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Exodus aus Vietnam | APuZ 36/1979 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 36/1979 Moses Mendelssohn. Gedanken zu Toleranz und Emanzipation Menschenrechte in der Deutung evangelischer Theologie Die Massenflucht aus Vietnam. Zum historischen Hintergrund Exodus aus Vietnam

Exodus aus Vietnam

Jürgen Dauth

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In den Lagern von Südostasien befinden sich zur Zeit mehr als 300 000 Indochinaflüchtlinge. Während die rund 200 000 Flüchtlinge in Thailand überwiegend aus Laos und Kambodscha stammen, beherbergt Malaysia rund 76 000 Vietnamflüchtlinge chinesischer Abstammung; weitere 35 000 befinden sich in indonesischen Lagern, etwa 80 000 in Hongkong und knapp 7 000 auf den Philippinen. Trotz verstärkter Umsiedlungsbemühungen vor allem der USA, Kanadas, Frankreichs und Australiens übersteigt seit Monaten die Anlandequote die Umsiedlungsquote. Der Exodus aus Indochina verlief in drei Wellen; erst die dritte Welle lenkte das Auge der Weltöffentlichkeit auf das sich anbahnende Drama. Es begann mit dem Frachter Hai Hong, der mit 2 600 Sino-Vietnamesen an Bord vor der malaysischen Westküste anlief. Sorgfältige Untersuchungen — auch auf anderen Frachtern mit Flüchtlingen — bestätigten den Verdacht, daß hinter der dritten Fluchtwelle ein Syndikat steht, das von Hongkong und Singapur aus operiert und mit Unterstützung Hanois ein Millionengeschäft mit dem Elend der Flüchtlinge macht. In den ASEAN-Staaten ist man der Ansicht, daß die dritte Fluchtwelle gezielt inszeniert wurde, um das politische und rassische Gleichgewicht in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zu stören. Thailand und Malaysia haben inzwischen ihre Grenzen für Neuankömmlinge geschlossen. Anlandungen sind nunmehr nur noch in Hongkong, begrenzt in Indonesien und auf den Philippinen möglich. Die ASEAN droht damit, die Flüchtlinge zurück aufs Meer zu schicken, sollte der freie Westen nicht umgehend seine Aufnahme-quoten erhöhen und die Ausleseprozedur beschleunigen. Die Verhältnisse in den Flüchtlingslagern, vor allem auf der malaysischen Insel Pulau Bidong, sind katastrophal. Obwohl es vordringlich ist, zunächst umgehend die humanitären Aspekte des Flüchtlingsproblems zu bewältigen, dürfen die politischen Aspekte nicht außer acht gelassen werden. Vor allem Singapur ist der Meinung — und gibt das offen bekannt —, daß Hanoi mit der Flüchtlingswelle eine aggressive Politik betreibe, die den politischen Frieden und die Einheit der ASEAN unterminieren soll.

Das Menetekel war bereits seit Monaten für jeden sichtbar an die Wand geschrieben. Die freien Länder Südostasiens drohten in einer nicht enden wollenden Flüchtlingswelle zu ertrinken, die Geduld der Politiker, Flüchtlingen aus Vietnam erstes Asyl zu gewähren, war erschöpft. Vier Jahre nach Beendigung des Vietnamkrieges (April 1975) begann sich eine Woge menschlichen Elends zu formieren, die in den kommenden Monaten vor allem Thailand, Malaysia, Honkong und Indonesien zu überrollen drohte, deren Flüchtlingslager inzwischen bereits zum Bersten mit mehr als 300 000 Indochina-Flüchtlingen angefüllt sind. Flüchtlingssachbearbeiter westlicher Botschaften in Südostasien und der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen sahen in der derzeitigen Flüchtlingstragödie erst die Spitze eines Eisberges und prophezeiten einen gigantischen Exodus von weiteren 500 000 bis einer Million Menschen allein aus Vietnam. Während sich die Weltöffentlichkeit, vor allem der freie Westen, verschämt Scheuklappen anlegte, die das unvorstellbare menschliche Elend in den Auffanglagern Südostasiens aus ihrem unmittelbaren Sichtkreis fernhielten, entschlossen sich die fünf ASEAN-Staaten zu einer drastischen Kursänderung ihrer Flüchtlingspolitik. Erst jetzt begann das vielbemühte Weltgewissen, das sich in 30 Kriegsjahren auf indochinesischem Boden an das Flüchtlingsdrama gewöhnt hat, aufzuwachen. Vier Jahre nach dem Fall von Saigon begriff der freie Westen endlich, daß das Problem der Indochinaflüchtlinge nicht länger eines der unmittelbar involvierten Mächte — nämlich Frankreich und der USA — war, sondern sich auf die Ebene internationaler Verantwortung ausgeweitet hatte. Die internationale Flüchtlingskonferenz von Genf (20. — 22. Juli 1979) brachte die längst überfällige Wende: eine finanzielle Verpflichtung des Westens in Höhe von 190 Millionen US-Dollar und die Zusage, in den nächsten Monaten 260 000 Indochinaflüchtlinge aus den Lagern Südostasiens in westlichen Ländern anzusiedeln. Der freie Westen folgte damit nicht nur seinen humanitären Prinzipien, die sich bislang mehr oder weniger in verbalen Plädoyers erschöpften, sondern befreite auch die Region Südostasien von einem politisch brisanten Druck, der nicht nur die Polarisierung zwischen dem freien Südostasien und dem kommunistischen Indochina zu verschärfen drohte, sondern bereits einen Keil in die ASEAN-Solidarität zu treiben begann la).

