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Demokratisierung der Deutschen durch Umerziehung? Die Interdependenz von deutscher und amerikanischer Politik in der Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland | APuZ 29/1978 | bpb.de

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APuZ 29/1978 Artikel 1 „Umerziehung" der Deutschen aus britischer Sicht Konzepte und Wirklichkeit der „Re-education" in der Kriegs-und Besatzungsära Demokratisierung der Deutschen durch Umerziehung? Die Interdependenz von deutscher und amerikanischer Politik in der Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland Antikommunismus und amerikanische Demokratisierungsvorhaben im Nachkriegsdeutschland

Demokratisierung der Deutschen durch Umerziehung? Die Interdependenz von deutscher und amerikanischer Politik in der Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland

Jutta-B. Lange-Quassowski

/ 42 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse zur Besatzungsperiode haben seit 1970 gezeigt, daß die Jahre zwischen 1945 und 1949 kein Interregnum, kein Zwischenspiel waren, sondern daß sie als Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland zu verstehen sind. In dieser Zeit wurde die Ordnung der bis heute gültigen gesellschaftlichen Strukturen geschaffen bzw. wiedererrichtet. Die bildungspolitische Entwicklung der siebziger Jahre mit dem euphorischen Aufbruch zu Bildungsreformen, der Einigung von Bund und Ländern im Bildungsgesamtplan, der dann jedoch beginnenden, immer grundsätzlicher werdenden parteipolitischen Auseinandersetzungen über die Verwirklichung eben dieser Reformen, führt zu der Frage nach den tiefer liegenden Gründen. Die historische Rückfrage soll klären, woran die auch nach 1945 von allen geforderten Reformen — unter dem Oberbegriff Umerziehung zusammengefaßt — scheiterten. Die Aufdeckung der Wurzeln der heutigen Konflikte läßt die Positionen und die dahinter stehenden Interessen deutlicher erkennen. Die Darstellung der Konzepte der CDU, der SPD und der Amerikaner nach 1945 ist ein erster Arbeitsschritt zum Verständnis der unterschiedlichen Programme. Zur Aufdeckung der in der CDU vorhandenen restaurativen Interessen hilft ein sozialgeschichtlich-bildungstheoretischer Rückgriff auf die Entwicklung des deutschen Bildungswesens, zur Bestimmung der in Deutschland vorhandenen Reformkräfte eine Analyse der kulturpolitischen Entwicklungstendenzen der Sozialdemokratie bis hin zum Godesberger Programm. Den Bemühungen der amerikanischen Besatzungsmacht gilt dann das besondere Interesse, da sie mit einem sehr weitgehenden Reformprogramm für das deutsche Schulsystem angetreten war. Die Konzepte allein und die Bestimmung der Interessen sagen jedoch noch nichts über die Bedeutung, die ihnen innerhalb des jeweiligen Gesamtprogramms für alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens zukam. Diese Gesamtkonzepte müssen dargestellt und analysiert werden. Ein Exkurs klärt hierbei, daß das amerikanische Reformprogramm nicht Teil des Morgenthauschen Konzeptes für die Behandlung Deutschlands gewesen ist, sondern Teil des sog. realpolitischen machtpolitischen Konzeptes, zu dem einmal die Restauration des Kapitalismus gehörte, zum anderen die Demokratisierung der Schulstruktur. Erst die Analyse der Umsetzung der Gesamtkonzepte in Politik kann dann zur Bestimmung des Stellenwertes führen, den die bildungspolitischen Reformprogramme tatsächlich hatten. Im Mittelpunkt steht hierbei die Interaktion von deutscher und amerikanischer Politik, die im Laufe der Besatzungsjahre immer stärker wurde und immer mehr Einfluß auf die Umsetzung sowohl der Gesamtkonzepte wie auch der schulpolitischen Programme gewann. Die Zusammenführung der verschiedenen wissenschaftlichen Methoden zu einem integrierten Untersuchungsansatz zeitigt eine Reihe neuer, z. T. überraschender Ergebnisse.

Einleitung

1973 haben Bund und Länder gemeinsam im Bildungsgesamtplan schulpolitische Reformen vereinbart. Die aus dem vorigen Jahrhundert stammende starre dreigliedrige Schulstruktur mit den nebeneinander bestehenden Schularten der Hauptschule, Realschule und dem Gymnasium soll bundeseinheitlich durchlässiger gemacht, die Bildungschancen aller sollen verbessert und der elitäre Charakter unseres Schulsystems weiter abgebaut werden. An Stelle der Reformen jedoch hat der einstimmig beschlossene Rahmenplan für das Bildungswesen zu einem erbitterten kulturpolitischen Parteienkrieg geführt. Die Bemühungen einzelner Landesregierungen zur Einführung von Orientierungsstufe, Durchlässigkeit, Schulzentren (kooperative Schule), Gesamtschule etc. werden zum Anlaß genommen, der jeweils regierenden sozialliberalen Koalition z. T. mit Hilfe von wahlkampfähnlichen Einsätzen gesamtpolitische Niederlagen beizubringen (Volksbegehren). Wie die Bundesregierung im , Mängelbericht feststellen mußte, hat sich das föderative Bildungssystem in den letzten Jahren immer mehr auseinanderentwickelt. Der Versuch, in einigen Ländern die geplanten Reformen einzuführen, hat zur Folge, daß die Bildungsabschlüsse reformierter Schulen in an-deren Ländern nicht mehr als gleichberechtigt anerkannt werden.

Die Problematik ist nicht neu. Vielleicht kann ein Rückblick in die jüngste Vergangenheit dazu beitragen, die den aktuellen Auseinandersetzungen zugrunde liegenden grundsätzlichen Positionen zu verdeutlichen.

Auch nach 1945 bestand scheinbar Einigkeit zwischen den großen Parteien: Umerziehung mußte sein. Viele Jahre bis 1953 waren Debatten über Reformen der Schulstruktur ein aktuelles Diskussions-und besonders Wahlkampf-thema. Adenauer forderte in einer bedeutenden Rede in der Kölner Universität: „Das deutsche Volk muß in seinem ganzen Denken und Fühlen umerzogen werden" und diese Umerziehung müsse mit der Umbildung der Schule beginnen In der SPD wurde auf Parteitagen von der „vollständigen Umerziehung unseres Volkes" gesprochen Daß die Amerikaner mit der Absicht der Umerziehung nach Deutschland kamen, ist bis heute allgemein gültige Überzeugung.

Die konkreten Vorstellungen jedoch, wie die auf die Schule bezogene Umbildung aussehen sollte, erwiesen sich im Laufe der Nachkriegsjahre als nicht miteinander vereinbar.

Die Konzepte für die Umerziehung

Die CDU gab als erste ihre Interessen bekannt. Schon im Juni 1946 forderte sie in ihrem Berliner Aufruf (in den Westzonen waren die Parteien noch nicht zugelassen): 1. die Garantie des Elternrechts, 2. die kirchliche Leitung des schulischen Religionsunterrichts, 3-den sittlichen Wiederaufbau des deutschen Volkes durch , die Lehren echter Humanität'und 4. die Erschwerung des Zugangs zur höheren Schule Diese Grundsätze christdemokratischer Politik, die für die CSU gleichermaßen galten und im Prinzip auch weiterhin gelten, bedürfen der näheren Erläuterung.

Zunächst ist es wichtig, darauf hinzuweisen, daß im sog. Dritten Reich im Schulsystem einige Änderungen vorgenommen worden waren, die einschneidend gewirkt hatten. Zwar war die dreigliedrige Schulstruktur im Prinzip nicht angetastet, aber kirchliche Einflüsse waren ab 1938 weitgehend eliminiert worden. Privat-und besonders Bekenntnisschulen für das Grundschulwesen waren durch die zwangsweise Einführung der Gemeinschaftsschule praktisch ebenso abgeschafft, wie das humanistische Gymnasium durch die allgemeine Oberschule ersetzt worden war.

Schon politischen Programmen ihren allgemein forderten die CDU-und CSU-Politiker eine Rückbesinnung auf das Christentum, auf das aus der katholischen Soziallehre stammende Subsidiaritätsprinzip und den christlichen Solidarismus Die Kulturpolitik war im Verständnis der Gründer dieser Parteien ein dieser Hauptansatzpunkt zur Verwirklichung Prinzipien.

Das Recht der Eltern, auf die Erziehung ihrer Kinder war in diesem Sinne nicht so sehr zur Unterstreichung eines einleuchtenden Sachverhalts gedacht, wie es scheinen möchte, sondern diese Formel verbarg vor allem kirchliche Interessen. Das Elternrecht sollte die erneute Entscheidung der Erziehungsberechtigten über die weltanschauliche Gestaltung der Volksschule wieder einführen. Da die christliche Gemeinschaftsschule der vorherrschende Schultyp war, bedeutete dieses Ansinnen, daß wieder bekenntnismäßig getrennte Schulen eingerichtet werden sollten, in denen man die Gebundenheit an eine Kirche vertiefen zu können hoffte. In den Verfassungsdebatten für die Länder bemühten sich die christlichen Politiker — bei Aussicht auf Erfolg — sogar um die Wiedereinführung der Konfessionsschule als Regelschule. Das sog. Elternrecht konnte mit Ausnahme von Bremen in allen Länder-verfassungen verankert werden. Wie die Wirklichkeit zeigte, waren es jedoch häufig nicht die Eltern, sondern die Kirchenbehörden, die z. T. sogar gegen den Willen der Eltern den Antrag auf Umwandlung einer Gemeinschafts-in eine Bekenntnisschule stellten Darüber hinaus gelang es den CDU/CSU-Par-teien, auch die Möglichkeit zur Genehmigung neuer Privatschulen in fast allen Verfassungen festzuschreiben. Privatschulen waren bis zu ihrer Beseitigung 1938 meist in kirchlicher Hand gewesen.

Die Forderung der CDU nach kirchlicher Leitung des Religionsunterrichts war sozusagen eine Auffangforderung, die für den Fall gedacht war, in dem die Umwandlung christlicher Gemeinschaftsschulen in Konfessionsschulen scheiterte. Die verfassungsmäßige Absicherung in allen Ländern mit Ausnahme von Bremen sollte garantieren, daß der bekenntnis-mäßige Religionsunterricht nur „in kirchlichem Auftrag" erteilt werden konnte, also nicht von einem beliebigen Lehrer, der sich dazu bereit erklärte.

Das Postulat des des sittlichen Wiederaufbaus deutschen Volkes durch die Lehren echter Humanität zielte vor allem auf den Wiederaufbau des höheren Bildungswesens, speziell der neuhumanistischen Gymnasien. Diese wurden als besonders wertvolle Garanten der Verwirklichung des Humboldtschen Bildungsideals gepriesen. Und die . humanistisch Gebildeten’ wurden in den Kreisen der christlichen Politiker als besonders widerstandsfähig gegenüber dem Nationalsozialismus gelobt und hervorgehoben Dem Lateinunterricht kam in der Prioritätenskala christdemokratischer Bildungspolitik erhöhte Bedeutung zu.

Besonders bei dem 4. Programmpunkt, dem erschwerten Zugang zum Gymnasium, spielte die Drohung, am Fach Latein zu scheitern, eine besondere Rolle. Die Forderung nach strenger und frühzeitiger Auslese bedeutete die Beibehaltung der vertikalen Dreigliedrigkeit des deutschen Schulsystems und die Bekräftigung des Sackgassencharakters der unteren Schultypen. Diese Schulformen sollten wie bisher nach Abschluß nur begrenzte Berechtigungen eröffnen. Durchlässigkeit war nicht erwünscht. Die Erschwerung des Zugangs sollte die Elite, die in den Genuß gymnasialer und anschließend universitärer Bildung kommen sollte, klein halten, um die alte Sozialstruktur stabil zu erhalten. Wie schon in den ersten drei Punkten gelang es den christlichen Politikern auch bezüglich der Schulorganisation, ihre Vorstellungen in den Länderverfassungen weitgehend zu verankern.

