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Grüner Protest -Zeichen der Parteienverdrossenheit? | APuZ 43/1978 | bpb.de

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APuZ 43/1978 Artikel 1 Grüner Protest -Zeichen der Parteienverdrossenheit? Politische Strömungen in der „Ökologie-Bewegung" Verbraucherpolitik -trojanisches Pferd zur Systemveränderung? Stellungnahme zum Beitrag von Anke Martiny in B 24/78 Entgegnung auf den Beitrag von Gerd Hauth

Grüner Protest -Zeichen der Parteienverdrossenheit?

Peter Menke-Glückert

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In den USA und vielen europäischen Ländern hat sich in den letzten Jahren der soge-nannte grüne Protest aus sehr unterschiedlichen Gruppen entwickelt. Aus den verschiedensten Gründen wird — vor allem von jungen Menschen — nach Alternativen zu der jetzigen Politik, vor allem Wirtschaftspolitik, gesucht. Kulturkritisch-nostalgische Forderungen gehen einher mit präzisen Vorschlägen für einfache, umweltfreundliche Technologien. Dieser Alternativbewegung ist gemeinsam ein starker Zweifel an Großtechnik, Groß-bürokratie, Großindustrie. Symbol für diesen Zweifel an der Großtechnik ist der Widerstand gegen die Kerntechnik. Für das Entstehen der — im Kern mittelständisch-bürgerlichen — Protestbewegung sind u. a. verantwortlich: taktisch ungeschicktes Vorgehen der Verwaltung (fehlende Transparenz, zu späte Bürgerbeteiligung und -mitsprache an wichtigen Planungsvorhaben); eine Art „Vorschuß-Mißtrauen" gegenüber technokratischer Planung und verwendeter wissenschaftlicher Expertise; Verlangen nach Partizipation und Selbstverwirklichung auch außerhalb der bestehenden Parteien (vor allem bei jungen Menschen); umweltphilosophisches Gedankengut und Alternativ-Literatur (I. Illich, E. F. Schumacher, C. F. von Weizsäcker usw.). Das politisch zerstrittene Erscheinungsbild der grünen Listen und fehlende Erfahrung in der Organisation von Wahlkämpfen sind u. a. für das schlechte Abschneiden der grünen Listen in den Landtagswahlen in Hessen und Bayern verantwortlich — nach viel-beachteten Anfangserfolgen in Hamburg und Niedersachsen. Dieses schlechte Ergebnis in den beiden letzten Wahlen braucht nicht zu bedeuten, daß das ohne Zweifel vorhandene parteienverdrossene Protestpotential nicht erneut (auch mit anderen als Umwelt-Themen, z. B. bei der Frage Steuerreform oder Bildungspolitik) mobilisiert werden könnte. Umweltpolitik wird — auch unter Berücksichtigung der Erfahrungen mit dem grünen Protest — in Zukunft noch stärker als Bestandteil gesellschaftspolitischer Stabilitätspolitik betrieben werden müssen — und nicht nur als isolierte Fachpolitik.

Das Umweltbewußtsein hat bemerkenswert zugenommen. Als politisches Ziel wird der Umweltschutz in der Bevölkerung nahezu einstimmig bejaht (78 bis 87 0/0). In der Reihenfolge der als besonders wichtig eingestuften Ziele folgt der Umweltschutz seit 1972 unmittelbar nach denen der persönlichen und wirtschaftlichen Sicherheit. Große Mehrheiten sprechen sich gegen Sparmaßnahmen bei dieser öffentlichen Aufgabe aus. Selbst wenn Umweltschutz und Arbeitsplatzsicherheit gegeneinandergestellt werden, erklärt sich noch etwa die Hälfte der Bevölkerung zur Unterstützung des Umweltschutzes bereit. Die Bereitschaft der Befragten, aus Gründen des Umweltschutzes höhere Preise und Gebühren in Kauf zu nehmen oder auf Luxus, auf Bequemlichkeit zu verzichten, ist seit 1972 von Jahr zu Jahr gestiegen. Die Zahl der in den letzten fünf Jahren gegründeten Umwelt-Bürgerinitiativen wird auf über 20 000 geschätzt.

Umwelt ist nach Auffassung vieler Analytiker zum Symbol und Leitthema für Bürokratie-Kritik, Staats-und Parteienverdrossenheit geworden. Das Umwelt-Institut des Wissenschaftszentrums Berlin stellte in einer (Umfrage im April 1978 fest: Von den Bürgerinitiativen er-

warten unsere Mitbürger am ehesten einen wirkungsvollen Beitrag zum Umweltschutz (48% der Befragten), den Parteien trauen nur 8 % einen wirkungsvollen Umweltschutz zu. Die Alt-Parteien haben — nicht nur im Umweltschutz — an Glaubwürdigkeit eingebüßt.

Für manchen ist grüner Protest eine Gelegenheit, endlich den Widerstand gegen Bürokratie und Staatsallmacht nachzuholen, den er in seiner Jugend während der Hitlerjahre versäumt hat; für andere sind die grünen Listen ein Ventil, um ihren Arger über Kungelei der Establishment-Parteien, über Diätenerhöhungen, hohe Steuern, Torheiten der Bildungs-und Gebietsreform loszuwerden. Den größten Zulauf erhält der grüne Protest aus den Kreisen der Jungwähler (18-bis 25jährige). Mehr als ein Viertel der Wähler für die Grüne Aktion Zukunft (GAZ) oder der Grünen Liste Hessen (GLH) kommen aus diesen Jahrgängen. Doch nicht nur neugrüne Protestler, sondern auch alterfahrene Umwelt-und Naturschutz-verbändebehaupten, seit Ölkrise, weltwirtschaftlichen Turbulenzen und hohen Arbeitslosenzahlen trete der Umweltschutz auf der Stelle. Die Wochenzeitung DIE ZEIT diagnostiziert Anfang Oktober 1978: „Langsam stirbt der Umweltschutz . . . Das ungeliebte Kind soll geduckt und kleingehalten werden." Wissenschaft und Medien liefern jedoch tagtäglich neue Argumente für den grünen Protest. Besonders seit den spektakulären Anfangserfolgen bei den Landtagswahlen von Hamburg und Niedersachsen ist den Grünen das Interesse aller Medien sicher. Audi wenn das Abschneiden der grünen Listen in Hessen und Bayern sehr schlecht ausfiel, bleibt ihr massiver Protest gegen das bestehende Drei-Parteien-System als Vorwurf und Anstoß zum Nachdenken über Zukunftsprobleme; den Gründen für den verzweifelten Ausbruch aus dem festgefügten Parteiengefüge gilt es nachzugehen. Unbestritten ist bei den Regierungsparteien und der Opposition, daß Umwelt-sicherung und -gestaltung — ganz unabhängig von Wahlerfolgen oder -mißerfolgen der Grünen — noch entschiedener als bisher vorangetrieben werden müssen; die Glaubwürdigkeit unseres parlamentarischen Systems würde andernfalls Schaden leiden. Trotz anderer Aussagen grüner Protestgruppen behauptet das Umweltthema seinen Platz auf der Prioritäten-liste aller Parteien (der Respekt vor den Bürgerinitiativen ist dabei sicher größer als vor den neugrünen Listen und Parteien).