Dieser Beitrag will eine politische Analyse seiner Ursachen und Folgen versuchen, die in der westlichen Welt — bewußt oder unbewußt — mißachtet werden. Der Autor wird sich dabei im wesentlichen auf die Lage in Malaysia konzentrieren, die für die übrigen ASEAN-Länder symptomatisch ist. Darüber hinaus hat Malaysia bisher den überwiegend größten Teil der Fluchtwelle aus Vietnam tragen müssen

Die erste Stunde der Boat People

Die Indochinaflüchtlinge sind nicht erst ein Phänomen des Nachkriegsvietnam. In den Wirren des 30jährigen Indochina-Krieges, vor allem aber während des amerikanischen Engagements in Vietnam, waren Tausende aus den Kriegsgebieten sowohl nach Thailand als auch nach Südvietnam geflohen. Mehr als 300 000 Indochinaflüchtlinge waren bereits vor dem Fall von Saigon in den USA oder in Frankreich angesiedelt.

Nach dem 30. April 1975, dem Rückzug der amerikanischen Streitkräfte aus Vietnam, blieb den Fluchtwilligen nur noch der Weg über die südchinesische See. Ende 1975 hatten 77 Vietnamesen in Malaysia um vorläufiges Asyl nachgesucht: die ersten Boat People, die ihr Leben in zerbrechlichen Fischer-kähnen riskierten. Die malaysische Ostküste, nur 320 Seemeilen vom Südvietnam entfernt, hatte sich ihnen als nächstgelegenes und zudem von der Strömung begünstigtes Flucht-ziel angeboten. Im gleichen Jahr gewährte Malaysia 1 500 kambodschanischen Muslims permanentes Asyl, da sie leicht in die islamische Gesellschaft des Landes einzugliedern seien. Für die nunmehr verstärkt anlandenden Vietnamflüchtlinge verstand sich Malaysia lediglich als , port of first call’ und verlangte unmißverständlich die Umsiedlung der Flüchtlinge in Drittländer. Obwohl die USA, Frankreich und Kanada sowie Australien spontan mit Aufnahmequoten antworteten, überstiegen Ende 1977 die Anlandequoten bereits die Umsiedlungsquoten. Allein in malaysischen Lagern befanden sich 4 000 Vietnamflüchtlinge, ausnahmslos ethnische Viets und überwiegend ehem 000 Vietnamflüchtlinge, ausnahmslos ethnische Viets und überwiegend ehemalige Beamte der südvietnamesischen Regierung oder ehemalige Beschäftigte der amerikanischen Streitkräfte. Die amerikanische Botschaft in Bangkok prophezeite im Sommer 1976, daß sich die Anlandequote der Boat People aus Vietnam nunmehr auf durchschnittlich 500 pro Monat einpendeln werde, die sich über die gesamte Region des westlichen Südostasien verteilen würden 3). Was immer die amerikanischen Diplomaten zu dieser Hoffnung verleitet haben mag — mit der Wirklichkeit hatte es herzlich wenig zu tun. Im Oktober 1977 legten allein an Thailands Küsten 800 Boat People an. Ende des Jahres war die Zahl der Indochinaflüchtlinge in thailändischen Lagern auf 145 000 angeschwollen, die meisten von ihnen aus Laos und Kambodscha. Im gleichen Zeitraum fanden nur 48 000 Indochinaflüchtlinge eine neue Heimat in Drittländern.