Fazit: Die christlich-bürgerlichen Parteien und die in ihnen repräsentierten Interessengruppen wie die Kirchen, die Universitäten, die Philologenverbände, die Industrie-und Handelskammern und die Spitzenverbände der Wirtschaft wußten bereits unmittelbar nach Kriegsende, wofür sie kämpfen wollten. In der Verwirklichung ihrer Forderungen waren sie sehr erfolgreich.

Unter Umerziehung verstanden sie eine möglichst weitgehende Rückbesinnung auf christliche und neuhumanistische Werte und Inhalte, die sie durch kirchliche Trägerschaft der Schulen verwirklichen wollten. Diese Rückkehr zu den „Grundlagen christlich-abendländischer Kultur" sollte auch eine Wiederherstellung der Schulorganisation des 19. Jahrhunderts sein. Das obrigkeitsstaatliche Gesellschafts-und Regierungssystem in Deutschland hatte sich in diesem Jahrhundert ein Schulsystem geschaffen, das einer Klassengesellschaft entsprach, die noch durch stark feudalistische Züge geprägt war und jede Orientierung an demokratischen Werten oder gar Strukturen entschieden abwehrte.

Die Sozialdemokraten dagegen waren traditionell reformpädagogisch eingestellt gewesen, hatten in ihrer Geschichte für die Einheitsschule plädiert und in Weimar zumindest die vierjährige gemeinsame Grundschule durchgesetzt. Wie sie damals meinten, war dies ein erster Schritt in Richtung auf eine Einheitsschule gewesen. Neben der Einheitlichkeit des Schulwesens war ihre . wichtigste Forderung immer die der Weltlichkeit, also die der Trennung von Staat und Kirche wie auch von Schule und Kirche gewesen. Damit war u. a. gemeint, daß öffentliche Mittel nicht für die finanzielle Unterstützung von kirchlichen Privatschulen verwendet werden sollten. Der Forderung nach einem einheitlichen Aufbau des Schulwesens hatte immer die nach einer einheitlichen Lehrerausbildung an Universitäten entsprochen. Diese traditionellen Programmpunkte waren zusammen mit den ergänzenden Forderungen nach Unentgeltlichkeit des Unterrichts und der Lehrmittel, Mitwirkung der Eltern u. a. alle auf eine grundlegende Demokratisierung des Schulwesens gerichtet, die dazu dienen sollte, für die benachteiligten Klassen mehr Chancengleichheit im Bildungswesen herzustellen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch hielt es die SPD unter Schumacher für notwendig, sich von der „Partei der armen Leute" zu einer sozialdemokratischen Volkspartei zu wandeln und eine breitere Mitgliederschaft zu gewin-nen In den Führungskreisen hatte man die Hoffnung, daß der mit vielen Christen gemeinsam geführte Kampf gegen den Nationalsozialismus auch nach dem Krieg eine gemeinsame Basis für weitere Zusammenarbeit abgeben könnte Schon in Weimar war es wiederholt zu einer Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokratie und katholischem Zentrum gekommen, da beide die demokratische Republik vor der Zerstörung durch nationalistische und rechtsradikale Kräfte schützen wollten. Und schon in Weimar war es wegen solcher Zusammenhänge zum Schulkompromiß gekommen, der sich im Fortgang der Entwicklung in Weimar für die Sozialdemokratie als Aufgabe ihrer traditionellen Reformprogrammpunkte erwies.

Die Kultur-und Schulpolitik nun war das erste Gebiet, auf dem die gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges beginnende Neuorientierung der SPD hin zur Volkspartei sichtbar wurde. Die erste Auswirkung zeigte sich in den Aufrufen und Parteitagsbeschlüssen. Sie blieben bezüglich der Schulpolitik unspezifisch und vage. Die traditionellen Kernforderungen fehlten. Neben den ergänzenden Programmpunkten wie Schulgeld-und Lehrmittelfreiheit hatte sich der Parteitag von 1948 nur noch auf eine „sechsjährige Grundschulpflicht" einigen können Aber auch diese und andere ergänzende Forderungen wurden bis hin zum Godesberger Programm eine nach der anderen fallengelassen.

Das soll hier aus der rückblickenden Sicht von heute so kurz zusammengefaßt wiedergegeben werden, ohne im einzelnen auf die Gründe einzugehen. Denn im Hinblick auf das Thema Umerziehung ist die Entwicklungstendenz dieser Partei wichtig, die von ihrer Geschichte her als einzige große deutsche gesellschaftliche Kraft in Frage kam, das deutsche Schulsystem demokratisch zu organisieren. Die in der Sozialdemokratie beschworene Umerziehung blieb jedoch Deklamation, wurde zumindest von den Führungskreisen der Partei in der Form grundlegender Reformen der Schulstruktur zu diesem Zeitpunkt nicht für wichtig gehalten und auch nicht für richtig. Exkurs Eine demokratische Schulstruktur aber wäre wohl die Voraussetzung gewesen, wenn die Umerziehung eine Erziehung zur Demokratie hätte werden sollen. Zumindest muß der Wert resp.der Erfolg eines Unterrichts, der zu demokratischen Einstellungen, Verhaltenweisen und Lebensformen (way of life) insgesamt erziehen soll, fraglich erscheinen, wenn dieser Unterricht in einem Schulsystem stattfindet, in dem die Bildungswege der Mehrzahl der Kinder in Sackgassen enden und berufliches Fortkommen später blockiert wird. Zweifel an einer dauerhaften Effektivität einer punktuellen Erziehung zur Demokratie ist angebracht, wenn außerdem die Organisation der Lehrund Lernprozesse insgesamt autoritär ist und die erworbenen demokratischen Verhaltensweisen nicht angewandt werden können. Denn Schulstruktur und Lernorganisation üben weit über die Prozesse intentionalen Lernens hinaus konkrete Sozialisationswirkungen aus.

Das deutsche Erziehungswesen hatte in den rund 150 Jahren seines Bestehens bis 1945 die Funktion gehabt, die sozialen Strukturen der Bevölkerung über die ungerechte Verteilung von Bildungschancen im Sinne der bereits Privilegierten aufrechtzuerhalten. Einmal tat es dies tatsächlich, zum anderen vermittelte es der Bevölkerung qua Institution die Einstellung, daß diese Verteilung gerechtfertigt sei. Die Legitimierung dieser Tatbestände wurde auch von Pädagogen selbst besorgt, z. B. mit der Lehre von der „biologisch gegebenen Ungleichheit“ und der Theorie von der den Lebensnotwendigkeiten angepaßten dreigliedrigen Schulstruktur, die der Differenzierung der Interessen und Begabungen in technische und soziale einerseits und theoretische andererseits um das 10. Lebensjahr herum entspreche

Das Schulsystem war um 1800 in einer historischen Situation entstanden, in der Privilegien in der deutschen Gesellschaft bestimmend waren, jedoch durch Ereignisse wie die Aufklärung und die Französische Revolution, die nicht auf Frankreich beschränkt bleiben konnte, bedroht waren. Auch die industrielle Revolution in England hatte bereits stattgefunden — und es war deutlich geworden, daß die Industrialisierung viele Werte verändern würde. Die Pädagogik der Aufklärung hatte zudem die Verwertbarkeit der Bildung als Ausbildung proklamiert.

Gegen all diese-Zeittendenzen hatte Wilhelm von Humboldt sein am klassischen Griechentum ausgerichtetes Ideal allgemeiner Menschenbildung konzipiert. Dieses angeblich zeitlose, jedoch an vollkommen anderen gesellschaftlichen Zuständen orientierte Ideal hatte seither die Bildungsorganisation der deutschen Schulen bestimmt Da es an der gesellschaftlichen Wirklichkeit seiner Zeit vollkommen vorbeiging, ihr angeblich entgegenzuarbeiten versuchte, war es für eine weit-und praxisferne Bildung verantwortlich, die nur einen einzigen Zweck verfolgte und auch erreichte: die unteren sozialen Klassen von dieser Art Luxusbildung auszuschließen, den oberen sozialen Klassen aber auf Grund des Auslese-charakters, den diese Art Bildung entwickeln mußte, den Zugang zu den gesellschaftlichen Machtpositionen zu öffnen.

Die Erhaltung der bestehenden Schulstruktur und die weitere Gültigkeit der neuhumanistischen Bildungsphilosophie mußten nach allgemeiner amerikanischer Überzeugung einer Demokratisierung des deutschen Volkes zuwiderlaufen und damit das Experiment, eine dauerhafte Demokratie in Deutschland bzw. Westdeutschland zu errichten, gefährden. Die Umerziehung hätte also mehr als z. B. nur eine inhaltliche Reform sein müssen.

Eine Demokratisierung der Schulstruktur, die Organisation der Schule nach Schulstufen anstelle der praktisch undurchlässigen drei Schularten (Volks-, Mittel-und Oberschule) wäre nach 1945 nicht unmöglich gewesen, wenn die Sozialdemokraten in der amerikanisch besetzten Zone die Kultusbürokratien besetzt, die Kultusminister gestellt und eine aktive Reformpolitik betrieben hätten. Denn die Amerikaner waren mit der Absicht der Demokratisierung des deutschen Bildungswesens in das besiegte Land gekommen. Im folgenden sollen nur die amerikanischen Vorstellungen zur Schulpolitik dargestellt werden, nicht diejenigen für die Massenmedien. Während der Planungsphase für die Nachkriegszeit hatte es in Washington zwei Konzepte für die Behandlung Deutschlands gegeben, die einander ausschlossen und die gegenseitig die Durchsetzung eines geschlossenen Konzeptes verhinderten. Dies gilt nicht nur für die Gesamtbesatzungspolitik, sondern auch für die meist mit dem Namen Re-education bezeichnete Politik, die zu deutsch verkürzt und einseitig als Umerziehungspolitik firmierte. Bei der Durchführung dieser Re-education-Politik in Deutschland nach Kriegsende spielte die Planungsgruppe um den Finanzminister Morgenthau jedoch keine Rolle mehr Deshalb soll hier nur auf das Umerziehungskonzept der sog. realpolitischen Schule eingegangen werden, das unter anderem auf Grund des Richtlinienstreites in Washington erst im Laufe der Nachkriegsjahre formuliert wurde.

Zunächst kamen die . Realpolitiker’ mit der Überzeugung nach Deutschland, daß die Deutschen nach dem Zusammenbruch selbst tiefgrei-fende Reformen einleiten und durchführen würden. Die Anweisungen an die amerikanischen Erziehungsoffiziere gingen deshalb dahin, demokratische Reformen zu ermutigen und zu unterstützen, nicht jedoch eigenständig aktiv zu werden Im August/September 1946 jedoch stellte die amerikanische Erziehungskommission, ein Gremium von Gutachtern, das die amerikanische Zone zum Zwecke der Bestandsaufnahme bereiste, in ihrem Bericht fest, daß diese Politik keine Erfolge gezeitigt habe. Sie machte ausführliche Vorschläge, welche Reformen die Amerikaner in Deutschland mit Hilfe eines entschiedeneren Vorgehens anstreben sollten Der Teil dieser Forderungen, der in die Anordnungen der Militärregierung für Erziehung (MGR) vom März 1947 einging, soll hier wiedergegeben werden, denn nur diese Vorschläge wurden Teil der offiziellen Politik.

