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Die Wurzeln der nationalsozialistischen Ideologie. Ihr Weiterleben heute | APuZ 22/1979 | bpb.de

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APuZ 22/1979 Artikel 1 Nationalsozialismus und Widerstand als erfahrbare Geschichte Zur Behandlung des Nationalsozialismus im Unterricht Die Wurzeln der nationalsozialistischen Ideologie. Ihr Weiterleben heute ,, Holocaust" und die Amnesie

Die Wurzeln der nationalsozialistischen Ideologie. Ihr Weiterleben heute

Anton Pelinka

/ 14 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Nationalsozialismus als politisches System konnte auf ideengeschichtliche Voraussetzungen bauen, die lange vor der Organisation der NSDAP vorhanden waren. Diese Wurzeln des Nationalisozialismus haben den Untergang des „Dritten Reiches" überlebt Die Gefahr dieser weiterexistierenden ideologischen Wurzeln liegt jedoch nicht darin, daß sie eine Wiedergeburt des Nationalsozialismus in seiner historisch bekannten Form begünstigen könnten. Die von ihnen ausgehende Gefährdung besteht darin, daß sie autoritäre Entwicklungen ermöglichen, die sich gegen die Demokratie, Menschenwürde und Humanität richten. Diese Gefahr einer Wiederbelebung nationalsozialistischer Elemente unter neuen Vorzeichen äußert sich vor allem in der Stabilität bestimmter Vorurteile. Gegen diese Vorurteile, die keineswegs als eindeutig nationalsozialistisch bewußt sind, hat sich die bisherige, gegen den Nationalsozialismus gerichtete Aufklärungsarbeit als relativ wirkungslos erwiesen. Während der Nationalsozialismus als geschlossenes System tabuisiert ist, reichen seine ideengeschichtlichen Wurzeln in durchaus etablierte Teile des Parteiensystems. Das Engagement für die Demokratie beinhaltet auch den Kampf gegen diese Relikte. Die Techniken, die die Friedens-und Konfliktforschung entwickelt hat, können dafür bestimmte Anleitungen geben.

Der Nationalsozialismus im besonderen, der Faschismus im allgemeinen hat vielfältige Voraussetzungen. Dazu zählen wirtschaftliche Faktoren: die Proletarisierung, die tatsächliche Verarmung von sich bürgerlich verstehenden Massen und die Furcht der besitzenden Schichten vor revolutionären Entwicklungen. Dazu zählen politische Faktoren im engeren Sinn: die geringe Stabilität parlamentarischer Einrichtungen, die mangelnde Verankerung des Parteiensystems vor allem in den weniger historisch verwurzelten Demokratien

Dazu zählen aber auch ideengeschichtliche Wurzeln. Wenn im folgenden vor allem diese Voraussetzungen des Faschismus (insbesondere des Nationalsozialismus) in den Mittelpunkt gerückt werden, so bedeutet das nicht, daß die Relevanz der anderen Voraussetzungen negiert wird. Das Phänomen des Nationalsozialismus kann nur verstanden werden, wenn das Zusammenwirken verschiedener Faktoren berücksichtigt wird. Von diesen werden die ideengeschichtlichen Wurzeln im Hinblick auf ihre gegenwärtige Rolle untersucht. Die in Form von sieben Thesen formulierten Aussagen bilden einen Negativkatalog für die politische Bildung.

These 1: Der Nationalsozialismus baute auf ideengeschichtlichen Traditionen, die schon vor ihm in der deutschen und in der österreichischen, ja in der europäischen Gesellschaft fest verankert waren Diese teilweise lange vor dem Entstehen des Faschismus und des Nationalsozialismus*

wirksamen Traditionen mündeten, in den deutschen Faschismus. Der Nationalsozialismus benützte sie als Voraussetzungen, die ohne sein Zutun bereits vorhanden waren. Zu diesen Traditionen sind vor allem zu zählen: Der Antisemitismus: Als Folge eines Bedürfnisses nach Geschlossenheit und nach irrationalen Erklärungen für gesellschaftliche Vorgänge wurden Juden in Europa viele Jahrhunderte hindurch verfolgt. Im Juden wurde der vom geschlossenen Weltbild des christlichen Mittelalters Abweichende verfolgt, der Jude war der Südenbock, auf den Schuld projiziert wurde