Sieht man einmal davon ab, daß die von der freien Welt angebotenen Aufnahmequoten ohnehin weit hinter den Lagerzahlen zurückblieben, so sorgten auch neue Auswahlkriterien für eine Verzögerung bei der Umsiedlung. Wurden die ersten Vietnamflüchtlinge noch ohne Umstände große aufgenommen, so wurde bald nach beruflichen Prioritäten selektiert, kurzum nach Nützlichkeit. Thailand schloß angesichts dieser Entwicklung seine Grenzen für vietnamesische Boat People; die-, se steuerten nunmehr ausnahmslos die malaysische Ostküste an, soweit sie nicht bereits vorher vom Kurs abgekommen und an indonesischen Küsten angelandet waren. Djakarta unterhielt Ende 1977 sechs Flüchtlingslager, überwiegend im Rhiau-Archipel, unweit von Singapur. Obwohl Indonesien im Oktober 1977 ein Boot mit 78 Vietnamflüchtlingen abgewiesen hatte, was Beobachter eher als symbolische Warnung denn als Kurswende verstanden, sprach sich das Land der 13 000 Inseln bei potentiellen Bootsflüchtlingen in Vietnam als sicherer Hafen herum. Doch bis Ende 1977 hatten nur 480 Vietnamesen und Kambodschaner von der Gastfreundschaft Indonesiens Gebrauch gemacht, an der sich bis zum heutigen Tage — trotz einiger anderslautender Ansichten — nichts geändert hat.

Singapur schloß von allen Ländern der Region am frühesten seine Grenzen für Vietnam-flüchtlinge. Kurz nach dem Fall von Saigon bot die selbst übervölkerte Inselrepublik 200 Sino-Vietnamesen dauerndes Asyl an; eine Armada von 7 500 Boat People, die einen Monat später anzulanden versuchte, wurde mit Lebensmitteln, Treibstoff und Medikamenten versorgt und dann zurück aufs Meer gezogen. Bis zum heutigen Tage dürfen Indochinaflüchtlinge nur dann Singapurer Boden betreten, wenn sich zuvor ein Drittland bereit erklärt hat, sie aufzunehmen. „Es ist unmöglich, gleichgültig zu sein, wenn man mit dieser menschlichen Tragödie konfrontiert wird. Aber man läßt sich entweder Hornhaut auf dem Herzen wachsen oder man blutet sich zu Tode“, meinte der Premier Singapurs, Lee Kuan Yew, zu seiner strikten Flüchtlingspolitik 4).

Die 7 500 Flüchtlinge, die im Mai von Singapur abgewiesen worden waren, fanden Aufnahme auf den Philippinen und wurden später nach den USA verschifft. Doch von den 1 850 direkt angelandeten vietnamesischen Boat People waren bis Ende 1977 nur 800 nach den USA, Kanada und Frankreich umgesiedelt worden.

Nachdem sich Thailands Tore geschlossen hatten, wurde Honkong für mehr als 1 000 zur Zwischenstatipn in Vietnamflüchtlinge die Freiheit; weitere 1 000 schafften es in ihren Booten unmittelbar bis zur australischen Nordküste. Bis Ende 1977 hatte Australien knapp 4 000 Indochinaflüchtlingen dauerndes Australische Asyl gewährt. Gewerkschaften versuchten jedoch, weitere Aufnahmequoten zu unterbinden; gleichzeitig lief Amerikas Immigrationsquote für 7 000 Boat People und 12 000 weitere Flüchtlinge aus Indochina aus.

