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Die Öko-Bewegung — ein etablierter Störfaktor im Parteiensystem? | APuZ 25/1979 | bpb.de

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APuZ 25/1979 Artikel 1 Das Phänomen der ,, Staatsverdrossenheit" und die Strukturdefekte der Parteien. Bemerkungen zu einem populären Begriff und einem weniger populären Organisationsproblem Die Planungszelle als Instrument der Bürgerbeteiligung. Ein Beispiel aus der städtebaulichen Planung Die Öko-Bewegung — ein etablierter Störfaktor im Parteiensystem?

Die Öko-Bewegung — ein etablierter Störfaktor im Parteiensystem?

Harry Tallert

/ 20 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Trotz ihres Scheiterns an der parlamentarischen Fünf-Prozent-Hürde hat die grün-bunte Protestbewegung Parteienverhalten und Landtagswahlen indirekt und direkt erheblich beeinflußt. Ihre gezielten oder chaotischen Einmischungen haben zwar die Öko-Bewegung selbst geschwächt, konnten jedoch ihren Bestand zu keiner Zeit ernsthaft gefährden. Dabei zeigte sich ihre ungewöhnliche Robustheit und die Mobilisierungskraft ihrer Thematik. So kann es der Öko-Bewegung auch wenig schaden, wenn sie im Dauerstreit darüber liegt, mit welchen Mitteln und Zielen, wogegen oder für welche Art von Wirtschafts- und Sozialordnung der Kampf zu führen sei. Für die Wirkung der Protestbewegung ist die Irritation der Herausgeforderten viel wichtiger als alle möglichen eigenen Programme. In der Bundesrepublik steht die verbale Polarisierung der Parlaments-Parteien in einem deutlichen Gegensatz zu der Tatsache, daß sie einander in ihren nachprüfbaren Sachentscheidungen immer ähnlicher werden. Dies zeigt sich exemplarisch in der Energiepolitik. Vorzuwerfen ist den Parteien, daß sie den tatsächlich vorhandenen Spielraum des noch alternativ Entscheidungsfähigen kaum zu diskutieren wünschen, weil ihnen die Verwaltung des Status quo und die Rechtfertigung nur anpassender Veränderungen durch Sachzwänge sicherer erscheint als das Wagnis einer in die Zukunft gerichteten politischen Entscheidung. Das Aufkommen der Protestbewegung signalisiert noch keine Staatsverdrossenheit, aber eine zunehmende Selbstisolierung der Politiker. Die Parteien müssen lernen, daß Protest-Listen dort erfolgreich sind, wo die Fähigkeit der Politiker zur Kommunikation mit dem Wähler verkümmert.

Der abrupte Wechsel von Interesse und Desinteresse an der Oko-Bewegung wird bestimmt von der Einschätzung ihrer Störkraft. Die Verwertung der Beinahe-Katastrophe von Harrisburg vor und nach der Landtagswahl in Schleswig-Holstein war das bisher eindrucksvollste Beispiel augenblicklicher öffentlichkeitswirksamer Sensibilität — vor dem Übergang zum Gewohnten. Dabei kommt einmal mehr zum Vorschein, daß nicht die Oko-Bewegung selbst fasziniert, sondern die Art und Weise, wie die Thematik der Bewegung die Herausgeforderten dazu bringt, Schwächen zu offenbaren. Bleiben spektakuläre* Nebenwirkungen für eine Weile aus, sinkt das Interesse am grün-bunten Phänomen rasch auf Null. Dies ändert sich zugunsten einer überschäumenden Publizität, sobald sich erneut herausstellt, daß Grüne und Bunte — vor allem in einer Konstellation knapper Mehrheitsverhältnisse — Störeffekte erzeugen können, die in einem auffälligen Mißverhältnis zu ihrer eigenen politischen Machtlosigkeit stehen.

Immerhin hat die grün-bunte Protestbewegung, trotz ihres Scheiterns an der parlamentarischen Fünf-Prozent-Hürde, Landtagswahlen indirekt und direkt erheblich beeinflußt. Daß der „Schaden" vorerst gering blieb, wurde von FDP und SPD — zunächst noch kaum von der CDU — mit wichtigen umweltpolitischen Zugeständnissen — oder Ankündigung solcher Zugeständnisse — und mit energiepolitischen Modifikationen — oder der lauten Bereitschaft dazu — erkauft.

Gemessen an der inzwischen sehr viel höheren Schwelle für die Durchsetzbarkeit aller lokalen, regionalen und nationalen Projekte, die den ökologischen Nerv treffen, ist die Erfolgsbilanz der Oko-Bewegung gar nicht schlecht. Weit entfernt von einem Durchbruch ökologischer Politik, zeigt sie immerhin, daß die Furcht vor dem Verlust von Wählerstimmen nicht nur flexible Stellungnahmen bewirkt, sondern auch tatsächliche Veränderungen anbahnen kann. Daß sich die Parteien zu Zeiten anstrengen müssen, um die grünen und bunten Listen überflüssig zu machen, das ist der eigentliche Erfolg der Protestwähler! Und dies ist kein Wert, der in Prozenten ausgedrückt werden könnte.