Der Nationalismus: Als Folge des Bedürfnisses nach kollektiver Überwertigkeit, aber auch im Zusammenhang mit dem Durchbruch demokratischer Ideen entwickelten sich Einstellungen, die in der Zugehörigkeit zur eigenen Nation grundsätzlich etwas Positives, in der Zugehörigkeit zu einer anderen Nation grundsätzlich etwas Negatives verstanden. Das Bewußtsein von der Überlegenheit der eigenen Nation diente lange vor dem Nationalsozialismus als ideologisches Vehikel für expansionistische Politik.

Die Konfliktscheu: Als Folge einer die ganze Menschheitsgeschichte durchziehenden Einübung in Fremdbestimmung und damit eines Mangels an Erfahrung in Selbstbestimmung herrschte lange vor dem Nationalsozialismus trotz einer teilweisen Demokratisierung Europas eine Scheu vor sozialen Konflikten. Die vorhandenen Gegensätze von Interessen und Wertvorstellungen wurden verdrängt beziehungsweise abgeschoben — an den politischen Deus ex machina, der für das Individuum, für die Gesellschaft entscheiden sollte; aus dem sich die Rolle des Führers entwickelte

Die Rückgriifssehnsucht: In einer zunehmend komplex werdenden Gesellschaft, in die sich das Individuum hineingestellt sah, entwickelte sich vor dem Nationalsozialismus bereits eine Sehnsucht nach einer idealisierten Vergangenheit; aus der offenen Gesellschaft der liberalen Demokratie flüchtete man in die geschlossene Gesellschaft, die man im Mittelalter oder anderen Phasen gegeben sah; die schwierige Pluralität der Gegenwart sollte mit einem Rückgriff in die Vergangenheit zu einer Totalität der Zukunft transformiert werden

Das — speziiisch deutsche — Gefühl des „zu spät": In Abgrenzung zu den vor allem ökonomisch weiter entwickelten Staaten Westeuropas entstand in Deutschland eine Einstellung des Trotzes, der zum Motor der Mentalität der Expansion aus der Igelstellung wurde.

Im Politischen stand dafür stellvertretend Wilhelm II., im Kulturellen der Kult um Richard Wagner; die daraus resultierende aggressive Ideologie war die vom Lebensraum, an die der Nationalsozialismus nahtlos anknüpfen konnte

Der — speziiisch österreichische — Nationalitätenkampf:

Osterreich-Ungarn, von der staatlichen Struktur her Antithese zum Konzept des Nationalstaates, wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend vom Kampf Nationalitäten paralysiert. In der -der „Ab wehr" nicht-deutscher Ansprüche — eine Abwehr, die zumeist Aggression war — entwikkelte sich eine Geisteshaltung, die für die Anfänge des Nationalsozialismus wichtig war.

Viele bedeutende Vertreter vor allem der Frühzeit des Nationalsozialismus waren vom österreichischen Nationalitätenstreit geprägt

These 2: Die ideengeschichtlichen Wurzeln des Nationalsozialismus haben dessen Untergang überlebt Die ideengeschichtlichen Voraussetzungen des Nationalsozialismus existieren in einer freilich teilweise stark veränderten Form weiter. So zeigen verschiedene Untersuchungen, daß der Antisemitismus nicht einfach am 8. Mai 1945 aus der Landschaft der deutschen Gesellschaft verschwunden ist, zwar seine Salonfähigkeit eingebüßt hat, aber unter der Oberfläche nach wie vor wirkt Es ist weitgehend ein Antisemitismus ohne Juden, ein „verschämter Antisemitismus" Er ist, wie der Antisemitismus vor und während des Nationalsozialismus schichtenspezifisch, altersspezifisch und auch nach Parteipräferenz spezifisch differenziert. Der Antisemitismus lebt auch fort in der Neigung, neben und jenseits des Judentums andere, schon durch ihre Existenz Schuldige als Folge des Sündenbocksyndroms zu erfinden: die „Ölscheichs", die „Multis", die „Studenten" etc. Nach wie vor wird, statt eine kritische Analyse bestehender Zustände anzustellen, die Flucht in das befreiende, irrationale Pauschalurteil angetreten