Sieht man einmal ab von Singapur und Thailand (das übrigens weiter Flüchtlinge aus dem benachbarten Laos und Kambodscha aufnahm), so bot sich Ende 1977 allen Betroffenen ein hoffnungsfreudiges Bild. Die Boat People konnten weiter in Malaysia, Indonesien, Hongkong und auf den Philippinen anlanden, wo das Flüchtlingsproblem in den eige3) nen Gazetten bewußt heruntergespielt wurde, um soziale Unzufriedenheit im eigenen Lande zu unterbinden. Die Flüchtlinge wurden von dem Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen unterhalten; obwohl generell unerwünscht, stellten sie in ihrer Zahl keine Bedrohung für die Sicherheit und das soziale Gefüge der Auffangländer dar. Zwar murrten die Armen dieser Länder, daß jene gefüttert würden, ohne etwas tun zu müssen, doch das Verständnis für den Freiheitsdrang der Flüchtlinge überwog. Die potentiellen Drittländer nährten die Hoffnung, daß der Exodus aus Indochina seinen Höhepunkt erreicht habe und daß sich vor allem Vietnam innenpolitisch stabilisieren werde. Sowohl die Auffangländer als auch die Drittländer — vor allem die USA, Frankreich, Kanada und Australien — waren sich darüber hinaus ihrer Mitverantwortung am Indochina-Desaster bewußt. Wenn es schon nicht gelungen war, Indochina insgesamt demokratische Freiheit und Frieden zu bescheren, so wollte man wenigstens dem einzelnen zu persönlicher Freiheit und Frieden verhelfen. Rückblickend weiß man heute nur zu gut, daß man sich in falschen Hoffnungen wiegte. Die Zukunft brachte Schlimmeres.

Der Beginn des Völkermordes

Die erste Flüchtlingswelle aus Indochina verebbte gegen Ende des Jahres 1977. Sie wurde von den Ländern Südostasiens als etwas Unausweichliches betrachtet, als die Folge eines Krieges gegen den kommunistischen Hegemonismus, der auch in ihrem eigenen Interesse geführt worden war. Die Flüchtlinge wurden als natürliche Opfer eines unmenschlichen Regimes betrachtet, die in die Definition der Flüchtlings-Charta der Vereinten Nationen paßten. Soweit sie aus Vietnam kämen, waren sie ethnische Viets, überwiegend Süd-vietnamesen, die mit der gefallenen Saigoner Regierung oder den kriegführenden Westmächten verbunden waren.

Die zweite Flüchtlingswelle wurde im März 1978 von Hanoi selbst ausgelöst. Drei Jahre nach der Machtübernahme Hanois in Saigon ging die vietnamesische Obrigkeit gegen Cholon, das Chinatown der ehemaligen südvietnamesischen Hauptstadt, vor. Die Chinesen Saigons, seit vielen Generationen in die Gesellschaft Südvietnams integriert, wurden über Nacht von sozialistischer Planwirtschaft überrollt. Ihr Besitz wurde beschlagnahmt, ihre Betriebe wurden geschlossen. Als nunmehr nutzlose Städter drohte ihnen die Zwangsumsiedlung in die neuen Wirtschaftszonen Rund 1, 2 Millionen Sino-Vietnamesen wurden über Nacht zu potentiellen Flüchtlingen. Die Sino-Vietnamesen stellten nunmehr etwa 80 Prozent der Boat People, die an den Küsten Südostasiens anlandeten. Zunächst waren es vereinzelt kleinere Boote. Doch bereits im Juli 1978 wurde eine Armada von Schiffen mit 6 197 Vietnamflüchtlingen angeschwemmt, 4 092 allein an der malaysischen der Ostküste, Rest verteilte auf Hongkong sich (837), Indonesien (206), die Philippinen (169), Singapur (459), Thailand (70), Macao (203) und Japan (161). Von insgesamt 17 576 angelandeten Flüchtlingen im dritten Quartal von 1978 fanden 9 959 in Malaysia Aufnahme, im November waren es bereits 18 169 allein in Malaysia. Wurden die ersten Boat People der zweiten Flüchtlingswelle noch mit Wohlwollen begrüßt, so begegneten die malaysischen Küstenbewohner der Invasion im dritten Quartal zunehmend feindlicher. In der Sultansstadt Trengganu wurde ein Polizeioffizier durch Steinwürfe verletzt, als er die Rettung eines sinkenden Bootes beaufsichtigte. In einem anderen Fall ertranken 151 Insassen eines Flüchtlingsbootes mit 250 Vietnamesen, als es von der Bevölkerung aufs Meer zurück gezogen wurde und an einer Sandbank kenterte.