In Niedersachsen und Hamburg katapultierten 1978 grüne und bunte Protestwähler die FDP aus den Parlamenten. Sie verhalfen der CDU in Niedersachsen und der SPD in Hamburg zur Alleinregierung, die CDU und SPD so nicht gewollt hatten. In Hessen leisteten in drei Listen zersplitterte Grüne und Bunte einen nicht unwichtigen Beitrag zur Normalisierung des Wahlergebnisses und zur Stärkung der sozialliberalen Koalition in Bonn, weil sie als Störfaktor ausfielen. So wurde das Nicht-Ereignis zum Ereignis.

In Berlin erhielt das Protest-Sammelsurium „Alternative Liste — für Umweltschutz und Demokratie" auf Anhieb 47 543 Stimmen (3, 7 Prozent) und damit mehr Stimmprozente als die Abgeordnetenparteien insgesamt dazugewinnen konnten. Zehn Kandidaten der „Alternativen Liste" gelang der Sprung in vier von zwölf Bezirksparlamente. Wohl blieb die FDP in Berlin ungeschoren, aber sie konnte sich gegenüber 1975 nur um einen Punkt auf 8, 1 Prozent verbessern. Erheblich gestört wurde die SPD: Sie kann zwar mit Hilfe der FDP weiter regieren, aber gemessen an dem Ziel, in ihrer einstigen Hochburg wieder stärkste Partei zu werden, hat sie eine Niederlage erlitten. Mindestens zwei Prozent der Wählerstimmen, die der SPD (42, 6 Prozent) genügt hätten, die CDU (44, 4 Prozent) knapp zu überrunden, dürften im Wähleranteil der „Alternativen Liste" zu suchen sein. Problematisch für SPD und FDP ist der Anteil der jungen Generation unter den Protestwählern. In Berlin waren 70 Prozent der Wähler der „Alternativen Liste" junge Leute unter dreißig. Sofort warnte der SPD-Vorsitzende Willy Brandt, die Wahl in Schleswig-Holstein würde entscheidend davon abhängen, „ob Wählerstimmen an die Grünen weggeworfen werden".

Tatsächlich wäre Gerhart Stoltenberg mit 1 287 Stimmen Vorsprung nicht Ministerpräsident geblieben, hätte nur ein Teil der Protestwähler aus dem Wählerpotential der SPD und FDP eben diese Parteien gewählt, statt die grüne Liste, die 2, 4 Prozent der Stimmen erhielt. Ohne die 4 Prozent der Stimmen erhielt. Ohne die Zusage von SPD und FDP, eine von ihnen gebildete Koalition werde keine weiteren Kernkraftwerke im Lande genehmigen, hätte die Protestliste vermutlich weit besser abgeschnitten. Andererseits reichte die grüne Attitüde von Landes-SPD und Landes-FDP nicht aus, noch jene Zahl ökologisch engagierter Wähler umzustimmen, die SPD und FDP zur Mehrheit fehlten. Ha-ben aber diese Wähler ihre Stimme „weggeworfen"? Haben sie nicht eine politische Wirkung erzielt, die SPD und FDP — die in Bonn an ihrem Energiekonzept festhalten — noch nachdenklicher machen muß?

Eine Zeit lang fanden viele, daß eine diffuse, von „Linksextremisten" und „Obskuranten" aller Schattierungen heimgesuchte, noch dazu in sich heillos zerstrittene Bewegung sich von selbst erledigen werde. Dieser Anschein war trügerisch. Er ist auf eine naive oder gewollte Überschätzung verbaler Kraftakte jener zurückzuführen, die in der Oko-Bewegung ein Manövrierfeld vorrevolutionärer oder gar revolutionärer Instrumentalisierung erblickten. Von den Proklamationen solchen Wunschdenkens ist kaum mehr übriggeblieben als eine umfangreiche Sammlung realitätsferner Parolen. Diese Zitate sagen fast nichts über die Oko-Bewegung aus, aber viel über den Wirklichkeitsverlust von Möchtegern-Revolutionären. Nach empfindlichen Rückschlägen, die sie von der erhofften . Massenbasis'weg immer mehr in die Isolierung führten, geben sich die militanten Linken in der Oko-Bewegung neuerdings zurückhaltend. Dabei bleibt offen, ob es sich um eine Folge ihres desolaten Zustandes nach der Kursrevision der chinesischen Kommunisten handelt, die Maoisten aller Länder in einen ideologischen Abgrund stürzen ließ, oder um einen Lernprozeß, in dem sie den abenteuerlichen Anspruch, Speerspitze einer neuen revolutionären Massenbewegung zu sein, mit den übrigen maoistischen Träumen bereits begraben haben.

Die DKP hatte ihre feindlichen Brüder oft und vergeblich vor revolutionärer Ungeduld gewarnt. Von Anfang an verfolgte die DKP in der Umweltschutzbewegung eine Bündnispolitik des langen Atems. Wie in ihrer Gewerkschaftsarbeit, ihrer Basisarbeit in den Betrieben, ist sie auch an der „ökologischen Front" zu Kompromissen bereit, bekennt sich zur Legalität und hält sich an Spielregeln.

