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Der Aufsatz: 100 Jahre Sozialistengesetz -ein Lehrstück. Stellungnahme zu dem Beitrag von Karl-Ludwig Günsche und Klaus Lantermann in B 41/78 | APuZ 12/1979 | bpb.de

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APuZ 12/1979 Artikel 1 Carl Schurz und die Deutschamerikaner Le Monde und die Bundesrepublik Deutschland Der Aufsatz: 100 Jahre Sozialistengesetz -ein Lehrstück. Stellungnahme zu dem Beitrag von Karl-Ludwig Günsche und Klaus Lantermann in B 41/78 Auf welchem Auge blind? Gerhart Binder und die „Objektivität" in der Geschichtswissenschaft

Der Aufsatz: 100 Jahre Sozialistengesetz -ein Lehrstück. Stellungnahme zu dem Beitrag von Karl-Ludwig Günsche und Klaus Lantermann in B 41/78

Gerhart Binder

/ 20 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In der Auseinandersetzung mit dem Aufsatz von Karl-Ludwig Günsche und Klaus Lantermann sollte es nicht um Polemik gehen, sondern um den Versuch einer Klärung: Erstens: Der Vergleich des Bismarck’schen Sozialistengesetzes von 1878 mit dem „Radikalenerlaß" der Regierung Brandt und den sogenannten „Berufsverboten" ist in der vorgetragenen Weise unsachlich und unhistorisch. Zweitens: Die Anwendung des Schlagworts „Berufsverbot" im Zusammenhang mit den Gesetzen und Verordnungen, mit denen der Eintritt von Extremisten in den öffentlichen Dienst abgewehrt werden soll, ist unrichtig, ja sie entstammt kommunistischer Propaganda. Denn in Wahrheit handelt es sich dabei um unabdingbare Voraussetzungen für den öffentlichen Dienst, also, wenn man sich in der Formulierung anpassen möchte, um „Berufsgebote". Drittens: Die Bundesrepublik Deutschland ist eine parlamentarische Demokratie und nach dem Grundgesetz eindeutig und unabdingbar ein auf den Grundrechten, dem Föderalismus und der Teilung und Begrenzung der Macht aufgebauter Staat. Wer sich dadurch, daß er nicht bereit ist, jenes Grundgesetz zu bejahen, ja sich für es einzusetzen, abseits stellt oder eine jenem Grundgesetz widersprechende politische Grundanschauung vertritt, der ist „Verfassungsfeind" im Sinne einer Gegnerschaft zum demokratischen Staat. Ihm wird das Recht zu einer grundsätzlichen Gegenposition in Artikel 5 ausdrücklich verbrieft, aber er hat keinen Anspruch, damit auch in den Staatsdienst genommen zu werden. Das Deutschland nach 1871, ’ wie es Bismarck geschaffen hatte, war eine konstitutionelle Monarchie mit stark autoritären Zügen, in vieler Hinsicht also keine'Demokratie. Wer sich, weil er die demokratischen Grundprinzipien, die Grundrechte und die Normen eines freiheitlichen Sozialismus vertrat, gegen jenen Staat stellte, der kämpfte also gegen ein Unrechtsgesetz, wenn er sich gegen das Sozialistengesetz stellte, und er war — als Sozialdemokrat — Demokrat. Die Auseinandersetzung mit dem „Radikalenerlaß" und die Erinnerung an das Sozialisten-gesetz sollen uns also an die Hauptforderung mahnen: daß es auf das Engagement der Demokraten ankommt und auf eine sachliche Auseinandersetzung. Propaganda, wie sie zum Beispiel mit der unkritischen Übernahme des Schlagworts „Berufsverbot" und dem schiefen Vergleich des Bismarck-Deutschland mit der Bundesrepublik Deutschland getrieben wird, schadet der gemeinsamen Sache.

„In der Politik geht es darum, Partei zu ergreifen. In der Geschichtswissenschaft geht es darum, objektiv zu sein."

Die Betrachtung Karl-Ludwig Günsches und Klaus Lantermanns zum Sozialistengesetz ist nicht nur verdienstlich, weil sie vom politischen Engagement der Autoren zeugt, sondern auch, weil sie zeigt, wie gefährlich es ist, wenn man die Geschichte als Arsenal für politische Polemik benutzt und versucht, aus der unerschöpflichen Waffenkammer der Vergangenheit Munition für die Gegenwart zu besorgen.

Da kommt dann allzu leicht das heraus, was Goethe bereits als Warnung vor gegenwartsblinder und nur zeitbezogener Historie Faust — als Entgegnung an seinen „Famulus Wagner" — sagen läßt:

„Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.

Was ihr den Geist der Zeiten heißt, Das ist im Grund der Herren eigner Geist, In dem die Zeiten sich bespiegeln."

