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,, Holocaust" und die Amnesie | APuZ 22/1979 | bpb.de

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APuZ 22/1979 Artikel 1 Nationalsozialismus und Widerstand als erfahrbare Geschichte Zur Behandlung des Nationalsozialismus im Unterricht Die Wurzeln der nationalsozialistischen Ideologie. Ihr Weiterleben heute ,, Holocaust" und die Amnesie

,, Holocaust" und die Amnesie

Helmut Dahmer

/ 11 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der amerikanische Film „Holocaust" hat das schwer faßliche Grauen der nationalsozialistischen Judenvernichtung im Rahmen einer synthetischen Eamilienerzählung vergegenwärtigt und damit die nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches" durch kollektive Abwehrmechanismen aufrechterhaltene Amnesie — wie die mit ihr gekoppelte Blockierung der Gefühle — aufgesprengt. Was nach diesem Film zu tun bleibt, ist, die durch ihn mobilisierten Gefühle und wiedererweckten Erinnerungen als Motive für eine Verstehensarbeit zu nutzen, die die politisch-gesellschaftliche Funktion der Hitlerbewegung und mit ihr die des „Holocaust" zu Bewußtsein bringt.

Aus der Neuen Welt

Entnazifizierung und Reeducation kamen einst aus der Neuen Welt: Exporte aus dem „Land der unbegrenzten Möglichkeiten" ins Land der ehernen Unmöglichkeiten. Dreißig Jahre später ging man dort, stellvertretend für uns, auf die Suche nach den „Roots" der Judenvernichtung. „Holocaust", das Produkt solcher Rekonstruktionsarbeit, ging durch dreißig Länder, ehe es dorthin kam, wo es sein eigentliches Publikum fand — im „Vaterland" der Judenvernichtung.

E-Musik

Vorab war zu hören, die Filmserie sei „trivial", „sentimental", „kitschig", mitunter ungenau, im ganzen, als historische Darstellung, inadäquat. Wie aber hätte sich wohl eine populäre, aufwühlend ergreifende, den Traum-Kitsch des Dritten Reiches, seiner Herrscher und Untertanen treffende, mitunter vielleicht ungenaue, aber die Untaten der Nazis nicht leugnende, nicht beschönigende Darstellung auf die Geschichte der Bundesrepublik ausgewirkt, wäre sie rechtzeitig gekommen? Hier stellt man sich dem Grauen deutscher Geschichte allenfalls auf „gehobenem" Niveau, wenn es als Kulturfilm gerahmt ist, unterlegt mit E-Musik. Solche Weihespiele (von ewiger Schuld und Sühne) in den Tempeln der Kultur-industrie, die zu vager Andacht, sonst nichts verpflichten, hat es eher zu viele gegeben. Ihr Publikum wurde stets noch in dem bestärkt, was es im Jahrhundert der Kriege und Bürgerkriege ohnehin empfindet: in der Ohnmacht, an „den Ereignissen“ etwas ändern zu können, im kurzatmigen Erschrecken, in der erbaulichen Zerknirschung, aus denen nichts folgt. Ergebung in das Unverstanden-Unvermeidliche und Erleichterung darüber, nicht mehr in solch finsteren Zeiten zu leben — darin mündete deutsche Vergangenheitsbewältigung. „Holocaust" lehrt ein ganz anderes, mögliches, in Deutschland immer wieder ver-gessenes Verhalten: daß man sich wehren kann, kämpfen muß. Der Film lädt zur Identifikation mit dem (jüdischen) Widerstand, mit der Resistance ein. Die Entsublimierung ä la „Holocaust" ist progressiv.

Familien-Geschichte

Familiale Deutungsmuster sind gesellschaftlichen Prozessen, politischen Ereignissen unangemessen. Sie verbiedern die soziale Welt, statt sie verständlich zu machen. Aber ein politisch unaufgeklärtes Massenpublikum klammert sich an familiale Deutungsmuster; es hat keine anderen. Hier setzt „Holocaust" an. Die Schreckensgeschichte des Dritten Reiches wird als Familiengeschichte präsentiert. Das große Publikum, dessen Rezeptionsweise am „Alten" oder den „Leuten von der Shiloh-Ranch" sich schult, wird nicht überfordert. Zwei einander überschneidende Familiennetze verbinden die Höhen der SS-Führungsstäbe mit der Hölle der Vernichtungszentren, verknüpfen Berlin, Warschau und Kiew. Dokumentarische Aufnahmen werden eingeblendet, Massenszenen nachgespielt. So weitet sich die Familien-bühne zur Bühne des von Deutschen besetzten Europas, auf der das Endspiel „Juda verrecke" arrangiert wird. Henker und Opfer, Apathische und Widerständler erscheinen als Menschen wie du und ich. Die Hauptpersonen sind freilich weniger psychologisch als dokumentarisch „echt": Mischbilder typischer überlieferter Verhaltensformen. Das gilt auch für ihre Gespräche, die zum guten Teil historisch authentisch sind. Diese Familienserie ist eine Pseudo-Fiktion, rekonstruierte Geschichte; alles stimmt, alles ist belegt. Die Identifikation, zu der der Film einlädt, läuft der traditionellen, der Einfühlung in die Nutznießer und Henker, wie sie durch die NS-Propaganda fixiert wurde, zuwider. Für ein paar Stunden schwingen die Emotionen der Zuschauer mit den Opfern, den Fremden, gegen die Unseren, Eltern und Großeltern.