Auch der Nationalismus lebt weiter, freilich in einer europaweiten Metamoiphose. Nicht die alten, innereuropäischen Gegensätze, sondern Europa als solches, Nationalismus als Kontinentalismus erfüllen die Funktion des latenten Uberwertigkeitsgefühls, das aggressiv und rassistisch machen kann. Nicht die Europaidee als solche, konzipiert zur Überwihdung des Nationalismus, sondern bestimmte, mögliche Fehlentwicklungen derselben, nicht Europa als eine Gruppe von Nationen, sondern Europa als Abgrenzung gegenüber einer anderen, „farbigen" Welt ist Be-zugspunkt dieser neuartigen Überheblichkeit. Doch auch innereuropäisch leben nationale Vorurteile in Form der in den entwickelteren europäischen Staaten feststellbaren Barrieren gegen Gastarbeiter aus ärmeren europäischen Staaten weiter fort

Auch die Scheu vor sozialen und politischen Konflikten läßt sich gerade in den Ländern Mitteleuropas weiter beobachten. Die theoretisch offene Gesellschaft, das theoretisch offene Parteiensystem wird praktisch von einer mystisch verstandenen Einheit, von einer Abwertung der Opposition schlechthin, von einem atmosphärischen Antipluralismus geprägt. Parteitage in den traditionsreichen angloamerikanischen Demokratien sind durch die offene Austragung innerparteilicher Konflikte gekennzeichnet; Parteitage in den verspäteten Demokratien Mitteleuropas, vor al-lem der Bundesrepublik und Österreich, sind durch das ständige Bemühen gekennzeichnet, innere Konflikte nicht öffentlich zu machen. Verstärkt durch die Einstellung der Medien werden öffentliche Konflikte als Zeichen von Schwäche gewertet

Die romantische Sehnsucht nach dem Gestern lebt in neuer Form in der modernen Technologiedebatte. Nicht die Hinterfragung dieser Technologie, sondern die emotionale Ablehnung von Technologie schlechthin, oft gekoppelt mit einer ebenso emotionalen, völlig unkritischen Hinnahme von Technologie, ist Zeichen dieses Rückgriffs

Das spezifisch deutsche Gefühl des „zu spät" ist im wesentlichen überwunden. Der — spezifisch österreichische — Nationalitätenkampf lebt hingegen im Konflikt über die Durchführung der Bestimmungen des Staatsvertrages vom 15. Mai 1955 betreffend die Rechte der Minderheiten weiter. Noch immer gilt die Zufälligkeit der Muttersprache als wesentli-ches Kriterium für soziale Position, für soziale Chance

Dieses Weiterleben bestimmter geistiger Voraussetzungen bedeutet nicht, daß der Nationalsozialismus als aktuelle Gefahr vor der Tür stünde. Dieses Weiterleben bedeutet jedoch, daß eine Kombination dieser alten, teilweise veränderten Faktoren mit neuen Faktoren — z. B. im Bereich der wirtschaftlichen oder weltpolitischen Entwicklung — neue Gefahren hervorrufen könnte. Nicht die exakte Wiederholung der alten Formen der Unmenschlichkeit, sehr wohl aber Variationen von Unmenschlichkeit können morgen oder übermorgen aktuell sein.

These 3: Der Nationalsozialismus ist politisch, geistig, sozial erledigt — seine ideengeschichtlichen Wurzeln sind es nicht

Gegenüber dem Nationalsozialismus besteht eine weltweite, allgemeine Abscheu. Alle wichtigen politischen Kräfte in allen Ländern schrecken auch nur vor dem Verdacht zurück, in die Nähe nationalsozialistischer Positionen zu kommen. Die Politik des generellen oder des speziellen Verbots gegenüber dem Nationalsozialismus als Partei ist unbestritten

v Diese selbstverständliche Berührungsangst ist Ausdruck dafür, daß der Nationalsozialismus erledigt ist. Sie ändert aber nichts daran, daß die gesellschaftlichen und die ideengeschichtlichen Wurzeln des Nationalsozialismus weiterwirken. Der Nationalsozialismus kann durch eine grundsätzlich politische und moralische Entscheidung überwunden werden; die Voraussetzungen des Nationalsozialismus sind durch solche notgedrungen an der Oberfläche bleibenden Entscheidungen nicht wirklich zu treffen.