Dies alles nicht, um ihre Ziele aufzugeben, sondern aus der Überlegung, daß nur so eine Chance besteht, sich diesen Zielen geduldig zu nähern. Aber auch diese kluge Strategie hat sich bisher als Fehlinvestition erwiesen. Von einem nennenswerten Einfluß der DKP auf die Protestbewegung kann nicht die Rede sein. Allerdings verdienen die Anstrengungen der DKP langfristig mehr Aufmerksamkeit als die plumpen Anbiederungsversuche rechtsradikaler Gruppen.

In einem Aufruf der Bezirksvorstände Rheinland-Westfalen und Ruhr-Westfalen unter dem Motto „Aktion gegen Bonner Atomplan" erläutert die DKP ihr Bündniskonzept: „Die DKP unterstützt das Bündnis aller Demokraten zur Durchsetzung ihrer Interessen! Das heißt: Die Mitglieder der DKP arbeiten aktiv in Bürgerinitiativen. Sie unterstützen die Bewegung der Bürger, die der Meinung sind, daß die da oben tun was sie wollen, wenn wir uns nicht rühren. Die DKP wendet sich entschieden gegen alle Versuche maoistischer und anarchistischer Kräfte, die Bürgerinitiativen zu mißbrauchen und sie durch gewalttätige Aktionen zu spalten. Mitglieder der DKP haben die Ostermärsche unterstützt und den . Kampf gegen den Atomtod'mitorganisiert. Die Mitglieder der DKP demonstrieren ihr entschiedenes Nein zur Neutronenbombe ... Es bleibt dabei: die arbeitende Bevölkerung muß ihre Interessen selbst vertreten. Im demokratischen Bündnis, in der gemeinsamen Aktion von Sozialdemokraten, Kommunisten und Christen, aller Demokraten, werden wir erfolgreich sein. Das ist auch so bei der Bekämpfung der Atompläne der Konzerne, der Bundesregierung und der Landesregierungen." 1)

Während also die DKP zumindest in öffentlichen Erklärungen das demokratische Bündnis propagiert und vor gewalttätigen Aktionen warnte, griffen Teile der maoistischen Neuen Linken spektakulär und militant in die Aktionen von Bürgerinitiativen ein, um „jetzt und hier" revolutionäre Gewalt zu erproben: „Alle Erfahrungen haben gezeigt, daß letzten Endes ohne Gewalt, einschließlich bewaffneter Gewalt (darunter verstehen wir keine Wurfanker und Holzknüppel, sondern vom Revolver aufwärts) die herrschenden Klassen nicht gestürzt werden können." 2) „Die Umgebung der Bauplätze muß für die AKW-Betreiber zum Feindesland gemacht werden." Auch die neonazistische Bürgerinitiative des Rechtsanwalts Manfred Röder beteiligte sich am 19. Februar 1977 an der „Schlacht um Brokdorf". Röder gab unter dem Motto „Brokdorf ist die Achillesferse der Demokratie" einen Rundbrief heraus, in dem er zum gemeinsamen Kampf gegen die verhaßte parlamentarische Demokratie aufrief. Die Rechtsextremisten fanden mit diesen Aktivitäten jedoch keine Resonanz.

Die gezielten oder chaotischen extremistischen Einmischungen haben der Öko-Bewegung ohne Zweifel Schaden zugefügt. Sie konnten jedoch ihren Bestand zu keiner Zeit ernsthaft gefährden. Mit Extremisten — wenn auch ungebetenen — überhaupt gesehen zu werden, sich auf dem organisatorischen Feld chaotisch zu gebärden und dennoch in unserem Lande politisch weiter zu existieren, das zeigt eine ungewöhnliche Robustheit und die Unverwüstlichkeit der Thematik dieser Bewegung. Gleich was sie tut und wie sie dabei aussieht, allein ihr Kampf gegen die Kernkraft würde wohl ausreichen, sie gegen alle Unbill am Leben zu erhalten. So kann es der Öko-Bewegung wenig schaden, wenn sie nach wie vor im Dauerstreit darüber liegt, wie denn, mit welchen Mitteln und Zielen, wogegen — und geschweige denn — für welche Art von Wirtschafts-und Sozialordnung der Kampf zu führen sei. Der bei den Wahlen in Berlin, Schleswig-Holstein und für die Beteiligung an den Europawahlen erreichte Mi-nimal-Konsens der Grünen und Bunten würde sofort zerfallen, ließe man sich auf eine Konkretisierung der unter den Linken und Linken, Rechten und Rechten, Pragmatikern und Pragmatikern herrschenden, scheinbar unvereinbaren Gegensätze ein. Aber warum sollte man das? Für die Wirkung der Protestbewegung ist — in einer Anfangsphase neuer Sammlung — die Irritation der Fierausgeforderten viel wichtiger als alle möglichen mehr oder weniger diskutablen eigenen Programme. Irritiert sind die Herausgeforderten zunächst einmal über das unsichere Ausmaß der Bedrohung. Wie sollen sie ihre Sensoren auf etwas einstellen, was so buntscheckig und so schwer quantifizierbar ist? Der Mannheimer Politologie-Professor Rudolf Wildenmann ermittelte in einer Wählerumfrage in der ersten Hälfte des Jahres 1978, daß annähernd die Hälfte der Befragten die Gründung einer Umweltpartei für das Bundesgebiet begrüßen und mehr als ein Viertel bereit ist, einer solchen Partei die Stimme zu geben. Auf ihre konkrete Wahlabsicht befragt, entschieden sich jedoch 98 Prozent der Befragten für eine der im Bundestag vertretenen Parteien. Dies macht möglich, daß bei entsprechender Aktualisierung eines lokalen, regionalen, nationalen oder internationalen ökologischen Themas eine unbestimmte Zahl von Wählern der Partei ihrer eigentlichen Präferenz einen Denkzettel erteilen kann. Die Protestwahl ist dann keine Entscheidung für Grüne und Bunte, sondern ein Druckmittel gegen die Partei der eigentlichen Präferenz, die auf diese Weise zu einer umweltpolitischen Kurskorrektur gezwungen werden soll.