Der Ritt über den Bodensee

Woher kommt das plötzliche große Interesse an „diesem" Thema? Ist es eines an Geschichte? Primär kaum. Der Film wurde als „Seifen33 oper" etikettiert. Das war als Abwerbung gedacht, aber das große Publikum liebt die Seifenoper. Diese bietet siebeneinhalb Stunden Spannung, Jagden, Mord, Folter, Vergewaltigung, Massenmord, Krieg und Liebe, nicht als Fiktion, sondern als Pseudo-Fiktion, die Geschichte repräsentiert. Das Publikum, das den konventionellen Köder schluckt und den Film auf der Klaviatur seiner Affekte spielen läßt, macht, erschüttert und ernüchtert, eine Erfahrung, die der des Reiters über den Bodensee gleicht: Wenn dieser Thriller, der unsere Geschichte ist, wenn „Holocaust" wirklich war, dann stimmen unser Weltbild und unsere Identität nicht. Dann öffnet sich hinter uns, die wir uns schon geborgen wähnten, der Abgrund, war alle Sicherheit auf Sand gebaut.

Deutschland, erwache

Den Film sehen gerade so viel Menschen wie bei den letzten freien Wahlen Hitler die Stimme gaben. Und auf die Filmstunden folgen Diskussionen, Tausende rufen beim Sender an, stellen Fragen über Fragen. Es ist, als hätten die meisten Diskutanten und Frager dreißig Jahre lang einen Dornröschenschlaf geschlafen, aus dem erst „Holocaust" sie jetzt erweckte. Nun fragen sie, was man 1945/46 hätten fragen müssen und erfahren können. Drei Jahrzehnte „Vergangenheitsbewältigung" sind wie nie gewesen. Kogons „SSStaat", Mitscherlich-Mielkes „Medizin ohne Menschlichkeit", Reitlingers „Endlösung", Bullock und Shirer, das „Tagebuch der Anne Frank" und die „Weiße Rose", Eichmann in Jerusalem und die Auschwitzprozesse in Frankfurt, Resnais'„Nacht und Nebel", Leisers „Mein Kampf“: abgeprallt am psychischen Abwehrpanzer der verschworenen Volksgemeinschaft der Nichtwisser und Nichtwahrhaber. Dieser Panzer ist die wichtigste Hinterlassenschaft des Dritten Reichs. Die belasteten Mitläufer-Eltern haben ihn ihren Kindern vermacht, eine noch immer funktionstüchtige schimmernde Wehr gegen kollektive Selbsterkenntnis. Und deutlich intoniert ein Minderheitenchor den basso ostipato: Laßt uns vergessen, wir wollen das nicht wissen, laßt uns in Frieden nach so langer Zeit, das ist doch längst Geschichte. Das ist die Stimme der Komplizen; sie repräsentieren das NS-Regime in der Gegenwart.

Die Ausnahme und die Regel

Wir haben, „Holocaust" betrachtend, über die Opfer geweint, haben die Henker gehaßt, haben uns mit denen, die sich wehrten, identifiziert. Nun wollen wir verstehen. Doch zur Erklärung der Judenausrottung trägt der Film wenig bei, nennt nur ein paar Motive: den Neid und die Fremdheit; den Wunsch, Karriere zu machen; das Bedürfnis nach einem inneren Feind; die Lust an der Pflichterfüllung; die Wahnvorstellungen über Herrenrassen, Untermenschen und Schädlinge in menschlicher Gestalt. Pogrome begleiteten die Leidensgeschichte der Judenheit. Massaker gab und gibt es in den verschiedensten Ländern. Faschistische Bewegungen und Regime gab es gleichzeitig mit dem deutschen in verschiedenen europäischen Gesellschaften. Aber: Auschwitz und Babi Jar heben sich aus der allgemeinen Mord-und Foltergeschichte unseres Jahrhunderts und aller vergangenen heraus, sind Unikate (wie jene anderen, für die die Namen Hiroshima und Workuta stehen). Warum haben die Deutschen unter Hitler das gemacht?