Diese Doppelbödigkeit bedeutet, daß der Nationalsozialismus als mögliche Gefahr nicht vereinfacht gesehen werden kann. Auf der Tagesordnung der unmittelbaren Zukunft etwa der Bundesrepublik Deutschland stehen ganz gewiß nicht die Wiedergeburt des Nationalsozialismus als mächtige Bewegung, die braunen Uniformen, das Horst-Wessel-Lied, die Judensterne und der engstirnige Nationalismus. Das aktuelle Problem ist die schleichende Übernahme partieller Muster, die Weiterentwicklung der alten zu neuen Feindbildern, das Entstehen neu formierter, neu etikettierter, neu auftretender Organisationen — das Amalgam von demokratischem Grundbekenntnis und nicht demokratischer Praxis.

These 4: Die demokratische Auseinandersetzung mit dem und die Bewältigung des Nationalsozialismus kann sich sowohl der assoziativen Technik der Integration als auch der dissoziativen Technik der Gettoisierung bedienen

Die Konflikt-und Friedensforschung hat verschiedene Techniken der Nützung sozialer Gegensätze entwickelt. Diese Techniken können in assoziative und in dissoziative eingeteilt werden

Assoziative Techniken bestehen darin, daß die Gegensätze harmonisiert, verbunden, angeglichen werden. Dissoziative Techniken bestehen darin, daß die Gegensätze voneinander streng abgegrenzt, durch die Errichtung wirksamer Barrieren am Zusammenprall gehindert werden.

Der Vorteil der assoziativen Techniken ist darin zu sehen, daß Konfliktlinien verschwimmen und letztlich verschwinden, daß die Konfliktpartner gleichsam ineinander aufgehen.

Der Nachteil besteht in der wechselseitigen Ansteckung durch Symbiose. Der Vorteil der dissoziativen Techniken besteht in der Immunisierung durch Berührungsverbot und Berührungsscheu.

Der Nachteil ist in der Festschreibung vorhandener Konfliktlinien, im Einfrieren des Konfliktes zu sehen.

Gegenüber antidemokratischen Strömungen haben die westlichen demokratischen Systeme sich beider Formen bedient. Wenn die Gegner des demokratischen Systems relativ klein, relativ bedeutungslos sind, dann herrschen dissoziative Techniken vor. Wenn die Gegner jedoch relativ groß, relativ einflußreich sind, dann bedient sich die Demokratie vorwiegend assoziativer Techniken.

These 5: Der Nationalsozialismus als geschlossenes System ist gettoisiert — die ideengeschichtlichen Wurzeln desselben sind integriert Gegenüber dem Nationalsozialismus als geschlossene Bewegung, als Partei und als Weltanschauung ist die Demokratie mit den Mitteln dissoziativer Techniken vorgegangen. Die Verbote der NSDAP und aller Nachfolgeorganisationen in der Bundesrepublik Deutschland und in anderen Staaten, aber auch die totale Isolierung nicht verbotener Parteien, die mit dem Nationalsozialismus identifiziert werden (Beispiel NPD), zeigt die konsequente Abgrenzung gegenüber dem Nationalsozialismus, wenn er als geschlossene Organisation auftritt. Der Nationalsozialismus ist im politischen Getto, und er ist in demselben schrittweise zurückgedrängt worden. Das Resultat ist die Bedeutungslosigkeit des Nationalsozialismus als System

Daß diese Gettoisierung jedoch nicht das einzige Merkmal der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist, kann aus dem Einfließen bestimmter Bewußtseinselemente nationalsozialistischer Herkunft in die Bereiche des stabilisierten, demokratischen Parteiensystems geschlossen werden. Die Mischung aus Unwissen und Wissen über den Nationalsozialismus, die Mischung aus Verurteilung des Nationalsozialismus und Anerkennung bestimmter Teilaspekte desselben zeigen an, daß der Nationalsozialismus auf dem Umweg über die ideengeschichtlichen Wurzeln aus seinem Getto heraus indirekt wirksam ist