Vorneweg und mit der gebotenen Deutlichkeit: Wogegen nachdrückliche Bedenken am Platz sind, das ist nicht ihre Darstellung im zweiten Abschnitt (Zwei Attentate und ihre Folgen), sondern die zu Beginn und am Schluß offerierte Nutzanwendung. Um nicht in den Verdacht zu geraten, etwas zu unterstellen, was am Ende gar nicht gesagt worden sei, folgende Zitate: „Tatsächlich sind Parallelen zur heutigen innenpolitischen Situation der Bundesrepublik Deutschland unübersehbar: War früher von . vaterlandslosen Gesellen'die Rede, so wird den Sozialdemokraten aus konservativer Richtung heute nationale Unzuverlässigkeit vorgeworfen. So wie sich die bewußte Vermischung von terroristischem Einzelgängertum mit radikalem politischem Veränderungswillen wiederholt, so muß heute in manchen Bundesländern auch wieder das schrittweise Abweichen von Rechtsstaatsgrundsätzen, die Verhängung von Berufsverboten für politisch Andersdenkende, die Gesinnungsschnüffelei und Verdächtigungen angeblicher . Sympathisanten'registriert werden .. „Das Sozialistengesetz war Auslöser und ist bis heute Grund dafür, daß die politische Linke in Deutschland diffamiert werden kann wie in keinem anderen demokratischen Staat des Westens, obwohl sie ihre freiheitlich-demokratische Orientierung in den 114 Jahren ihrer Geschichte nicht einmal verraten hat — im Unterschied zu manchen konservativen Kräften."

Nun denn, geben wir hier gleich die , Stich'-Worte — das auch im Sinn der deutlichen Stellungnahme —, um die es hernach gehen soll:

Die angeblichen „Parallelen"; die undifferenzierte und unbedenkliche Verwendung des Begriffs . konservativ'und . konservative Kräfte'; das behauptete „schrittweise Abweichen von Rechtsstaatsgrundsätzen"; die Formel: „Berufsverbote für politisch Andersdenkende".

Doch soll unser Nachweis zu dem, was behauptet wurde in jenem Aufsatz, auch noch durch* den Schlußabschnitt ergänzt werden: „Der SPD-Parteivorsitzende (sic!) Herbert Wehner vertrat 1978 in einem Interview sogar die Ansicht, daß wir heute wieder an eine Stelle gekommen sind, in der man dieser Partei soviel vorzuwerfen versucht, daß sie jedenfalls faktisch für das Urteil des durchschnittlichen Mitbürgers und der Mitbürgerin ausgeschlossen ist aus den Reihen derer, in deren Hände mitgelegt werden kann oder gelegt werden kann ... die Regierung unseres Staates." " . Und auch heute, da die SPD seit zwölf Jahren im Bund und viel länger in etlichen Bundesländern (mit) -regiert, ist Bismarcks Stachel immer noch spürbar: Allzuoft verzichtet die SPD auf eine klare Haltung gegenüber Versuchen, Rechtsstaatsprinzipien aufzuweichen, gegenüber Versuchen, die Partei pauschal oder Teile von ihr als staatsfeindlich zu diffamieren, gegenüber Versuchen, soziale Errungenschaften wieder abzubauen. So verstanden, ist das Sozialistengesetz auch ein . Lehrstück für die Gegenwart'"

Bevor wir auf die einzelnen kritischen Punkte , zustoßen'wollen, sei aber erst einmal eine Lanze zugunsten der SPD gebrochen: Daß die SPD „allzuoft auf eine klare Haltung ..." verzichte, das ist ungerecht. Im Gegenteil, die oft sehr heftige Reaktion in der SPD auf Versuche, sie mit Kommunisten in einen roten Einheitstopf zu werfen, die leidenschaftlichen Debatten um die Frage, wie denn Schutz des Staats vor seinen erklärten Feinden mit der Wahrung der Freiheit zu vereinen sei, zeigen das Engagement.

Auch sollte nicht so einfach dahingesagt werden, was vor jenem Schlußsatz der SPD vorgeworfen wurde: „Auf der anderen Seite führte der andauernde Versuch der Konservativen, die Sozialdemokratie als staatsfeindlich zu verleumden, zu politischen Entscheidungen der Partei, die vor allem der Rechtfertigung gegen diesen ständigen Verdacht dienten: Der . Burgfrieden'vom August 1914, die Unentschlossenheit der Mehrheitssozialdemokratie in der Revolution von 1918 und beim Aufbau der ersten deutschen Republik, die Anpassungsversuche eines Teils der SPD-Führung selbst gegenüber Hitler 1933 finden hier eine Erklärung."

Keine Pauschalkritik gegen die Sozialdemokraten! Die Sozialdemokraten waren zu Kriegsbeginn 1914 in einer wahrhaft verzweifelten Lage: Vergeblich hatten ihre Abgesandten kurz vor dem Ablauf der Ultimaten und Mobilmachungen in Paris bei ihren Genossen versucht, eine sozialistische Einheitsfront gegen den Krieg aufzurichten. So haben denn auch nicht allein die deutschen Sozialisten die Kriegskredite mitbewilligt — überall, in allen Ländern, in Frankreich ebenso wie in Großbritannien, riß die Welle des Nationalismus die Massen mit sich. Jene, die weiter blickten, waren eine Minderheit. Und: galt jener Krieg von 1914 nicht den meisten deutschen Sozialdemokraten vor allem als ein Kampf gegen das autokratische Regime der russischen Zaren? Natürlich, heute wissen wir es besser — ist das die Legitimation, so eilfertig und pauschal abzuurteilen? Dasselbe läßt sich über die „Unentschlossenheit der Mehrheitssozialdemokratie in der Revolution von 1918" sagen. Wer der geschichtlichen Wahrheit die Ehre geben und gerecht urteilen will, der darf nicht mit derlei geschwinden Pauschalurteilen kommen.