Holocaust war ein Extrem, dem nicht Friede und Verständigung als Regel gegenüberstehen, sondern das fortwährende Massaker — von Chile über Kambodscha bis Iran —, die nahezu pausenlos wütenden Kriege, die sich ausbreitende Folter (AVO, DINA, SA-VAK . . .). Holocaust liegt nicht hinter uns. Neuartige Holocausts sind in Vorbereitung. Die Raketenbatterien in unserm wie in andern Ländern, die keiner sehen will, die Neutronenbombe, die Kampfstoff-Fabriken (von den risikoträchtigen Atommeilern zu schweigen) ermöglichen einen Holocaust, von dem wir uns noch zu wenig träumen lassen.

Wir haben es nicht gewußt

Um Millionen von Menschen druntenzuhalten, fortzuschleppen und umzubringen, dazu bedarf es allemal anderer Millionen von Menschen, mag es sich bei den Unterdrückten und Kontrollierten um soziale Klassen oder um ethnische Gruppen handeln. In der Befehlsempfängerkette ist die Verantwortung auf viele verteilt, nicht aufgehoben. Alle Beteiligten sind verantwortlich, nicht etwa keiner von ihnen. Von den Technikern, die „Ideen" hatten, von den Auftrag-und Geldgebern reicht die Verantwortungskette herunter über all die Mitwisser und Vorbereiter bis zu den Horchern, Denunzianten, zu den zahllosen Augen-und Ohrenzeugen, die sehend nichtsahen, hörend nichthörten, denen Furcht vor Verfolgung, Folter und Vernichtung Aug und Ohr schloß. Auch in die bürokratisch-techB nische Tötungsmaschinerie sind (wie in die moderne Produktion) noch Menschen genug eingespannt, und am Fuße der Hierarchie stehen die Exekutoren, ohne die nichts geschieht, die Fach-und Hilfsarbeiter des Todes an Maschinengewehren, Benzinkanistern und Flammenwerfern, Vergasungswagen und Massengräbern, die Genickschußspezialisten, Zyklon-B-Einfüller, Prügler und Folterknechte, an denen nie Mangel ist. Himmler und Heydrich brauchten Millionen, die keine Fragen stellten, die vergaßen, was sie sahen, die keine Hand rührten. Dabei ging es also nicht um einfaches Nicht-Wissen, eher schon um ein Nicht-wissen-Wollen, besser: um das Nichtwissen-wollen-Können. Denn ungezählte Menschen überleben in unserer Gesellschaft nur, weil sie ihre Realitätsprüfung einschränkten. Sie haben gelernt, nicht über ihre Verhältnisse zu leben.

Peter Schlemihl

Den historischen Riesenpogrom, organisiert als „geheime Reichssache", kann „Holocaust", seiner Anlage nach, nicht erklären. Die „Endlösung" ist nicht aus sich selbst verständlich zu machen, bleibt, isoliert gesehen, rätselhaft wie ein Schatten ohne den, der ihn wirft. Zu fragen ist nach der Funktion der Judenausrottung für das NS-Regime, für die Menschen, die es trugen. Diese Frage stößt auf Widerstand, auf ein Denkverbot aus Pseudo-Pietät: Auschwitz sei unbegreiflich, ein Verhängnis, funktionslos gewesen. Lieber noch wird der braune Schrecken zu einem Mysterium gemacht, als daß man der Frage sich stellte, wem er nützte und wen er befriedigte, als daß man das große Morden auf die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse bezöge, die Bewußtsein und Unbewußtes von Opfern und Henkern strukturieren. Wer aber die Juden-vernichtung beklagt, darf vom Faschismus nicht schweigen.

