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Bevölkerungpolitik als Gesellschaftspolitik. Eine Replik | APuZ 21/1978 | bpb.de

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APuZ 21/1978 Artikel 1 Bevölkerungspolitik in der Bundesrepublik -eine neue gesellschaftspolitische Aufgabe? Familienpolitik — Bevölkerungspolitik. Eine Stellungnahme zum Aufsatz von Max Wingen in B 52/77 Bevölkerungpolitik als Gesellschaftspolitik. Eine Replik

Bevölkerungpolitik als Gesellschaftspolitik. Eine Replik

Max Wingen

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Im Hinblick auf die Beiträge von W. R. Leenen und H. von Loesch, mit denen die an dieser Stelle eingeleitete Diskussion um Geburtenrückgang und Bevölkerungspolitik (B 52/77) weitergeführt wird, enthält der abschließende Beitrag des Verfassers noch einige zusammenfassende Thesen. Bei nicht wenigen Übereinstimmungen mit den anderen Beiträgen wird jedoch in mehreren Punkten — in kritischer Auseinandersetzung — die eigene Position des Verfassers deutlich und näher begründet. Im einzelnen wird eingegangen auf 1. das Argument der „klassischen Rationalitätsfallen", 2. die Frage der Diskrepanz zwischen der individuellen und gesellschaftlichen Rationalität im Hinblick auf das generative Verhalten, 3.den Inhalt dessen, was „stabiles Nullwachstum" wirklich meint, 4. die Zuordnung einer Bevölkerungspolitik und einer Familienpolitik sowie 5. das Problem der Möglichkeiten und Grenzen zieladäquaten politischen Handelns. Das gegenwärtige Fruchtbarkeitsniveau im eigenen Lande muß nicht der notwendige Preis sein für eine „zunehmende Freiheitlichkeit" in einer hochentwickelten Industriegesellschaft.

Zunächst einmal ist die Weiterführung der Diskussion an dieser Stelle und — wie vor allem der Beitrag von W. R. Leenen zeigt — in so versachlichter Form zu begrüßen. Die Dringlichkeit einer Auseinandersetzung mit den neuen Problemen, die die jüngste demographische Entwicklung in den westeuropäischen Industriegesellschaften mit sich bringt, ist heute nicht mehr zu verkennen. Diese neuen Entwicklungstendenzen lassen sich keineswegs mehr einfach unter das zumindest in der Fachwelt vertraute Schema des sogenannten „demographischen Übergangs" einordnen. Dieses von Anfang an historisch-rückblickend angelegte Schema, das kaum eine längerfristige zukunftsgerichtete Betrachtung ermöglicht, muß sich darauf befragen lassen, was es wirklich an Erklärungen hergibt und zur Orientierung eines auch demographisch akzentuierten gesellschaftspolitischen Handelns zu leisten vermag. Hinsichtlich der Bedeutung der neuen Fragestellungen besteht offensichtlich große Übereinstimmung mit Leenen, der deutlicher vielleicht noch als dem -— in vor liegenden Beitrag — an anderer Stelle

1. die Bedeutung der Anpassungsprobleme angesichts der „demographischen Wellen" herausstellt und feststellt, damit werde die Steuerungskapazität des politischen Systems einer ernsthaften Belastungsprobe unterzogen, darauf aufmerksam macht, daß die „demographischen Wellen" auf lange Sicht in ihren Überlagerungen zu sehen sind, so daß hier ein „Selbstverstärkungseffekt in der demographischen Entwicklung" bedacht werden müsse, und schließlich 3. in einer zusammenfassenden Beurteilung der Bevölkerungsentwicklung auf kurze und mittlere Sicht die Chancen, auf lange Sicht die Risiken überwiegen sieht und den damit verbundenen politischen Problemgehalt darin zu erkennen glaubt, „daß es sich gerade bei den abträglichen Folgen um Langfristprobleme ohne akuten Handlungsdruck handelt und die auf mittlere Sicht sich einstellenden Vor-teile zudem eine Politik des laissez-faire’ nahelegen, die wegen der sogenannten Trägheit demographischer Prozesse spezifische Gefahren birgt: Einmal vollzogene Entwicklungen sind irreversibel, in ihrer Wirkung auf den Bevölkerungsbaum wiederum nur langfristig korrigierbar und noch nach Generationen in der Gestalt demographischer Wellen spürbar."

Damit werden Zusammenhänge bezeichnet, die in der einschlägigen Diskussion der letzten Jahre zunehmend gesehen und betont worden Hierzu zuletzt sind. kann nicht auf die Feststellung der Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage zur langfristigen Bevölkerungsentwicklung verwiesen werden (BT-Drucks. 8/680), in der zu den Anpassungsproblemen in zahlreichen gesellschaftlichen Bereichen, wie sie durch die auf Grund eines starken Geburtenrückgangs hervorgerufenen „Verzerrungen" des Altersaufbaues bedingt sind, festgestellt wird, sie seien um so größer, je mehr Geburtsjahrgänge durch -ei nen längeren Zeitraum vergleichsweise schwach besetzt sind. Die grundsätzlich anzustrebende möglichst große Stetigkeit in der Geburtenentwicklung kann danach durch eine Fortentwicklung der familien-und kindbezogenen Gesellschaftspolitik begünstigt werden. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang die Bemerkung: „Soweit die Fortentwicklung dieser Politik auf materiell-wirtschaftliche Ressourcen angewiesen ist, ist die Lage in den nächsten Jahren aus demographischer Sicht günstiger zu beurteilen als in der weiteren Zukunft."