Ganz schlimm ist die Kritik an der Haltung der SPD „gegenüber Hitler 1933". Da muß man sich schon die Mühe machen, etwa das Protokoll der Reichstagssitzung vom 10. Juni 1933 nachzulesen Auch ist es nützlich, die sehr offenen und kritischen Erinnerungen Hoegners heranzuziehen. Dann wird die verzweifelte Lage der Sozialdemokraten zu jener Zeit verständlich — ohne daß man die Illusionen (es werde doch nicht so schlimm werden) und die Ängste verschweigt, von denen viele SPD-Politiker damals erfüllt waren. Das sind nicht „Anpassungsversuche", sondern die letzten, allerletzten Hoffnungen Ertrinkender, die sich auch noch an den kleinsten Strohhalm klammern möchten.

Was ein patriotischer Sozialdemokrat in jener Zeit empfand, das ist besonders eindrucksvoll in einem Schreiben Theodor Leiparts an den Dresdner Geheimrat von Nostitz ausgesprochen. Da hieß es: „... Sie werden den Aufruf der neuen Reichsregierung gestern abend im Rundfunk aus dem Munde Adolf Hitlers auch gehört haben. Mein Innerstes ist davon noch aufs Tiefste erschüttert. Mein deutsches Na-tionalgefühl, mein Gefühl für die Ehre und das Ansehen des deutschen Volkes ist tief verletzt. Soviel Unehrlichkeit und Ungerechtigkeit, soviel demagogische Falschheit, soviel Unlogik und Schimpferei gegen das eigene Volk aus dem Munde eines deutschen Reichskanzlers, öffentlich vor den Ohren der ganzen Welt — ich schäme mich als Deutscher vor diesem Geschehnis."

Man sollte nicht vergessen, daß es vor Hitler in Deutschland noch niemals so viel Lüge, soviel Haßpropaganda und Agitation gegeben hat. Ein Regierungschef, der in Wahrheit der Chef einer Bande gestrandeter Existenzen gewesen ist und, Versailles und Wirtschaftskrise benützend, die Massen betörte — das alles war neu und unerhört in der deutschen Geschichte. In diesem Sinne ist Hitler nicht etwa ein Werkzeug der Generäle und ein extremer . Deutschnationaler'gewesen, sondern ein revolutionärer Gewaltpolitiker, der die reaktionäre, faschistische Ideologie benützte, um seine „nationale Revolution" voranzutreiben.

Wer vom gesicherten Port unserer eigenen Zeit urteilt und aburteilt, der sollte erst einmal versuchen, jener Zeit nach 1933 und den damals Handelnden gerecht zu werden. Von „Anpassungsversuchen" kann man am allerwenigsten gegenüber der damaligen SPD sprechen. Da lagen die Dinge bei den Kirchen und den . bürgerlichen’ Parteien ganz anders. Haben die Autoren denn den 23. März 1933 und die tapferen Worte von Otto Wels vor aller Öffentlichkeit und im Reichstag vergessen?

Anmerkungen zum Sozialistengesetz Es ist wichtig sich zu vergegenwärtigen, daß der erste Entwurf eines Ausnahmegesetzes gegen die Sozialisten die „schlechte Kopie eines englischen Gesetzes gegen den irischen Geheimbund der Fenier" gewesen ist -Terror und die Abwehr des Staates, das gab es auch in den westlichen Demokratien. Bismarck war mit den geplanten Ausnahmegesetzen in einer wahrhaft großen Gesellschaft. Das entschuldigt nicht, aber es hilft, die Zeit richtig zu bewerten. Dazu kommt, daß die Sozialdemokraten sich damals verbal als Klas-senkämpfer und Umstürzler gaben. Man konnte leicht übersehen, daß sie in Wahrheit wünschten, endlich den Staat tragen zu dürfen. Jedoch: darf man dabei vergessen, wie-viel revolutionäres Pathos in der damaligen Sozialdemokratie lebte, wie sehr man zum Beispiel den Aufstand der Pariser Kommune vom Winter 1870/71 sich als Vorbild nahm, jene Ereignisse weit überschätzend? Es waren eher starke Worte, die dabei gesprochen wurden, hinter denen keineswegs starke Taten oder eine wirkliche Umsturzbereitschaft stand — gewiß! Aber es wirkte eben doch und erleichterte es den Gegnern der Sozialdemokratie, die Sozialisten in das Extrem einer „Umsturzpartei" zu drängen. So hatte August Bebel zwei Wochen nach dem Ende des Kriegs gegen Frankreich vor dem Ersten Reichstag des neuen Reiches erklärt: „Das war nur ein Vorpostengefecht! Ehe wenige Jahre vergehen, wird der Ruf der Pariser Kommune: . Krieg den Palästen, Friede den Hütten!'zum Schlachtruf aller Proletarier Europas geworden sein!"

Das waren nach guter deutscher Art kräftige Worte, aus berechtigter Empörung gesprochen. Und sie wurden Munition für die Gegner. Dabei galt doch immer noch, was Kaiser Napoleon III. von den Deutschen gesagt hatte: „Die Deutschen machen keine Revolution. Sie sind nicht Mörder genug"

Heute haben wir Grund, daneben Lenins Wort zu setzen: „Wenn die Deutschen einmal in einer Revolution einen Bahnhof stürmen wollen — dann lösen sie zuvor eine Bahnsteigkarte."

Und wir haben in fürchterlicher Weise erleben müssen, daß — so muß man Napoleons Wort nun ergänzen — die Deutschen durchaus „Mörder" zu sein in der Lage sind. Aber dann auf Befehl und gleichsam nach Dienstvorschrift.