Die wichtigste Richtlinie war zweifellos die, daß die Schulen für alle Jugendlichen gemeinsam ein zusammenhängendes Erziehungs- System bilden sollten (schools ... shall form a comprehensive educational System). Anstelle verschiedener Schulformen sollten zwei auieinanderiolgende Schulstuien für den Elementar- und den Sekundarbereich geschaffen werden. Bei Differenzierung der Sekundarstufe sollten Übergänge innerhalb der Stufen jederzeit möglich sein. Für die Lehrerausbildung wurde einheitlich Universitätsrang proklamiert. Zusätzlich wurden Schulgeld-und Lernmittelfreiheit sowie Unterstützungsbeihilfen für sozial Schwache gefordert

Reformen solcher Art sollten die strukturellen Voraussetzungen für die Schule in einem demokratischen Staat schaffen. Die gewünschte Reform der Inhalte, die in der alliierten Kontrollratsdirektive Nr. 45 am deutlichsten angesprochen wird, hatte vor allem ein Ziel: Das Verständnis für andere Völker und die Achtung vor ihnen sollten gefördert werden. Dies meinte man z. B. durch eine Vorrangstellung der modernen Sprachen (auf Kosten der alten) erreichen zu können, aber auch und besonders durch eine „Erziehung zu staatsbürgerlicher Verantwortung und demokratischer Lebensweise"

Soviel zu den wichtigsten amerikanischen Programmsätzen, die bis Mitte 1947 schriftlich fixiert und für die Besatzungsoffiziere verbindlich vorlagen. Zweifellos war dieses Konzept im Vergleich zu dem christdemokratischen Vorhaben der totalen Rückkehr zum althergebrachten deutschen Schulsystem des 19. Jahrhunderts ein beachtliches und nennenswertes Reformprogramm.

Im Vergleich zu den traditionellen Reformforderungen der Sozialdemokraten waren die Kernpunkte der Strukturvorstellungen vielleicht etwas konkreter, andererseits fehlte bei den Amerikanern die Forderung nach der Trennung von Kirche und Schule. Die Amerikaner hielten die Kirchen für eine der wesentlichen Kräfte des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus und nahmen an, daß die Kirchen in Kooperation mit ihnen zur Erneuerung beitragen würden.

Die Vokabel Umerziehung hat heute einen negativen Klang. Ob sie ihn zur damaligen Zeit bereits gehabt hat, ist zu bezweifeln. Wie wäre es sonst verständlich, daß sie auch von der CDU und der SPD benutzt wurde? Ob sie heute so noch gebraucht wird, hängt mit dem ideologischen Standort des Benutzers zusammen.

Obwohl auf neonazistischer Seite für die diesbezügliche amerikanische Politik die Bezeichnung Charakterwäsche geprägt worden ist, wird dem Begriff . Umerziehung’ in rechtsradikalen Kreisen der gleiche maliziöse Klang verliehen, mit dem bedauernden Hinweis darauf, daß eine systematische Umerziehung der deutschen Jugend stattgefunden habe und daß diese endlich wieder rückgängig gemacht werden müsse. Das Programm der . realpolitischen'Amerikaner und die offiziellen amerikanischen Verordnungen für die Erziehungsoffiziere sind mit dem Begriff . Umerziehung'zumindest sehr mißverständlich umschrieben. Strukturreformen im Bildungswesen, die größere Chancen-gleichheit im Erwerb von Qualifikationen herstellen sollen, und die Einführung sozialkund-licher Elemente in den Unterricht eines Schulsystems einer Gesellschaft, deren Regierungsform demokratisch sein soll, haben mit Umerziehung wenig zu tun, noch dazu, wenn diese Forderungen traditionell in Deutschland selbst schon lange bestanden.

Der Stellenwert der Umerziehung in der Politik nach 1945

Die Programme sowohl der Parteien als auch der amerikanischen Besatzungsmacht allein sagen noch nichts darüber aus, wie wichtig sie von ihren Vertretern genommen wurden, welchen Stellenwert sie innerhalb eines gesamtgesellschaftlichen Konzeptes hatten.

Für die CDU und CSU ist von entscheidender Bedeutung, daß praktisch all ihre vier Programmsätze in den Verfassungsgebungen der Länder berücksichtigt wurden. Nur das Land Bremen bildete eine Ausnahme. Hieraus wird deutlich, daß die Forderungen der christlich-bürgerlichen Parteien keine Deklamation waren, sondern daß dafür gekämpft wurde. Während z. B. über die wirtschaftspolitischen Grundsätze innerhalb der CDU in den ersten Jahren noch Richtungskämpfe geführt wurden, die ihren Ausdruck sogar in unterschiedlichen Länderprogrammen fanden (z. B. Ahlener Programm), gab es in der Kulturpolitik kaum nennenswerte Meinungsverschiedenheiten. Daß man der Schul-und Kulturpolitik besondere Bedeutung beimaß, kommt z. B. in der Tatsache zum Ausdruck, daß man in den drei großen Ländern der amerikanischen Zone die Ministerposten für den kulturellen Bereich fast die gesamte Besatzungszeit über innehatte, nicht jedoch die Ministerien für Wirtschaft. Anders die SPD: Ihre Prioritäten galten in der Nachkriegszeit der Wirtschaftspolitik. Zeitweise stellte sie in allen acht damals bestehenden Ländern den Wirtschaftsminister. Den Sozialdemokraten lag vor allem daran, eine neue Wirtschaftsordnung zu schaffen, denn ihre führenden Männer wie z. B. Victor Agartz waren der Meinung, daß das kapitalistische Wirtschaftssystem mitverantwortlich für die Herrschaft des Nationalsozialismus gewesen war Die SPD wollte wirtschaftspolitisch einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus gehen. Die Kulturpolitik war demgegenüber eindeutig nachrangig. Das bedeutete zwar nicht, daß die SPD dort, wo sie über große Mehrheiten verfügte, wie z. B. in den Stadtstaaten, diese nicht auch für die Schulpolitik nutzte. In Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein gelang es ihr beispielsweise, die sechsjährige gemeinsame Grundschulzeit einzuführen, in Berlin sogar die achtjährige Die Reformen wurden allerdings zum größten Teil nach den nächsten Wahlen durch Koalitionen, in denen bürgerliche Parteien regierten oder mitregierten, revidiert.

Das so bezeichnete Umerziehungsprogramm der CDU hatte mit Neuordnung der Schulstruktur oder Neuorientierung der Lehrinhalte und der Lernorganisation nicht das geringste zu tun. Die Sozialdemokraten hatten sich andere Prioritäten gesetzt, als zu diesem Zeitpunkt einen grundlegenden Wandel der Schulstruktur zu erreichen. Die Aufmerksamkeit wendet sich deshalb den Amerikanern zu, die mit einem relativ klaren Reformkonzept angetreten waren. Hatte die Umerziehung für sie einen genügend großen Stellenwert, so daß zumindest Teile von ihrem Programm verwirklicht werden konnten? Wenn die Re-education-Politik doch nur eine untergeordnete Rolle spielen sollte, auf welchem Weg wollten die Amerikaner dann die Demokratisierung der Westdeutschen erreichen? Wie sah das Demokratiekonzept der amerikanischen Besatzungsmacht aus?

Die Re-education-Politik ist bisher in Deutschland häufig als wichtigster Zweck der Besatzungspolitik angesehen worden. Die wissenschaftlichen Untersuchungen, die zu diesem Thema ab 1970 erschienen, verstärkten diese Ansicht zum Teil schon dadurch, daß sie die Umerziehungspolitik als alleinigen Gegen-stand wählten oder dadurch, daß sie schlußfolgerten, die Amerikaner hätten Re-education als „Voraussetzung für die Demokratie in Deutschland" verstanden Das dezidierte Reformprogramm und die verstärkten Bemü• hungen der Amerikaner ab 1947 sind sehr dazu angetan, dieses Urteil zu stützen, ebenso die Tatsache, daß von 1942 an Besatzungsoffiziere für diesen Zweck ausgebildet wurden und daß die . Realpolitiker'eine Planungsgruppe für die Schulpolitik eingesetzt hatten, lange bevor Morgenthau und seine Leute sich konkrete Gedanken zu diesem Thema machten. Besonders aber die im Juni 1947 erlassene Direktive JCS 1779 legt solche Schlußfolgerungen nahe. Denn sie erklärt die Erziehung als „eines der primären Mittel“, „um ein demokratisches und friedliches Deutschland zu schaffen“ Wichtig ist hierbei, daß diese Direktive im Gegensatz zu der berühmt-berüchtigten Direktive JCS 1067 in klarer und alleiniger Verantwortung der sog. Realpolitiker entstanden ist, die die schulpolitische Besatzungspolitik von 1945 an in Händen gehabt hatten.

Um jedoch die tatsächliche Bedeutung, die die amerikanische Schulpolitik in Deutschland hatte, zu ermitteln, muß diese als Teil der Gesamtbesatzungspolitik gesehen werden. Die Besatzungspolitik der . Realpolitiker'aber muß ebenso wie das Programm der Morgenthau-Seite innerhalb eines weltpolitischen Macht-konzeptes betrachtet werden.

In dem , realpolitischen'Konzept wurde die Bedeutung des europäischen Kontinents für Amerika hoch veranschlagt. Deutschland nahm dabei als Industriemacht einen wichtigen Platz ein. Die . Realpolitiker'fürchteten, daß ein wirtschaftlich geschwächtes oder ein vollkommen entmachtetes Land für die Sowjetunion zum Einfallstor nach Europa werden würde. Deshalb bestimmte die Direktive CCS 551 die noch unbeeinflußt von Morgenthaus Einspruch zustande gekommen war, daß die deutschen Industrieanlagen intakt bleiben und die Bergwerke weiter arbeiten sollten. Ziel dieser Vorstellungen war die Integration der deutschen Wirtschaft in das westliche Wirtschaftssystem.

An diesem Ziel wurden die Maßnahmen zur'

Behandlung Deutschlands orientiert, vor allem die wirtschaftlichen. So hielten die . Realpolitiker'z. B. nicht nur eine gewisse wirtschaftliche Stabilität für erforderlich, sondern auch einen . tolerierbaren'Lebensstandard, der einem mittleren Niveau, verglichen mit den übrigen europäischen Nationen, entsprechen sollte Mit der Befürwortung einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung einher ging die Ablehnung des Kommunismus und die Absicht, eine Demokratie westlicher Prägung in Deutschland zu errichten.

Exkurs Das schulpolitische Ziel, ein integriertes, durch zusammenhängende Schulstufen gekennzeichnetes Schulsystem in Deutschland zu errichten, widersprach diesen gesamtbesatzungspolitischen bzw. weltmachtpolitischen Zielen keineswegs. In den Vereinigten Staaten selbst existierte zu der Zeit schon etwa fünfzig Jahre lang die integrierte Gesamtschule, die es im Prinzip jedem Kind ermöglichte, zwölf Jahre lang zur Schule und anschließend zur Universität zu gehen. Dieses Schulsystem hatte sich historisch entwickelt und als Voraussetzung einen breiten Konsens in allen Bevölkerungsschichten. Sowohl konservative wie auch progressiv eingestellte Politiker bejahten diese an der Chancengleichheit orientierte Schulorganisation, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Verschiedene philosophische Traditionen und politische Erfahrungen waren für die Entstehung dieser Schulform verantwortlich.