In dem begrenzten Rahmen des zur Anregung der Diskussion gedachten, in seinem Kern als Vortrag angelegten eigenen Beitrags an dieser Stelle (B 52/77) konnten wichtige Problemzusammenhänge, insbesondere soweit sie methodologische Aspekte betreffen, allenfalls angedeutet werden. Auf weiterführende Arbeiten — auch zu den nachfolgenden Bemerkungen — kann hier nur verwiesen werden 2). Mehr thesenförmig ist im Blick auf die vorgelegten Argumentationsstränge von W. R. Lee-nen und H. von Loesch folgendes festzuhalten: 1. „Klassische Rationalitätsfallen"

Es erscheint nützlich, daß Leenen einleitend nochmals auf einige „klassische Rationalitätsfallen" aufmerksam macht: insbesondere auf die das Problem zu sehr vereinfachende Trennung des politischen Handlungsfeldes in einen normativen Bereich der Zwecke bzw. Ziele und einen scheinbar neutralen Bereich der Mittel sowie zum anderen auf die Vernachlässigung der Anwendungsproblematik. Schon in der eigenen Arbeit des Verf. über „Grundfragen der Bevölkerungspolitik" sind ausdrücklich Zweifel angemeldet worden gegenüber einer durchgängigen Trennung in eine bevölkerungspolitische Zielplanung einerseits und eine Mittelplanung andererseits, die im Grunde dem Problemstand nicht angemessen sei. Dazu ist (im Anschluß an K. M. Bolte) festgehalten, daß „weniger noch als auf irgendeinem anderen Gebiete der Wirtschaftsund Sozialpolitik in der Bevölkerungspolitik ein einfaches Zweck-Mittel-Schema anwendbar ist, weil es keine Mittel gibt, die in einer wertfreien Sphäre gehalten werden können". Von daher hat der Verf.seine Präferenz einem Verfahren gegeben, bei dem die Entscheidungen „zwischen alternativen Ziel-Mittel-Relationen im Sinne von . Handlungsalternativen' zu suchen sind".

Wie wichtig es darüber hinaus ist, die Anwendungsproblematik rechtzeitig mit zu bedenken, ist in diesem Zusammenhang dadurch unterstrichen worden, daß unter den im einzelnen entwickelten Kriterien für die Gewinnung einer quantitativ-bevölkerungspolitischen Zielfunktion (neben z. B.der Konformität mit gesellschaftspolitischen Grundzielen und der Vertretbarkeit der Auswirkungen der angestrebten Bevölkerungsentwicklung auf die verschiedenen Politikbereiche) die Realisierbarkeit des Zieles aufgeführt ist; es bedarf nicht nur der Klarheit über die Auswirkungen der Zielsetzung, sondern auch darüber, ob und mit welchen Mitteln sie verwirklicht werden kann: „Der angestrebte Effekt muß mit den vorhandenen Mitteln und zugänglichen politischen Maßnahmen (in Übereinstimmung mit den gesellschaftsethischen Grund-normen) erreichbar sein, wenn die Zielsetzung für die praktische Politik wirklich relevant sein soll." Auf die ausführlichere Darstellung der damit sichtbar werdenden Aufgabe, aus einer Verknüpfung der verschiedenen (über den Aspekt einer reinen Zielbestimmung hinausgehenden und auf die enge Wechselbeziehung zu dem einem Ziel zugeordneten Mitteleinsatz abstellenden) Kriterien schrittweise zu einer konkreten Ziel-Mittel-Alternative zu gelangen, muß hier verwiesen werden. Wenn Leenen selbst übrigens ausführt, das bevölkerungspolitisch Wünschenswerte sei nicht unabhängig vom instrumentell Machbaren bestimmbar et vice versa, so heißt das aber doch, daß auch das instrumentell Machbare nicht unabhängig von dem bevölkerungspolitisch Wünschenswerten bestimmbar ist. Auf den Prozeß der Zielfindung und -bestimmung kann daher auch in dieser Sicht letztlich nicht verzichtet werden. 2. Wirklich eine „Rationalitätslücke"? Ein Denkmuster kann darin bestehen, daß das generative Verhalten der einzelnen Paare nicht zu einer gesamtgesellschaftlich erwünschten Reproduktionsrate führt und damit die — wie auch immer im einzelnen definierte — gesellschaftliche Wohlfahrt tangiert wird. Leenen greift eine solche Sichtweise durchaus auf und sieht mehrere plausible Argumente für die Möglichkeit einer solchen Diskrepanz. Diese „Rationalitätslücke" könnte seiner Meinung nach sogar dauerhafter Natur sein.