Die faschistische Massenbewegung, das war der Aufstand der breiten Zwischenschichten, mit deren Hilfe noch jede (ökonomisch) herrschende Klasse sich an der Macht hielt. Das war die militante Antwort des viele Millionen starken alten und neuen „Mittelstandes" auf die Unterminierung seiner traditionellen Lebensform. Zwischen die Mühlsteine der fortschreitenden kapitalistischen Entwicklung, der von der Bourgeoisie betriebenen Aufhebung des kleinen und mittleren Eigentums (durch konzentrationsfördernde Konkurrenz) einerseits, der radikaleren Bedrohung des Privateigentums durch die Arbeiterbewegung anderseits geraten, suchte Hitlers „mittelständische Sammlungsbewegung" einen Weg zurück zu einem obrigkeitsstaatlich gezähmten Kapitalismus mit Raum für Bauern, Handwerker und Gewerbetreibende, mit Chancen für Offiziere, Akademiker, Angestellte und Beamte, die die große Krise mit Deklassierung bedrohte. Uber kurz oder lang aber mußten die regressiven Sehnsüchte der faschistisch organisierten, „ungleichzeitigen" Zwischenschichten an der Dynamik der deutschen kapitalistischen Wirtschaftsgesellschaft und ihres internationalen Kontexts zerschellen. Darum waren alle Straßen des Dritten Reiches mit Symbolen ausgelegt. Hitler stieg vom Sekten-schreier zum Messias auf in dem Maße, wie er die real nicht zu befriedigenden Interessen, die Wunsch-und Racheträume seiner Anhänger als potentielle soziale Gewalt begriff und lenken lernte. Der faschistische Angrift galt primär (und real) der Arbeiterbewegung, dem Marxismus und Bolschewismus, der Sowjetunion, sekundär (ideologisch) dem „raffenden" Kapital, den großen Warenhäusern und den „Plutokratien". Fusioniert wurden beide Gegner mit Hilfe des populären, rassistisch frisch aufgeputzten Antisemitismus: „Die Juden sind unser Unglück", genauer: verantwortlich für die Misere ist die „jüdische Weltverschwörung" mit ihren beiden Hauptquartieren in Wallstreet und Moskau. Die „antikapitalistische Sehnsucht" der Gefolgsleute Hitlers wurde an den ältesten Repräsentanten der Geldwirtschaft, den Juden, arm oder reich,'ausgelebt; der antiproletarische Haß brach sich an Lenin-und Stalingrad.

Die faschistische Massenbewegung fungierte als Knüppel des Finanzkapitals. Sie zerschlug die Arbeiterbewegung. Deren Funktionäre und Mitglieder füllten die ersten Konzentrationslager. Der Arbeiterwiderstand war der einzige, der vor dem Zweiten Weltkrieg ins Gewicht fiel. Erst die Zerschlagung der Arbeiterbewegung gab den Nazis den Weg zu Pogrom und Krieg frei. Keiner der mittelständischen Träume ging im Dritten Reich in Erfüllung. Die Repräsentanten des plebejisch-antikapitalistischen Flügels der NSDAP wurden schon 1934 liquidiert. Die Konzentrationsbewegung beschleunigte sich im Zuge der Rüstungs-und Kriegswirtschaft. Der imperialistische Traum von einem Europa unter deutscher Herrschaft scheiterte an der Anti-Hitler-Koalition; Resul-tat des Raubkrieges war die Halbierung des deutschen kapitalistischen Wirtschaftsgebiets. Im März 1933 ebneten die bürgerlichen Parteien vor ihrer Selbstauflösung Hitler (dessen NSDAP es trotz der Finanzhilfe der deutschen Wirtschaft und des Terrors gegen KPD und SPD auf nicht mehr als knapp 44 Prozent der Stimmen gebracht hatte) den Weg zur Diktatur. Er sollte „Ordnung" schaffen, optimale Ausgangsbedingungen für Aufrüstungskonjunktur und Revanchepolitik. Der Preis für die Rettung der Renditenwirtschaft durch Braunhemden und Totenkopf-Terroristen waren die Verwicklung in einen ruinösen Zweifrontenkrieg und der Dauerpogrom im Schatten dieses Krieges. Hier fanden die real blokkierten regressiven Wunschträume der kleinbürgerlichen Massenbewegung eine schaurige Ersatzbefriedigung. Die europäische Judenheit wurde zum Opfer der reaktionären Utopie einer mittelständischen Volksgemeinschaft im 20. Jahrhundert.

Die Zwangsgemeinschaft der unfreien und ungleichen Herrenmenschen konnte ihre kollektive Illusion nur mit Hilfe von Menschenopfern aufrechterhalten, nur als verschworene Mord-und Schuldgemeinschaft, die sich gegen innere und äußere Feinde, politische Gegner, Juden und „Untermenschen" behauptete. 150 Jahre zuvor hatte das französisch-jakobinische Kleinbürgertum im Kampf gegen die Konterrevolution seinen Gleichheitstraum auf den Plätzen von Paris mit der Guillotine wahrmachen wollen. Damals ging es darum, persönliche Herr-Knecht-Verhältnisse zu zerbrechen, sie durch sachlich vermittelte Abhängigkeit zwischen Angehörigen verschiedener sozialer Klassen zu ersetzen. 1942 versuchten faschistisch-konterrevolutionär organisierte Angehörige des deutschen Kleinbürgertums, ihre Alpträume mit Maschinengewehr und Gaskammer zu zerstreuen, die Volksgemeinschaft gegen die Realität, gegen eine Welt von Feinden und Verschwörern, „Parasiten" und „Rassenschändern" durchzusetzen — im geheimen. Ihnen ging es darum, an die Stelle indirekter (marktvermittelter) Herrschaft neuerlich direkte (totalitäre) Führer-Gefolgschafts(bzw. Herren-Sklaven-) Verhältnisse zu setzen.