In summa: Wenn es darum geht, nach Möglichkeiten und Grenzen zu fragen, nach Belastungen und Fehlern, die den Deutschen besonders eigen zu sein scheinen, dann in der Tat ist auch das Sozialistengesetz ein Lehrstück. Nur — mehr kann nicht gesagt sein! 12 Schiefe Vergleiche „Für uns und unsere Nachbarn bleibt festzustellen, daß bestimmte Vorurteile gegenüber diesem Land und dieser Nation in einigen europäischen Ländern außerordentlich zählebig sind. Diese Vorurteile sind aus der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands heraus durchaus verständlich.

Man beleidigt die Würde dieser Demokratie, wenn man ihr faschistische oder faschistoide Züge unterstellt. .. Wir gründen unser Selbstbewußtsein auf die dreißigjährige demokratische Tradition, auf die Leistungen unseres Landes in Politik, Recht, Wirtschaft und beim Aufbau eines vorbildlichen Sozialwesens. Vieles ist noch zu tun. Für Kritik sind wir dankbar. Aber man sollte aufhören, unsere demokratische Substanz anzuzweifeln. Unsere Fehler, die ich nicht leugne, sind, soweit ich das beurteilen kann, nicht schwerer erträglich als die unserer Nachbarn."

In allem Ernst: Wer, wie die beiden Autoren, das Bismarck-Deutschland der Zeit nach 1871 mit der Bundesrepublik Deutschland in so nahe Parallelen setzt, der muß sich erst einmal fragen lassen, ob er beide Staatssysteme wirklich intensiv und vorurteilsfrei genug betrachtet und ob er sich ausreichend darum bemüht hat, zu differenzieren und vor allem: wie weit er sich in seiner Kritik von der Propaganda frei gemacht hat. „.. . Ebenso wie die gelenkte Kunst ist die Propaganda — der Gegensatz der Information — die übliche geistige Nahrung des weitaus größten Teils der Menschen ... Die zum Wesen unseres Gesellschaftstypus gehörende Selbstkritik, die nicht aufgegeben oder reduziert werden kann, ohne daß diese Gesellschaft sich selbst zerstört, hat eine gewissermaßen zwangsläufige Folge: Es ist nämlich der einzige Gesellschaftstypus, dessen Mitglieder unablässig auf die vorhandenen Fehler hinweisen . . . Infolge der kumulierenden Wirkung dieser Kritiken, die immer in dieselbe Richtung gehen, gibt es bald und gibt es schon jetzt nur noch einen einzigen Angeklagten und Anklagbaren: Die Handvoll entwickelter und annähernd demokratischer Gesellschaften."

Bundespräsident Scheel weist darauf hin, daß wir nunmehr eine dreißigjährige demokratische Tradition haben, eine gewiß vielfältig verbesserungsbedürftige und stets gefährdete Demokratie, aber eben ein demokratisches System, das nur derjenige in die Nachbarschaft autoritärer oder gar faschistischer Staatsordnungen rücken kann, der den beneidenswerten Vorzug besitzt, weder in absoluten noch gar in diktatorischen Staaten leben zu müssen, und die weniger beneidenswerte Neigung zeigt, auf Propaganda hereinzufallen. Wo die giftigen Früchte der Propaganda stek-ken — nimmt man Eingangssätze und Schlußabschnitt des Beitrags zum Sozialistengesetz —, das sei hier an einigen Beispielen angedeutet. Wir müssen uns mit dem Augenfälligsten begnügen.

Konservativ = reaktionär?

Die Autoren haben es auf die „Konservativen" abgesehen. Sie behaupten in schlichter Unbefangenheit, den „Sozialdemokraten werde heute nationale Unzuverlässigkeit vorgeworfen" und es „führte der andauernde Versuch der Konservativen, die Sozialdemokratie als staatsfeindlich zu verleumden", zu dem Verzicht der „SPD auf eine klare Haltung gegenüber Versuchen, Rechtsstaatsprinzipien aufzuweichen".

Können wir uns hier darauf einigen, daß es sich bei Leuten, die der SPD „nationale Unzuverlässigkeit" vorwerfen, um Reaktionäre handelt?

Wollen die Autoren wirklich, daß unsere Demokratie nur Liberale und demokratische Sozialisten beherbergt und zur Mitarbeit ruft — und nicht auch Konservative? Geht es nicht stets auch um das „Alte Wahre" und nicht nur um das „Neue Gute", um Fortschreiten und Standhalten?

Wer so undifferenziert „konservativ" mit reaktionär — in der Sache! — gleichsetzt, dem sei angeraten, sich einmal die SED-Propaganda vorzunehmen und ihre Vollzugsgenossen und Nachbeter anzusehen. Und es sei empfohlen, einmal über die für die deutsche Geschichte so wichtige — und leider so wenigen nur bewußte — Tatsache nachzudenken, daß wir in den Konzentrationslagern Hitlers Sozialisten, Liberale und Konservative trafen. Mehr noch: daß vielen Kommunisten — den ersten Opfern des NS-Terrors — dort erst voll der Wert der Freiheit bewußt geworden ist! Man muß nur an Robert Havemann denken, um eine Antwort zu erhalten, wo heute jene Kommunisten stünden, die nach 1933, zusammen mit Liberalen und Christen, in die Gefängnisse und Konzentrationslager geworfen wurden.

Das „Abweichen vom Rechtsstaat"

„Die moderne Gesellschaft erhält ihre Grundverfassung aus einer dreifachen Rechtsgewährleistung: Der Rechtsgleichheit, der allgemeinen Erwerbsfreiheit und der Garantie des erworbenen Eigentums."