Grüne Protestler suchen aus den unterschiedlichsten Gründen nach Alternativen zu der jetzigen Art von Politik, vor allem der Wirtschaftspolitik. -

Es ist zu einfach, diese tiefgreifende Unzufriedenheit als Spinnerei, Wichtigtuerei, Schrebergarten-Philosophie abzutun. Seit den Berichten des Club of Rome, seit Ölkrise und weltwirtschaftlicher Rezession haben immer mehr Menschen — nicht nur bei uns — Zweifel an Großtechnik, Großbürokratie, Zweifel an Machbarkeit und Notwendigkeit großer Wachstumssprünge.

Diesen Bewußtseinswandel könnte eigentlich die sozial-liberale Koalition als einen ihrer größten Erfolge verbuchen. In ihren ersten Regierungserklärungen hat sie mehr Lebensqualität und Bürgernähe verlangt. Eine neue soziale und ökologische Dimension der Wirtschaft wurde diskutiert. Die Freiburger Thesen der Liberalen und das Umweltprogramm der Bundesregierung von 1971 sind heute noch Rahmen und Grundlage aller Umweltforderungen und Diskussionen — auch im Lager der Grünen. » Doch SPD und FDP werden mit dem Umwelt-Bewußtsein, das sie selbst geschaffen haben, nicht fertig. Aus liberalen Wählerinitiativen wurden Initiativen gegen die FDP, aus Umwelt-Partnerschaft Gegnerschaft. Die Koalition wollte mehr Demokratie wagen und ist jetzt von dem Sturzbach immer neuer Bürgergruppen, Protestbewegungen und Initiativen überrascht. Sie wollte den blauen Himmel über der Ruhr — und ist erschrocken, wenn dies jetzt vom grünen Protest bitterernst genommen und eine drastische Verschärfung des Immissionsschutzes verlangt wird —, auch auf die Gefahr hin, Betriebe stillzulegen. Jeder Baum soll erhalten werden. SPD-Oberbürgermeister erfahren ebenso wie CDU-Stadtoberhäupter, daß jeder gefällte Baum, jede neue Straße zu einem kommunalpolitischen Problem werden. Anfang der siebziger Jahre waren für viele Festtagsredner Bürgerinitiativen „das Salz in der Alltagssuppe der Demokratie": sie erst „verhinderten Verkrustung, Selbstgefälligkeit, Machtkartelle, Dauerproporz im Zuteilen von Pöstchen und Machtchancen". Das war Auf-die-Schulter-Klopfen und Verweisen auf den Vorraum der eigentlichen Entscheidungen, die von den Parteien dann schon getroffen würden. Da war oft auch Heuchelei und Arroganz der Macht im Spiel: Parteien wirken an der politischen Willensbildung nach unserem Grundgesetz mit — sie sind aber nicht diese Willensbildung. Bürgerinitiativen haben sich eben nicht nur an die Parteien zu halten; sie sind nicht eine Art von „Neben-Demokratie". Gerade die Liberalen müßten das wissen, stehen sie als kleine Partei doch immer mit einem Bein im Lager der Bürgerinitiativen, auf jeden Fall in den Bundesländern, in denen sie gerade nicht im Landtag sind. Für Bürgergruppen sensible Themen gehen daher die FDP besonders an, aber auch CDU und SPD betonen Bürger-nähe. Doch die Wurzeln des Grünen Protestes reichen noch tiefer: in Kulturpessimismus, Fortschrittskritik, Zweifeln an der verwalteten Welt. Grüne Protestler sprechen v 8m „Säurebad der Industriekultur", das alle Lebensverhältnisse vergifte, von Wachstumsfetischismus; eine neue Umwelt-Ethik, Alternativen zu Auto-Kultur und Energieverschwendung werden gefordert. Mehr Selbstverwaltung und mehr Bescheidenheit in Lebensführung und Konsum werden in Oko-Kommunen praktiziert und von grünen Protestlern erstrebt. Viele junge Menschen wollen „aussteigen" aus der Gesellschaft, lehnen Wettbewerbs-und ständige Konsumsteigerung ab. Hippies, Blumenkinder und die Bewegung für mittlere (einfache) Technologien leben neue Werte vor.

Symbol dieser Suche nach der Alternative, Sinnbild gefürchteter Großtechnik, Großbürokratie, unverantwortlicher Großmannssucht ist die Kernenergie, die im Guten und Bösen Pate stand für alle wichtigen Leitbilder unserer heutigen Industriekultur: für den technischen Vernichtungskrieg (Atombombe) ebenso wie für organisierte Großforschung und internationale Hilfsprogramme für die Dritte Welt (das Programm „Atom für den Frieden" war das erste weltumspannende Projekt der Nachkriegszeit), aber auch für Glaubwürdigkeit, Prestige, Zukunftshilfe wissenschaftlicher Expertisen. Die Kernenergiediskussion war der Anfang der Wissenschafts-und Fortschritts-kritik, die immer mehr in ethische Dimensionen hineinreicht (Retorten-Baby).

Seit langem — beginnend in Kalifornien Mitte der sechziger Jahre — gibt es an vielen Stellen in der Welt die Alternativ-Bewegung (oder Anti-Konsum-Bewegung). Gefragt wird von diesen Gruppen — Oko-Kommunen, Wissenschaftlern, Architekten, Bürgerinitiativen, Schriftstellern —, ob nicht von uns allen eine grundsätzliche Verweigerung gefordert ist, „eine radikale Abwendung von der konsumtiv-technokratischen zu einer asketischen Kultur" (Carl-Friedrich von Weizsäcker). Alternativen zu Kulturbetrieb und Fernseh-Dauer-Konsum werden gesucht und erprobt. Bundeskanzler Schmidt und andere haben einen fernsehfreien Tag jeder Familie empfohlen, damit wieder ein ruhiges Gespräch, die Beschäftigung mit den kleinen Sorgen der Kinder, kurz Familienleben stattfinden kann (was bei Dauer-Fernsehkulisse oft nicht mehr möglich ist). „Umdenken und Umschwenken" heißt eine berühmte Schweizer Ausstellung der Arbeitsgemeinschaft Umwelt (AGU) beider Zürcher Hochschulen. Die in ganz Europa gezeigte Ausstellung hat eine Flut von ökologischen Basisgruppen, Diskutierzirkeln, Bürgerinitiati-B ven, Schriften und Protestaktionen hervorgerufen. Die von der Schweizer AGU herausgegebenen Kataloge bringen sehr instruktive Beispiele für Alternativen im Hausbau, in der Wohnungsgestaltung, im Energiekonsum, in der Kommunikation, im Landbau usw. — jeweils mit Hinweisen für Gleichgesinnte, Handlungsanweisungen, Modellskizzen und Zeitungsausschnitten. Hier ist auch ein Alterna-tiv-Buch entstanden, das Aktionsbuch: eine Mischung aus philanthropischem Neckermann-Katalog und Maos kleinem roten Büchlein. Kollagen-Techniken, Selbstzeugnisse, Bekenntnisse wechseln mit staubtrockenen handwerklichen Hinweisen.

