Stundenlohn außer Haus auf mehr als das Zehnfache an, so wechseln Hausfrauen in die Berufsarbeit; sinkt der Stundenlohn unter das Zehnfache des Schattenpreises, so geben berufstätige Frauen ihre Arbeit auf und widmen sich lieber ihrem Haushalt.

Aufzucht von Kindern ist eine Möglichkeit der familiären Zeitverwendung in Konkurrenz mit vielen anderen solchen Möglichkeiten. Da Kinder vor allem bis zum dritten Lebensjahr äußerst zeitintensiv sind, bewirkt ein sinkender Schattenpreis der Hausfrauenzeit — wie er in vielen armen Ländern als Folge der „Entwicklung" beobachtet werden kann—, daß die „Nachfrage" der Familien nach Kindern steigt, die gewünschte Fruchtbarkeit also zunimmt. In reichen Ländern hingegen dürfte eine steigende Wertschätzung der Hausfrauenzeit, etwa im Gefolge steigender Stundenlöhne außerhalb des Haushalts, die relative „Nachfrage" der Familie nach Kindern vermindern, den Familiengrößenwunsch also reduzieren. Gleichzeitig ist es aber möglich, daß der weniger zeitintensive Aspekt der Kinderqualität im Vergleich zur Kinderzahl (Quantität) wird: weniger, aber favorisiert besser Kinder gleichbedeutend sind mit Zeit — und weniger mehr Sachaufwand, wobei letzterer einer verbesserten Einkommenslage entspricht.

An dieser Stelle ist es nun interessant, den in verschiedener Form — auch bei Max Wingen angedeuteten — vorgetragenen Vorschlag zur Zahlung eines Mütter-oder Hausfrauengehalts (dem neuen Familienrecht schon immanent) durch Ehemann und/oder Staat zu prüfen. Das Gehalt würde wahrscheinlich den Schattenpreis der Hausfrauenzeit — der damit erstmals ein realer „Preis" in Form eines Gehalts würde — erheblich steigern. Der Zeitaufwand für Kinder würde damit in monetär meßbarer Form ins Bewußtsein der Familie rücken. Durch das Gehalt würden wahrscheinlich viele berufstätige Frauen bewogen werden, ihre Beschäftigung außer Haus zugunsten des Haushalts aufzugeben, womit sich die potentielle „Nachfrage" nach Kindern erhöht. Andererseits könnte das zunehmende Bewußtsein eines steigenden Schatten-preises der Hausfrauenzeit die „Nachfrage" nach Kindern im Rahmen des einzelhaushalt-liehen Zeitbudgets zugunsten weniger zeitintensiver Substitute weiter vermindern; es ist also keineswegs sicher, daß die Einführung eines wie auch immer gearteten „Müttergehalts" die gewünschte Fruchtbarkeit insgesamt heben würde.

Diese Überlegungen, der Einfachheit halber am Beispiel der Hausfrau/Mutter angestellt, gelten in ähnlicher Form natürlich auch für den Hausmann/Vater, der freilich gemeinhin mehr Erfahrung im Denken in Zeitpreiskategorien hat und daher oft ein energischer Verfechter der Haushalts-Rationalisierung ist.

Verbleibt nun die Frage, welche Möglichkeiten eines bevölkerungspolitischen Einwirkens auf die haushaltliche Zeit-/Verwendungs-struktur (time allocation) bestehen. Nachdem, wie sich in Zusammenhang mit dem „Müttergehalt" bereits zeigte, jeder Versuch der Einflußnahme auf den Schattenpreis der Hausfrauenzeit die Tendenz hat, diesen zu steigern, muß der Ansatz wohl auf der Verwendungsseite der Zeitgleichung, nämlich beim Zeitaufwand (Zeitkosten), gesucht werden. Dies kann am sichersten direkt beim Zeitaufwand für Kinder geschehen.