Im übrigen handelt es sich nicht nur um ein Problem von SPD und FDP. In zunehmendem Maße wird sich auch die CDU damit auseinanderzusetzen haben. Denn das politische Spektrum der Grünen und Bunten reicht von extrem links bis extrem rechts. Als Professor Wildenmann in der erwähnten Umfrage die Einstellungen zu einer Umweltpartei nach der Stärke der kirchlichen Bindung aufschlüsselte, waren immerhin mehr als 43, 7 Prozent der fleißigen Kirchgänger (mehr als ein Kirchgang pro Woche) dabei. Bundesforschungsminister Volker Hauff (SPD) prophezeite der CDU „energiepolitisch unruhige Zeiten" Im Grunde habe die Rechte mit der Energie-politik viel mehr Probleme als sie dies gegenwärtig erkenne. Die Ruhe bei den Christdemokraten sei nur die Ruhe vor dem Sturm. Auf keinen Fall gibt es bei der Union über die Schwierigkeiten von SPD und FDP Grund zur Schadenfreude. In Lüchow-Dannenberg, wo die nukleare Entsorgungsanlage gebaut werden soll, hat die CDU bei den letzten Landtagswahlen 17 Prozent verloren.

Für die SPD und die FDP wird es wohl keinen Parteitag in absehbarer Zukunft mehr geben, bei dem die Energiepolitik nicht die entscheidende Rolle spielt. Einen Vorgeschmack auf den Stil innerparteilicher Auseinandersetzung in der SPD lieferten die Jusos. Als Bundeskanzler Schmidt am 8. Mai 1979 auf der europäischen Nuklearkonferenz in Hamburg erklärte, die Bundesrepublik könne auf die Nutzung keiner Energiequelle, auch nicht auf die Kernenergie, verzichten, nannte es der stellvertretende Juso-Vorsitzende Schulz „unerträglich, daß in der SPD auf der einen Seite eine vernünftige Kernenergiediskussion geführt werde, Schmidt aber andererseits die alte Atompolitik undifferenziert vertrete". Die Kanzlerstellungnahme sei „unverantwortlich, blind und gefährlich". Die Jusos wollen nicht, „daß die SPD als Partei in die Geschichte eingeht, die. mit Atomkanzler Schmidt künftigen Generationen ein Leben in Zivilschutzbunkern garantiert habe".

Das Beispiel zeigt, wohin es führen kann, wenn Parteigenossen ihre strategischen Spielchen so weit treiben, daß sie versuchen, die Protestbewegung zu übertrumpfen. Sie demonstrieren damit freilich nicht ökologisches Engagement, sondern einen bis ins Absurde gesteigerten Opportunismus. Denn wer vermag noch zu glauben, daß in den Parteien eine „vernünftige" Kernenergiediskussion geführt werde? Abgesehen von der bis jetzt noch klaren energiepolitischen Haltung des Bundeskanzlers geben die Parteien Erklärungen ab, die zwar ihre Ängste und ihre Ratlosigkeit reflektieren, aber kaum noch Hinweise darauf enthalten, was sie eigentlich wollen. Die SPD will grundsätzlich gegenwärtig auf die Verwendung von Kernenergie nicht verzichten. Andererseits hält sie einen verstärkten Bau von Kernkraftwerken ebenfalls nicht für vertretbar. Daher soll sowohl die „Option für die Kernenergie offengehalten und die Option, künftig auf Kernenergie verzichten zu können, geöffnet werden."

Die CDU denkt nicht daran, für SPD und FDP die energiepolitischen Kastanien aus dem Feuer zu holen. Ministerpräsident Albrecht hat keinen Zweifel daran gelassen, daß das von der Bundesregierung — in welcher Form auch immer — vertretene Gorleben-Konzept nur auf der Basis eines Einverständnisses zwischen der Bundesregierung, der niedersächsischen Landesregierung und der sozialdemokratischen Opposition akzeptabel ist.

Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Stoltenberg erklärte nach Harrisburg und vor der Landtagswahl, das Kernkraftwerk Brokdorf könne nur gebaut werden, „wenn die Reaktor-Sicherheits-Kommission die Unbedenklichkeit bescheinigt und Bundeskanzler Helmut Schmidt und Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff den Bau von Brokdorf erneut öffentlich fordern" Alle Fragen der Sicherheit von Kernkraftwerken müßten nach Harrisburg neu geprüft werden, bevor überhaupt weitere Entscheidungen möglich seien. Stoltenberg warf der Bundesregierung vor, sie habe zu spät mit der Förderung der nicht-nuklearen Energieforschung begonnen. Damit machte sich zum ersten Mal ein führender Vertreter der CDU Argumente zu eigen, die bisher nur von Kritikern des vom Bonner Allparteien-Konsens getragenen Energie-Konzepts der Bundesregierung aus einer ganz anderen politischen Ecke zu hören waren

Die FDP argumentiert, mindestens bis zu ihrem nächsten Parteitag, ähnlich wie die SPD mit grundsätzlich offenen oder zu öffnenden Optionen. Die „Forderung nach Aufrechterhaltung der Option für Kerntechnologien" stehe dem Gebot „nach Aufrechterhaltung der Option gegen Kerntechnologien gegenüber". Die FDP lehnt deshalb die'„Forderung nach Betriebsstillegungen der bereits operierenden Kernkraftwerke" ebenso ab, wie ein „Konzept, die Kernenergie weiter zu forcieren". Neue Kernkraftwerke dürften nur genehmigt werden, wenn die Endlagerung „sicher beherrschbar" oder längere Zwischenlagerung „sicher und technisch unbedenklich" sei

Bundesinnenminister Gerhard Baum erklärte, der Unfall von Harrisburg habe in die Nähe von Gefahren geführt, gegen die Kernkraftwerke weltweit nicht ausgelegt sind. Baum stellte die Frage, „ob angesichts der Abwägung der Gefahren der Kernenergie mit den Risiken anderer Energieformen die Nutzung der Kernenergie unverzichtbar ist". Nur wenn solche Fragen zugelassen werden, könne es gelingen, den Dialog mit dem Bürger trotz des Unfalls von Harrisburg glaubwürdig fortzusetzen Wenig später erklärte der Regierungssprecher, die Frage des Bundesinnenministers bedeute keine Abweichung vom Energie-Konzept der Bundesregierung. Auf Staatsbesuch in Brasilien, dem Partner des größten Exportgeschäfts der deutschen Nuklearindustrie, bekräftigte Bundeskanzler Schmidt, auch nach Harrisburg sei Atomstrom unverzichtbar. Man sieht, die Oko-Bewegung ist auf eigene Stärke gar nicht angewiesen. Sie kann sich getrost mit den Widersprüchen jener begnügen, die ihre Schwächen offenbaren.

Die Art der Auseinandersetzung um die Kernkraft provoziert die Frage nach den Grenzen des Handlungsspielraums im Parteienwettbewerb. Der Politologe Professor Graf Kielmannsegg stellt die Frage so: „Wie können in einer Wettbewerbsdemokratie konkurrierende Parteien denen, um deren Zustimmung sie konkurrieren, Belastungen zumuten, die signifikant über das bisherige Belastungsniveau hinausführen? Nach aller Erfahrung geschieht das unter zwei Voraussetzungen: 1. Belastende Entscheidungen wer-'den getroffen, wenn durch solche Entscheidungen eine hinreichend große Zahl von Wählern zugleich auch begünstigt wird. 2. Belastende Entscheidungen werden getroffen, wenn sie durch das stetige Wachstum der Realeinkommen für die große Mehrheit der Bevölkerung gewissermaßen kompensiert werden . . . Daß seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in den westlichen Demokratien das Realeinkommen für nahezu jedermann stetig gestiegen ist, hat den Handlungsspielraum der Politik wesentlich konstituiert."

Bei einer Umweltpolitik, bei der also in der Tat ein neues Belastungsniveau zuzumuten wäre, würde diese Bedingung — so Kielmannsegg — vermutlich nicht mehr gegeben sein. Begünstigt wäre, von Ausnahmen abgesehen, niemand unmittelbar, jedenfalls nicht im Sinne eines hier und heute wahrnehmbaren Vorteils, begünstigt wäre die Zukunft. „Wichtiger noch: Es ist unwahrscheinlich, daß ein wirksamer Schutz der Umwelt und kontinuierliches, fortdauerndes Wachstum individueller Einkommen miteinander vereinbar sind. Nur wenn es gelingt, die Barriere des Glaubenssatzes zu durchbrechen, daß das individuell verfügbare Einkommen Jahr für Jahr steigen müsse, wird die Politik genügend Handlungsfreiheit haben, um — vielleicht — die Jahrhundertaufgabe des Umweltschutzes zu lösen."

Kielmannsegg vermutet jedoch, daß die Relationen der Einkommen zueinander viel entschiedener, viel schärfer zur Diskussion gestellt werden als bisher, wenn die Einkommen nicht mehr steigen. Ein Verhältnis von 25 Prozent zu 1 Prozent zwischen Spitzeneinkommen und Durchschnittseinkommen könnte dann in der Tat „unerträglich" werden. Es sei sehr verständlich, daß die Beteiligten sich Verteilungskonflikte dieser Art durch das unbedingte Festhalten an der Wachstumsmaxime zu ersparen wünschen.

Wenn dies so ist — und vieles spricht dafür — dann wäre doch in einer parlamentarischen Demokratie die Mehrheit zu fragen, ob sie denn überhaupt einer wohlhabenden Minderheit die Zumutung eines Verteilungskampfes ersparen will. Andererseits: Wäre dies noch im Sinne sozialer Marktwirtschaft oder schon der Marsch in die egalitäre Erziehungsdiktatur? — Eine der falschen Alternativen, um die sich die Parteien in der Art von Glaubenskämpfern zu streiten pflegen, weil ihnen die Konfliktfähigkeit eines offenen und harten Streits um die konkrete, entscheidungsfähige Sache aus ständiger Angst vor dem Verlust von Wählergunst abhanden gekommen ist.