Wichtig ist, daß alle Umweltschriften und Al-ternativ-Kataloge oder -Wegweiser dem Aufbau einer Kommunikations-Infrastruktur dienen, eine Art Gegenstruktur schaffen wollen zur Establishment-Struktur der Herrschenden, der „Funktionäre", „Technokraten" und „Bonzen", der „squares". Hinweise auf Meditation, Yoga-Übungen, Erweiterungen des Bewußtseins durch neue partnerschaftliche Diskutier-und Arbeitsformen gehören zu den Ratschlägen für alternatives Leben. Vorbilder sind die Quäker, die Hutterer-Gemeinden in Süd-Dakota und andere christliche Gruppen in den USA, ebenso wie die neu entstandenen Oko-Kommunen und Gruppen ökologischen Landbaus. Die Literatur der „Gegen-Kultur" wird jeden Tag vermehrt — vom Gemeinschaftsexperiment von Twin Oaks in Virginia bis zu Vorschlägen für Konsum-Verweigerung politischer Studentengruppen. Wie in den USA haben auch bei uns zahllose spontane unpolitische Gruppen — religiöse, bodenständig-bäuerliche Gruppen, Tierschützer, Anthroposophen, Yoga-Anhänger oder Vertreter der Vital-Bewegung (ökologische Diät) — sehr ähnliche Ziele, Kommunikationsformen und Erscheinungsformen. Die Grünen erfassen neben den Bürgerinitiativen und Kernkraftgegnern, also den eigentlichen Umweltschützern, auch alle diese unpolitischen Gruppen — häufig mit nostalgisch-kulturkritischem Akzent —, weil diese Gruppen die gemeinsame Suche nach den Alternativen zur jetzigen Form zu leben, zu konsumieren, wachstumsgläubig zu sein, verbindet. Propheten der Alternativ-Bewegung sind Ivan Illich, Erich Schumacher („small is beautiful"), Robert Jungk (Atomstaat), der Bürgerrechtler Martin Luther King und der Initiator des gewaltlosen Widerstandes und des einfachen Lebens, Mahatma Gandhi. Illich weist immer wieder darauf hin, daß mehr Wohnungen für viele weniger Geborgenheit, weniger Nestwärme, weniger Sicherheit bedeuten — auch weniger Fröhlichkeit, daß mehr Medizin zu Medizin-technik, immer neuen Krankheiten, kürzerer Lebenserwartung führt (die Lebenserwartung, besonders der Männer, geht in den letzten fünf Jahren wieder zurück, nachdem sie viele Jahrzehnte ständig angestiegen war). Nach Illich oder Mac Luhan— und jüngst auch Karl Steinbuch — haben wir mehr Information, aber weniger Orientierung, weniger Verstehen von Zusammenhängen.

Gesucht werden Vorbilder oder Pioniere, die vorleben, wie gesundes Leben ohne teure und bürokratisierte Medizintechnik möglich ist.

Wie ist Wohnlichkeit und Geborgenheit ohne viele Kubikmeter Beton möglich? Wie kann die Hausmüll-Lawihe vermieden werden? Wie lernen wir wieder zu leben, unsere Sinne zu gebrauchen? Licht, Farbe, Luft, Klang, Empfinden für Materialien, Schwingungen sollen wieder erlebbar werden.

Von allen diesen Strömungen, Sehnsüchten, Erfahrungen speist sich der grüne Protest.

Er wird zum Sammelbecken vieler nachdenklicher, von der Aggression der Technik betroffener Menschen. Der Protest hat moralische Untertöne. Was machen wir mit unserem Reichtum? Soll wirklich ein Viertel der Menschen sieben Achtel der Reichtümer dieser Erde verbrauchen? Wohin geht die Reise? Warum muß das Wettrüsten unvermindert fortgesetzt werden? Brauchen wir alle die Großzentren, Großmärkte, Großbürokratien? Diese Fragen, diese ethische Herausforderung an unser parlamentarisches System, müssen in kritischer Selbstprüfung durchgestanden werden ohne hektischen Aktionismus, ohne Versuch, die grünen Listen noch zu überbieten (etwa in Form von Koalitionsangeboten von SPD-Politikern). Viele Fragen des grünen Protestes sind alte Fragen der Alternativ-Bewegung: Bürokratie-Kritik, ehrliche Dritte-Welt-

Politik, Dezentralisierung, . Erweitern der Grundrechte um eine soziale Dimension, rationale Energiepolitik, Erhaltungs-statt Wachstumswirtschaft etc.

Wohin führt uns der grüne Protest? Verschwinden mit ihm politischer Idealismus und Engagement für Langfristprogramme aus den jetzigen Alt-Parteien? Wird sich unsere politische Landschaft entscheidend verändern?

Bedeutet grüner Protest den Beginn Weimarer Verhältnisse, den Anfang einer Parteienzer5 splitterung mit „one-issue-parties" und Ein-

Punkte-Programmen? Wird es eine ganz neue Form der Bürger-Partei geben, wie sie der . Steuer-Rebell'Hermann Fredersdorf angekündigt hat? Brechen bisher festgefügte Blöcke in der Parteienlandschaft auf? Wie wird sich die um-weltpolitische Szene Europas entwickeln? Wird der von grünen und bunten Listen erhoffte Wertewandel eintreten? Oder ist der grüne Protest ein Strohfeuer — schnell entfacht und schnell vergessen? Ist der grüne Protest konsequente Fortsetzung der APO oder eine mehr mittelständisch-konservative Bewegung?

Die APO war systematischer, theorie-bewußter, auch realistischer als der grüne Protest. Die Grünen verzichten auf den langen Marsch durch die Institutionen; sie wollen eine Art Oko-Märtyrer, Gegen-Politik, Erweckungs-Bewegung bleiben. Die GAZ sieht selbst ihre Koalitionschancen zu den Altparteien als gering an. Sie pflegt dieses Bild der utopistischen Bekenntnis-Gemeinde, die von den etablierten Parteien boshaft verkannt und verspottet wird. Die grünen Listen wollen alles ganz anders machen; sie wollen einen neuen Anfang setzen, im bestehenden Parteien-system gerade nicht mitspielen.