Die iortschrittliche Tradition fußte in der in der Unabhängigkeitserklärung niedergelegten „Philosophie der amerikanischen Demokratie" „daß alle Menschen gleich geschaiien sind“. Die Idee einer gleichen Erziehung für alle, die bald nach der Unabhängigkeit in Amerika Verbreitung fand, wurde auch durch die aus der Aufklärung stammende Vorstellung von der unendlichen Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen begründet. Beide Uber-Zeugungen sind zudem die Wurzeln für den so typisch amerikanischen Fortschrittsglauben wie auch für den in der westlichen Welt ebenfalls nur in Amerika vorhandenen Glauben an die Macht der Erziehung, aus dem in diesem Jahr-hundert schließlich die Re-education-Idee geboren wurde.

Die konservative Tradition datiert ebenfalls aus dem Jahrhundert der amerikanischen Revolution, nämlich aus der „Philosophie der Verfassung" die dazu konzipiert worden war, die während der Unabhängigkeitskriege und in der darauffolgenden Zeit außer Kontrolle geratenen politischen Kräfte der kleinen Farmer und Handwerker wieder in den Griff zu bekommen und die politische Macht des Volkes, der Majorität, in Grenzen zu halten. Selbst die Gleichheit vor dem Recht wird in der Verfassung nicht einmal garantiert, sondern konnte erst in der Bill of . Rights, einem Zusatz zur Verfassung, erkämpft werden Die konservativen Verfassungsväter sahen die Notwendigkeit einer allgemeinen Erziehung des Volkes — zumindest theoretisch — bereits ein. Schon sie waren der Meinung, daß jede Regierung des Volkes der Wachsamkeit einer informierten Öffentlichkeit bedürfe, um vor Demagogen und Revolutionären geschützt zu sein Sie erkannten bereits, daß eine allgemeine erzieherische Grundlage soziale Desintegration verhindern könne. Für eine Nation, die durch die Jahrhunderte immer neue Einwandererströme aufzunehmen hatte und als „melting pot of people“ besondere Integrationsprobleme zu lösen hatte, war dies auf konservativer Seite durch die Geschichte der Schulentwicklung hindurch ein roter Faden, der die immer größere Erweiterung der Schulbildung, des Sprachunterrichts und der Erziehung aller zur Bejahung gemeinsamer Werte bedingte. Die Erziehung zur Anpassung an die geltenden angelsächsischen Standards diente der Stabilisierung des vorhandenen Herrschaftssystems und verhinderte das Auseinanderbrechen der Nation in sich befehdende Volksgruppen.

Neben diesem Kampf zwischen der „Philosophie der amerikanischen Verfassung" und der „Philosophie der amerikanischen Demokratie", der sich durch die Geschichte der Entwicklung des amerikanischen Schulsystems zieht . ist ein zusätzlicher Faktor für die Ausdehnung des Schulbesuchs aller Jugendlichen bis zum 16. Lebensjahr verantwortlich, nämlich das gegen Ende des 19. Jahrhunderts rapide Fortschreiten der Industrialisierung mit all den dadurch bedingten radikalen Veränderungen der menschlichen Lebensbedingungen wie Landflucht, beschleunigte Verstädterung, Verelendung großer Massen, Eingriff in die Familienstruktur, Änderung der von der Familie bis dahin wahrgenommenen Sozialisations-und Erziehungsfunktion etc. Die auf Modernisierung und Fortschritt eingestellte . Neue Weit', in der vor allem die Leistungsfähigkeit und die Initiative des einzelnen zählten, erkannte, daß die sich schnell wandelnde Industriegesellschaft eine grundlegende berufliche Ausbildung aller benötigt, um ausreichend mobil zu sein. Da überkommene Privilegien in dieser Gesellschaft weniger zählten als persönliche Tüchtigkeit, war es wichtig, das gesamte Begabungsreservoir auszuschöpfen und nicht nur eine Elite schulisch zu fördern. Es ist deshalb keineswegs erstaunlich, daß die Möglichkeit einer Sekundarerziehung für alle, die Verlängerung der Schulpflicht und die Einbeziehung der technischen Welt in die Schule durch eine berufliche Grundausbildung nicht von Progressiven erkämpft werden mußte, sondern von konservativer Seite Schritt für Schritt realisiert wurde.

Nachdem Ende des letzten Jahrhunderts die Erweiterung der allgemeinen Erziehung für alle begonnen hatte, führte die gesellschaftspolitisch . Progressive Bewegung'Anfang dieses Jahrhunderts zu einem überdenken traditioneller Werte und Inhalte. Besonders von dem Philosophen des Pragmatismus und Erziehungstheoretiker John Dewey gingen starke Impulse aus Von den damals neuesten psychologischen und sozialpsychologischen Erkenntnissen ausgehend, machte er deutlich, daß der Mensch und seine Gedanken von der Umwelt bestimmt sind und daß dieser die Fähigkeit habe, aus — besonders sozialen — Erfahrungen zu lernen Die Schüler sollten, anknüpfend an ihre speziellen Interessen und Fähigkeiten sowie aufbauend auf ihren individuellen Erfahrungen, an die Probleme der Gesellschaft, der Berufswelt und der Politik herangeführt werden. Ausgehend von Spiel und Arbeit sollte ihnen nach und nach die Kompetenz zu planmäßigem wissenschaftlichen Forschen vermittelt werden Sie sollten die Fähigkeit erlangen, für die in einer komplexen, demokratisch zu organisie-renden Industriegesellschaft sich ständig neu ergebenden Probleme selbst Lösungsmöglich-keiten zu erarbeiten. Im Gegensatz zum sprachlich-literarischen Schwerpunkt im herkömmlichen humanistischen Lehrplan sollte nach Dewey das historisch-geographisch-ökonomisch-naturwissenschaftliche Unterrichtsfeld als integrierter sozialwissenschaftlich gelehrter Unterrichtsgegenstand im neuen Curriculum den „Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart" liefern und die Voraussetzungen für eine evolutionäre Entwicklung zu einer klassenlosen demokratischen Gesellschaft schaffen

Deweys Anstöße bewirkten starke Veränderungen in der amerikanischen Schule, die allerdings im einseitig angewandten Deweyismus verflachten. Sein Prinzip, von den Interessen des Kindes auszugehen, mißverstanden die Praktiker dahin gehend, das Kind in das Zentrum der Lernprozesse zu stellen und jeglichen festen Lehrkanon fällenzulassen Deweys Forderung solidarischer Zusammenarbeit der Lernenden zur Findung von Lösungsmöglichkeiten verflachte durch die Betonung einer Kooperation um des Prinzips willen im Schulalltag zu einer Erziehung zur Anpassung und Verhaltenskonformität Und die von Dewey an den Beginn kindlichen Lernens gesetzten Lernformen von Spiel und Arbeit wurden in der Schulwirklichkeit zum alleingültigen Prinzip des learning by doing’, dem z. T. schon die nur am Anfang intellektuellen Lernens stehenden Techniken richtigen Buchstabierens, Lesens etc. zum Opfer fielen

Gerade die nach Deutschland kommenden Reeducation-Oiiiziere waren von den Gedanken Deweys geprägt. Doch sie hatten hier mit den demagogischen Verunglimpfungen der amerikanischen Schule zu kämpfen Bei den in der deutschen Oberschicht versammelten Anhängern einer elitären Bildung für die eigenen Kinder, die angeblich besonders theoretisch lernbegabt seien, wurden durch den Deweyismus hervorgerufene schlechte Lernergebnisse der amerikanischen Schule insgesamt angelastet, also auch ihrer organisatorischen Konzeption der integrierten Sekundarerziehung für alle.

Vor dem hier angedeuteten gesellschaftlichen und philosophisch-bildungstheoretischen Hintergrund der Entwicklung zur amerikanischen integrierten Gesamtschule ist die Überzeugung selbst der realpolitischen’ Amerikaner, daß das dreigliedrige deutsche Schulsystem, das nach dem Gesichtspunkt der Elitenförderung organisiert ist, einem demokratischen Regierungssystem entgegenarbeite, einleuchtend. Die mit Re-education-Aufgaben speziell betrauten Amerikaner sahen die Situation wesentlich schärfer. Sie kamen zu der Auffassung, daß dem deutschen Schulsystem viel Mitschuld an der Ausbreitung des Nationalsozialismus anzulasten sei, da es „bei einer kleinen Gruppe eine überlegene Haltung und bei der Mehrzahl der Deutschen ein Minderwertigkeitsgefühl entwickelt (hat), das jene Unterwürfigkeit und jenen Mangel an Selbstbestimmung möglich machte, auf denen das autoritäre Führerprinzip gedieh"

Die Durchsetzung des sogenannten realpolitischen Gesamtkonzepts

Das , realpolitische'Gesamtkonzept und die in diesem Rahmen konzipierte Re-education-Politik also widersprachen sich nicht. Um nun den Stellenwert der letzteren herauszufinden, ist eine Untersuchung der Durchsetzung des sog. realpolitischen Gesamtkonzepts erforderlich. Diese kann hier nur ansatzweise und nur in wesentlichen Punkten wiedergegeben, nicht jedoch abgeleitet werden

Der Kampf um die Durchsetzung wurde konkret in der Direktive JCS 1067. Bis zu ihrer Verabschiedung am 28. April 1945 bzw. ihrem Inkrafttreten am 11. Mai 1945 war es der sog. realpolitischen Seite gelungen, das wirtschaftliche Zerschlagungskonzept der Morgenthau-Gruppe zu verhindern. Die von diesen Kräften erhoffte Entindustrialisierung und Re-47 agrarisierung Deutschlands konnte auf Grund der Kompromisse, die sie mit den sog. Real-politikern hatten eingehen müssen, nicht stattfinden.

Zwar war es den . realpolitischen'Kräften noch nicht gelungen, ihr Wiederaufbauprogramm in der Direktive zu verankern, aber die Voraussetzungen dafür waren mit der Erhaltung der deutschen Industrieanlagen gegeben

Schon in Potsdam im Sommer 1945 gelang den sog. Realpolitikern die Festschreibung ihrer wesentlichen wirtschaftlichen Programmpunkte.

Nach Roosevelts Tod hatte mit Truman ein . realpolitischer'Verfechter die Regierungsgeschäfte übernommen, was noch vor der Potsdamer Konferenz zur Entlassung Morgenthaus und einer schnellen Abnahme des Einflusses der durch ihn repräsentierten Kräfte und Interessen führte. Außerdem besetzte Truman das Außenministerium mit James F. Byrnes durch einen Mann, der das Konzept der Eindämmung russischer Hegemonie-und sowjetischer Ideologisierungsbestrebungen vertrat Den . realpolitischen'Amerikanern war schon 1943/44 während der Planungen deutlich geworden, daß ihr Konzept der Restauration des Kapitalismus — bei hartnäckiger Verfolgung sowjetischer Interessen im sowjetisch besetzten Gebiet — zur Spaltung Deutschlands führen könnte Aber die Erhaltung der deutschen Wirtschaftsmacht für Europa hatte für sie höchste Priorität, notfalls die Erhaltung des Potentials der westdeutschen Wirtschaft für Westeuropa. Für die Sowjets war neben territorialen Ansprüchen die Anerkennung der Reparationsforderung von 10 Milliarden Dollar von vorrangigem Interesse Indem die Amerikaner in Potsdam die Verwaltung aller polnisch besetzten Gebiete durch Polen sowie die Befriedigung der Reparationsansprüche der UdSSR durch Entnahmen aus der von ihr besetzten Zone anerkannten, erreichten sie die Bereitschaft Stalins, die von den Amerikanern für wesentlich gehaltenen Grundsätze der wirtschaftlichen Behandlung Deutschlands zu akzeptieren

Der Kernpunkt der diesbezüglichen Abmachungen lautete: „Die Bezahlung der Reparationen soll dem deutschen Volk genügend Mittel belassen, um ohne Hilfe von außen zu existieren"

Gleichzeitig einigte man sich auf die schon in der Direktive CCS 551 festgelegte Kontrolle des gesamten Import-Export-Warenaustausches und besonders auf einen Ein-fuhr-Ausfuhr-Ausgleich.