Dies zeigt sich auf allen wichtigen Feldern, aber nirgendwo so exemplarisch wie in der Energiepolitik. Die Sprache verrät es, wenn nachprüfbare Argumente über den Energiebedarf, Sparmaßnahmen, technische Sicherheit, alternative Techniken und Kosten der öffentlichen Diskussion weitgehend vorenthalten und durch immer neue „Bekenntnisse über die Unverzichtbarkeit" von irgendwas ersetzt werden.

Dabei ist immerhin zum Vorschein gekommen, daß mangelhafte Sachkompetenz und eine Konzeptionslosigkeit, die man zu Unrecht mit Pragmatismus verwechselt, nicht nur in vergleichsweise harmlosen sondern auch in lebenswichtigen politischen Entscheidungen zur Normalität unseres politischen Lebens gehören. Wenn die Folgen solcher Entscheidungen zum Spektakel werden und das Wählerverhalten beeinflussen, beginnen die Parteien darüber nachzudenken, wie die Störung zu beheben sei. In der Regel kommen sie zu dem Ergebnis, daß ihre im Grunde richtige politische Entscheidung nur falsch verkauft worden ist. Sie liefern dann eine neue Interpretation und gehen zur Tagesordnung über. Schlimmstenfalls stellen sie die Sache zurück, weil sie „zur Zeit nicht politisch machbar" ist. So gewinnen viele Bürger den Eindruck, daß von ihrer Teilnahme am politischen Entscheidungsprozeß kaum mehr übrig bleibt als ein Votum über die Verpakkung der schon fertigen Produkte, die sich in ihrer Substanz kaum noch von denen der Konkurrenz unterscheiden.

Nicht unbedingt eine Einladung zu Analogieschlüssen, aber als Exkurs lehrreich ist, was am 4. Dezember 1973 in Dänemark geschah. Die Führer der alten Parteien warteten gelassen und optimistisch auf die Schließung der Wahlurnen. Ihnen war entgangen, daß sich die Wählerbasis des friedlichen dänischen Wohlfahrtstaates in einen Vulkan verwandelt hatte: 40 Prozent der Wähler wech-

6 selten die Partei, 36 Prozent der Stimmen fielen an Parteien, die bisher im Parlament nicht vertreten waren. Glistrups Fortschritts-partei gewann 28 von 179 Sitzen (16 Prozent). Die Steuerverweigerer-Gruppierung wurde zur zweitstärksten Wählerpartei des Landes. Man muß diesen Erdrutsch sehen gegen einen Hintergrund lang währender parteipolitischer Stabilität. Von 1920 bis 1968 gab es nur vier wichtige Parteien in Dänemark: die Sozialdemokraten, die Radikale Partei, die Liberale Partei und die Konservative Partei. Sie verfügten zusammen über 90 Prozent der Stimmen. Bis 1968 formierten sich die großen Parteien in zwei Blöcken: Sozialdemokraten und Radikale Partei sowie Liberale und Konservative. Sehr wenige Wähler, die sich für die eine oder andere Seite entschieden hatten, änderten ihr Stimmverhalten. Die Parteien konnten sich auf ihre Wähler verlassen, die Wähler auf ihre Parteien. Im Jahre 1966 verloren Sozialdemokraten und Radikale Partei ihre Majorität. Die Sozialdemokraten bemühten sich jetzt um die parlamentarische Unterstützung der Sozialistischen Volkspartei, einer Gruppierung, die aus der Kommunistischen Partei hervorgegangen war und elf Sitze gewinnen konnte. Obwohl sich an der Regierung unter der Führung von Jens Otto Krag nichts änderte, sprach die Öffentlichkeit von einer „roten"

Koalition. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Sozialdemokraten nie den Verdacht aufkommen lassen, sie würden die Kommunisten auch nur zur Kenntnis nehmen. 1968 verloren die Sozialdemokraten zum zweiten Mal die Parlamentswahlen, während ihr traditioneller Bündnispartner, die Radikale Partei, die Sitze seiner Partei im Parlament verdoppeln konnte. Es kam nun zu einer Koalitionsregierung der Radikalen Partei mit den Liberalen und den Konservativen. Radikale und Konservative Partei waren jedoch bis zu dieser Regierungsbildung „Erzfeinde" gewesen — was sie nicht hinderte, nun gemeinsam gegen die Sozialdemokraten zu regieren, die ihrerseits von einer unheiligen Allianz sprachen. Was dann geschah, führt uns direkt zu den Ursachen des Erdrutsches vom 4. Dezember 1973:

Die Liberal-Konservativ-Radikale Alternative zum „roten" Kabinett, so merkten die Wähler bald, war gar keine. Bei der Erhöhung der Einkommensteuer zeigte diese Regierung weniger Hemmungen als alle ihre Vorgänger.