Grüne Listen sind längst ein europäisches Ereignis. In Holland, Frankreich und Belgien kandidieren sie seit langem. Die ecologistes konzentrierten sich bei den französischen Präsidentenwahlen vom März 1978 auf Paris und wenige Ballungsgebiete sowie auf Wahlkreise, in denen Kernkraftwerke geplant oder im Bau waren; sie erreichten 2, 2 °/o der Gesamtstimmen (in Straßburg 8, 3 °/o). An der Europawahl will eine Grüne Internationale unter Führung von Antoine Waechter, dem elsässischen Sprecher der Bürgerinitiativen im Rheingrenzgebiet, teilnehmen.

• Umweltschützer in der ganzen Welt — von den Friends of the Earth, Sierra Club, Naturschutzverbänden, Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz bis zum Bundesfachausschuß Umwelt der FDP — fragen zu Recht: Welche Gesellschaft wollen wir, in welchem Zustand wollen wir diesen Planeten Erde unseren Kindern, unseren Enkeln hinterlassen? Als Mondlandschaft nach Hermann Kahns sieben großen Nuklearkriegen? Als Ort der Gewalt, der Bürgerkriege, des erbitterten Kampfes um Rohstoffe, der egoistischen Auseinandersetzung um mehr Macht und Prestige? Als geplünderten, seiner Schönheit und Naturschätze, seiner letzten unberührten Wälder und Küsten beraubten Planeten? Als von Wissenschaftlern und Technokraten perfekt geplanten, nach politbiologischen Normen durchorganisierten Weltstaat, wie ihn Samjatin und Orwell genau beschrieben haben? Als paradiesischen Ort der Konflikt-und Bedürfnislosigkeit, als weltweites Netz religiöser und Oko-Kommunen mit Ächtung der Großtechnik, Großbürokratie, vor allem aber bewußten Verzicht auf die Kernenergie, wie dies grüne Protestler erstreben? Bertrand de Jouvenel spricht zu Recht von „futuribles", also von möglichen Zukünften, von einer Vielzahl mehr oder minder wahrscheinlicher Zukünfte.

Wir wissen nicht, wie die Welt in dreißig oder vierzig Jahren aussehen wird, aber wir können sagen, welche Welt wir wollen.

Die prinzipielle Offenheit der Zukunft selbst gilt es vor allem zu erhalten. Jede Zukunft hat immer auch eine Gegenzukunft, eine Alternative. Die Welt ist grundsätzlich reformfähig. Kernenergie ist nicht die einzige Lösung der Energieprobleme der Zukunft. Großbürokratien, betonierte Landschaft, häßliche City-Zentren von der Stange, autogerecht Städte mit Zerstörung der historischen Stadtkerne, Lärm, Streß und Schmutz sind nicht die einzige Form, in der Menschen in Zukunft leben können, leben müssen. Es liegt an uns, ob wir alle unsere Talente und Ideen für das Schaffen einer besseren Umwelt nutzen. Eine Fülle von Alternativen wird schon seit Jahrzehnten von Dichtern, Künstlern, Wissenschaftlern, Studenten-und Bürgergruppen — in der Jugendbewegung schon um die Jahrhundertwende — gefordert, beschrieben, gelebt. Zukunft ist mitnichten von den jetzt Herrschenden, jetzt an den Schalthebeln der Macht Sitzenden vollständig vorprogrammiert, kolonisiert, vereinnahmt — schon deshalb nicht, weil es verschiedene Machtzentren, bei uns Gott sei Dank eine kräftige Opposition, Protestgruppen, Bürgerinitiativen gibt.

Eine neue Art Wissenschaft mit Respekt vor der Millionen Jahre alten Schöpfungsordnupg wird gefordert, die einer neuen Umweltethik sich verpflichtet weiß und Naturkreisläufe erhält oder behutsam unterstützt (und nicht durch Großtechnik zerstört).

Aufgabe moderner Wissenschaft ist es immer wieder, die „Befreiung des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit" (Kant) durchzusetzen. Nichts hat diesen unseren Planeten mehr verändert als die Wissenschaft — von der Erfindung des Telefons, der Entdek-kung der Kernspaltung, von Computer-und Raumfahrttechnik, Laser und Maser bis zu den mit — die Ozon-Schutzschicht schädigenden — Fluorkohlenwasserstoffen betriebenen Spray-Dosen, Daniel Bell spricht von einer „Erfindungs-Zivilisation“, Binswanger in seinen Analysen für Wachstum und Umwelt (NAWU-Report) von einer „Wohlstandsfalle". Eine Neuerung jagt die andere. Die Wirklichkeit unserer immer bizarreren, der natürlichen Lebensform immer entrückteren Welt eilt den Utopien und Science-fiction-Berichten oft weit voraus. Terror-und Folterszenen in Lateinamerika gehören zu dieser Wirklichkeit ebenso wie das endlose Geräuschband an Dauer-Informations-Berieselung, das trotz enorm gestiegener Informationsmöglichkeiten, bei immer mehr Menschen zu immer größerer Ratlosigkeit, Hilflosigkeit und zu dem Gefühl des Ausgeschlossenseins des einzelnen von der Welt der Entscheider führt.

Ein gerütteltes Maß Schuld an diesem Zustand oberflächlicher Schein-Informiertheit und ständiger Frustration hat die Fernseh-Weltkultur unserer Tage, wie sie klassisch McLuhan oder auch Noelle-Neumann beschrieben haben. Schon Lewis Mumford und Theodor W. Adorno kritisierten diese Kulturindustrie, die sich selbst überlassene Aufklärung, Kommunikations-Megamaschinen, die in ihrer uferlosen Expansion zu Großverlagen, Regierungsagenturen und Multi-Media-Konzernen ihren Zusammenbruch nur beschleunigen können, einfach weil Steuerungsinformationen die nicht zur Verfügung stehen.

Die Sprache des Mannes auf der Straße ist eine andere als die der Bürokratie oder die der Wissenschaft. Es fehlt an Übersetzern und Vermittlern zwischen diesen verschiedenen Sprachen, zwischen verschiedenen Ebenen und Formen des Nicht-Verstehens. Gerade mit ihren kleinen Sorgen werden viele Bürger im Stich gelassen. Der Beamte in der Demokratie sollte sich als Dolmetscher, Partner, ja als Teil dieses Bürgerprotests gegen Wohlstandsfallen und Nicht-Verstehen der Industriekultur (als „Bürgeranwalt") begreifen. Die heutige Informations-Umwelt bringt geradezu Protestbewegungen, Verärgerung, Verdrossenheit an der Industriekultur und ihren Großbürokratien hervor. Wir alle sollten gegen diese Zukunftsangst angehen, energisch gegen leer-laufende Bürokratie und übermäßige Zentralisierung Front machen, Modelle der Selbsthilfe (Bürger helfen Bürgern, Aktion Gemeinsinn) entwickeln. Die Verwaltung sollte sich mehr als „Bruder des kleinen Mannes" verstehen — nicht mehr als Geheimrat vom Staat, würdige entrückte Autorität, unverstandene Bürokratie-Maschine.