Trotz der Gettoisierung des Nationalsozialismus schließt die Stabilität des gesamten Parteiensystems jedoch auch gewisse Teilkonzessionen an Teilelemente des Nationalsozialismus mit ein. Die Parteienkonkurrenz im stabilisierten Mehrparteiensystem bringt es mit sich, daß teilweise weiterbestehende ideenge-schichtliche Wurzeln des Nationalsozialismus faktisch toleriert werden, jedenfalls hinter dem Gesichtspunkt der Maximierung von Wählerstimmen als Problemfeld zurückstehen müssen.

These 6: Die Ursachen für das Spannungsfeld zwischen Gettoisierung und Integrierung lie-gen im Parteiensystem; das Spannungsfeld ist eine Konsequenz des herrschenden Verständnisses von Freiheit und Demokratie 1 Das „westliche" Verständnis von Demokratie baut auf dem freien, nur durch bestimmte Spielregeln gebändigten Konkurrenzkampf mehrerer Parteien um die Stimmen des Volkes auf. Grundsätzlich ist das Gemeinwohl in der Demokratie nicht vorgegeben, sondern Resultat eines prinzipiell offenen Meinungs-und Entscheidungsprozesses, von dem zumindest a priori kein Interesse, kein Ziel ausgeschlossen ist

Für dieses Verständnis von Demokratie und Freiheit hat sich die Bundesrepublik Deutschland (wie auch die Republik Österreich) aus guten Gründen entschieden. Es gibt tatsächlich kein in Theorie und Praxis überzeugenderes Modell von Demokratie. Eben die Offenheit westlicher Demokratie, die auch eine Offenheit gegenüber Kritik und Verbesserung ist, impliziert aber das Spannungsfeld von Gettoisierung und Integrierung antidemokratischer Einstellungen.

Die Bundesrepublik Deutschland ist, völlig losgelöst von der Völker-und staatsrechtlichen Frage deutscher Kontinuität, in sozialer, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht in der Nachfolge des Großdeutschen Reiches.

Dieses faktische Erbe schließt auch personelle Kontinuität mit ein. Am Beginn der Bundesrepublik Deutschland standen auch Millionen Deutsche, die einige Jahre vor Gründung des freiheitlichen Deutschland überzeugte Anhänger des Nationalsozialismus waren. Dem Erlebnis des Niedergangs der Diktatur und den Versuchen einer Erziehung zur Demokratie zum Trotz war 1949 der Nationalsozialismus in den Hirnen und Herzen der Millionen nicht einfach tot. Die Bundesrepublik hatte davon auszugehen, daß zwar der Nationalsozialismus tot war, daß aber nationalsozialistische Elemente und Einstellungen millionenfach weiter existierten. Da aufgrund des westlichen Demokratieverständnisses und überhaupt jedes sinnvoll vorstellbaren Demokratieverständnisses diese ja nicht als Nationalsozialisten auf Dauer stigmatisierbaren Deutschen einfach von demokratischen Grundrechten ausgeschlossen bleiben konnten, mußten sie in den Vollgenuß staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten kommen

Demokratie heißt, daß sich die politischen Akteure, selbstverständlich nur innerhalb des von der Verfassung gesetzten Rahmens, nach ihrer politischen Basis zu richten haben; Demokratie heißt nicht, daß sich die Basis nach dem Willen der Akteure zu richten hätte. Insofern ist es logisch, daß die unvermeidlichen nationalsozialistischen Bewußtseinsrelikte, die vielfach gar nicht als nationalsozialistisch bewußt erlebt und aufgefaßt worden waren, mit zum Bestimmungsfaktor des politischen Geschehens werden mußten. Die Demokratie in der Bundesrepublik hatte nicht die Wahl zwischen Berücksichtigung dieser Relikte und deren vollständiger Vernachlässigung; sie hatte nur die Wahl zwischen Integration und Immunisierung.