Der Nachweis einer auch faktisch vorliegenden Diskrepanz hängt nun in der Tat maßgeblich gerade auch von sorgfältigen und umfassenden Wirkungsanalysen ab /wozu es freilich wohl doch einiges mehr gibt, als der Leser des Beitrags von Leenen annehmen könnte) An dieser Stelle mag zu dieser komple-xen Fragestellung (zu der sicherlich auch die Notwendigkeit einer Einigung über die Gesamtbewertung der Auswirkungen gehört) der Hinweis genügen, daß ein Fruchtbarkeitsniveau, das — wie gegenwärtig in der deutschen Bevölkerung — mehr als 35 Prozent unterhalb des Niveaus liegt, das langfristig für eine stationäre Bevölkerung (also unter Verzicht auf jeglichen Wachstumseffekt) erforderlich wäre, von seinen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen (Zuwanderungsproblematik!) Auswirkungen her wenig vertretbar erscheint. Man könnte — gerade im Blick auf eine sogar notwendige großräumigere europäische Betrachtung — einen leichten Schrumpfungsprozeß speziell der deutschen Bevölkerung für diskutabel halten, nicht zuletzt angesichts gewisser Wachstumseffekte in anderen Regionen (oder bewußt politisch als erwünscht angesehener leichter Wachstumsraten wie in Frankreich) Es kann sich dabei aber immer nur um einen sehr behutsamen . Gleitflug’ über viele Jahrzehnte handeln, nicht aber um einen . Sturzflug'von dem Ausmaß, wie ihn die vorliegenden (von ganz bestimmten aus der Gegenwart abgeleiteten Prämissen ausgehenden) Bevölkerungsvorausrechnungsmodelle für die Zeit nach der Jahrhundertwende bei Fortdauer dieser Prämissen ausweisen (siehe auch den Hinweis von Leenen an anderer Stelle auf den „Selbstverstärkungseffekt in der demographischen Entwicklung"). Aber auch für eine größere Region in Mittel-und Westeuropa könnte, wenn man gewisse Abstriche von einem stabilen Nullwachstum meint hinnehmen zu sollen, eine Entwicklung, wie sie aufgrund des gegenwärtigen deutschen Fruchtbarkeitsniveaus vorprogrammiert ist, nicht als erstrebenswert angesehen werden. Ent-scheidend ist auch dann der Grad eines Schrumpfungsprozesses (wie auch die möglichste Stetigkeit der Entwicklung). Soviel wissen wir eben doch bei allen Wissenslücken über die wohlfahrtsrelevanten alternativen demographischen Entwicklungen. Von daher müssen sich ja gerade auch so erhebliche Vorbehalte gegenüber einer Position ergeben, wie sie H. von Loesch in seinem Buch „Stehplatz für Milliarden" unter dem Motto „es schrumpft sich leicht" einnimmt und dazu ohne nähere Quantifizierung feststellt, Bevölkerungsschrumpfung sei „weder schmerzlich zu erreichen noch wirke sie — einmal erreicht — wirtschaftlich oder in sonstiger Weise nachteilig", sodann auf diesem Hintergrund ein „Einkindsystem als neue Norm, als neues Ideal moderner Menschen" vorstellt. Daß dies nicht ernsthaft eine Orientierungshilfe für praktische Politik sein kann, hat der Verf. schon früher unmißverständlich festgehalten

Die Annäherung an ein stabiles Nullwachstum wird sicherlich noch der weiteren theoretischen Absicherung bedürfen. Auf der Suche nach einer vertretbaren Zielsetzung mehren sich freilich in der bevölkerungswissenschaftlichen Diskussion in jüngerer Zeit die Stimmen, die in dieser Richtung gerade unter den Wirkungsaspekten eine bessere Alternative gegenüber dem erblicken, was sich in der Bundesrepublik abzeichnet. Dieser Diskussionsstand wurde gleichfalls an anderer Stelle eingehend aufgearbeitet Die praktische Politik folgt hier bisher noch etwas zögernd — und mit Recht eine unkritische „Wissenschaftsgläubigkeit" ablehnend; dafür sind zu viele Wertentscheidungen im Spiel. Immerhin kann festgehalten werden, daß die demographische Gesamtbelastungsquote in unserer Gesellschaft (d. h. die Belastung der aktiv-erwerbsfähigen Generation durch die beiden inaktiven jungen und alten Generationen) bei einer Bevölkerungsentwicklung nahe dem Nullwachstum bzw. nur sehr leicht darunter zu ihrer Minimierung tendiert (was auch die Frage der sozialen Gerechtigkeit im Generationen-ablauf bzw.der gerechten intergenerativen Verteilung berührt, die Leenen recht deutlich anspricht). Im vorparlamentarischen Raum hat sich übrigens jüngst die Kammer der EKD für soziale Ordnung in ihrer Stellungnahme „Bevölkerungspolitik und Rentenlast" zu der ebenso behutsamen wie in der Zielrichtung doch eindeutigen Aussage bekannt: „In der gegenwärtigen Situation hat es den Anschein, als ob die sozialen Probleme am leichtesten bei einem Nullwachstum lösbar wären."

Um die weitere Absicherung einer Zielvorstellung über die im Blick auf die individuelle und gesellschaftliche Wohlfahrt als erwünscht anzusehende Bevölkerungsentwicklung sollten alle Verantwortlichen bemüht bleiben. Die Antwort kann sicherlich auch nicht ohne Rücksicht auf die Grundwertvorstellungen in unserer Gesellschaft gegeben werden. Schon in den „Grundfragen der Bevölkerungspolitik" ist dazu festgehalten:

„Eine bevölkerungspolitische Zielbestimmung läßt sich nicht . wissenschaftlich'als richtig beweisen; sie hängt notwendig von Wertmaßstäben ab, ist indessen vom Menschen-und Gesellschaftsverständnis her begründbar. Das macht sorgfältige Analysen der Tatbestände und Zusammenhänge, der Ursachen und Auswirkungen der einzelnen Bestimmungsfaktoren der Bevölkerungsentwicklung nicht überflüssig, sondern setzt sie für ein möglichst ideologiefreies Konzept geradezu voraus." 3. Was meint stabiles Nullwachstum?

Ein weiterer Punkt bedarf in diesem Zusammenhang noch der Klarstellung, der auch sonst in der öffentlichen Diskussion verschiedentlich eine Rolle spielt: Es ist dies die etwas verkürzte Sichtweite, eine Annäherung an ein stabiles Nullwachstum sei mit einer Erhaltung des gegenwärtigen zahlenmäßigen Bevölkerungsstandes identisch. Je nach den demographischen Ausgangsbedingungen einer Gesellschaft gibt es indessen deutliche Abweichungen. Für die Bundesrepublik z. B. bedeutet eine Orientierung an der genannten Zielvorstellung, daß die Bevölkerungsentwicklung auf eine gegenüber heute tendenziell niedrigere Bevölkerungszahl hinauslaufen würde. Wie die Vorausrechnungsmodelle für die deutsche Bevölkerung zeigen, würde auch bei Erreichen der für ein stabiles Nullwachstum charakteristischen Nettoreproduktionsrate (NRR) von 1, 0 bis zum Jahre 1985 und deren Beibehaltung in den folgenden Jahrzehnten die deutsche Bevölkerung im Jahre 2030 bei rund 55 Millionen liegen. Dabei muß ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß das bei dieser Modellrechnung angenommene Fruchtbarkeitsniveau ab 1985 gegenüber dem gegenwärtigen eine Anhebung der durchschnittlichen Kinderzahlen in den jungen Ehen um rund 50 Prozent (!) bedingen würde. Je später also das für eine „stationäre Bevölkerung" charakteristische Fruchtbarkeitsniveau von NRR = 1, 0 erst nach dem Jahr 1985 erreicht würde, um so niedriger läge die absolute Bevölkerungszahl in den Jahrzehnten des nächsten Jahrhunderts nach Erreichen eines stabilen (Quasi-) Nullwachstums.