Trotz immer größerer Mengen an Umwelt-Spezial-Informationen wird der Graben zwischen allgemeinem Umweltbewußtsein und wissenschaftlichem Umweltwissen immer größer. Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen stellt in seinem letzten Jahresgutachten 1978 fest, daß ein allgemeines Wert-und Umweltbewußtsein als Einsicht in die Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen durch den Menschen weitverbreitet ist, die einschlägigen Umwelt-Kenntnisse aber nicht in dem gleichen Maße gewachsen sind.

Trotz vieler wissenschaftlicher Veröffentlichungen weiß die Hausfrau nicht, wo sie ungespritztes Obst einkaufen kann, oder der Rentner erhält keine Antwort auf seine Fragen nach konkreten Krebsgefahren.

Hinzu kommt, wie der Sachverständigenrat auch zu Recht bemerkt, daß die Kernenergie-diskussion inzwischen die gesamte Umwelt-diskussion geradezu erschlägt. Umweltprobleme wie Schädlichkeit von Umweltchemikalien, Gefahren für das Grundwasser, Umwelt-sünden der Landwirtschaft, Gift-Transporte auf unseren Straßen, Infra-Schall mit Frequenzen unter 20 Hertz — alles Probleme, die mindestens ebenso schwerwiegend sind wie das Problem der Kernbrennstoffrückstände — treten im Bewußtsein zurück oder gehen ganz unter.

Alle diese Umweltprobleme aber nehmen in ihrer Bedeutung für unser Leben und überleben zu. Die Beispiele für falsche Einschätzung von Umweltrisiken und Gefahren sind Legion. Flächendeckende ökologische Informationen, auch für alle Teilräume der Bundesrepublik, liegen bisher nur sehr unvollständig vor. Die ökologische Beweissicherung steckt noch in den ersten Anfängen.

Der Durchbruch gegenüber früheren Jahrzehnten war auch hier der Zielkatalog des Umweltprogramms der Bundesregierung von 1971.

Das Umweltbundesamt und die Umwelt-Landesämter beginnen jetzt mit dem Abbau des Vollzugsdefizits, mit Sukzessionskontrollen, Wirkungsforschung und systematischen Belastbarkeitsstudien für einzelne Öko-Systeme.

Eine unendlich mühsame Kleinarbeit ist im Gange. Wirkungszusammenhänge werden von der Forschung besser dokumentiert, Ersatz-stoffe für umweltschädliche Produkte entwikkelt (wie etwa der Phosphatersatzstoff SASIL oder einfache mechanische Pümpchen als Ersatz für mit Fluor-Kohlenwasserstoffen betriebene Spray-Dosen, Papierbehälter für Pflanzen, die im Boden verrotten [statt Plastik-Behälter] usw.). Diese wissenschaftlich exakte Oko-Buchhaltung muß zur Überprüfung auf mögliche schädliche Umweltauswirkungen jeder Planungsentscheidung, jeder Produktentwicklung eine Selbstverständlichkeit werden. Wie den Hippokratischen Eid der Ärzte müßte es den Umwelt-Eid aller Planungs-und Ingenieurberufe geben, nichts zu entwickeln, nichts vorzuschlagen, nichts auf den Markt zu bringen, was die Umwelt auf Dauer schädigt, ökologische Kreisläufe verändert, geringen Energiehutzungsgrad hat. Von solcher Einstellung sind wir noch weit entfernt.

Die Voraussetzungen für eine rationale und langfristige Umweltpolitik der Grund-und Rohstoffsicherung sind vorhanden oder werden in Kürze vorhanden sein. Offen ist, ob der politische Wille da ist, diese neuen Instrumente und Einsichten auch anzuwenden, durchzusetzen, einzuüben in der Alltagspraxis. Gerade hier beginnt der berechtigte Zweifel der Grünen. Muß wirklich die Bodensee-, Odenwald-oder projektierte Schwarzwald-Autobahn gebaut, müssen die nach dem jetzi-gen Regierungsentwurf vorgeschlagenen Verkehrslärmwerte so hoch angesetzt werden? Geht nicht der Lärmschutz vor Kilometer? Warum spricht die Industrie vom Investitionskiller Umweltschutz? Erschlägt nicht die falsche Alternative „umweltschädigendes Wachstum oder Arbeitslosigkeit" jede vernünftige Umweltpolitik und macht ernsthafte ökologische Orientierung der Wirtschaft unmöglich?

Plato hat 400 Jahre vor Christi Geburt in seinem Werk „Die Gesetze" das Modell einer Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung ohne Wachstum beschrieben. Nach Plato gerät alles „außer Rand und Band", wenn man mit Überschreitung des richtigen Maßes dem Kleineren eine zu große Gewalt gibt, etwa einem Schiff zu große Segel oder einem Körper zuviel Nahrung. Boden wird in der platonischen Modellstadt ideell als Gemeingut des ganzen Staates angesehen. Nur ein Drittel der geernteten Früchte dürfen auf dem Markt angeboten werden; zwei Drittel müssen der Selbstversorgung dienen. Jeder ist gleichzeitig Städter und Bauer und hat eine Wohnung im Zentrum der Stadt sowie eine am Rande (Plato war der erste Peripherie-Theoretiker, wollte Gleichheit der Lebenschancen für Stadt und Land).

Der NAWU-Report zitiert Platos nach wie vor wichtige Zukunftsmodelle als Beispiel für Maßhalten und Mäßigung „in unserer Zeit der überbordung und wachsenden Gegensätze". Der zweite Bericht des Club of Rome knüpft an Plato mit seinem Vorschlag des organischen oder ökologisch maßvollen Wachstums an. Viele Oko-Kommunen praktizieren inzwischen Platos Idee der Selbstbeschränkung und Selbstversorgung. Auch utopische und asketische Weltmodelle verlangen Antworten der Politik. Wachstum muß qualitativ gesichert und begründet werden.