Hitlers Kinder und Enkel

Das Hitlerregime mußte von außen gestürzt werden. Es gab keine deutsche Resistance, die man in einem Atem mit der französischen oder jugoslawischen, in einem Atem mit den Verteidigern der spanischen Republik nennen könnte. Und es gab nach dem Zusammenbruch des Regimes keine irgend angemessene Trauer-arbeit. Warum gab es so wenig Widerstandsgruppen, so wenige Kurt Hubers, so wenige Geschwister Scholl, nur eine „Rote Kapelle", nur einen Kurt Gerstein? Warum revoltierten nicht in wenigstens einer deutschen Stadt die Menschen gegen den Abtransport ihrer jüdischen Mitbürger (wie in Amsterdam); warum versteckten nicht deutsche Bauern (wie es französische taten) Tausende jüdischer Kinder vor den Mördern? Warum richtete nicht wenigstens einmal ein Soldat bei der Massenerschießung das Maschinengewehr auf den Kommandostab? Der Schock des „Zusammenbruchs" der NS-Illusionen hat der Bevölkerungsmehrheit eine Amnesie beschert, auf deren Basis der offizielle Optimismus der II. Republik gedeiht. Das Vergessen erspart all jene Fragen. Doch das kollektiv Verdrängte bildet charakteristische Symptome aus. Im magischen Fanatismus der terroristischen Grüppchen und in der ihm korrespondierenden Paranoia derjenigen, die blindwütig Volk und Staat gegen Terroristen, „Sympathisanten", „Verfassungsfeinde" und Alternativen zum krisenhaften Status quo der Bundesrepublik gleichermaßen mobil machen wollen, tritt zutage, was nur die Opfer nicht vergessen oder beschönigt haben: Daß in Deutschland der Terrorismus zwölf Jahre lang, 1933 bis 1945, Staatsräson war — ein nationales Erbe, mit dem wir noch lange nicht fertig sind. In diesem Kontext ist „Holocaust" zu einem innenpolitischen Ereignis ersten Ranges geworden. Er hat in die kollektive Amnesie eine kleine Bresche geschlagen, die es zu erweitern gilt. Literaturhinweis Th. W. Adorno (1959— 69), Erziehung zur Mündigkeit, hrsg. von G. Kadelbach, Frankfurt 1970. G. Anders (1964), Wir Eichmannsöhne. Offener Brief an Klaus Eichmann, München.

I. Deutscher (1946— 67), Die ungelöste Judenfrage. Zur Dialektik von Antisemitismus und Zionismus, Berlin 1977.

M. Horkheimer (1950), Lehren aus dem Faschismus, in: Horkheimer, Gesellschaft im Übergang, hrsg. von W. Brede, Frankfurt 1972, S. 36 bis 59.

A. Leppert-Fögen (1974), Die deklassierte Klasse. Studien zur Geschichte und Ideologie des Kleinbürgertums, Frankfurt.

F. Neumann (1942), Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933— 1944, hrsg. von G. Schäfer, Köln 1977, G. Reitlinger (1953), Die Endlösung. Ausrottung der Juden Europas 1939— 1945, München 1964.

W. Schieder (Hrsg.) (1976), Faschismus als soziale Bewegung. Deutschland und Italien im Vergleich, Hamburg.

E. Simmel (1946), Antisemitismus und Massen-Psychopathologie, in: Psyche, 32. Jg., 1978, S. 492 bis 527.

L. Trotzki (1930— 33), Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen?, hrsg. von H. Dahmer, Frankfurt 1971.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Helmut Dahmer, geb. 1937, Prof, für Soziologie an der Technischen Hochschule Darmstadt; Redakteur der von Alexander Mitscherlich herausgegebenen psychoanalytischen Monatszeitschrift PSYCHE. Veröffentlichungen u. a.: Libido und Gesellschaft, Frankfurt 1973; Politische Orientierungen, Frankfurt 1973; (Hg.) S. Ferenczi. Zur Erkenntnis des Unbewußten, Frankfurt 1978.