Der konservative Justizminister machte sich verdient um die Freigabe der Pornographie und die Straffreiheit der Abtreibung. Der konservative Verteidigungsminister kürzte das Verteidigungsbudget. Die Universitäten erhielten eine fortschrittliche Verfassung, die den Studenten weitgehende Mitbestimmungsrechte einräumte und den marxistischen Einfluß an einigen Universitäten erheblich stärkte. Alles in allem: die Mehrheit der Wähler hatte eine alternative Regierung zur „roten"

Koalition erwartet. Geändert hatte sich aber nicht die Politik sondern nur ihre Verpak-

kung. Dann kam der 4. Dezember 1973, ein Tag des Zorns und der Abrechnung. Fast die Hälfte der Wähler ging zur Protestbewegung nicht-etablierter Parteien über. Und als sich die Etablierten auf die bequemen eingesessenen Stühle setzen wollten, da hatte man sie ihnen schon weggezogen. So landeten sie hart am Boden der von ihnen vergessenen Realität. Noch kein Grund zu Analogieschlüssen, doch ein Lehrstück aus einem Musterland der Demokratie. Dies kann etablierten Parteien passieren, wenn allzu lange der Eindruck entsteht: Alles ist austauschbar und nichts ändert sich.

In der Bundesrepublik steht die verbale Polarisierung der Parteien in einem grotesken Gegensatz zu der Tatsache, daß sie einander in ihren nachprüfbaren Sachentscheidungen immer ähnlicher werden. Ja, es scheint, je mehr die von Bonn kaum beeinflußbaren weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die Orientierung auf die Wählermitte — ohne die in der Bundesrepublik niemand regieren kann — den Handlungsspielraum einschränken, desto stärker der Hang, sich zum Gegenteil dessen zu „bekennen", was der parteipolitische Konkurrent angeblich zu tun beabsichtigt. Dabei brauchten sich die Volksparteien ihres engen Handlungsspielraums und ihrer begrenzten Möglichkeiten im komplizierten pluralistischen Interessenausgleich wahrlich nicht zu schämen.

Vorzuwerfen ist ihnen, daß sie den tatsächlich vorhandenen Spielraum des noch alternativ Entscheidungsfähigen kaum zu diskutieren wünschen, weil ihnen die Verwaltung des Status quo und die Rechtfertigung anpassender Veränderungen durch Sachzwänge sicherer erscheint als das Wagnis einer in die Zukunft gerichteten politischen Entscheidung. Dies zeigt sich exemplarisch in der Energie-politik. Die fehlende Sachdiskussion über Prioritäten wird ersetzt durch die Beschwörung dessen, was unmöglich eintreten darf: Ausgehen der Lichter, Atomstaat, Massenarbeitslosigkeit. Das Aufkommen der Protestbewegung signalisiert noch keine Staatsverdrossenheit, aber eine zunehmende Selbstisolierung der Politiker vor allem gegenüber der jungen Generation. Die Parteien müssen lernen, daß Bürgerinitiativen und Protestlisten nur dort erfolgreich sein können, wo die Fähigkeit der Politiker zur Kommunikation mit dem Wähler verkümmert ist. Politiker müssen die einfache Wahrheit annehmen, daß die Bürger, die sie vertreten wollen, nicht dümmer sind als sie selbst. Sie müssen lernen, daß es keine Schwäche bedeutet, Grenzen ihrer Entscheidungsmöglichkeiten, Unwissenheit und Fehler einzugestehen. Sie sind die Partner und nicht die Vorbeter der Bürger. Sie müssen vor allem lernen, zuzuhören.

H. E. Richter berichtet in seinem Buch „Engagierte Analysen" über Experimente, in Wahlversammlungen einen Dialog zwischen Politikern und Bürgern „von gleich zu gleich" zu praktizieren „. . . Die Bürger selbst, das ist der übereinstimmende Eindruck der meisten Beobachter, sind überall in diesem Rahmen fähig, untereinander und mit den Politikern offen, besinnlich und in bemerkenswerter Sensibilität über die Probleme des Ge-meinwesens zu sprechen. Sie benehmen sich in großer Mehrheit wirklich wie reife Partner. Die Politiker könnten sich freuen und entlastet fühlen, so viel Bereitschaft zu mündigem und sozial verantwortlichem Mitdenken vorzufinden. Aber paradoxerweise enthüllt sich bei dieser Gruppenarbeit, daß die einbezogenen Funktionäre vielfach nicht mithalten können. Nicht die Bürger, sondern sie selbst haben die größten Schwierigkeiten, sich partnerschaftlich einzubringen und mit den Menschen auf gleicher Augenhöhe offen und ehrlich zu reden. Ihre Befürchtung, die Bürger würden es nicht schaffen, ohne den stützenden Rahmen einer Frontalveranstaltung eine ertragreiche Diskussion zu führen, erweist sich im nachhinein als ihr eigenes Problem: Sie fühlen sich selber nur sicher, wenn sie auf einem Podium thronen und den Prozeß von oben steuern können. Sie möchten bestimmen, über was und wie geredet wird. Und vor allem möchten sie selbst reden . . . Lange zuhören zu müssen, erscheint ihnen gleichbedeutend mit in die Enge getrieben, schwach gemacht zu werden . . . Auch im sprachlichen Verhalten demonstrieren die Funktionäre oft, daß sie es viel schwerer als die Bürger haben, die Probleme direkt und unverhüllt anzusprechen. Immer wieder findet man Abgeordnete, Ortsvereinsvorsitzende oder Behördenchefs, die sich durchgängig eines Jargons bedienen, der die Probleme eher vernebelt als deutlich macht . . . Mit den Sprachstilen des Verwaltungschinesisch und der vergröbernden Agitationsformeln vermögen sich die Politprofis die Bürger vom Leibe zu halten und den . . . offenen Dialog zu vermeiden, der eigentlich die demokratische Kooperation bestimmen sollte." • Allerdings hat Richter auch Ausnahmen unter den Politikern getroffen, die sich darüber freuten, wenn sich ein Plenum von mehreren hundert Leuten lebhaft und unverblümt mit ihnen auseinandersetzte: „Sie demonstrieren dann ein Format, das bei dem klassischen Typ der Informations-oder Werbeveranstaltung gar nicht zur Geltung kommen würde.