In vielen Jahrhunderten der Menschheitsgeschichte gab es Gesellschaften mit Bestands-und Erhaltungswirtschaft — anderen Werten als denen der faustisch-dynamischen Anspruchssteigerung, etwa vom 13. bis 15. Jahr-hundert, in Europa oder in mittelamerikanischen und asiatischen Kulturen. Dennis Meadows hat, an Max Weber anknüpfend, das Christentum für die rasch fortschreitende Umweltzerstörung auf unserem Planeten verantwortlich gemacht. Hat der Mensch wirklich das Recht, sich „die Erde untertan zu machen", sie nach seinem Willen zu formen — ohne Rücksicht auf ökologische Zusammenhänge? Muß alles, was technisch machbar ist, auch gemacht werden? Hat nicht Franz von Assisi Christus besser verstanden mit seiner Predigt der Liebe zu allen Geschöpfen, Pflanzen, Tieren, der ganzen Schöpfungsordnung, wie sie uns treuhänderisch, als feudum, als Patrimonium, zur Vorsorge für unsere Kinder und Enkel überlassen worden ist? Muß die „Revolution steigender Erwartungen", Wohlstands-Infarkt, Verfettung unserer Industrie-kultur nicht durch eine neue Umweltethik angehalten, gestoppt werden? Georg Picht, Carl-Friedrich von Weizsäcker, Barry Commoner, E. F. Schumacher und viele andere stellen, diese Fragen immer dringlicher. Die neue Disziplin der Werte-Forschung, wie sie u. a. das Berliner Institut für Zukunftsfragen entwickelt hat, versucht Antworten auf alle diese Fragen mit Mitteln der empirischen Sozialforschung zu geben. Wie wird ein neuer Werte-Kanon in einer Welt mit größeren Sozial-und Umweltkonflikten, wie der Übergang von der Ethik des Herrschens und Dienens zur Ethik der Freiheit und Gleichheit aussehen? Die großen Parteien — Kurt Biedenkopf voran — suchen seit Jahren mit der Lampe der Kulturkritik in der dunklen Nacht allgemeiner Parteienverdrossenheit nach den neuen Werten, nach dem neuen Grundkonsens — und haben nicht gemerkt, daß diese Werte längst vorhanden, geglaubt, von vielen Menschen in unserem Lande praktiziert werden: eben eine neue Umweltethik, das Wissen um die Empfindlichkeiten der Natur gegenüber rücksichtsloser Ausbeutung und Zerstörung. Das Verlangen nach Ruhe, Muße, Abschalten-Können von Streß, Lärm, Hektik, der Wunsch, mit kleinen Sorgen ernst genommen zu werden, die Fderung nach dem Bürgerrecht auf Mitwirkung und Mitgestaltung, tagtäglich und nicht nur alle vier Jahre bei einer weitgehend durch Parteibürokratien vorprogrammierten Wahl — dies sind neue Werte, vielfältig als notwendig empfunden, oft unklar formuliert, aber immer stärker ach praktiziert: Die Zahl der Betriebe für ökologischen Landbau hat in den letzten zehn Jahren um das Fünffache, die Zahl der Bürgerinitiativen auf allen Gebieten des Umweltschutzes um das Hundertfache und die Bereitschaft, sich im Umweltschutz zu engagieren, millionenfach zugenommen.

Keine Regierung in der deutschen Nach-kriegsgeschichte hat soviel in so kurzer Zeit für den Umweltschutz getan und an breiter Zustimmung in der Bevölkerung erreicht wie die sozialliberale Koalition. Aber merkwürdigerweise wird sie ihrer eigenen Taten nicht froh. Seitdem Ölkrise und Arbeitsplatzsicherung neue Prioritäten setzten, werden Umwelt-forderungen genauer auf Kostenfolgen abgeklopft; die Zielkonflikte sind damit schwerer und intensiver geworden.

Rückgrat vieler Bürgerinitiativen sind nach wie vor engagierte Beamte der Gesundheits-und Gewerbeämter. Ein breiter Strom von Informationen, Ermunterungen, Unterstützung geht seit Jahren vor allem aus dem Bundesinnenministerium an die verschiedensten Bürgerinitiativen und Umweltverbände. Unentgeltlich verteilte Informationsdienste, aus den verschiedensten Titeln finanzierte Seminare und Umwelt-Ausstellungen, Beratungsund Auskunftsdienste liefern Fakten und Unterlagen für Umwelt-Aktionen — auch zur Kritik der Behörden. Auf keinem anderen Gebiet ist soviel, so intensiv mit Bürgergruppen zusammengearbeitet, gemeinsam geplant, gestritten, um partnerschaftliche Lösungen gerungen worden. In das Umweltprogramm von 1971 sind über 300 Vorschläge von Bürgerinitiativen eingearbeitet worden; mit dem Umweltforum der Arbeitsgemeinschaft für Umweltfragen ist eine Art Umweltparlament entstanden, in dem sehr offen die Konflikte mit Kommunen und Industrie, die Auseinandersetzungen zwischen den Fachressorts, die Hindernisse und ärgerlichen Sachzwänge der Wirtschaftsund Haushaltspolitik diskutiert werden. Die Bundesregierung hat seit 1970 den Umwelt-Bürgerinitiativen Infrastruktur und Bühne mitgeschaffen, auf der sie agieren können. Dazu gehören zahlreiche Umweltveröffentlichungen der Bundeszentrale für politische Bildung ebenso wie der Auskunftsdienst des Umweltbundesamtes. Viele ausländische Beobachter fragen verwundert: Hat diese sozialliberale Bundesregierung eigentlich Angst vor der eigenen Courage bekommen? Warum sollen eigentlich Bundesimmissionsschutzgesetz und TA-Luft (Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft) geändert werden? Warum wird den Vorschlägen zum Verkehrslärm und zur Bändigung der sozialen Kosten des Autos in der Großstadt, wie sie der Umwelt-Sachverständigen-rat macht, nicht gefolgt? Warum verliert Bonn seine Führungsrolle im europäischen Umweltschutz und steht vor allem beim europäischen Umweltchemikalienrecht und bei der Festsetzung europäischer Schwefel-