Dieser Zeitaufwand läßt sich prinzipiell durch vielerlei Maßnahmen senken: 1. Verstärkte Mitarbeit anderen des Partners, soweit vorhanden, bei der Kinderaufzucht; verstärkte Mitarbeit in anderen „Haushaltsproduktionen" würde hingegen die haushaltliche Präferenzstruktur der Zeitverwendung nicht notwendigerweise zugunsten einer verstärkten Nachfrage nach Kindern beeinflussen; 2. Absorption eines größeren Teils des kindlichen Zeitbedarfs durch gemeinschaftliche Leistungen der Elternselbsthilfe auf Gegenseitigkeit, der staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen;

3. Minderung und Rationalisierung des eigenen (mütterlichen, väterlichen) Zeitaufwands; 4. beschleunigte Verselbständigung der Kinder durch besondere Ausbildungsprogramme und flankierende Sicherungsmaßnahmen.

Die Punkte 2 und 4 bieten Möglichkeiten des direkten Ansatzes im öffentlichen Bereich, vor allem im Umkreis von Schule und Kindergarten.

Es kann hier nicht auf die Vielzahl praktischer Möglichkeiten eingegangen werden. Als Hinweis mag genügen, daß andere Länder mit Erfolg die Ganztagsschule praktizieren; die Einführung der Ganztagsschule bei freiem Samstag mitsamt Schul-Mittagessen, Sport, Spiel, Kultur und Unterhaltung am Nachmittag und einem funktionierenden Schulbus-system würde das Hauptproblem berufstätiger Eltern weitgehend lösen. Kommunale und privat organisierte Ferienlager und -aufenthalte und ein durchentwickeltes Kindergartensystem mit Elterninitiativen wären weitere Meilensteine zur Lösung des Zeitproblems. Punkt 4, nämlich die Förderung und Entwicklung der Eigeninitiative der Kinder ab spätestens dem 10. Lebensjahr in der gemeinsamen Freizeitgestaltung, könnte helfen, Kinder aus häuslicher und nachbarschaftlicher Isolation herauszuführen, Interesse und Mobilität zu wecken, ohne negative „Schlüsselkind" -Aspek-te befürchten zu müssen.

Abschließend läßt sich festhalten, daß es wohl durchaus konkrete Ansatzpunkte für eine natalistische Bevölkerungspolitik gibt, doch liegen sie möglicherweise auf ganz anderen Gebieten, als bislang vermutet wurde. Die Empirie allein führt nicht sehr weit: Die Fehlschläge der Bevölkerungspolitik herkömmlichen Zuschnitts unterstreichen die Notwendigkeit einer sorgfältigen Analyse der Zusammenhänge als Vorbedingung für politische Eingriffe.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Population Policy in Developed Countries, hrsg. v. Bernard Berelson, Population Council, New York 1974, S. 788.

  2. Population Policy in Developed Countries, a. a. O., Kapitel „West Germany“.

  3. Ebenda, S. 692.

  4. Ebenda, S. 788.

  5. Massimo Livi-Bacci, „Italy“, ebenda, S. 658.

  6. Heinrich v. Loesch, Stehplatz für Milliarden? Das Problem Überbevölkerung, dtv 1198, S. 182 ff. ’) Reuben Gronau, The effect of children on the housewife's value of time, in: Economics of the Family, hrsg. von T. W. Schultz, Chicago 1974, S. 464, Fußnote 8.

Weitere Inhalte

Heinrich von Loesch, Dr. oec. publ., Diplom-Volkswirt, geb. 1934 in Berlin; Studium der Volkswirtschaftslehre in Tübingen, Zürich, Kairo und München mit Spezialgebiet Bevölkerungslehre und Nahrungsökonomie; seit 1959 freier Publizist für Auslands-wirtschaft und Entwicklung; seit 1970 Leiter des deutschsprachigen Informationswesens der Ernährungsund Landwirtschaftsorganisation FAO der Vereinten Nationen, Rom. Veröffentlichungen: . Ägypten', in: Entwicklungsländer. Eine Einführung in ihre Probleme, hrsg. von Burghard Freudenfeld, München 1961; Ernährung und Bevölkerung in der Entwicklung der ägyptischen Wirtschaft. Eine Untersuchung gegenwärtiger Bedingungen des wirtschaftlichen Wachstums Ägyptens, München 1966 (Manuskriptdruck); The Capillarity Process. The motivations and determinants of population growth can no longer be ignored. Ceres, FAO Review on Development, 41/1974; Stehplatz für Milliarden? Das Problem Übervölkerung, hrsg. von Henrich v. Nussbaum, Stuttgart 1974 (revidierte und erweiterte Taschenausgabe: dtv München 1977).