Eine Orientierung am Nullwachstum-Konzept darf demgemäß nicht dahin mißverstanden werden, als ob die hier und heute erreichte absolute Bevölkerungszahl „eingefroren" werden könnte. Im übrigen ergibt sich aus dem Modellcharakter einer stationären Bevölkerung, daß es sich wohl immer nur um eine möglichst weitgehende Annäherung an die Bedingungen eines stabilen Nullwachstums handeln könnte, das als solches sicherlich nie mathematisch exakt zu erreichen wäre. Wichtig ist also zu sehen, daß ein Quasi-Nullwachstum nicht „aus dem Stand" herbeigeführt werden kann. Um so wichtiger erscheint es dann aber, genauere Vorstellungen darüber zu entwickeln, auf welchem absoluten Niveau der Bevölkerungszahl in etwa ein stabiles Nullwachstum angestrebt werden könnte.

Hier wird nun gelegentlich der Gedanke ins Spiel gebracht, eine Bevölkerung, die als zu hoch angesehen werde, zunächst noch schrumpfen zu lassen, um nach Erreichen der gewünschten geringeren Bevölkerungszahl Maßnahmen zu einer Bestandserhaltung zu ergreifen. Auch in dem Beitrag von Leenen klingen solche Vorstellungen an. Hier ist jedoch Behutsamkeit in der Empfehlung an den Politiker geboten, gilt es doch, recht komplizierte demographische Zusammenhänge zu bedenken. Sie lassen sich vielleicht am Beispiel der Bundesrepublik besonders gut verdeutlichen: Angenommen, ein niedrigeres Niveau der Bevölkerungszahl werde für zweckmäßig gehalten (aus hier nicht im einzelnen darzulegenden Gründen). Bei Beibehalten des in der Bundesrepublik inzwischen gegebenen sehr niedrigen Fruchtbarkeitsniveaus könnte der Bevölkerungsrückgang der nächsten Jahre nun jedoch nicht einfach bei Erreichen der entsprechenden geringeren Bevölkerungszahl angehalten werden, also beispielsweise bei einem Niveau von 40 Millionen, wie es etwa für das Jahr 2030 für die deutsche Bevölkerung bei Fortdauer des gegenwärtigen Fruchtbarkeitsniveaus ausgewiesen wird. Ebensowenig könnte dann gleichsam auf Bestandserhaltung „umgeschaltet" werden. Denn selbst wenn es möglich, wäre, zum Zeitpunkt, in dem die geringere Bevölkerungszahl erreicht wird, kurzfristig das Fruchtbarkeitsniveau in etwa auf das Niveau anzuheben, wie es für eine stationäre Bevölkerung erforderlich ist (eine im Grunde recht unrealistische Annahme), so würde selbst dann die Bevölkerungszahl aus Gründen des inzwischen nachhaltig veränderten Altersaufbaus noch über mehrere Jahrzehnte hinweg weiter sinken und damit das angestrebte Niveau weit verfehlen. Dies bedeutet aber mit anderen Worten: Falls ein an-genähertes stabiles Nullwachstum auf einem bestimmten, gegenüber heute niedrigeren absoluten Niveau als Ziel gilt, wäre dennoch schon jetzt auf ein allmähliches Heben des Fruchtbarkeitsniveaus hinzuwirken sowie der Zeitpunkt anzuvisieren, zu dem in etwa das erforderliche Geburtenniveau erreicht sein müßte, damit wiederum einige Jahrzehnte später nach zwischenzeitlichem weiteren Rückgang der Bevölkerung diese das als in etwa erwünscht angesehene absolute Niveau wirklich mehr oder minder dauerhaft erreicht 4. Eigenständige Bevölkerungspolitik neben der Familienpolitik notwendig? Von Alexander Rüstow stammt wohl — im Zusammenhang mit definitorischen Problemen — der Hinweis, man möge jeden morphologischen Esel auf seine Weise grasen lassen, entscheidend sei letztlich, wie ergiebig der jeweilige definitorische Ansatz und das gewählte Verfahren für die weitere Abklärung der Probleme sei. Nun läßt sich freilich nicht verkennen, daß ein Bemühen um möglichst klare begriffliche Ansätze manche unnötigen Mißverständnisse vermeiden helfen kann. Dies gilt sicherlich auch bei einem so emotional aufgeladenen Thema wie der Bevölkerungspolitik. Wenn sich Leenen mit der Notwendigkeit einer „aktiven Bevölkerungspoli-tik" auseinandersetzt, so macht er prinzipiell zu Recht auf bestimmte dazu erforderliche Voraussetzungen aufmerksam. Übereinstimmung besteht hier in der Betonung des instrumentellen Charakters einer Bevölkerungspolitik, die — im Dienste der Verwirklichung humaner Wert-und Zielsetzungen — keinen Selbstzweck darstellt, Übereinstimmung sollte auch darüber bestehen, daß eine reine „Anpassungsstrategie" seitens des Staates und anderer Verantwortungsträger an sich jeweils verändernde demographische Gegebenheiten allein unbefriedigend erscheint.