Hier, in unserer Auseinandersetzung, geht es vor allem um die Rechtsgleichheit, wie sie in Artikel 3 des Grundgesetzes formuliert ist, und um die Freiheit der Berufswahl (Artikel 12 GG), die sich aus dem „Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit" (GG Art. 2) herleitet.

Wer von . Berufsverbot'redet und etwa Lehrern einen absoluten Anspruch zumißt, vom Staat angestellt zu werden, ohne das Eignungsgebot des Artikels 33 zu berücksichtigen, der ist ein Opfer linksextremer Propaganda. Wer vom „Abweichen vom Rechtsstaat" redet, weil Extremisten vom Staatsdienst ferngehalten werden, der übersieht, daß der Gleichheitsgrundsatz von Artikel 3 nur gebietet, Gleiches gleich zu behandeln, keineswegs aber verbietet, Ungleiches ungleich zu behandeln. Die Frage nach der Eignung aber bedeutet Differenzierung, heißt nach Qualität — und dazu gehört wesentlich auch das aktive Eintreten für die zentralen Forderungen des Grundgesetzes — zu beurteilen und damit notwendig auch zu sichten. Nein, der „Rechtsstaat" fordert genau dies: Bewerber, die solche Bedingungen nicht erfüllen, vom Staatsdienst fernzuhalten! Daß dabei Vernunft walten sollte, daß staatliche Bürokratien in ihrem Drang zur Perfektion in Grenzen gewiesen werden müssen — das sollte sich eigentlich von selbst verstehen.

Wir müssen uns nun dem Agitationswort „Berufsverbot" zuwenden. Die Autoren scheinen es ja nicht als Schlagwort zu werten, sondern ernst zu nehmen. Schlimmer noch — und hier ist nichts zu beschönigen —, sie setzen die „Berufsverbote" von 1878 in Vergleich zu den angeblichen von heute.

Berufsverbote? Berufsgebote!

„Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden." (Art. 12, 1 GG) „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung." (Art. 5, 3 GG) „Die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse ist als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst-und TreueVerhältnis stehen." (Art. 33, 4 GG) „Das Grundgesetz in Artikel 33 ... nennt für den Zugang zu öffentlichen Ämtern drei Kriterien: Eignung, Befähigung und fachliche Leistung . . . Sicherlich mag sich ... in den Reihen der radikalen Linken ein beachtliches Ausmaß von Intelligenz finden. Aber es fehlt an Eignung für den öffentlichen Dienst, ja diese Art von geforderter Eignung steht gerade im Gegensatz zu Radikalität oder zu revolutionärem Drang . . . Daß revolutionäre Solidaritätsbindungen quer durch die Ämter sehr wirksam sein können, hat die nationalsozialistische Infiltration in die Behörden der allgemeinen Verwaltung und der Polizei vor 1933 gezeigt. Manche Revolutionäre machen heute aus ihrer Absicht keinen Hehl; sie wollen durch ihren Eintritt in den öffentlichen Dienst die Chance erhalten, von dort aus ihren Zielen Geltung zu verschaffen. Gerade weil die Revolutionäre der Zahl nach schwach sind, sehen sie im öffentlichen Dienst eine Multiplikationschance für ihre Aktionen."

Theodor Eschenburg gehört zu jenen Professoren und Politikern, die die Weimarer Republik nicht nur kritisch erfahren und schmerzlich erlebt haben, sondern auch entschlossen sind, daraus die Konsequenzen zu ziehen — ähnlich wie es die Verfasser des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat gehalten haben, als sie unmißverständlich festlegten, daß Bürger, die im besonderen Dienst der Allgemein-heit stehen — Beamte, aber ebenso auch Abgeordnete als Glieder demokratischer Parteien —, diesem demokratischen Staat gegenüber eine Treuepflicht haben. Ist das nicht der Fall, so fehlt ein entscheidendes Moment der Eignung.

Diejenigen, die das unschätzbare persönliche Privileg innehaben, mit dem „Dritten Reich" nicht mehr konfrontiert worden zu sein, und auch das Glück genießen, in der Bundesrepublik Deutschland zu leben und nicht in einem „sozialistischen" Staat nach Art der DDR — wiewohl unser Grundgesetz ihnen jederzeit die Wahlmöglichkeit gibt, sich ein anderes Staatssystem als Lebensbereich zu wählen —, jene Mehrheit der jüngeren Mitbürger hat aber auch Verpflichtungen: sie muß bereit sein, die Erfahrungen der Vergangenheit aufzunehmen, muß wissen, daß es gerade in der Demokratie keine „Toleranz gegenüber der Intoleranz" geben darf. Sie sollte zur Kenntnis nehmen, daß gerade totalitäre Ideologien und entsprechend aggressive Staatssysteme „Fünfte Kolonnen" bilden und Meister sind in der Verwirrung der Begriffe und der Vernebelung der Wahrheit.

Eine solche Begriffsverwirrung geschieht, wenn man den Begriff „Berufsverbot" einfach, als handele es sich um einen allgemein bekannten, allgemein gültigen Tatbestand, in die Welt setzt. Es gab „Berufsverbote" für Sozialdemokraten vor allem nach dem Sozialistengesetz — ohne Zweifel. Und es gab auch damals eine „Treue-Verpflichtung" des „Staatsdieners" gegenüber seiner „Obrigkeit". Und es gibt die „Treueverpflichtung" des Beamten heute. Doch — welchem Staate galt das nach 1871, welchem heute?