Wiederholt beschwor der malaysische Innenminister Tan Sri Ghazali Shafie seine Landsleute, ihre „humanitären und moralischen Sinne zu bewahren". Wenn Malaysia verhindern wolle, daß sich die Ostküste vom Blut der Flüchtlinge rot färbe, rot vom Blut von Menschen, die mit dem Parang (Buschmesser) hingeschlachtet wurden, müsse es seine Gefühle unter Kontrolle halten. Doch konservative nationalistische Politiker, vor allem Vertreter der in Kelantan und Trengganu starken PAS, der Parti Islam, setzten alles daran, die einmal geschürten feindlichen Gefühle der Bevölkerung am Kochen zu halten, um sie gegen die Zentralregierung in Kuala Lumpur politisch auszuschlachten. Ein Abgeordneter der Länderregierung von Trengganu forderte allen Ernstes, daß die Regierung die malaysischen Hoheitsgewässer verminen sollte, um weitere Anlandungen zu unterbinden. Doch selbst als die malaysischen Flüchtlingslager mit nunmehr 50 000 Vietnamflüchtlingen aus den Nähten platzten, meinte der stellvertretende Premierminister Dato Seri Dr. Mahathir Mohamed noch, daß Malaysia keinen Krieg gegen die Flüchtlinge führen oder gar auf sie schießen werde. Und Premiermini-ster Datuk Hussein Onn vertrat die Ansicht, daß Malaysia keine weiteren Flüchtlinge mehr aufnehmen könne, es jedoch aus humanitären Gründen tun müsse.

Dennoch deutete sich ein Wandel in der offiziellen Regierungsmeinung an. Im November 1978 änderte Malaysia im offiziellen Sprachgebrauch den Terminus. Die Vietnamflüchtlinge wurden nicht mehr als Flüchtlinge bezeichnet, sondern als illegale Einwanderer. Sehr richtig bewerteten Beobachter diesen Wandel als einen ersten Schritt zur Einleitung einer harten Haltung gegenüber Neuankömmlingen. Als illegale Einwanderer unterlagen die Boat People nicht länger den Konventionen der Vereinten Nationen, sondern konnten gegebenenfalls — nach Versorgung mit dem Lebensnotwendigsten — zurück aufs Meer geschickt werden.

Die Dritte Flüchtlingswelle

Von diesem Recht machte Malaysia schließlich Ende November Gebrauch. Die dritte Flüchtlingswelle rollte in der Gestalt des Frachters Hai Hong mit 2 504 überwiegend chinesischen Vietnamesen an der Westküste nahe Port Klang an. Die Geduld Malaysias war damit erschöpft. Die Regierung übte harte Kritik an der freien westlichen Welt, die ihre humanitären Ideale lediglich auf der Zunge trage, jedoch die Hände in den Schoß lege, wenn es zum Handeln käme. Seit Monaten bereits übertraf die Anlandungsquote die der Umsiedlung in Drittländer nahezu um das Doppelte. Keiner der Hai-Hong-Flüchtlinge durfte malaysischen Boden betreten, es sei denn, auf dem Weg in ein Drittland. Obwohl vor allem die USA, Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland spontan Sonderquoten einrichteten, dauerte es mehr als ein halbes Jahr, bis der letzte Flüchtling die Hai Hong verlassen durfte.

Die Hai Hong hatte nicht nur vorübergehend die Weltöffentlichkeit wachgerüttelt und ihre Aufmerksamkeit auf das wahre Ausmaß dieser menschlichen Tragödie gelenkt, sondern in Malaysia eine neue Flüchtlingspolitik eingeleitet. Neuankömmlinge wurden nunmehr — soweit ihre Boote das zuließen — von Malaysias Küste abgewiesen. Die Flüchtlinge gingen nun dazu über, ihre Boote in Sichtweite der Küste selbst zu zerstören. Als die malaysische Marine und eine im Dezember gebildete Task Force aus Polizei, Heer und Marine im März 1979 ein Boot mit 250 Flüchtlingen aus den Hoheitsgewässern schleppte und kentern ließ, kam es zum ersten offenen Konflikt zwischen der malaysischen Regierung und dem Vertreter des UNHCR, Rajagopalam Sampatkumar, der unumwunden von Mord sprach. Nunmehr warnte Dato Seri Dr. Mahathir: „Wir waren nett Und human, doch was kriegen wir dafür? Nichts! Warum sollen wir uns überhaupt noch bemühen?" Malaysia sei in einer verzweifelten Lage. Innenminister Ghazali Shafie sprach von dem „menschlichen Müll", den Vietnam über Südostasien verstreue.