Eine — sogar besonders vorzugswürdige, weil recht freiheitliche — bevölkerungspolitische Alternative besteht indessen nach Auffassung des Verf. darin, eine möglichst konkretisierte Zielsetzung (im Sinne der Orientierung in Richtung eines angenäherten stabilen Null-wachstums auf der Ebene der EG mit u. U. leichten Abweichungen in den Mitgliedstaaten) neben spezifisch ordnungspolitischen Ansätzen zunächst einmal durch die bevölkerungsmäßigen Nebenwirkungen anderer Teilpolitiken der Gesellschaftspolitik anzustreben — nicht zuletzt auch einer betont kindbezogenen Familienpolitik, ohne deshalb, wie etwa H. von Loesch unterstellt, in der Familienpolitik das „demographische Heil" zu erblicken. Der Rückgriff auf solche demographischen Sekundärwirkungen bestimmter gesellschaftspolitischer Maßnahmen kann als ein „indirekter" Mitteleinsatz in dem Sinne angesehen werden, daß es sich um Maßnahmen handelt, die als solche z. B. aus einer sozial-, wohnungs-, arbeitsmarktpolitischen Zielsetzung heraus getroffen werden, deren mögliche und sorgfältig zu untersuchende bevölkerungsmäßige Nebenwirkungen im Blick auf entsprechende bevölkerungspolitische Zielsetzungen indessen bewußt mitkonzipiert und einkalkuliert werden. In diesen Kontext gehört dann auch der Rückgriff auf demographische Sekundärwirkungen einer voll entfalteten Familienpolitik. Auch eine betont kindbezogene Familienpolitik ist zunächst einmal um ihres Eigenzieles willen zu betreiben (und weiter zu entwickeln!). Dieses Ziel lautet: Sicherung der optimalen Funktionstüchtigkeit der personprägend und gesellschaftsbildend zugleich wirkenden Familien. Damit ist eine Familienpolitik in sich wohl begründet. Das schließt aber nicht aus, ihre bevölkerungsmäßigen Sekundärwirkungen bei den Bemühungen um eine ausgeglichenere demographische Situation bewußt mit in Rechnung zu stellen. Darin etwa eine nicht gerechtfertigte Verpflichtung dieser Teilpolitiken gegenüber einer bevölkerungspolitischen Zielsetzung sehen zu wollen, hieße im Grunde, den entscheidenden gesellschaftspolitischen Ansatz speziell einer Rahmensteuerung des Bevölkerungsprozesses zu verkennen.

So gesehen ergibt sich dann auch wohl kaum in dem ausgeprägten Maße (wie bei Leenen) der Vorbehalt, daß selbst bei absehbaren ernst zu nehmenden Folgeproblemen der demographischen Entwicklung über die Notwendigkeit einer „Bevölkerungspolitik" keineswegs vor-entschieden sei. Zur Legitimationsproblematik hat Leenen ohnehin an anderer Stelle sehr deutlich festgehalten, daß der individuelle Handlungsspielraum sowohl durch den „Selbstlauf" des sozialen Prozesses als auch durch staatliche Aktivitäten ständig verändert werde, und dabei zustimmend den Verf. zitiert: Wenn aber „im Ergebnis doch auf den Bevölkerungsprozeß wird, eingewirkt dann sollte dies auch bewußt, planvoll und zielgerichtet in Kenntnis und Würdigung der Wirkungsrichtungen staatlicher Politik geschehen" über die Notwendigkeit einer quantitativ-bevölkerungspolitischen Zielbestimmung (deren auch ein Stück Festlegung schon Entwicklung eines bevölkerungspolitischen Konzepts darstellt) besteht dabei auch für Leenen offensichtlich kein Zweifel, wie etwa die Feststellung zeigt, „eine explizite Formulierung einer bevölkerungspolitischen Zielsetzung — dies könnte natürlich auch Nicht-handeln implizieren — ist deshalb überlällig“

Zur Begründung führt er u. a. die Überlegungen des Verf. an, in denen gezeigt wurde, wie Entscheidungen in anderen politischen Bereichen (in diesem Falle der Raumordnung) implizit häufig den Charakter von Vorentscheidungen für bevölkerungspolitische Zielvorstellungen besitzen, ohne daß dies allen Akteuren immer hinreichend bewußt sein muß. Dies führt dann zu der leicht paradoxen Situation, daß bezüglich der förmlichen Zielbestimmung der angestrebten Bevölkerungsentwicklung der Diskussionsstand nähere Präzisierungen weitgehend vermissen läßt, während durch allgemein bejahte ausdrückliche Zielsetzungen in anderen Handlungsfeldern aufgrund von inneren Zusammenhängen im Grunde über bevölkerungspolitische Zielfunktionen längst mitentschieden ist.

Wenn für H. von Loesch der herkömmliche familienpolitische Ansatz ausdrücklich von vornherein völlig ausscheidet, weil hier in re-staurativer Weise eine traditionelle Familien-idee unterstützt werde, während doch seiner Meinung nach — lange Jahre der Kinder/Elternerfahrung zunehmend als Sinnentleerung des auf Wandel und vielseitige Erfahrung orientierten Daseins empfunden würden, — es ferner die traditionelle Familienidee an sich sei, die den demographischen und anderweitigen Bedingungen unseres Lebens nicht mehr entspreche und mit steigender Wahrscheinlichkeit „Zerrüttung" hervorrufe („samt einer Reihe anderer gesellschaftlicher Mißstände“) und — es für ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland als sehr viel billiger und erfolgversprechender anzusehen sei, den traditionellen familienpolitischen Ansatz fallen zu lassen und statt dessen „jene brachgelegte Fortpflanzungsreserve zu erschließen, die aus den nicht verheirateten, nicht mehr verheirateten und . unglücklich'verheirateten Erwachsenen im Reproduktionsalter besteht", so verschiebt sich damit allerdings die Diskussion z. B. so weit weg von dem auch in der familiensoziologischen Forschung nachhaltig betonten, das (durchaus entwicklungsfähige) Kernfamiliensystem institutionell begründenden „Legitimationsprinzip", daß im Blick auf unsere eigene Sozialordnung jedenfalls ein besonderes Eingehen darauf sich erübrigt. Hierzu kann das Urteil getrost dem Leser allein überlassen werden.