Wollen jene „Berufsverbot" -Anprangerer denn nicht sehen, was zum Beispiel der Sozialdemokrat Richard Löwenthal in der Auseinandersetzung um die Ministerpräsidenten-vereinbarung (fälschlich „Radikalenerlaß" genannt) festgestellt hat: . ist die Tatsache, daß sich unter den Tausenden von , linksradikalen'Absolventen unserer Hochschulen, die sich um Einstellung in den Staatsdienst als Lehrer oder, in geringerer Zahl, als künftige Verwaltungsbeamte und Richter bewerben, ein harter Kern von disziplinierten Kommunisten befindet. Diese Realität darf von den politisch Verantwortlichen um so weniger übersehen werden, als zwischen der DKP und der im Nachbarstaat regierenden SED Beziehun-4 gen enger Zusammenarbeit bestehen."

Aus den Erfahrungen der Vergangenheit lernen Wir sind uns gewiß in einem wichtigen Punkt einig: Es ist notwendig, die Vergangenheit nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sie so sachlich wie möglich zu betrachten, sondern zugleich zu versuchen, die in ihr liegenden Erfahrungen zu nützen. Daß „gebrannte Kinder das Feuer scheuen", sollte das nicht auch für die Deutschen gelten?

Fragen wir also, was uns die Ereignisse vor hundert Jahren, um das Sozialistengesetz, an Einsichten vermitteln können! Und stellen wir gleichzeitig von vornherein klar, daß es zwar Entwicklungslinien gibt, die vom Bismarck-reich bis zur Gegenwart führen, daß aber das Deutsche Reich von 1871 bis 1918 — ein halb-absoluter Obrigkeitsstaat — und die Bundesrepublik Deutschland — die erste, voll in den Grundrechten gegründete parlamentarische Demokratie der deutschen Geschichte — durch Welten voneinander getrennt sind.

Erst wenn wir das uneingeschränkt anerkennen, gleichzeitig um die Mängel wissend, können wir nicht nur billigen, daß die Sozialdemokraten von 1878 den Bismarck-Staat bekämpften, sondern sind in der Lage, nach den Gemeinsamkeiten unter Demokraten zu fragen, nach dem was uns — also wohl auch Autoren und Kritiker — verbindet.

Was wir verteidigen „Daß bei uns kommunistische Autoren (wie Kohut) ihre Bücher verlegen können, die sie in ihrer Heimat nicht veröffentlichen dürfen; daß zur Verteidigung der Errungenschaften nicht der Henker zuständig ist; daß man sich öffentlich gegen die Regierung äußern kann, ohne in eine Nervenheilanstalt eingewiesen zu werden; daß die Ausländskorrespondenten bei uns im ganzen Land herumreisen können, wie es ihnen paßt... ; daß unsere Wahlberechtigten zwischen mehreren Kandidaten auswählen können; daß sie ihre Stimme einem Kandidaten geben können, der öffentlich dafür eintritt, daß die bestehende gesellschaftliche und politische Ordnung abgeschafft wird; daß die Arbeiter bei uns nicht verpflichtet werden, zu Ehren des 1. August und des Eidgenössischen Bettages eine Extraleistung zu erbringen; daß man sie nicht zur Erklärung zwingt, sie wollten das freiwillig und spontan tun; daß der Arbeitnehmer nicht gezwungen ist, seine Interessen als identisch mit denen seines Arbeitgebers zu deklarieren; daß bei uns der Streik nicht als volksfeindliche Sabotage bestraft werden kann; daß wir keine Staatsreligion haben, zu der sich jeder auch um den Preis einer Lüge bekennen muß; . . . daß wir nicht gezwungen sind, ausländische Mächte . brüderlich'zu nennen; daß uns das alles selbstverständlich scheint, obwohl es außerhalb unserer Gesellschaftsordnung nirgends selbstverständlich ist."

Wir haben mit Absicht hier eine Schweizer Stimme zitiert, weil sie zeigt, wie weit eine alte", bewährte, wirklich von den Bürgern getragene Demokratie die Freiheitsrechte sichern kann. Wir waren nach 1945 jener Demokratie keineswegs so sicher, wir hatten vielmehr — wie am Grundgesetz abzulesen ist — große Sorgen, die schlimme Vergangenheit könnte sich wiederholen. Daher band man (in Artikel die Parteien an die demokratische Grundordnung, wie sie in Artikel 1 und 20 fixiert ist. Es war aus dieser Erfahrung heraus auch konsequent, 1952 die rechtsextreme SRP und 1956 die linksextreme KPD zu verbieten, nachdem Verbotsantrag gestellt worden war.

Vielleicht ist es heute, dreißig Jahre später, möglich, auf den Verbotsantrag gegenüber der NPD zu verzichten und auch die Feststellung, die DKP (und zahlreiche K-Parteien und Gruppen) sei eine Nachfolgepartei der KPD und damit automatisch verboten, zu unterlassen.

Das mag sein — es ist eine politische Entscheidung. Wobei wirklich nur das Bewußtsein, daß man auf das Verbot verzichten kann, entscheidend sein sollte — und nicht etwa außenpolitische Rücksichten. Dann, aber nur dann, wären wir vielleicht einen Schritt weiter in Richtung auf bewährte, , alte‘ Demokratien, ähnlich der in der Schweiz fest im Bürgersinn verankerten. Doch nur dann .. .