Im Konkurrenzkampf um die Stimmen des Volkes, in dem aber in relevanter Zahl auch die erwähnten Relikte vorhanden waren, blieb den Gründern der Bundesrepublik, d. h. vor allem den entscheidenden Parteien, nur die Wahl zwischen zwei Wegen: entweder unter konsequenter Anwendung der dissoziativen Technik der Konfliktlösung eine weitgehend rechtsextreme Großpartei indirekt dadurch zu fördern, daß die demokratischen Parteien ohne jede Einschränkung und konsequent die nationalsozialistischen Bewußtseinsrelikte bekämpften und ablehnten; oder aber durch Teilkonzessionen die Teilrelikte an sich zu ziehen und damit teilweise zu entschärfen und so die Bildung einer weitgehend rechtsextremen Großpartei zu verhindern. Die Parteien der Bundesrepublik haben, abermals aus guten Gründen, den zweiten Weg gewählt. Sie haben damit einen wesentlichen Beitrag zur Stabilität des Mehrparteiensystems geleistet, freilich um den Preis der Teilintegration pränationalsozialistischen Ideengutes.

Diese Konsequenz, dieser Preis ist kein deutsches, sondern ein demokratisches Problem. Es ist das gleiche Demokratieproblem, das die Sprengkraft der Rassenfrage in den USA und in Großbritannien ausmacht: Parteien und Kandidaten sind immer in Versuchung, um des Wahlsieges willen vorhandene Vorurteile zu berücksichtigen, und zwar wider besseres Wissen, wider die eigenen Grundsätze! Daß zwar der Nationalsozialismus, nicht aber die ideengeschichtlichen Wurzeln desselben ausgeräumt sind und daß diese Wurzeln partiell integriert und damit Teil eines ungewöhnlich stabilen politischen Systems geworden sind, ist eine für die Demokratie unangenehme Konsequenz der oben beschriebenen Entwicklung

These 7: Der Ausweg aus dem Spannungsfeld zwischen Gettoisierung und Integrierung ist die Schaffung eines noch stärkeren Konsensbereiches zur Außer-Streit-Stellung und damit zur Immunisierung gegenüber dem Nationalsozialismus

Im Sinne einer allgemeinen Abkehr von der bloß formal zur auch inhaltlich verstandenen Demokratie, die sich etwa im Prinzip der „wehrhaften Demokratie" des Grundgesetzes ausdrückt, liegt auch die Anreicherung der jeder Parteienkonkurrenz zugrunde liegenden Spielregeln mit inhaltlichen Werten. Grundsätzlich sind sich alle wesentlichen politischen Kräfte westlicher Demokratien darin einig, daß die Parteienkonkurrenz nicht nur formal durch die Spielregeln im engeren Sinn begrenzt ist, sondern auch durch einen substantiellen Konsens

Das Ausmaß dieses Konsenses ist freilich nicht von vornherein festliegend, sondern kann in Grenzen gesteuert werden. Wenn die bisher formulierten Thesen in der Form zusammengefaßt werden können, daß der Nationalsozialismus als geschlossenes System außerhalb des substantiellen Minimalkonsenses liegt, daß aber bestimmte Teilelemente, pränationalsozialistische Ideenwurzeln stillschweigend innerhalb des Minimalkonsenses geduldet werden, so ist die mögliche Konsequenz aus dieser Situation der Versuch, diese Teilelemente schrittweise aus dem Konsensbereich zu entfernen.

Dieser allmähliche Ausschluß der integrierten Elemente hat zur Voraussetzung, daß die im Zuge der Konkurrenz der Integrationsversuchung ausgesetzten Parteien bestimmte Problemstellungen aus ihrem demokratischen Gegeneinander ausklammern. Dies geschieht bereits bei einigen Fachfragen, zum Beispiel bei der Todesstrafe, beim Antisemitismus und beim Rassismus.

Der Bereich der Ausklammerung könnte freilich erweitert werden. Wichtiger aber ist, daß die Ausklammerung und die dahinterstehende Wertentscheidung zugunsten eines substantiellen Demokratieverständnisses stärker von „oben" (in den Zentralen der Parteien) nach „unten" (an der Wählerbasis) durchsikkert. Politische Bewußtseinsbildung ist der gemeinsame Nenner aller Möglichkeiten zur Therapie.