In diesem Zusammenhang muß es freilich auch etwas überraschen, wenn W. R. Leenen bei seiner sonst so sachkundigen Argumentationsweise in familienpolitischer Blickrichtung lediglich zu dem Konditionale hinfindet: „Wenn es Belege dafür geben sollte, daß auch in der Bundesrepublik ... das Aufziehen von Kindern mit erheblichen Lebensstandard-nachteilen, Einschränkungen in der Freizeit ... geradezu bestraft wird", so müsse unbedingt Abhilfe im Sinne einer „gerechteren" Lastenverteilung geschaffen werden. Dieser seit vielen Jahren wichtige, wenngleich keineswegs einzige Ansatz für eine familienpolitische Strategie stützt sich auf vielfältige Untersuchungen, auf die besonders hinzuweisen beinahe trivial wirken könnte. Dem damit angesprochenen Sachverhalt wird insbesondere von Loesch mit seinen Anmerkungen „zur Subventionsidee" kaum gerecht. Es geht hier um ein zentrales Verteilungsproblem in einer marktwirtschaftlichen Ordnung mit einer primär (markt-) leistungsbestimmten Einkommensverteilung, dessen Lösung aus systemimmanenten Gründen maßgeblich auf der Ebene der sogenannten zweiten Einkommensverteilung anzustreben ist und eine dauernde Aufgabe des sozialen Rechtsstaates darstellt In diesem Zusammenhang sei auch auf einen noch etwas übergreifenderen Legitimationsaspekt bevölkerungspolitischen Handelns hingewiesen, den die zuständige französische Ministerin Simone Veil im vergangenen Jahr auf der Generalkonferenz der Internationalen Union für Bevölkerungsfragen aufgezeigt hat: Ausgehend von dem grundlegenden Auftrag des Staates, die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes zu verantworten und dem Bürger ein Höchstmaß an Wohlbefinden zu sichern — wir könnten es auch mit dem schillernden, aber sehr gebräuchlichen Begriff der „Lebensqualität" umschreiben —, macht sie darauf aufmerksam, daß diese Aufgabe auch in die Zukunft hinein reicht. Der Staat ist, so lautet ihre These, Verantwortungsträger und Garant der nationalen Gemeinschaft in allen ihren Dimensionen und damit auch der historischen; der Staat vermag dabei auch besser als die Individuen, die Solidarität der Generationen durch die Zeiten hindurch zu gewährleisten. Gerade die für Bevölkerungsvorgänge charakteristischen Langzeitwirkungen ließen es höchst problematisch erscheinen, wollte man hier auf die ordnende Hand des Staates verzichten und die Entwicklung allein Entscheidungen überlassen, die aus kurzfristigen Individualperspektiven erwachsen. 5. Grundrichtungen des Handelns benennen Zu dem gewiß recht schwierigen Problemkreis des zieladäquaten politischen Handelns sei vorweg wegen des Hinweises bei H. von Loesch auf das „schier unerschöpfliche Einwanderungspotential" festgehalten, daß unbegrenzte Zuwanderung keine Lösung des Problems darstellen kann. Inzwischen sind die sozialen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Folgewirkungen mehr und mehr erkannt worden, die größere Wanderungsbewegungen sowohl für die Aufnahmeländer als auch für die Entsendeländer mit sich bringen, nicht zuletzt für die bereits unter uns lebende „zweite Generation" dieser Familien. Grenzüberschreitende Wanderung, insbesondere aus fremden Kulturräumen, kann daher nicht als taugliches Instrument zum Ausgleich aller Schrumpfungsprozesse angesehen werden. Ähnlich heißt es in der bereits erwähnten Stellungnahme der Kammer der EKD für soziale Ordnung: „Heute schon ist die Integrationskraft durch 4 Millionen Ausländer überfordert. Ein Ausländerproletariat mit allen sich daraus ergebenden sozialen und politischen Konflikten droht zu entstehen."

Was nun eine Beeinflussung des generativen Verhaltens angeht, so wird in der einschlägigen sozialwissenschaftlichen Forschung wiederholt auf die offensichtlich nur sehr begrenzten Wirkungen bestimmter politischer Ansätze zur Beeinflussung des generativen Verhaltens (vor allem wenn es sich um isoliert eingesetzte Einzelmaßnahmen handelt) und auf das noch unzulängliche dazu vorliegende Wissen hingewiesen. Auch Leenen und von Loesch machen darauf mit Recht aufmerksam. Auf diesem Hintergrund hat der Verf. vor der Illusion einer „Feinsteuerung" gewarnt und auf die Notwendigkeit hingewiesen, zielkonforme Bündel integrativ geplanter Maßnahmen zu entwickeln, was nach den vorliegenden Einsichten am ehesten sinnvoll erscheint Es kommt gerade darauf an, an dem gesamten Syndrom von Bedingungsfaktoren des veränderten generativen Verhaltens anzusetzen, was über rein wirtschaftliche Maßnahmen weit hinaus und bis an die veränderten Werthaltungen und an Fragen des Selbstverständnisses des einzelnen heran-reicht. (In letzter Konsequenz wäre hier auch problematischen Grundeinstellungen kritisch zu begegnen (Erziehungswesen!) die unter dem Stichwort „Emanzipation" in einem ausgesprochen permissiven Verständnis auf eine total individualistische, Bindungen ignorierende Sicht des Menschen hinauslaufen statt auf eine empanzipatorische Grundeinstellung des einzelnen, der sich als Person von ungerechtfertigten Zwängen befreit, gleichwohl bewußt und freiwillig notwendige soziale Bindungen und Verpflichtungen eingeht. Hier zeigt sich dann z. B. alsbald, daß sich von den Bedürfnissen und Ansprüchen des (Klein-) Kindes her Grenzen der Emanzipation ergeben können.)