Dies sollte die Garantierung des amerikanischerseits für notwendig gehaltenen angemessenen Lebensstandards ermöglichen, den die sog. Realpolitiker als Vorbedingung für die erfolgreiche Errichtung einer Demokratie westlicher Prägung ansahen.

Das Postdamer Abkommen hat mit diesen hier nur in groben Zügen angedeuteten Abmachungen eine vielfältige Bedeutung, die bisher nur unzulänglich erkannt worden ist. Zum einen bedeutete die Revision entscheidender ökonomischer Bestimmungen von JCS 1067, daß die . realpolitische’ Schule bei den Amerikanern sich auf dem für sie vorrangigem Gebiet der Wirtschaft voll durchgesetzt hatte und die Politik des wirtschaftlichen Wiederaufbaus beginnen konnte. Zum zweiten hatte in Potsdam zwar noch keine der beiden Seiten (Sowjets und Amerikaner) die Hoffnung aufgegeben, ihren Einfluß über den jeweils besetzten Teil Deutschlands auf das ganze Land ausdehnen zu können, aber jede war realistisch genug, für den Fall der Beschränkung ihrer Interessen auf ihren eigenen Einflußbereich, diesen abzugrenzen. Durch die Anerkennung der Interessen wenigstens für den eigenen Bereich nahm die Sowjetunion lieber den Eisernen Vorhang'in Kauf als das Mitspracherecht der Alliierten auch noch in der SBZ. Gleiches ist umgekehrt für die Amerikaner zu sagen, die zwar erreicht hatten, daß das Potsdamer Abkommen Deutschland als „eine wirtschaftliche Einheit" betrachtete, die aber bereits in der Direktive JCS 1067 für den Fall fehlender Übereinstimmung vorgesorgt hatten. Der amerikanische Oberbefehlshaber hatte dann die Vollmacht, selbst für seine Besatzungszone zu entscheiden und zu handeln (Punkt 3 b).

Die Schlußfolgerung, die aus den hier angedeuteten Bestimmungen zu ziehen ist, muß lauten: Das Potsdamer Abkommen ist als das Maniiest der deutschen Spaltung zu betrachten.

Diese Feststellung ist insofern für die Frage nach dem Stellenwert der Re-education-Politik von Bedeutung, als damit ein sehr großer Teil der amerikanischen Besatzungsmaßnahmen von diesem Zeitpunkt an der schrittweisen Verwirklichung des sog. realpolitischen Konzepts zuzuordnen ist.

Ging dieser Prozeß in den ersten Monaten nach außen noch weithin unsichtbar vor sich, so war das erste nicht übersehbare Zeichen für den Beginn des Kalten Krieges der von Clay am 3. Mai 1946 verkündete Reparationsstopp Zu diesem Zeitpunkt war auf der im März/April 1946 in Paris abgehaltenen Nachfolgekonferenz zu Potsdam deutlich geworden, daß über die Übereinkünfte von Potsdam hinaus keine Einigungsmöglichkeiten mehr bestanden, so daß in Washington das Startzeichen für eine vorsichtige, allmählich sichtbar werdende Politik der Reintegration der Westdeutschen in die westliche Völkergemeinschaft gegeben wurde.

Jetzt aktivierten die sog. Realpolitiker auch die Re-education-Politik. Am 16. Mai 1946 wurden die ersten langfristigen Richtlinien verabschiedet die zwar keinerlei konkrete Reformvorstellungen enthielten, jedoch globale . realpolitische'Rahmenbedingungen für die Re-education-Politik festsetzten Auf Grund dieser . Umerziehungsdirektive'wurde dann die amerikanische Erziehungskommission nach Deutschland gesandt, die im Zook-report die Vorschläge zur aktiveren Reform-politik der deutschen Schulen durch die amerikanischen Re-education-Offiziere machte, die 1947 dann z. T. in die Anordnungen der Militärregierung eingingen und die anfangs dargestellt worden waren. Auf Grund dieser Anordnungen hatten die Erziehungsabteilungen die Möglichkeit erhalten, zu festgesetzten Terminen Reformentwürfe von den deutschen Kultusministerien zu verlangen und die Erarbeitung neuer anzuordnen. Wenn die deutschen Vorschläge den in den MGRs beschriebenen Anforderungen an demokratische Reformen nicht genügten, konnten die deutschen Pläne zurückgewiesen und die Erarbeitung neuer angeordnet werden. Diese Vollmachten wurden das Jahr 1947 über durch die Erziehungsoffiziere aktiv genutzt. Die Vorschriften wurden jedoch nicht in dem Sinne dogmatisch angewandt, daß deren genaue Einhaltung bei der Vorlage der deutschen Pläne verlangt wurde. Bei grundsätzlicher Bereitschaft einzelner Länder-Kultusministerien, eine sechsjährige gemeinsame Grundschulzeit einzuführen, sind deutsche Vorschläge, innerhalb dieser sechs Jahre schon nach dem vierten Schuljahr mit Differenzierungen zu beginnen, nicht abgelehnt worden. Denn obwohl die Re-education-Politik stärker forciert wurde, stand sie unter dem in JCS 1779 festgelegten Motto, daß die amerikanische Regierung „Deutschland nicht ihre eigenen, geschichtlich entwickelten Formen der Demokratie und der gesellschaftlichen Ordnung aufzwingen" wollte (Punkt 6. c). Andererseits ist an dieser Stelle ganz klar festzuhalten, daß die 1946 begonnene Verstärkung der amerikanischen Re-education-Bemühungen nicht nur der Überwindung der Gefahr dienen sollte, daß die Deutschen sich erneut einem nationalsozialistischen Führer zuwenden könnten. Das geplante Ergebnis, die Demokratisierung, hatte von Beginn an als integralen Bestandteil des . realpolitischen'Konzeptes das Ziel der Abwehr des Kommunismus. Dies ist nicht nur aus der Kenntnis des . realpolitischen'Gesamtkonzeptes zu folgern, sondern die . realpolitische'Direktive vom Sommer 1947 fährt fort, daß die amerikanische Regierung „ebenso fest davon überzeugt (ist), daß ihm (Deutschland, L—Qu) keine anderen, fremden Formen aufgezwungen werden sollten" (JCS 1779 Punkt 6. c). Die Befürchtung also, daß Deutschland Einfallstor der Sowjetunion nach Europa sein könnte, stand auch bei der Konzeption der Re-education-Po-litik Pate, wenn auch nicht in einem platten ideologisch zu vermittelnden Antikommunismus, sondern einmal in der Überzeugung, daß die durch eine Demokratisierung der Schulstrukturen erreichte größere Chancengleichheit ein stabiles Fundament für eine demokratische Regierungsform schaffe. Denn die auf einem solchen Bildungs-und Ausbildungssystem aufbauende Sozialstruktur ist durch wesentlich höhere Mobilität gekennzeichnet, und die theoretisch für viele gegebene Chance, aufzusteigen, wirkt integrierend und systemstabilisierend.

Darüber hinaus sollte das Vorhaben, eine Art Social-Studies-Konzept in die Lehrpläne der deutschen Schulen einzubinden, neue soziale und politische Einstellungen und Verhaltensweisen bewirken und die Deutschen schon in der Schule mit einer demokratischen Lebensweise vertraut machen. Dieses Programm war recht umfassend, da der sozialwissenschaftliche Unterricht sowohl Unterrichtsprinzip als auch -methode sein sollte, aber darüber hinaus in einigen . Kernfächern'besonderes Gewicht haben und auch als Fach gelehrt werden sollte. Die Vorschläge für die einzelnen Fächer liefen auf einen sehr lebensnahen, um die Probleme menschlichen Zusammenlebens in einer techni-sierten und verwalteten Gesellschaft organisierten Unterricht hinaus, in dem das Kind den Wert menschlicher Arbeit, die Bedeutung des geographischen Raumes, die Verwurzelung und Entstehung des Gegenwärtigen in der Vergangenheit und seine Bedeutung für die Zukunft nachvollziehen lernen sollte

Nachdem deutlich wurde, daß die Aktivierung der Re-eucation-Politik mit Beginn des Kal-

ten Krieges in Gang gesetzt wurde, sind Ver• mutungen, daß der zunehmende Antikommunismus das Umerziehungsprogramm verdrängt habe, hinfällig. Im Gegenteil: Das Scheitern der Re-education-Politik verwundert mehr als bisher. Die Frage nach den Ursachen wird noch dringender

Es klingt paradox, aber der Entschluß aus Washington, die Re-education-Politik zu aktivieren, war der Anfang vom Ende. Um die Gründe zu finden, muß die allgemeine Besatzungspolitik weiter analysiert werden. Hier sind einerseits Entscheidungen der Amerikaner festzustellen, die Präjudizierungen für die zukünftige deutsche Wirtschaftsordnung darstellten, zum anderen Eingriiie in deutsche Entscheidungsprozesse, die Vorentscheidungen darstellten.

Das Jahr 1946 war in der amerikanischen Zone einmal das Jahr der von den Amerikanern Schritt für Schritt genehmigten Wahlen, von den Kommunen bis hin zu den Länderparlamenten.

Zum anderen wurde die Wirtschaftspolitik im Sinne der Amerikaner vorangetrieben und schon seit Ende 1945 vorbereitete die Gründung der Bizone — mit der offiziellen Wende zur nun angeblich . positiven’ Politik in Stuttgart — bekanntgegeben. Den Vorsitz in deren Verwaltungsrat für Wirtschaft hatten die Amerikaner dem CDU-Mann Rudolf Mueller anvertraut Nach Abschluß aller Wahlen jedoch stellten die Sozialdemokraten alle acht Wirtschaftsminister in den Ländern der Bizone und waren dadurch in der Lage, den CDU-Mann durch den damaligen sozialdemokratischen Chefstrategen für Wirtschaft, Victor Agartz, zu ersetzen Besonders dies veranlaßte die Amerikaner — nach außen andere Gründe nennend —, die Bizonenverwaltung so umzuorganisieren, daß die SPD entmachtet und die CDU in den entscheidenden Posten erneut mehrheitlich vertreten war.

In den nunmehr zwei Jahren seit Kriegsende war den sog. Realpolitikern klargeworden, daß sie zusammen mit der SPD das , realpolitische' Wirtschaftsordnungskonzept des Wiederaufbaus des Kapitalismus nicht durchsetzen konnten. Es war aber auch deutlich geworden, daß die Chancen, dies zusammen mit der CDU zu tun, trotz des Ahlener Programms und einer — noch — fehlenden gemeinsamen Pro-grammatik, gegeben waren. Und dies war den Amerikanern wichtig. Sie wußten zwar recht genau, was sie in Deutschland erreichen wollten. Aber da sie nach offiziellem Sprachgebrauch den Besiegten die Demokratie bringen wollten, war es ausgeschlossen, diese dem unterlegenen Volk so aufzuzwingen, daß es Protest erheben konnte. Die Direktive CCS 551 hatte deshalb die indirekte Herrschaft verordnet In der Nachkriegspolitik praktizierten die sog. Realpolitiker diese Devise in der Form, daß sie nach deutschen Partnern suchten, die die amerikanischen Vorstellungen und Zielsetzungen selbst vertraten, so daß die Amerikaner diese deutschen Politiker nur noch zu unterstützen brauchten Allerdings geschah diese Beihilfe zur allmählichen Machterlangung der CDU von Fall zu Fall verschieden geschickt getarnt und für den normalen Zeitgenossen kaum durchschaubar. Nach außen gab die Militärregierung, durch die Direktiven ohnehin zur Neutralität verpflichtet immer vor, absolut neutrale Politik zu machen.