Das Geschäft mit der menschlichen Not

Der Hai Hong folgte der Frachter Hai Fong, dann die Skyluck, die Tung An und die Huey Fong, jedes Schiff mit mehr als 2 500 Vietnamflüchtlingen beladen. Es verdichteten sich frühere Verdachtsmomente, daß hier gewissenlose Fluchthelfer ein lukratives Geschäft mit den verzweifelten Menschen betrieben. In Malaysia, Hongkong und Manila wurden die Kapitäne der meist unter panamesischer Flagge segelnden Flüchtlingsfrachter vor Gericht gestellt. Die Vernehmung der Besatzung und der Flüchtlinge erbrachte den Beweis, daß eine organisierte Bande von Singapur und Hongkong aus Millionen an den Flüchtlingen verdiente, indem sie schrottreife Frachter aufkaufte, um Flüchtlinge vor Vietnams Küste aufzunehmen.

Bald gab es auch keine Zweifel mehr, daß dieser Menschenhandel mit Wissen der vietnamesischen Regierung vonstatten ging. Die Huey Fong und die Tung An nahmen ihre menschliche Ladung im Mekong Delta auf, unweit von Ho Chi Minh City (früher Saigon). Je nach Alter, Geschlecht und Nützlichkeit mußten die Fluchtwilligen bis zu 10 Taels (ca. 2 670 US-Dollar) in reinem Gold entrichten, das zwischen der Regierung in Hanoi und der Fluchtorganisation geteilt wurde. Die Recherchen westlicher Botschaften ergaben, daß Hanoi an diesem Menschenhandel etwa 2, 5 Milliarden US-Dollar verdient hat — mehr als bei der Besetzung von Cholon und der Beschlagnahmung des chinesischen Besitzes in Saigon.

To „shoo“ or to „shoot“?

Inzwischen sah sich Malaysia mit einer Bürde von 72 000 Boat People belastet. Nicht einmal annähernd war abzusehen, wann und ob überhaupt diese Flüchtlinge in Drittländer übersiedeln würden. Die malaysische Regierung mußte zu Recht annehmen, daß sie auf • viele Jahre mit diesem menschlichen Elend konfrontiert sein werde. Am 14. Juni 1979 begann denn Malaysia mit einer wohlüberlegten Schocktherapie. Der stellvertretende Premierminister Dato Seri Dr. Mahathir verkündete, daß Malaysia nunmehr seine Grenzen abriegeln werde, daß alle auf malaysischem Boden sich befindenden Vietnamflüchtlinge wieder verschifft und zurück aufs Meer gezogen würden und daß aufNeuankömmlinge geschossen werde. Diese Schocktherapie verfehlte ihre Wirkung nicht. In wenigen Stunden lief sie in fetten Schlagzeilen rund um die Welt, erweckte Bestürzung und setzte eine Welle von internationalen Aktivitäten in Gang, die schließlich in der Genfer Flüchtlingskonferenz vom Juli dieses Jahres gipfelten.

Premierminister Datuk Hussein Onn klärte in Beantwortung eines Fernschreibens des UN-Flüchtlingshochkommssars Poul Härtling drei Tage später ein sogenanntes Mißverständnis auf. Durch seinen Innenminister Ghazali Shafie ließ er „richtigstellen", daß Mahathir niemals gesagt habe, „Malaysia would shoot them“, sondern „would shoo them away". Natürlich habe die böse Auslandspresse das bösartige „t" angehängt. Doch für die Mahathir-Rede gab es zu viele Zeugen, und Bernama, die nationale Nachrichtenagentür, veröffentlichte als erste die der war Meldung. Aber rhetorische Seiltanz Teil eines wohlüberlegten Planes, und Hussein Onn konnte in seiner Klarstellung der Weltöffentlichkeit Malaysias Bedingungen diktieren. Malaysia werde die 72 000 Flüchtlinge noch eine angemessene Zeit beherbergen, um Drittländern die Möglichkeit zu geben, ihre Umsiedlungen zu beschleunigen. Bis zum heutigen Tage hat Malaysia jedoch kein weiteres Boot mehr anlanden lassen und insgesamt 15 000 Neuankömmlinge wieder aus den Hoheitsgewässern geschleppt.