Um ein Mißverständnis gleich auszuräumen: In der Schweiz haben Kommunisten und Neonazis nicht die geringste Chance, in den Staatsdienst zu kommen. Sie sind, darin besteht volle Übereinstimmung, nicht „geeignet“. Dort hat der „Lange Marsch durch die Institutionen" nicht einmal begonnen.

Was ist zu tun?

„Deshalb liegt es nahe, daß der stellvertretende SPD-Vorsitzende Hans Koschnick die . Beschäftigung mit jenen zwölf Jahren Gewaltherrschaft mehr als nostalgische Selbstbefriedigung'(Vorwort zu Günsche/Lantermann, Verbieten, aussperren, diffamieren, Köln/Frankfurt 1978, S. 9) nennt und der sozialdemokratische , Vorwärts'das Sozialistengesetz als , Lehrstück für die Gegenwart'bezeichnet. Und doch tut sich die SPD — abgesehen von einer eher polemischen Form der Auseinandersetzung — schwer, die Parallelen zwischen 1878 und heute zu ziehen. Denn diese würden neben der Kontinuität einer . rechtslastigen'Agitation auch aufzeigen, daß die Sozialdemokratie als Regierungspartei — wie die Konservativen und Nationalliberalen schon damals — selber der Versuchung zu erliegen scheint, gegenüber radikalen Systemveränderern'radikal durchzugreifen." 21)

Zu dem, was wir tun müssen, gehört erst einmal — davon wurde hier bereits gesprochen —, daß wir der Geschichte gerecht werden. Also — auf die hier von Günsche und Lantermann angesprochenen „Systemveränderer" bezogen — die Feststellung: Damals, 1878, wollten die sozialdemokratischen „Systemveränderer" die parlamentarische Demokratie, wollten die Freiheit sichern gegen den von Bismarck mit dem Sozialistengesetz vorangetriebenen Obrigkeitsstaat. Der damalige Fraktionsvorsitzende im Reichstag, August Bebel, sagte in der Reichstagsdebatte vom 11. April 1871: „Ich will hier nur zunächst bemerken, daß, als vor ca. 8 Monaten der König von Preußen Berlin verließ und nach dem Kriegsschauplatz abreiste, er in, einer Proklamation ausdrücklich aussprach, daß aus diesem Kriege die freiheitliche und einheitliche Entwicklung Deutschlands hervorgehen solle. Nun, meine Herren, ich hätte denn doch geglaubt, daß, wenn man von höchster Stelle dieses Versprechen nicht erfüllt hat, nach meiner Überzeugung es wenigstens Aufgabe und Pflicht des Reichstages gewesen sei, an dieses Versprechen zu erinnern und alles aufzubieten, um dieses Versprechen zur Verwirklichung zu bringen. Statt dessen aber höre und sehe ich aus den ganzen Verhandlungen, daß nicht nur diejenige Partei, die Herren von der Rechten, die von je her von freiheitlichen Rechten gar nichts wissen wollen — das bringt ja ihre Natur mit sich —, sondern daß auch die Herren hier von der Linken, die seit 3, 4, 5 Jahren uns beständig damit vertröstet haben: Haben wir erst die Einheit, dann bekommen wir auch die Freiheit, daß die Herren heute — erklären, es ist nicht opportun, die Freiheitsfrage . .

Bebels ernste Worte gingen in „Heiterkeit" und Tumult unter. Und die „Systemveränderer" heute? Erst einmal ganz unmißverständlich: Wenn sie das „System" — so nennt man, wie die Nationalsozialisten die Weimarer Republik, heute wieder die „BRD" — ändern wollen, so greifen sie an die Substanz der in den Grundrechten, der Gewaltenteilung — soweit sie noch möglich ist — und dem Föderalismus gegründeten Bundesrepublik Deutschland.

Sie behaupten zwar, nun die wahre „Demokratie" zu schaffen, reden vom „demokrati-sehen Zentralismus", der Verbrämung des „volksdemokratischen" Kommandosystems, lehnen den Föderalismus ab und praktizieren die Unterwerfung aller Staatsgewalt unter den Parteibefehl. Und die Grundrechte gelten nur, soweit es der Partei-und Staatsräson paßt. Sie werden nur gewährt, begrenzt und auf Widerruf. Muß man dies überhaupt noch im einzelnen belegen, nach den vielfältigen „Machtübernahmen" an vielen Universitäten und Hochschulen, bedarf es da tatsächlich noch des Hinweises etwa auf die Abendschule in Frankfurt, die Feststellungen der Verfassungsschutzberichte über DKP, NPD und K-Gruppen, über die Finanzierung z. B.der DKP aus Mitteln der sozialistischen „Bruderpartei", der SED? Ist es da noch nötig, auf die DKP-Parteitage hinzuweisen, auf denen wahre Orgien der „Brüderschaft" mit den „Bruderparteien" des Ostblocks gefeiert werden? Ist es da noch notwendig zu fragen, was denn etwa die Schweizer Fremdenpolizei anfinge, wollten höchstmögende Politbüro-und ZK-Mitglieder bei Parteitagen der „Partei der Arbeit" so auftreten, wie sie das in der Bundesrepublik Deutschland zelebrieren?

Ist es wirklich notwendig, jene Systemveränderer von 1978 grundlegend, eindeutig und in allen Konsequenzen abzuheben von den Sozialdemokraten des vorigen Jahrhunderts?