Wie sich in den ersten Landtagswahlen nach dem Krieg bei allgemein hoher Wahlbeteiligung herausgestellt hatte, waren das eher bürgerliche Lager auf der einen Seite und die eher als links geltenden Kräfte auf der anderen Seite etwa gleich groß Da in der Bevölkerung durchaus eine Neigung beispielsweise zu wirtschaftlicher Neuordnung gegeben war, konnte man in den ersten Nachkriegsjahren noch in keiner Weise absehen, welcher Richtung die Bevölkerung bei erneuten Wahlen eine Mehrheit geben würde. Anscheinend war die Entwicklung so wenig absehbar, daß die SPD bis zu den Wahlen von 1949 davon ausging, daß sie Regierungspartei würde. Zur Devise von der indirekten Herrschaft gehörte es, unbedingt zu vermeiden, daß die Deutschen, die von den sog. Realpolitikern unterstützt wurden, als Quislinge in den Augen der deutschen Bevölkerung darstünden. Schon deshalb agierten die Amerikaner vorsichtig und für die Bevölkerung, aber offenbar auch für die betroffene SPD wenig durchschaubar. (Selbst in einem großen Teil der neueren wissenschaftlichen Literatur werden die hier beschriebenen politischen Gesichtspunkte als Leitmotiv amerikanischer Entscheidungen nicht gesehen.)

Die sog. Realpolitiker, so kann man das zuletzt Dargestellte anders interpretieren, waren auf diejenigen Deutschen, denen sie zur Macht verhelfen wollten, angewiesen. Das heißt, es mußte den bürgerlichen Parteien, allen voran der CDU, gelingen, eine erfolgreiche Politik zu machen, die die Mehrheit der deutschen Wähler überzeugen würde, daß das Leben trotz der Niederlage von 1945 und der sich zunächst abzeichnenden Hoffnungslosigkeit weiterging und schließlich auch wieder bergauf, wenn man nur ihrer Führung vertrauen würde. Da es das vorrangige Ziel der sog. Realpolitiker war, die kapitalistische Wirtschaftsordnung so zu restaurieren, daß dieser Prozeß durch ein Wählervotum nicht rückgängig gemacht werden würde, mußte die Effektivität dieses Wirtschaftssystems unter Beweis gestell werden, bevor man Bundeswahlen erlauben konnte. Unter anderem wurden der Marshallplan und die Währungsreform in dieser Strategie überlegt und erfolgreich eingesetzt.

Mit dem Marshallplan sollten gleich mehrere Effekte erzielt werden Durch das Angebot, diese Gelder an alle europäischen Nationen zu vergeben, die die amerikanischen Bedingungen dafür akzeptierten, konnten die westeuropäischen Staaten, die dringend auf diese Hilfe angewiesen waren, den besiegten Gegner nicht von diesen Zuwendungen ausschließen.

Den USA gelang es so, erste westliche Gemeinsamkeiten unter Siegern und Besiegten zu schaffen und damit den Weg für weitere vorzubereiten. Für die deutsche Bevölkerung bewirkte diese Tatsache wie auch die Darstellung dieser finanziellen Förderung als großzügige humanitäre Hilfe psychologisch unter anderem eine Hinwendung zum ameri-kanischen Volk. Zwar gelang dem neuen amerikanischen Außenminister (Marshall) nicht die durch diese Finanzhilfe geplante Zurückdrän-gung des sowjetischen Einflusses aus Osteuropa (Roll back) (Die osteuropäischen Staaten durften das Angebot nicht annehmen.) Aber in Westdeutschland bewirkten die Gelder zusammen mit anderen Maßnahmen allmählich auch die Ablehnung des von den Sozialdemokraten geplanten Dritten Weges. Daß der Marshallplan besonders für die amerikanische Wirtschaft und die Innenpolitik von großer Bedeutung war, kann hier nur angedeutet werden

Bei den Eingriiten der Amerikaner in deutsche Entscheidungsprozesse ging es um Präjudizierungen der sozialstaatlichen Verfaßtheit des künftigen deutschen Staates. Neben Entscheidungen über die Organisationsformen besonders der Tarifpartner handelte es sich u. a. um Bestimmungen über Eigentumsformen, Unternehmensorganisation (Entflechtung) und um Fragen der Mitbestimmung von der einzel-betrieblichen bis zur gesamtwirtschaftlichen Ebene.

Hier soll kurz das amerikanische Vorgehen bei dem Problem der Sozialisierungen angeführt werden. Die . realpolitischen'Amerikaner waren entschlossen, Sozialisierungen in Westdeutschland zu verhindern Andererseits waren sie bemüht, dies vor der Bevölkerung nicht allzu deutlich werden zu lassen, da ihre Politik den Charakter von politischer Neutralität haben sollte. Sie hätten also Sozialisierungen nicht einfach verbieten können, sondern mußten von Anfang an politisch indirekt gegensteuern. Als z. B. die Bevölkerung des Landes Hessen ihre Verfassung in einer Volksabstimmung befürwortet hatte, obwohl sie Bestimmungen über Sozialisierung enthielt, wurden die betreffenden Paragraphen auf amerikanische Anordnung einem Sonderplebiszit unterworfen. Als die Bevölkerung auch hier mit 72 °/0 die Möglichkeit von Sozialisierungen befürwortete reagierten die Amerikaner nicht mit einem Verbot, sondern mit einer zeitlich beschränkten Suspendierung Erst als die Hessische Regierung ihre Sozialisierungspläne immer noch weiter verfolgte, verboten die Amerikaner sie „bis auf weiteres" mit der Begründung, daß einer bundeseinheitlichen Regelung nicht vorgegriffen werden solle.

Auch die Veriassungspolitik, die Eingriffe der Amerikaner in den Prozeß der Erarbeitung des Grundgesetzes, wurde in den den Amerikanern wesentlichen Punkten zugunsten der Verfassungsvorstellungen der CDU durchgeführt Neben der Kulturpolitik intervenierten die Amerikaner in fünf zentralen Punkten zu denen die beiden großen deutschen Parteien (CDU und SPD) grundsätzlich verschiedene Verfassungsvorstellungen vertraten. Die sog. realpolitischen Amerikaner zielten in allen Punkten darauf ab, die Macht des vom Volk direkt gewählten Parlaments und seiner Regierung durch eine Verstärkung der horizontalen wie der vertikalen Gewaltenteilung zu beschränken. Die SPD jedoch hatte eingedenk ihrer Neuordnungsvorstellungen für verschiedene gesellschaftliche Bereiche eine starke Stellung der zentralen gesetzgebenden Gewalt für nötig gehalten.

Auf der anderen Seite jedoch führte die verschärfte Gangart der amerikanischen Schulreiormpolitik vom Jahre 1947 an zu einer Belastung des sich allmählich abzeichnenden „geheimen Bündnisses" zwischen der CDU und den Amerikanern. Nun, da die amerikanischen Re-education-Bemühungen verstärkt wurden, sahen die Interessengruppen, die für die Restauration des neuhumanistischen Bildungsideals, die Unterstreichung des elitären Charakters des Schulsystems und den erneuten Einfluß der Kirchen arbeiteten, ihre Ziele gefährdet. Sie begannen Widerstand^zu leisten, zunächst hinhaltenden und dann, als die neue Linie der Re-education-Politik deutlicher wurde, auch lautstarken und demagogischen Protest. Der Konflikt bot genügend Zündstoff, um zu eskalieren und die von den sog. Realpolitikern als so wichtig erachtete indirekte Herrschaft zu decouvrieren. Während das hessische und das württembergische Kultusministerium zunächst noch bemüht waren, wenigstens so zu tun, als kämen sie den amerikanischen Reformaufforderungen nach machte Bayern ihnen vor, wie man eine demokratische Besatzungsherrschaft, die dem besetzten Land die Demokratie bringen wollte, durch Hinweis auf den Widerspruch an sich in Schwierigkeiten bringt — und das, obwohl die Bayern die reaktionärste und am meisten antidemokratische Schulpolitik betrieben

Ende 1947 schulpolitisch an diesem Punkt angelangt, hätten die sog. Realpolitiker entscheiden müssen, ob sie in Kauf nehmen wollten, beispielsweise den bayerischen Kultusminister Hundhammer zu entlassen (so wie sie Semler als Vorsitzenden des Verwaltungsrates für Wirtschaft entlassen hatten, als er die Amerikaner kritisierte) oder ob sie ihre Re-education-Politik ändern wollten.

Das sog. realpolitische Lager war nicht einheitlicher Meinung. Die Re-education-Offiziere plädierten für eine konsequente Fortführung der 1947 begonnenen Politik. Sie hatten inzwischen erfahren, daß ein Großteil der Volksschullehrer für eine einheitliche Lehrerausbildung sehr aufgeschlossen war und auch für Schulreformen, und sie gingen davon aus, daß die Mehrheit der Eltern solche Pläne gutheißen würde und daß die SPD ihnen nicht abgeneigt wäre.

Die für die Gesamtpolitik verantwortlichen sog. Realpolitiker sahen, daß ein Konflikt zwischen der CDU, die schulpolitisch restaurative Interessen vertrat, und den Amerikanern die allgemeinen Beziehungen zwischen den heimlichen Partnern zu sehr belasten würde Da es ihr Ziel war, der CDU/CSU insgesamt wegen weitgehender Übereinstimmung in den Fragen der Restauration der Wirtschaftsordnung und in der Verfassungspolitik zur Macht zu verhelfen, konnten sie nicht auf einem Gebiet, das dazu angetan war, Ressentiments und Emotionen zu wecken, eine Politik verfolgen, die den erklärten Interessen dieser Partei zuwiderlief. Das hätte das Konzept und die Ziele insgesamt stören können. Die wirtschaftsordnungspolitischen und verfassungspolitischen Ziele aber hatten bei diesen gesamtverantwortlichen sog. Realpolitikern in diesem Fall unbedingt Vorrang vor den Bemühungen, die Schulstruktur und die Bildung zu demokratisieren. Worauf es ihnen vor allem ankam, war die Integration der westdeutschen Wirtschaft in die Weltwirtschaft, die Rehabilitation des deutschen Volkes und seine Aufnahme in den Kreis der westlichen Demokratien und die Schaffung einer stabilen Regierungsform, die für die Fortsetzung dieser Politik sorgte.

Andererseits konnten sie die Re-education-Politik nicht von heute auf morgen aufgeben, einmal aus Prestigegründen gegenüber den Besiegten, zum anderen aus Rücksicht gegenüber den Re-education-Offizieren, gegenüber dem eigenen Volk und der Weltöffentlichkeit. Der Ausweg war die Umorganisation der Erziehungsabteilung und die Verlagerung ihres Schwerpunktes. Zu der Zeit, als in London Anfang 1948 bereits Verhandlungen über die Gründung eines eigenständigen westdeutschen Staates geführt wurden, stockte man das Personal für die Re-education-Arbeit in Deutschland erheblich auf, gleichzeitig jedoch wurde der entschiedenste Vertreter der aktiven Reformpolitik degradiert und bald darauf die Devise „Überzeugungsarbeit an der Basis statt Direktiven an die Kultusministerien“ ausgegeben Zusätzlich lenkte man mit der Intensivierung eines groß angelegten Austauschprogramms von der endgültigen Absage an jede Strukturreform ab Die dringenden Appelle der Re-education-Offiziere und führender amerikanischer Persönlichkeiten, die Schulpolitik als Vorbehaltsrecht in das mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland in Kraft tretende Besatzungsstatut aufzunehmen, blieben erfolglos Der Verbleib des Re-education-Personals zu Zeiten der Hohen Kommission hatte in erster Linie optische Gründe.