Immissions-Normen auf der Bremse? Dieser Eindruck — etwa der Holländer und Franzosen — ist sicher in vielen Einzelheiten falsch. Aber warum konnte ein solcher Eindruck überhaupt entstehen? Bestand denn irgendein Grund, im Umwelt-Reformwillen auch nur einen Millimeter nachzulassen? Auf keinem anderen Gebiet (schon gar nicht auf dem der Bildung) ist die Bevölkerung der Regierung so bereitwillig gefolgt wie bei der Verschärfung und dem Ausbau des Umweltschutzes. Bangemacher aus der Wirtschaft haben die Bundesregierung zu Unsicherheiten, Unklarheiten und Überprüfungen ihrer Umweltpositionen veranlaßt. Die TA-Luft — inzwischen vom Bundesverwaltungsgericht im Fall Voerde als ausgewogener Erkenntnisstand von über 1 000 Umwelt-Experten anerkannt — wurde lange Zeit als Morgenthau-Plan von Kreisen der Wirtschaft verketzert. Auch nur eine Verzögerung der vor wenigen Jahren noch verlangten 50 000 MW Kernkraftwerk-Kapazität wurde als Zusammenbruch der deutschen Elektrizitätsversorgung an . die Wand gemalt. Alle diese Behauptungen und Prognosen waren so falsch wie die Argumente in der jahrelangen Kampagne gegen das Benzin-Blei-Gesetz. Behauptet wurde, die nötigen Mengen bleiarmen Be-zins seien rechtzeitig gar nicht bereitzustellen. Zudem schädige das bleiarme Benzin zumindest die hochverdichteten Motoren und verkürze deren Lebensdauer. Alle diese Argumente waren nicht stichhaltig, was schon nach den sorgfältigen begleitenden Untersuchungen zu erwarten war. Der Rückgang der Bleiemissionen von 1970 bis 1975 beträgt 65 °/o. Durch diese Zahlen wird der damalige Innenminister Genscher in seiner harten Haltung gegenüber der Industrie voll bestätigt. Hat die Bundesregierung eigentlich die Blei-Schlacht vergessen?

Doch die Zeit der Turbulenzen und Abwehrschlachten im Umweltschutz ist jetzt vorbei. Dies ist bereits ein Erfolg des grünen Protestes. Die Bundesregierung und die Landesregierungen nehmen sich wieder verstärkt und energischer des Umweltschutzes an — mit der Aufnahme von neuen Umwelt-Delikten ins Strafrecht, mit der Verbesserung der Bürgerbeteiligung am Genehmigungsverfahren, mit dem Zurückschrauben der Anteile der Kernenergie am Gesamt-Energie-Paket (Kernenergie nur dort, wo nachgewiesener Restenergiebedarf besteht), mit der konsequenten Durchsetzung des Verursacherprinzips (die Kernenergiewirtschaft muß voll für alle Kosten der Entsorgung zahlen, ebenso die Kommunen für die Verschmutzung unserer Flüsse durch kommunale Abwässer), mit Regelungen für Umweltchemikalien und Störfälle in der erdölverarbeitenden und chemischen Industrie. Ein Lärmschutz-Aktions-Programm und Vorschläge zur Verbandsklage liegen auf dem Tisch.

Wären die Grünen demzufolge der ideale Bundesgenosse der jetzigen Bundesregierung? Sie vertreten sicher ebenfalls die Ziele des Umweltprogramms von 1971 — Herbert Gruhl hat sie jedenfalls viele Jahre als CDU-Abgeordneter vertreten.

Warum es trotz Umweltprogramm, zahlreichen neuen Umweltgesetzen — vom Bundesimmissionsschutzgesetz bis zum Abwasserabgabengesetz —, trotz Umweltbundesamt, schärferen Umweltkontrollen, Abfallwirtschaftsprogramm, vielen Initiativen in Bundes-und Landesregierungen zum grünen Protest kommen konnte, hängt mit vielen Faktoren zusammen, u. a.: — dem in der ganzen Bevölkerung vorhandenen Bewußtsein akuter Umweltgefährdung; — Sorgen um die künftige Entwicklung der eigenen Heimat und engeren Umgebung; — Furcht? vor einer Minderung des eigenen Besitzstandes durch umweltbelastende Ansiedlungen; — Arger über Planungsabläufe, die immer stärker als obrigkeitlich-einseitig und undemokratisch empfunden werden;

— Mißtrauen gegenüber Absichten der Politiker; — Uninformiertheit über wirtschaftliche oder ökologische Zusammenhänge.

Wenn, wie etwa bei der Planung von Standorten für Kernkraftwerke oder anderen industriellen Großprojekten, die Gefährdung der Umwelt als Gefährdung der eigenen Existenzgrundlage gesehen wird, wächst die Widerstandsbereitschaft und damit die Geneigtheit, grüne Listen zu wählen. In Niedersachsen waren die Stimmenzahlen der Grünen am höchsten im Wahlkreis Lüchow-Danneberg, in dem der geplante Standort für das Atommüllentsorgungszentrum Gorleben liegt. In den Kommunalwahlen Anfang März 1978 in Schleswig-Holstein war das höchste von den Grünen erzielte Wahlergebnis mit 6, 6 °/o im Landkreis Steinburg, in dem die Baustelle für das Atomkraftwerk Brokdorf liegt.

Dort, wo Umweltgefährdung unmittelbar ein Konfrontationsthema ist, schlägt Angst, Sorge, Verärgerung auch im Abgehen vom üblichen Wahlverhalten durch.

Dagegen wird das in Hamburg und Niedersachsen von vielen Kommentatoren festgestellte Spontane und Farbige des grünen Protestes zum Nachteil, wenn es — wie in Hessen etwa — um die Entscheidung über den politischen Gesamtkurs, um Zustimmung oder Ablehnung einer bestimmten Politik geht.

Das grüne Protestpotential verliert sich dann im herkömmlichen politischen Konfrontationsmuster. Das Bunte und Spontane erscheint den Wählern dann als zweitrangig oder politisch zu diffus, die Vielfalt der Gruppen erscheint als Zerstrittenheit, das utopische Element als unseriös, ja politisch naiv.

Diese Überlagerung in Hessen und Bayern braucht nicht zu bedeuten, daß ein ohne Zweifel vorhandenes Protestpotential nicht wieder mobilisiert werden könnte. Nicht überall gibt es „Dregger-" oder „Strauß-Effekte“. Ob allerdings Herbert Gruhl die für solche Mobilisierung des Protestes geeignete Kraftquelle ist, muß bezweifelt werden, zumal ihm von Anfang an Bürgerinitiativen recht kühl gegenüberstanden.

Gerade der GAZ als einer Honoratioren-Gründung von oben fiel es — etwa in Bayern — schwer, sich eine Infrastruktur zu schaffen; sie hat sich auf politisch riskante Wahlbündnisse z. B. mit der Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher (AuD) eingelassen, die ganz andere (versponnen-revolutionäre) Ziele als jedenfalls den Umweltschutz auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Carl Amery spricht davon, Herbert Gruhl habe mit seiner Parteigründung von oben „mit geradezu unwiderstehlicher Gewalt randständige Figuren aus der bürgerlich-kulturpessimistischen Ecke angezogen, biopolitische Mahngreise, Reformhaus-Kundschaft, vergrätzte Lokalpolitiker, die . . . auf wundersame Wirkung des neuen Etiketts hoffen" (Publik-Forum 18. 8. 1978).