Gerade in der Bundesrepublik Deutschland ist diese Erkenntnis, teilweise mit Förderung der Besatzungsmächte, schon unmittelbar nach Kriegsende in die Praxis umgesetzt worden. Zu dieser Praxis gibt es keine grundsätzliche Alternative. Es kann nur darum gehen, Intensität, Inhalte und Methoden zu überprüfen und zu ergänzen

Das Weiterleben von bestimmten ideengeschichtlichen Wurzeln des Nationalsozialismus liegt nicht an bestimmten Politikern oder an bestimmten Medien. Es ist überhaupt nicht die „Schuld" irgendeiner Gruppe oder Partei, daß bestimmte Vorformen des Nationalsozialismus spürbar sind; dies hat tiefe anthropologische, soziale, ökonomische und politische Ursachen. Bloße Absichtserklärungen und for-male Verbote können diese Wurzeln nicht aus der Welt schaffen. Der Grundentscheidung muß eine konsequente gesellschaftspolitische Strategie folgen. Daß die bereits erfolgte Grundentscheidung nicht vollständig in eine entsprechende Wirklichkeit umgesetzt werden konnte, ist ein Problem des politischen Sy-stems. Und dieses ist, in seinen Grenzen, nach seinen Regeln zu steuern.

Die Auseinandersetzung mit den Wurzeln des Nationalsozialismus ist zunächst ein politisch-moralisches Problem. Um diese Ausein-andersetzung zu dem für die Demokratie wünschenswerten, erfolgreichen Abschluß zu bringen, bedarf dieses politisch-moralische Problem jedoch einer politisch-strategischen Ergänzung. Politische Ethik muß in politischem Handeln konkret gemacht werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Manfred Clemenz, Gesellschaftliche Ursprünge des Faschismus, Frankfurt/Main 1972; Ernst Nolte (Hrsg.), Theorien über den Faschismus, Köln 1972; Reinhard Kühnl (Hrsg.), Texte zur Faschismus-diskussion I — Positionen und Kontroversen, Reinbek 1974; Richard Saage, Faschismustheorien. Eine Einführung, München 1976; Theories of Fascism, Journal of Contemporary History, Vol. 11, 4, October 1976; Eike Henning, Bürgerliche Gesellschaft und Faschismus in Deutschland. Ein Forschungsbericht, Frankfurt/Main 1977.

  2. Peter G. Putzer, The Rise of Political Antisemitism in Germany and Austria, New York 1964; Johannes Rogalla von Bieberstein, Die These von der Verschwörung 1776 bis 1945. Philosophen, Freimaurer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozialordnung, Bern 1976, und auszugsweise in: Aus Politik und Zeit-geschichte B 25/77.

  3. Lewis A. Coser, Theorie sozialer Konflikte, Darmstadt 1972.

  4. Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933 bis 1944, Frankfurt/Main 1977, 170— 176.

  5. Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1962, insbes. S. 143— 179 und 280 — 353; Karl Dietrich Bracher, Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Köln 19724, insbes. S. 1— 52.

  6. Francis L. Carstens, Faschismus in Österreich. Von Schönerer zu Hitler, München 1977.

  7. Vgl. dazu Martin Broszat, Zur Kritik der Publizistik des antisemitischen Rechtsextremismus. Vorbemerkung zu der Untersuchung von Ino Arndt und Wolfgang Scheffler, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 19/76; dazu auch Tilman Ernst, Zahlen zum politischen Rechtsextremismus, Arbeitspapier der Bundeszentrale für politische Bil-dung, Bonn 1978.

  8. Bernd Tichatschek-Marin, Antisemitismus ohne Antisemiten? Zum nachfaschistischen Antisemitismus in Österreich, in : österr. Zeitschrift für Soziologie, 1/1976.

  9. Dazu allgemein Willy Strzelewicz (Hrsg.), Das Vorurteil als Bildungsbarriere, Göttingen 19723; K. D. Hartmann (Hrsg.), Vorurteile, Ängste, Aggressionen, Frankfurt/Main 1975; Änne Ostermann, Hans Nicklas, Vorurteile und Feindbilder, München 1976.