Gerade wenn aber die Notwendigkeiten des Handelns stets sehr viel größer sind als die Möglichkeiten des Erkennens (oder wie Leenen sagt: der praktische Steuerungsbedarf das verfügbare theoretische Wissen meist übersteigt), so gilt es, die Tragweite zu sehen, die für eine verantwortliche Politikberatung nach beiden Richtungen hin liegt: In den theoretischen Schwächen sind politische Risiken an-gelegt, und es wäre unredlich, darüber hinwegzutäuschen (wie dies bei manchen monostrategischen Patentrezepten im Ergebnis der Fall sein kann, die schon aufgrund eines so isolierten Ansatzes den Keim der Unzulänglichkeit in sich tragen dürften). Auf der anderen Seite lassen sich nun aber doch einige Grundrichtungen des Handelns bezeichnen, die als geeignet gelten können, zu dem Ziel einer ausgeglicheneren demographischen Struktur beizutragen. Trotz unseres noch keineswegs befriedigenden Wissensstandes um die tieferreichenden Ursachen der jüngsten demographischen Umbrüche lassen sich doch Ansatzpunkte (im sozialökonomischen wie im sozio-kulturellen bezeichnen, von denen Feld)

aus veränderte Randdaten generativen Verhaltens zu setzen sind.

Dazu gehört einmal ein ordnungspolitischer Rahmen; insoweit besteht die Aufgabe darin, eine solche institutioneile Rahmenordnung und solche organisatorische Bedingungen in Gesellschaft und Wirtschaft zu schaffen, daß die individuellen Interessen und Sinnbedürfwisse der einzelnen Ehepaare bei ihrem generativen Verhalten in ein auch von der demographischen Entwicklung her inhaltlich aufgefülltes Allgemeinwohl eingebunden sind. Es kommt somit gerade auch darauf an, solche gesellschaftliche Verhältnisse zu schaffen, unter denen das Kinderhaben anderen lebenssinnstiftenden Entwürfen möglichst wenig entgegensteht. Dies gilt besonders im Blick auf junge Eltern und ihre Rollenproblematik. Es wird sicherlich nicht möglich sein, die demographischen Probleme in den europäischen Industriegesellschaften gegen die auch außerfamiliale persönliche Entfaltung der verheirateten Frau und Mutter zu lösen; vielmehr müssen vermehrt Formen entwickelt werden, die es der verheirateten Frau sehr viel besser noch als bisher erlauben, berufliches und anderes außerfamiliales Engagement einerseits sowie Kinderhaben andererseits im Lebensablauf miteinander zu verbinden.

Hier sind mehrere Modelle der Konfliktmilderung für Ehepartner denkbar. Aufgabe der Politik wird es sein müssen, in phasenspezifischen Ansätzen die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß hier (auch materiell abgesicherte) freie Wahlmöglichkeiten je nach den individuellen Wertentscheidungen der einzelnen Partner möglich und offengehalten sind

In diesem Zusammenhang sind dann freilich auch auf Seiten des Mannes Lösungen von überkommenen erstarrten Rollenklischees notwendig.

Auch aus dem Umfeld der — besonders in den Vereinigten Staaten (Chicago-Schule) entwikkelten — „ökonomischen Theorie des generativen Verhaltens" lassen sich bei aller gebotenen Behutsamkeit einige Gesichtspunkte ableiten, die im vorliegenden Zusammenhang wichtig erscheinen Neben der positiven Beziehung zwischen Einkommen (bzw. Einkommensverbesserung) und gewünschter Kinderzahl (bei gegebenen Preisen und individuellen Präferenzen) bleibt danach der entgegengesetzte Effekt zu bedenken, der mit einem allgemeinen höheren Bildungsgrad und verbreiterter und qualifizierterer Berufsausbildung der Frauen verbunden ist (siehe dazu auch die Feststellung aus den deutschen Mikrozensusdaten, wonach Einkommen dann tendenziell positiv mit der Kinderzahl korreliert, wenn der Mann alleiniger Einkommensbezieher ist; bezieht dagegen auch die Ehefrau eigenes Einkommen, ergibt sich umgekehrt eine negative Korrelation mit der Kinderzahl). Dieser Effekt scheint auf längere Sicht durchschlagender zu sein; die Familienhaushalte werden tendenziell den potentiellen Einkommensverzicht der Mutter, die mit Rücksicht auf Kinder von einer eigenen Erwerbstätigkeit absieht, relativ hoch veranschlagen, d. h.der Kosteneffekt (des entgangenen Einkommens der Frau) wird den Effekt allgemeiner Realeinkommensverbesserungen in der Gesellschaft mehr oder weniger durchgängig übersteigen.

Wenn von Vertretern der ökonomischen Fruchtbarkeitstheorie zu bedenken gegeben wird, mit dem Anstieg der wirtschaftlichen Produktivität (durch wachsende Bildungs-und Kapitalinvestitionen) werde der Zeitaufwand für die arbeitsintensive Kinderpflege, gemessen am Einkommensverzicht der Mutter, allmählich so teuer, daß die Eltern in zunehmendem Maße ganz auf Kinder zugunsten kapital-und bildungsintensiver Güter und Dienste verzichten, so wird damit die Tragweite der Problematik nur unterstrichen. Hilde Wander hat darauf hingewiesen, daß „die Vorliebe für moderne, kapitalintensive Güter wie audi für organisationsintensive Dienste der Bildung, Unterhaltung und des Tourismus keineswegs eine neue Erkenntnis ist. In der ökonomischen Fruchtbarkeitstheorie werde aber aufgezeigt, daß diese Vorliebe in einem entwicklungsbedingten Konflikt mit der Fruchtbarkeit steht, der die Tendenz hat, sich weiter zu verfestigen. Man kann nicht darauf vertrauen, daß sich dieser Konflikt von selber löst oder daß er mit regressiven Maßnahmen lohn-oder bildungspolitischer Art zu Lasten der Frauen oder der unteren Sozialschichten zu bewältigen wäre."