Was viele Wähler in Hessen und in Bayern verschreckt hat, ist dieser Unterton der Parlamentarismus-und Demokratiekritik, das Messianisch-Blauäugige, dieser Geruch nach Hermann Löns und Ganghofer, kurz die naive Politbiologie (die in anderer Form schon einmal unser ganzes Volk schließlich in schwerstes Unglück gestürzt hat — auch damals von vielen ehrlichen Wandervögeln und Bündi-schen nicht gewollt). Der grüne Protest hat schrille, gefühlige, schwärmerische, ja sehr demagogische Töne. Wer Wind sät, könnte Sturm ernten. Wer nur von etablierten oder Establishment-Parteien spricht, verschweigt, daß zum politischen Geschäft Kompromiß, Kooperation, Toleranz und Geduld, also Zusammenarbeit mit den Altparteien, gehören. Wer so tut, als könne über Nacht alles einfacher werden: „Menschen, Verwaltung, Technik, Verkehr!“ (wie es im Wahlaufruf der GAZ heißt), der ist unredlich, über den Stand der reinen Umwelt-Unschuld, des Nochüberzeugt-werden-Müssens sind wir doch alle längst hinaus — auch alle Bonner Politiker. Alle haben wir unser Aha-Erlebnis gehabt. Für das Bürgertum war die Erkenntnis, daß Glück und Reichtum nicht identisch sind, ebenso einschneidend wie das Vietnam-Erlebnis für eine ganze Studentengeneration der Welt zehn Jahre zuvor.

Nicht das Ob, sondern das Wie ist heute das Problem. Wie kann eine Umweltverträglichkeitsprüfung in alle Fachplanungen, in jede Produktentwicklung verläßlich eingeführt werden? Welche alternativen Energiequellen sind mit welchen Anreizen kurzfristig oder zumindest mittelfristig einzusetzen? Wie kann die etwa eine Million Hektar umfassende Ackerfläche, die durch den Verkehr vergiftet wurde, aus der aktiven Agrarproduktion genommen werden? Wie können Hausfrauen präzise Einkaufs-Tips für umweltfreundliche Produkte gegeben werden? Wie soll die Aktiv-

Legitimation für eine Umwelt-Verbandsklage definiert werden? Wie muß eine Umwelt-Chemikalien-Grundprüfung aussehen? Durch welche Anreize können Kommunen zum Bau von Kläranlagen veranlaßt werden? Diese konkreten Fragen müssen von Bürgergruppen und -initiativen — wie bisher schon — mit allen Parteien diskutiert und formuliert sowie an Bundestag und Bundesrat herangetragen werden. Was glauben die Grünen Listen zu dieser praktischen Umwelt-Arbeit beitragen zu können? Hoffentlich wissen sie eine Antwort. Große Worte vom sinnerfüllten Leben oder von den Müttern als wichtigsten Stand des Volkes helfen hier nicht weiter, helfen auch der Bürgergruppe in Hanau, München oder Frankfurt nicht.

Umweltpolitik braucht mehr als guten Willen, mehr als gefühlige Ressentiments gegen das bestehende Parteiensystem. Die politische Realität ist kompliziert. Umweltinitiative verlangt praktischen Umweltverstand, Kooperationsfähigkeit und nicht zuletzt Geduld.

Bürgerinitiativen sind nicht identisch mit Grünen Listen; sie sind bei der Gründung der Grünen Aktion Zukunft auch gar nicht erst gefragt worden. Eine Gründung von oben braucht nicht mühsames Ringen um konkrete örtliche Probleme, geduldiges Zuhören. Hauptsache, der Protest kommt in den Medien an. Bei dieser Art von Ein-Punkte-Programmen und Ideologisierung des Umwelt-Themas besteht sogar die Gefahr, daß seit Jahren laufende ernsthafte Umwelt-Initiativen — innerhalb und außerhalb der Bundesregierung — an Glaubwürdigkeit verlieren, mit überspannten systemkritischen Thesen der „Grünen" verwechselt und im Ergebnis die gesamte Umweltpolitik geschwächt wird.

Gegen Ende der Weimarer Zeit gab es schon einmal in unserer Geschichte „Sachparteien" — Haus-und Grundbesitzer, Bauern, Mittelständler usw. —, die die gesamte Parteien-landschaft so zersplitterten, daß regierungsfähige Mehrheiten nicht mehr zustande kamen. Auch daran erinnerte sich wohl mancher Wähler bei den letzten Landtagswahlen. Noch stärker wird in Zukunft Umweltpolitik nicht als isolierte Fachpolitik, sondern als ökologische Orientierung aller Politikbereiche und damit als Bestandteil gesellschaftlicher Stabilitätspolitik verstanden werden müssen. Die Funktionen fachübergreifender Programm-und Aufgabenplanung müssen gestärkt, neue ökologische Planungsmodelle entwickelt, Zielkonflikte und Zieleinbußen gelöst und in einem längerfristigen Planungsrahmen aufgefangen werden. Das erfordert geduldiges, zähes Durchsetzen ökologischer Ziele und Eckwerte, zuerst in exemplarischen Lernfeldern und Modellprojekten und nach Erprobung neuer Alternativen überall in Wirtschaft und Gesellschaft (sei es über staatliche Abgaben, vernünftige Einsicht oder Verändern der Daten für die Wirtschaft). Dieser außerordentlich schwierige Anpassungsprozeß kann in einer hochkomplizierten Industriekultur wie der unseren mit vielfachen . weltwirtschaftlichen Verflechtungen nur gelingen, wenn Zielkonflikte ehrlich durchgestanden, frühzeitige Unterrichtung der Planungsbetroffenen (also vor allem der Bürger) erfolgt, Kooperation mit allen Gruppen und Kräften der Gesellschaft gesucht wird. Nur bei solchem Vorgehen kann der für ein konsequentes Umsteigen auf umweltfreundliche alternative Verfahren und Technologien notwendige breite Konsens mit allen Gruppen und Schichten in der Gesellschaft gefunden werden. Es braucht für dieses schwierige Geschäft praktischen Umweltverstand und — trotz vieler Konfrontationen und Mißverständnisse — unverdrossene Kooperationsbereitschaft. Welterweckungskonzepte und moralische Appelle, wie sie die Grünen Vorschlägen, reichen allein nicht, um mit der Jahrhundertaufgabe Umweltsicherung und Umweltgestaltung fertig zu werden.

Umweltpolitik braucht mehr und andere politische Innovationen als die Fortsetzung der Grundwerte-Diskussion in den „Altparteien" mit ideologisch versetzten Vorzeichen. Das Umwelt-Thema ist zu wichtig, um im politischen Experiment ökologischer Parteien oder Grüner Listen verschlissen zu werden.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Peter Menke-Glückert, geb. 1929; Ministerialdirektor im Bundesministerium des Innern, Leiter der Abteilung Umweltangelegenheiten; Studium der Rechtswissenschaften, der Psychologie und der Volkswirtschaft in Leipzig, Berlin, Göttingen, Berkeley/USA. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Technologie-und Umweltpolitik, Zukunftsforschung und Medienfragen.