Schlußbemerkungen

Der Ablauf der Besatzungspolitik macht deutlich, daß die sog. Realpolitiker nicht nach Deutschland gekommen waren, um das deutsche Volk beim Prozeß der Demokratiegründung nach deutschen Vorstellungen zu unterstützen, sondern die Regierungsform und die Wirtschaftsordnung einzuführen, die sie für richtig hielten. Es kam ihnen besonders darauf an, eine Wirtschaftsordnung ohne jegliche planwirtschaftliche Methode und ohne staatliche Lenkungsmechanismen zu verankern. So verfügten sie z. B. das „Verbot defizitärer staatlicher Fiskalpolitik" Selbst auf ein breites sozialpolitisches Fundament verzichteten die Amerikaner, als sie die Währungsreform ohne Lastenausgleich durchführten. Das mit viel (hecks and balances und einer Bundesregierung mit möglichst wenig Zuständigkeiten konzipierte Regierungssystem hatte den Zweck, das vorhandene Gesellschaftssystem und seine Lebensordnungen gegen fundamentale Reformvorhaben weitgehend abzusichern und diese praktisch nur in den seltenen Fällen möglich zu machen, in denen darüber nicht nur bei den im Bund regierenden Parteien Konsens vorhanden ist, sondern auch bei den in den Ländern regierenden (Bundesrat) wie auch in dem der Regierung übergeordneten Verfas-

sungsgremium (Bundesverfassungsgericht).

Zwar war die Grundrechtssicherung wohl unveräußerlicher Bestandteil der Besatzungspoli-tik, aber eine starke Beteiligung der Bürger am politischen Entscheidungsprozeß gehörte, wie schon die Konzeption des Regierungssystems erkennen läßt, nicht zum sog. realpolitischen Programm. Eine Fundamentaldemokratisierung auch gesellschaftlicher Bereiche, wie es das Verständnis der „democracy as a way of life" (Demokratie auch als Lebensform) evtl, nahelegen könnte, war von den für die Gesamtbesatzungspolitik verantwortlichen sog. Realpolitikern gar nicht angestrebt. Ein historisch-dynamisches Demokratieverständnis, das steht fest, lag den sog. realpolitischen Absichten keinesfalls zugrunde Und nach einer gründlichen Untersuchung des Ablaufs der Re-education-Politik und der-bereits im Herbst 1946 zu verzeichnenden ersten Versuche, die Schulpolitik ganz den Deutschen zu überlassen ist sogar abschließend doch die Frage berechtigt, ob die gesamte Idee der Re-education von den sog. Realpolitikern nicht nur aus Opportunitätsgründen aufgegriffen worden ist. Eine — wie auch immer geartete — Schulstrukturreform hat also in der Bundesrepublik Deutschland nicht stattgefunden, sondern nur eine Rückkehr zur verhängnisvollen deutschen Schultradition. Der etwa seit Anfang der siebziger Jahre wieder begonnene Kampf um Reformen hat da eingesetzt, wo die Amerikaner ihn 1947, als konservativer deutscher Widerstand sichtbar wurde, abgebrochen haben.

Das Ziel der Westintegration — sowohl der westdeutschen Wirtschaft als auch der Regierung — haben die Amerikaner jedoch er-reicht Und das von ihnen errichtete System hat sich bisher als recht stabil erwiesen. Die Frage, ob sich dieses System auch in tiefgreifenden Krisen bewähren wird, ob Bonn dann nicht doch noch Weimar werden könnte, ist allerdings noch immer offen. Krisen haben sich in Deutschland schon oft als Wendemarken der Geschichte erwiesen. Im Vergleich zu Weimar ist der Wandel der politischen Verhältnisse kein grundsätzlicher Denn die gesellschaftlichen Strukturen von Weimar sind mit amerikanischer Hilfe weitgehend restauriert worden, nicht nur die wirtschaftlichen und die schulischen, auch die der Verwaltung der Justiz u. a. m. Nur in der politischen Lage, im Parteiensystem und in der weltpolitischen Orientierung der Westdeutschen bzw. Bundes-republikaner ist eine Veränderung eingetreten. Dies ist wohl vor allem dadurch bewirkt worden, daß die nationalistischen Kräfte durch die Integration in die christdemokratische Volkspartei und durch die gelungene Ostpolitik der SPD an Boden verloren haben.

An der Basis jedenfalls haben die Amerikaner den der demokratischen Regierungsform drohenden Gefahren nicht vorgebeugt. Die Art und Weise ihrer allgemeinen Besatzungspolitik war nicht dazu angetan, die Deutschen weniger autoritär zu sozialisieren, als diese es aus ihrer eigenen Geschichte gewohnt waren. Die Bevölkerung machte eine Reihe von nachteiligen, ihr politisches Engagement einschränkende Erfahrungen, von denen nur wenige hier genannt werden können 95).

Zum Beispiel war die in Hessen von der Bevölkerung gemachte Erfahrung die, daß das Volk zwar zur Entscheidung aufgerufen wird, daß diese aber, wenn sie nicht im gewünschten Sinne ausfällt, sozusagen für ungültig erklärt werden kann und dann wertlos ist. Die Erkenntnis hieraus mußte lauten, daß der Bürger in der Demokratie angeblich zwar bestimmen soll, tatsächlich jedoch nicht selbst entscheiden und auswählen darf, sondern nur im Sinne der Herrschenden. Gleichzeitig jedoch machte die Bevölkerung die Erfahrung, daß deren Interessen schwer durchschaubar waren, und man folgerte daraus: Politik ist schwierig, schwer zu begreifen für den Laien; wahrscheinlich ist sie nur etwas für Fachleute, um das man sich besser nicht kümmert.

Das Ergebnis dieser durch die Art der Besatzungsherrschaft bewirkten Sozialisation der westdeutschen Bevölkerung traf auf die bei dieser noch nicht vergessene Anordnung . Ruhe ist die erste Bürgerpflicht'. Diese alte deutsche politische Tradition, die von früheren deutschen Staatsführungen ihren Untertanen auferlegt worden und zu deren politischer Grundhaltung geworden war, wurde durch die von der Besatzungspolitik ausgehende Sozialisation erneut verstärkt. Durch die Politik der Unterdrückung oppositioneller Alternativen förderten die Amerikaner darüber hinaus die in Deutschland vorhandene Hegelsche Staats-auffassung, die Staat und Gesellschaft immer trennte und besonders Opposition und Kritik per se als negativ und gegen den Staat gerichtet ablehnte.

Auch das Social-Studies-Konzept ging gerade auf diesen für das Funktionieren der Demokratie so wichtigen Grundsatz nicht ein, sondern betonte entsprechend dem amerikanischen Demokratieverständnis vor allem das notwendige Engagement jedes einzelnen. Die geglückte Westintegration allerdings war auch innerhalb der Bemühungen, das Social-Studies-Konzept in der deutschen Schulwirklichkeit zu verankern, der Teil, der hier am ehesten Entsprechung fand. Die von den Amerikanern betonte Notwendigkeit, eine Art politischer Bildung in die deutschen Schulen aufzunehmen, fand in den fünfziger und sechziger Jahren, wenn auch nur allmählich, immer mehr Anerkennung in der Bundesrepublik, auch wenn der Inhalt in der deutschen Interpretation zunächst zu einer unpolitischen, unkritischen Miteinander-Füreinander-Erziehung geriet. Aber sowohl der . europäische Gedanke'wie auch das Bewußtsein von der Verflochtenheit mit der westlichen Welt konnten sich hier wie auch im Geschichtsunterricht durchsetzen. Gegenüber dem noch in Weimar überwiegenden nationalistischen Unterricht war dies ein deutlicher Fortschritt

Insofern kann man bilanzieren, daß den sog. Realpolitikern die Integration der Westdeutschen sowie ihrer Wirtschafts-, Gesellschaftsund politischen Ordnung in die westliche Welt voll gelungen ist. Viel mehr haben sie auch nicht gewollt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Bericht der Bundesregierung über die strukturellen Probleme des föderativen Bildungssystems vom Februar 1978.

  2. Konrad Adenauer in der Aula der Kölner Universität 1946, abgedruckt in: Ernst-Ulrich Huster, Gerhard Kraiker, Burkhard Scherer u. a., Determinanten der westdeutschen Restauration 1945 bis 1949, Frankfurt 1972, S. 394 bis 416, S. 400 f.

  3. Frankfurter Grundsätze der CDU, Frühjahr 1946, zit. nach Günter Scharfenberg (Hrsg.), Dokumente zur Bildungspolitik der Parteien in der BRD 1945 bis 1970, 3 Bände, Berlin 1971, Band I SPD, Band II CDU/CSU, zit. Scharfenberg, SPD bzw. CDU.

  4. Scharfenberg, SPD, S. 6.

  5. Scharfenberg, CDU, S. 5.

  6. Peter H. Merkl, Die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1963, S. 41 f.

  7. Isa Huelsz, Schulpolitik in Bayern zwischen Demokratisierung und Restauration in den Jahren 1945— 1950, Hamburg 1970, S. 153 f.

  8. Alois Hundhammer auf der Konferenz der deutschen Erziehungsminister in Stuttgart-Hohenheim am 19. und 20. Februar 1948, Bundesarchiv Z 1 — 1007.

  9. Scharfenberg, CDU, S. 6.

  10. Programme der deutschen Sozialdemokratie, Hannover 1963.

  11. Huster, a. a. O„ Dokumentenanhang, S. 364.

  12. Kurt Schumacher: „Mag der Geist des Kommunistischen Manifestes oder der Geist der Bergpredigt, mögen die Erkenntnisse rationalistischen oder sonst irgendwelchen philosophischen Denkens ihn bestimmt haben oder mögen es Motive der Moral sein, für jeden, die Motive seiner Überzeugung und deren Verkündung, ist Platz in unserer Partei." Programmatische Erklärung vom 5. 10. 1945, abgedruckt in: Theo Stammen, Einigkeit und Recht und Freiheit, Westdeutsche Innenpolitik 1945— 1955, München 1965, S. 118.

  13. Scharfenberg, SPD, S. 16.

  14. Scharfenberg, SPD, S. 21.

  15. Caspar Kuhlmann, Schulreform und Gesellschaft in der BRD 1946— 1966, Stuttgart 1970, S. 121 f.

  16. Georg Kerschensteiner, Theorie der Bildung, Leipzig u. a. 1928, S. 393 f.

  17. Wilhelm von Humboldt hat zwar eine einheitliche, nach Stufen gegliederte Schulstruktur gewollt. Dieser Aspekt seiner Bildungsvorstellungen wird in der neuesten wissenschaftlichen Literatur der siebziger Jahre besonders untersucht. Vgl. dazu Detlev K. Müller, Sozialstruktur und Schulsystem. Aspekte zum Strukturwandel des Schulwesens im 19. Jahrhundert, Göttingen 1977. Bis Anfang der siebziger Jahre jedoch und überwiegend auch noch heute wird Humboldt von seinen Apologeten als Begründer der höheren Bildung in ihrer elitären Ausprägung in Anspruch genommen. Diese Entwicklung, die zu einer besonderen Betonung der alten Sprachen und damit der neuhumanistischen Gymnasien führte, hat Humboldt selbst mitverschuldet, weil sein Bildungsideal einseitig intellektuelle Fähigkeiten fördern wollte. Vgl. dazu Jutta-B. Lange-Quassowski, Neuordnung oder Restauration?, Kapitel 1. 2.