  10. Ostermann, Nicklas, a. a. O., S. 69— 115; Dieter Bichlbauer, Ernst Gehmacher, Vorurteile in Österreich, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 4/1972; Albert Kadan, Neofaschismus — ein aktuelles Problem in Österreich?, in: die republik 3/1977.

  11. Bodo Zeuner, Innerparteiliche Demokratie, Berlin 1969; Joachim Raschke, Organisierter Konflikt in westeuropäischen Parteien. Vergleichende Analyse parteiinterner Oppositionsgruppen, Opladen 1977.

  12. Dazu allgemein Claus Koch, Dieter Senghaas (Hrsg.), Texte zur Technokratiediskussion, Frankfurt/Main 1970.

  13. Hanns Haas, Karl Stuhlpfarrer, Österreich und seine Slowenen, Wien 1977; Kärnten — ein Alarmzeichen, in: Informations-und Pressedienst der österreichischen Widerstandsbewegung, 1/1974.

  14. Zur grundsätzlichen Problematik des generellen und speziellen Parteienverbotes vgl. Anton Pelinka, Politik und moderne Demokratie, Kronberg 1976, S. 85— 91.

  15. Johan Galtung, Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens-und Konfliktforschung, Reinbek 1975, S. 60— 69; dazu auch Iring Fetscher, Modelle der Friedenssicherung, München 1972; Dieter Senghaas, Gewalt, Konflikt, Frieden. Essays zur Friedensforschung, Hamburg 1974.

  16. Zur Gettoisierung des organisierten Rechtsextremismus am Beispiel NPD vgl. Hans Maier, Hermann Bott, NPD. Struktur und Ideologie einer „nationalen Rechtspartei", München 19682; Reinhard Kühnl u. a., Die NPD. Struktur, Ideologie und Funktion einer neofaschistischen Partei, Frankfurt/Main 1969; Lutz Niethammer, Angepaßter Faschismus. Politische Praxis der NPD, Frankfurt/Main 1969.

  17. Vgl. dazu Ernst, a. a. O., sowie die dort angefügte Kurzdokumentation; dazu auch die Sendereihe über „Alltagsfaschismus" von Peter Dusek im ORF (Beginn 28. 9. 1978), die das Phänomen der indirekten Wirksamkeit des Nationalsozialismus untersucht.

  18. Ernst Fraenkel, Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlichen Demokratie, in: Franz Nuscheler, Winfried Steffani, Pluralismus. Konzeptionen und Kontroversen, München 1973 2, S. 158 bis 182.

  19. Vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung bei Kurt Sontheimer, Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, München 1971, S. 22— 25, sowie bei Thomas Ellwein, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1973 3, S. 30— 35.

  20. Diese Konsequenz ist am besten dargestellt bei Anthony Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968.

  21. Anton Pelinka, Dynamische Demokratie. Zur konkreten Utopie gesellschaftlicher Gleichheit, Stuttgart 1974, S. 17— 20.

  22. Diese Überlegung liegt prinzipiell dem gesamten Konzept politischer Bildung zugrunde, wie es in der Bundesrepublik Deutschland vor allem in der Bundeszentrale für politische Bildung entwikkelt wurde; vgl. dazu Manfred Funke, Extremismus und offene Gesellschaft. Anmerkungen zur Gefährdung und Selbstgefährdung des demokratischen Rechtsstaates, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 37/78.

Weitere Inhalte

Anton Pelinka, geboren 1941, seit 1975 o. Prof, für Wissenschaft von der Politik an der Universität Innsbruck. Veröffentlichungen: Demokratie und Verfassung in Österreich (gemeinsam mit M. Welan), Wien 1971; Stand oder Klasse? Die christliche Arbeiterbewegung Österreichs 1933— 1938, Wien 1972; Dynamische Demokratie — Zur konkreten Utopie gesellschaftlicher Gleichheit, Stuttgart 1974; Politik und moderne Demokratie, Kronberg/Taunus 1976; Bürgerinitiativen — gefährlich oder notwendig?, Freiburg 1978.