Ein Fruchtbarkeitsniveau, das langfristig eine so massive Bevölkerungsschrumpfung begründet wie gegenwärtig in der Bundesrepublik Deutschland, muß keineswegs der notwendige Preis sein für eine „zunehmende Freiheitlichkeit" in einer hochentwickelten Industriegesellschaft.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. W. R. Leenen, Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungspolitik in beiden deutschen Staaten, in: Deutschland Archiv, H. 6/1977, S. 609— 625, bes. S. 615 f.

  2. M. Wingen, Grundfragen der Bevölkerungspolitik, Urban-Taschenbücher Bd. 509, Stuttgart 1975 (mit Bibl. und Dokumentations-Anhang); dazu auch: „Das Parlament", Nr. 20 v. 21. 5. 1977, S. 15;

  3. Grundfragen der Bevölkerungspolitik, a. a. O., S. 18.

  4. Ebda., S. 61.

  5. Siehe z. B. die Darstellung bei G. Feichtinger, Ursachen und Konsequenzen des Geburtenrückgangs, in: Soziale Probleme der modernen Industriegesellschaft, a. a. O., S. 393— 434, ferner die verschiedenen Expertisen zum „Seminar on the implications on a stationary or declining popula-tion in Europe", Europarat Straßburg, September 1976. Ferner H. Schubnell, Der Geburtenrückgang in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklung, Ursachen und Auswirkungen, Schriftenreihe des BMJFG, Bd. 6, Stuttgart 1973, bes. S. 52 ff., sodann:

  6. Die französische Regierung kam bei einer Zusammenkunft des zentralen Planungsrates im März 1975 zu folgender Schlußfolgerung: „Das wünschenswerte mittelfristige Ziel, das in einem bescheidenen Anstieg der französischen Bevölkerung resultieren würde, ist eine stabile Fruchtbarkeitsrate nahe oder vorzugsweise etwa über der Rate, die notwendig ist, um die Ersetzung der Kohorten (= replacement level i. S.der Bestandserhaltung der Bevölkerung, eig. Anm.) sicherzustellen''(siehe M. Wingen, Bevölkerungspolitische Leitvorstellungen ..., a. a. O., S. 444).

  7. Hrsg, und eingeleitet von H. von Nussbaum, Stuttgart 1974, S. 258 ff.

  8. Grundfragen der Bevölkerungspolitik, a. a. O., S. 87.

  9. Vgl. M. Wingen, Bevölkerungspolitische Leitvorstellungen, a. a. O., S. 448 ff.

  10. Aktueller Kommentar Nr. 3 der Kammer der EKD für soziale Ordnung, hrsg. vom Rat der EKD durch die Kirchenkanzlei, veröff. am 14. 3. 1978.

  11. A. a. O., S. 120.

  12. Siehe dazu auch vom Verf., Bevölkerungspolitik als geselischaftspolitische Aufgabe?, a. a. O„ S. 95.

  13. Vgl. z. B. Grundfragen der Bevölkerungspolitik, a. a. O., S. 127, sowie: Bevölkerungspolitik als gesellschaftspolitische Aufgabe?, a. a. O., S. 96.

  14. W. R. Leenen, Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungspolitik in beiden deutschen Staaten, a. a. O„ S. 617.

  15. Ebda., S. 623 (Hervorhebung v. Verf.).

  16. über rein einkommenspolitische Zusammenhänge hinaus siehe aus jüngster Zeit die Darstellung des Verf. im Kontext der Diskussion um eine

  17. Bevölkerungspolitik und Rentenlast, a. a. O., S. 3 f.

  18. Ansätze dazu s. z. B.: Bevölkerungspolitische Leitvorstellungen..., bes. Abschnitt: 3: Umrisse einer bevölkerungspolitischen Handlungsalternative, a. a. O., S. 465 ff.

  19. Siehe dazu v. Verf.: Bevölkerungs-und fami-lienpolitische Aspekte der sozialen Frage in entwickelten Industriegesellschaften, a. a. O., S. 173 ff.

  20. Hilde Wander hat diese theoretischen Ansätze zur Erklärung des Geburtenrückgangs in einem noch unveröffentlichten Vortrag auf der diesjährigen Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissensdiaft im einzelnen vorgestellt, wonach in dieser Sicht davon ausgegangen wird, daß es bei der Entscheidung über das generative Verhalten der einzelnen Paare wesentlich um bewußte, freilich auch unbewußte Wahlakte geht, die durch eine überlegte, aber auch intuitive Nutzenorientierung charakterisiert sind (wenn auch dieser Entscheidungsprozeß im allgemeinen dynamischer sein dürfte als es im Lichte dieser Theorie den Anschein hat).

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Max Wingen, Dr. rer. pol., Ministerialrat, geb. 1930 in Oberkassel/Rh., Studium der Wirtschafts-und Sozialwissenschaften, seit 1959 Referent im Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, 1968 Lehrauftrag an der Universität Saarbrücken, ab 1969 Lehrbeauftragter an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) — Abt. für Sozialwissenschaft, 1973 Ernennung zum Honorarprofessor an der RUB, 2. Vorsitzender der Dt. Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft und Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt. Veröffentlichungen u. a.: Familienpolitik. Ziele, Wege und Wirkungen, Paderborn 19652; Familienpolitik — Konzession oder Konzeption?, Köln 1966; Der junge Familienhaushalt in sozialökonomischer Sicht. Tatbestände und familienpolitische Schlußfolgerungen, hrsg. v. BMFa, Bergisch Gladbach 1967; Grundfragen der Bevölkerungspolitik, Urban-TB, Bd. 509, Stuttgart 1975; zahlreiche Zeitschriftenaufsätze (vgl. auch B 52/77).