  18. Ergebnis eigener Forschung; vgl. Lange-Quassowski, Kapitel 3. 2. 2. 1. oder 3. 2. 2. 2.

  19. 1 Diese Bezeichnung habe ich aus der Literatur übernommen, obwohl die Assoziation, die sie fördert, nicht zu teilen ist, da ihr Konzept genauso wertgebunden ist wie das der anderen Seite. Zu der Bezeichnung vgl. Hans-Peter Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, Neuwied 1966, S. 63.

  20. Military Government Regulations, Title 8, March 15, 1946, in: Department of State, Occupation of Germany, Policy and Progress, 1945— 1946, Washington 1947, zit. MGR.

  21. Department of State, Report of the United States Education Mission to Germany, Dep. of State Publication 2664, European Series 16, Washington D. C. 1946, Zookreport.

  22. MGR, change 3, March 14, 1947, in: Department of State, Germany 1947— 1949, The Story in Documents, Washington 1950.

  23. Leonhard Froese (Hrsg.), Bildungspolitik und Bildungsreform, München 1969, S. 102.

  24. Huster, a. a. O., Dokumententeil, S. 371.

  25. Marion Klewitz, Berliner Einheitsschule 1945 bis 1951, Berlin 1971, S. 163 ff.

  26. Huelsz, a. a. O., und Klewitz, a. a. O., die allerdings beide auch die deutsche Schulpolitik behandeln.

  27. Karl-Ernst Bungenstab, Umerziehung zur Demokratie?, Düsseldorf 1970, S. 28.

  28. Wilhelm Cornides und Hermann Volle, Um den Frieden mit Deutschland (Dokumente und Berichte des Europaarchivs, Band 6), Oberursel 1948, S. 104. 281

  29. Ebenda, S. 58— 73.

  30. Hajo Holborn, American Military Government, Washington 1947, S. 135— 143.

  31. Die ökonomischen Vorstellungen werden aus der im Sommer 1944 eingesetzten Kommission für Außenwirtschaftspolitik deutlich. Vgl. dazu Paul Y. Hammond, Directives for the Occupation of Germany, in: Harold Stein, ed., American Civil-Military Decisions, Birmingham, Alabama 1963, pp. 311— 464, pp. 342— 347.

  32. Richard Hofstadter, The American Political Tradition and the Men who made it, New York, o. J. (Copyright 1948), S. 12 und 15.

  33. Ebenda.

  34. Charles A. und Mary R. Beard, Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, Amsterdam 1949, S. 140 ff.

  35. Merle Curti, The Social Ideas of American Educators, Totowa 1968, S. 56 ff.

  36. Vgl. ebenda und Lange-Quassowski, a. a. O., Kap. 2. 1.

  37. Harry G. Good, A History of American Edu-cation, New York 1956, S. 234 f.

  38. Vgl. hierzu Lange-Quassowski, a. a. O., Kap. 2. 2.

  39. Curti, a. a. O„ S. 514 f. und 517.

  40. John Dewey, Erfahrung und Erziehung, in: Werner Corell (Hrsg.), Reform des Erziehungsdenkens, S. 27— 99, zit. EE.

  41. John Dewey, Demokratie und Erziehung, Braunschweig 1964, S. 196 und S. 200.

  42. John Dewey, School and Society (1900), Chicago 1956, S. 157.

  43. Lawrence A. Cremin, The Transformation of the School, New York 1961, S. 121.

  44. Ebenda, S. 181.

  45. Ebenda, S. 239.

  46. Leonhard Froese, Die Überwindung des Deweyismus in den USA, in: Leonhard Froese in Verbindung mit Hanna Arendt und anderen, Aktuelle Bildungskritik und Bildungsreform in den USA, Heidelberg 1968, S. 185.

  47. Besonders deutsche Emigranten in Amerika schalteten sich in diesen Kampf ein. Vgl. dazu das Gutachten von 13 deutschen Chicagoer Professoren, abgedruckt in: Hans Merkt (Hrsg.), Dokumente zur Schulreform in Bayern, München 1952, S. 146— 156.

  48. Zookreport, a. a. O., S. 19.

  49. Vgl. dazu Lange-Quassowski, a. a. O., Kap. 3. 1.

  50. Vgl. Hammond, a. a. O., S. 425.

  51. Vgl. dazu Lange-Quassowski, Kap. 3. 1. 1. 3.

  52. Conrad F. Latour und Thilo Vogelsang, Okkupation und Wiederaufbau, Stuttgart 1973, S. 24.

  53. Ernst Deuerlein, Die Einheit Deutschlands, Band 1, Frankfurt u. a. 1961, S. 45 f.

  54. Huster, a. a. O., Dokumentenanhang S. 268 bis 273; Heinrich von Siegler, Dokumentation zur Deutschlandfrage, 3 Bde., Hauptband 1, Bonn 1961, S. 16— 24.

  55. John Gimbel, Amerikanische Besatzungspolitik in. Deutschland 1945— 1949, Frankfurt 1971, S. 32.

  56. Ernst Deuerlein (Hrsg.), Potsdam 1945, München 1963.

  57. Zu den folgenden neuen Forschungsergebnissen vgl. Lange-Quassowski, Kap. 3. 1. 2.

  58. Zu dieser Interpretation vql. Lange-Quassowski, Kap. 3. 1. 3. 2. 1.

  59. Long-Range Policy Statement For German Re-Education vom 5. Juni 1946, abgedruckt bei Bun-genstab, a. a. O„ S. 181 f.

  60. Vgl. zur Ableitung dieses Forschungsergebnisses und der folgenden Interpretation Lange-Quassowski, a. a. O., Kap. 3. 2. 2.

  61. Im einzelnen sind die Vorschläge ebenda in Kap. 3. 3. 1. 1. bis 3. 3. 1. 4. nachzulesen. Sie sind z. T. erst heute wieder in der Diskussion in der Bundesrepublik, aber längst noch nicht überall Schulall-tag.

  62. Zu der hier von bisherigen Darstellungen abweichenden Interpretation vql. Lange-Quassowski, Kap. 3. 1. 3. 2. 1.

  63. Lucius D. Clay, Entscheidung in Deutschland, Frankfurt o. J. (1951), S. 228.

  64. Gimbel, a. a. O., S. 161.

  65. CCS 551 App. A., Punkt 6.

  66. Vgl. dazu Hans-Hermann Hartwich, Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher Status quo, Köln u. a. 1970, S. 115 ff.

  67. JCS 1779, Punkt 8. b).

  68. Manfred Rexin, Die Jahre 1945- 1949, Hefte zum Zeitgeschehen, Heft 8, Hannover 1964, S. 29: CDU 37, 6 °/o + Liberale 9, 3 0/o = 46, 9 0/o SPD 35 »/» + KPD 9, 4 °/o = 46, 4% (3 Westzonen ohne Saargebiet)

  69. Die Sozialisierungsbestimmungen in der hessischen Verfassung z. B. wurden im Sonderplebiszit mit 72 % befürwortet.

  70. Vgl. z. B. Latour, a. a. O„ S. 174, und Werner Abeishauser, Wirtschaft in Westdeutschland 1945 Ds 1948, Stuttgart 1975, S. 81 ff.

  71. Zum Inhalt des European Recovery Programs vgl. z. B. Latour, a. a. O., S. 162, und Huster, a. a. O., S. 85 f.

  72. Es ist unverständlich, daß Gimbel in seinem neuen Buch über The Origins of the Marshall Plan dessen grundsätzlichen Stellenwert in dem sog. realpolitischen Konzept und damit im Kalten Krieg abstreitet.

  73. Vgl. dazu Fritz Erich Anheim, Die Deutschland-politik der USA und der UdSSR im Kontext der Aktualisierung des Ost-West-Konflikts 1945— 1948, Dissertation Göttingen 1976, S. 279— 294.

  74. Im einzelnen zu den Eingriffen vgl. Lange-Quassowski, a. a. O., Kap. 3. 1. 3. 2. 2.

  75. Die Amerikaner schlossen mit den Engländern ein Abkommen, um die Sozialisierung der Kohle-bergwerke fünf Jahre aufzuschieben. Vgl. Gimbel, a. a. O„ S. 225.

  76. Eberhard Schmidt, Die verhinderte Neuordnung 1945— 1952, Frankfurt 1970, S. 85.

  77. Ebenda.

  78. Gimbel, a. a. O„ S. 226.

  79. Ich stimme hier überhaupt nicht mit der Ein-Schätzung überein, die Karlheinz Niclauß in seiner sonst sehr informativen Studie, Demokratiegründung in Westdeutschland, München 1974, gibt.

  80. Memorandum vom 22. November 1948 und Memorandum vom 2. März 1949, abgedruckt in: Stammen, a. a. O., S. 224 f. bzw. 226 ff.

  81. Hans-Joachim Thron, Schulreform im besiegten Deutschland, Dissertation München 1972, S. 116.

  82. Vgl. dazu Isa Huelsz, a. a. O.

  83. Thron, a. a. O„ S. 111.

  84. Gimbel, a. a. O„ S. 322 f.

  85. Tom Alexander, -zu dieser neuen Interpreta-tion vgl. Lange-Quassowski, a. a. O., Kap. 3. 2. 2. 2.

  86. Verantwortlich Alonzo Grace.

  87. Es wurde von Hermann B. Wells organisiert.

  88. Henry P. Pilgert, The West German Educational SYstem, Office of the US High Commissioner for Germany, Historical Division 1953, S. 12.

  89. Hartwich, a. a. O„ S. 107 f.

  90. Zum Demokratiemodell vgl. ausführlich Lange-Quassowski, a. a. O., Kap. 3. 4.

  91. Direktive vom 30. 9. 1946, in: Departement of State, Germany 1947— 1949, a. a. O., S. 155 ff.

  92. Zu welchen Alternativen ein „offener" Weg Deutschlands ohne amerikanisches Engagement geführt hätte, darüber kann man nur spekulieren.

  93. Richard Löwenthal, Prolog: Dauer und Verwandlung, in: Richard Löwenthal und Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Die zweite Republik, Stuttgart 1974, S. 10.

  94. Lutz Niethammer, Zum Verhältnis von Reform und Rekonstruktion in der US-Zone am Beispiel der Neuordnung des Öffentlichen Dienstes, in:

  95. Löwenthal, a. a. O., S. 10.

  96. Die anderen Erfahrungen sind nachzulesen bei Lange-Quassowski, a. a. O., Kap. 3. 1. 4.

  97. Zur Durchführung und zu den Erfolgen und Mißerfolgen vgl. Lange-Quassowski, Kap. 3. 3. 2.

Weitere Inhalte

Jutta-B. Lange-Quassowski, geb. 1944; Studium der Politikwissenschaft in Berlin und München; 1968 Diplom-Politologe in Berlin; 1969/70 Studienjahr in Bloomington/Indiana; seit 1968 wiss. Hilfskraft; von 1971 bis 1973 wiss. Assistentin am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin; 1978 Promotion in Göttingen. Veröffentlichungen u. a.: Curriculumreform und , New Social Studies'in den USA, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 21/72; Vom Deutschen Bildungsideal zur Re-education-Politik der Amerikaner, in: Politische Vierteljahresschrift, Heft 3/4, 1974; Sozialwissenschaften für Kinder, in: Politische Didaktik, Heft 2, 1975; Neuordnung oder Restauration? Das Demokratiekonzept der Amerikanischen Besatzungsmacht und die Politische Sozialisation der Westdeutschen: Wirtschaftsordnung — Schulstruktur — Politische Bildung, Opladen 1978 (erscheint im September).