Erst wenn das Plenum sie nach dem Ermutigungsprozeß durch die Gruppenarbeit dazu zwingt, ganz Farbe zu bekennen und deutlich zu machen, ob sie auch als Mensch hinter ihren politischen Prinzipien stehen, können sie die eindeutige Identität und Glaubwürdigkeit bekunden, die kritische Beobachter mehr überzeugt als alle noch so brillanten Sprüche.

Solche Funktionäre hören auch gern und genau zu, und sie können sich angreifen lassen, ohne ihre Kritiker automatisch demütigen zu müssen . .

Aber leider traf Richter solche Funktionäre selten. Auch sind die Ansätze, dialogisches Verhalten zu praktizieren, vorwiegend auf Wahlzeiten und auf die lokale Ebene beschränkt geblieben. Dennoch sind die Beispiele wichtig genug, um hier ausführlich zitiert zu werden.

Eine repräsentative Demokratie, in der die Entscheidungsprozesse selbst für die Parlamentarier immer undurchschaubarer werden, ist auf die Dauer nicht lebensfähig. Die Existenzbedingung der Demokratie ist die Partizipation der Bürger. Die Möglichkeit zu Partizipation ist in der modernen Industriegesellschaft nur in einer beständigen maximalen Anstrengung zu vorbehaltloser Kommunikation offen zu halten. Nur so bewahrt die Demokratie eine Konfliktfähigkeit, die auch unter starkem Belastungsdruck standhalten kann. In dem Maße, in dem Kommunikation durch Manipulation ersetzt wird, wächst die Gefahr der Despotie. Protestbewegungen können eine Erosion der Demokratie verdeutlichen, sie können sie aber nicht verhindern. Eher nutzt man sie als Vorwand, um jene Ordnung zu schaffen, die Bürger-Partizipation überflüssig macht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Arbeiterkampf Nr. 102, Beilage S. 1.

  2. Schrift der KPD - Rote Hilfe „Kein Atomkraftwerk in Brokdorf", 19. Februar 1977.

  3. Datenquelle: Wählererhebung 1978 für die Zeitschrift Capital von Prof. Dr. Rudolf Wildenmann, Universität Mannheim.

  4. Kölner Stadtanzeiger, Nr. 107.

  5. Die Welt, Nr. 85, 10. April 1979.

  6. In diesem Jahr stehen im Bundeshaushalt 679 Millionen für nicht-nukleare Energieforschung zur Verfügung. 1969 waren für diesen Zweck erstmalig 15, 8 Millionen DM bewilligt worden. Im Jahre 1973 wurde dieser Titel auf 110 Millionen DM erhöht. Erst 1979 macht die im Bundeshaushalt für nicht-nukleare Energieforschung verfügbare Summe gut die Hälfte der Mittel aus, die in diesem Jahre aus Bundesmitteln in die nukleare Energieforschung fließen — aber 1973 waren es erst zwei Prozent. Bundesforschungsminister Hauff gibt zu, daß man jahrelang die Atomindustrie bevorzugt habe. Inzwischen stimme der Vorwurf aber nicht mehr: „ 1972 haben wir (im Verhältnis) 80 Mark für nukleare Forschung ausgegeben und eine Mark für nicht-nukleare Projekte. 1979 beläuft sich das Verhältnis auf 1, 7 zu 1. Und wenn man die Einführungshilfen . abzieht und die reinen Forschungsaufwendungen betrachtet, dann geben wir heute mehr Geld für nicht-nukleare Forschung aus." (Kölner Stadtanzeiger, Nr. 107, 9. Mai 1979).

  7. Der Spiegel, Nr. 13, 26. März 1979, S. 34.

  8. Frankfurter Rundschau, Nr. 82, 6. April 1979.

  9. Die Welt, Nr. 83, 7. April 1979.

  10. H. E. Richter, Engagierte Analysen, Hamburg 1978.

Weitere Inhalte

Harry Tallert, Journalist, geb. 1927 in Beuthen (Oberschlesien); Mitglied der Bremischen Bürgerschaft (Landtag) von 1955— 1965; 1953— 1965 Redakteur der Bremer Bürger-Zeitung; 1965— 1972 Mitglied des Deutschen Bundestages; 1974— 1975 bei den Vereinten Nationen in Genf: Einführung eines deutschsprachigen Informationsprogramms über Nord-Süd-Fragen.