Wir versagen uns die Antwort. Sie liegt so klar auf der Hand, daß es fast unanständig wäre, noch nach weiteren Beweisen zu suchen.

Und nicht zuletzt: Dürfen wir nicht dankbar sein, daß in der Bundesrepublik Deutschland der Artikel 5 (Meinungsfreiheit) so ernst genommen wird, daß es oft bereits die Demokraten schwer haben, ihre Meinungs-und Demonstrationsfreiheit noch zu erfahren! Es gibt genug „Vollversammlungen" als Belege!

Vor allem aber: Die größte Gefahr droht nicht von den Extremisten und den Systemveränderern, sondern von der Passivität der vielen, die Demokratie lediglich als angenehmes Konsumprodukt ansehen.

Alfred Grosser, Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels, hat in seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche darauf hingewiesen; und auf die folgenden Worte, so meine ich, könnten sich Demokraten, gleich, welcher Partei und welcher Konfession sie angehören, einigen: „Niemand kann garantieren, daß der junge Mann, der heute an Systemveränderung glaubt, in einigen Jahren wirklich die Grundrechte und die pluralistische Freiheit gegen einen revolutionären Umsturz verteidigen wird. Aber wer garantiert denn, daß Hunderte von Beamten des heutigen Staates die Grundfreiheiten des Bürgers gegen die Staatsmacht verteidigen würden, wenn sich, durch diese oder jene wirtschaftliche Entwicklung gefördert, ein neues autoritäres Regime anbahnen würde? Die größte Gefahr, die eine Demokratie von innen bedrohen kann, das sind nicht so sehr die ihr feindlich gesonnenen kleinen Gruppen. Das ist das Mitläufertum ... Es ist kein Zufall, daß eine der beiden großen Parteien als geistige und sittliche Wurzeln des sozialistischen Gedankenguts . Christentum, Humanismus und klassische Philosophie'nennt, während die andere ein C in ihrem Namen führt, das auf Nächstenliebe und nicht auf Scheiterhaufen hinweisen soll."

Fussnoten

Fußnoten

  1. K. D. Erdmann nach: Das Parlament Nr. 50, 16. 12. 1978, S. 12.

  2. Karl-Ludwig Günsche /Klaus Lantermann, 100 Jahre Sozialistengesetz, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, B 41/78, vom 14. 10. 1978, S. 19 ff.

  3. J. W. Goethe, Faust, I. Teil, „Nacht", Werke, Ausg. E. Trunz, Hamburg 1949, S. 16.

  4. Günsche/Lantermann, S. 19.

  5. Ebenda.

  6. Ebenda, S. 31.

  7. Ebenda, S. 31.

  8. Ebenda.

  9. E. Matthias/R. Morsey (Hrsg.), Das Ende der Parteien 1933, Düsseldorf 1960, S. 255.

  10. Matthias/Morsey, S. 232.

  11. Nach M. Stürmer (Hrsg.), Bismarck und die preußische Politik, dtv München 1970, S. 92.

  12. Sten. Berichte über d. Verh. d. Dt. Reichstages, Bd. 19, I. Session.

  13. M. Freund, Deutsche Geschichte, Gütersloh 1960, S. 390.

  14. Verschiedentlich überliefert, doch Wortlaut umstritten.

  15. Bundespräsident Scheel am 19. 9. 1978 vor dem XXIII. Weltkongreß des Internationalen Gemeindeverbandes in Hamburg; FAZ vom 20. 9. 1978.

  16. Jean-Franpois Revel, Die Selbstkritik des Westens und die totalitären Gesellschaften, FAZ vom 18. 9. 1978, Nr. 209.

  17. Ernst W. Böckenförde, Sicherung der Freiheit, Vortrag vor dem rechtspolitischen Kongreß der SPD in Düsseldorf, in: FAZ vom 18. Sept. 1977.

  18. Theodor Eschenburg, Revoluzzer als Beamte? Grenzen für die Aufnahme in Staatsstellungen, in: Die Zeit, Mai 1977.

  19. Richard Löwenthal, Wer ist ein Verfassungsfeind, in: Die Zeit, ebenda.

  20. Aus: Der Schweizer Soldat, Juli 1972.

  21. Günsche/Lantermann, S. 19.

  22. Sten. Berichte über die Verh. d. Dt. Reichstages, Bd. 19, S. 94 ff.

  23. Alfred Grosser, Was es heißt, dem inneren und äußeren Frieden zu dienen, FAZ vom 13. 10. 1978.

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Gerhart Binder, geb. 1915 in Stuttgart; Studium der Geschichte, Germanistik und Philosophie an den Universitäten Tübingen und München; nach 1945 Herausgeber der Buchreihe „Der Deutschenspiegel"; bis 1960 am Gymnasium, bis 1968 an der heutigen Fachhochschule Ulm; seitdem Professor für Politikwissenschaft und deren Didaktik an der Pädagogischen Hochschule in Weingarten. Buchveröffentlichungen u. a.: Gebändigte Dämonen. Von der Überwindung der Gewalt, Stuttgart 1946; Epoche der Entscheidungen, Stuttgart 1960; Handbuch der Geschichte, Band V, Weinheim 1964; Diktatur und Freiheit, Stuttgart 1966; Die Große Provokation. Kritische Bilanz im dritten Jahrzehnt der deutschen Teilung, Stuttgart 1969; Geschichte im Zeitalter der Weltkriege, 2 Bände, Stuttgart 1977; Terror und Widerstand. Brandmale unserer Zeit?, Würzburg 1979.