Insel der Hoffnung

Diese neue harte Front gegen das Anschwellen der Flüchtlingsflut ist kein Alleingang der Malaysier. Die Außenminister der fünf ASEAN-Staaten haben sich abgesprochen, gleichermaßen unbeugsam zu verfahren. Die Praxis sieht jedoch anders aus. Die Philippinen — Anlandungen seit 1975 rund 7 000, Umsiedlungen in Drittländer rund 3 000 — werden weitere Boat People aufnehmen, und Indonesien, obwohl es Marine-Einheiten vor seine Inseln legte, wird weiterhin Anlandungen zulassen. Aufgegeben wurde jedoch das Processing Center Pulau Galang, eine Insel südlich von Singapur. Hier sollten — so die Übereinkunft auf der ersten internationalen Flüchtlingskonferenz von Djakarta am 15. Mai 1979 — mehr als 15 000 Boat People angesiedelt werden, bevor sie den Weg in die Freiheit antreten würden. Indonesien wird die Insel nun dazu benutzen, die inzwischen angelandeten rund 35 000 Flüchtlinge zusammenzuziehen, die auf etliche Inseln verteilt sind.

Die nationale Sicherheit genießt Vorrang

Die Weltpresse hat nicht mit harter Kritik an der ASEAN im allgemeinen und Malaysia im besonderen gespart. Doch wohl nicht zu Unrecht ist man dort der Meinung, daß sich die Kritiker den bequemsten Prügelknaben ausgesucht haben. Mit Bitterkeit muß man mit ansehen, daß Hanoi bisher von allzu harscher Kritik verschont geblieben ist. Die ASEAN verweist auf das soziale und politische Sicherheitsrisiko, das die Massierung von Vietnamflüchtlingen mit sich bringt. In der Bevölkerung macht sich zunehmend Unruhe bemerkbar. Allein in Malaysia haben die Vereinten Nationen seit 1975 mehr als 30 Millionen die Flücht US-Dollar in Versorgung der -linge investiert. Malaysia behauptet, daß aus dem Regierungsbudget weitere 50 Millionen D-Mark hätten aufgebracht werden müssen — Mittel, die zur Bekämpfung der nationalen Armut hätten eingesetzt werden können. Es läßt sich auch nicht mehr bestreiten, daß Hanoi mit den Flüchtlingen einzelne Provokateure eingeschleust hat. Malaysische Sicherheitsbehörden, die Lagerleitung von Pulau Bidong (Malaysias Flüchtlingsinsel) und westliche Botschaften haben Beweise dafür, daß sich auf Pulau Bidong auch Vietcong befinden, die Unruhe in das Lager bringen sollen. Sie wurden von Sicher malaysischen -heitsbehörden doch an vernommen, es fehlt Beweisen für ihre Aktivitäten. Vor allem für Thailand bedeuten die Flüchtlingsmassen ein nicht kalkulierbares Sicherheitsrisiko. Von den weit über 200 000 Indochinaflüchtlingen auf Thai-Territorium sind nur noch knapp 10 000 Vietnamflüchtlinge, während die Mehrheit Laoten und Kambodschaner sind, meist chinesischer Abstammung. Als Vietnams Truppen unmittelbar an der Thai-Grenze standen, flüchteten in diesem Jahr rund 80 000 Soldaten der gestürzten Pol Pot Regierung nach Thailand. Seinem Neutralitätsprinzip im Kambodscha-Konflikt folgend, machte Bangkok unmißverständlich deutlich, daß diese Soldaten nicht als Flüchtlinge anerkannt würden, sondern so bald wie möglich an sicherer Stelle wieder über die Grenze nach Kambodscha geführt werden müßten. Thailand hat kein Verständnis dafür, daß es von der Weltöffentlichkeit verprügelt wird, weil es diese Drohung wahr machte und im Juni die ersten 50 000 Soldaten mit Bussen gen Norden transportierte, um sie abseits der Front wieder nach Kambodscha einzuschleusen. Thailand hat sich der internationalen Flüchtlingskonvention dadurch entzogen, daß es die Verantwortung für gewisse, meist von Roten Khmer bewohnten Lagern, dem Verteidigungsministerium unterstellte.

Hongkong — „port of first call"

Wie bereits früher vermutet, scheint das Kommunikationssystem zwischen dem freien Südostasien und den potentiellen Flüchtlingen gut zu funktionieren. Ein weiterer Beweis dafür, daß Hanoi selbst seine Finger mit im Spiel hat? Denn seit Malaysia, Thailand und — wenn auch nur verbal — Indonesien ihre Grenzen geschlossen halten, wurde die britische Kronkolonie Hongkong der bevorzugte „port of first call". Die ohnehin schon überbevölkerte beherbergt derzeit nahezu 80 000 Vietnamflüchtlinge. Allein im Mai legten 18 700 Boat People an. Von den derzeit 7 000 Flüchtlingen, die monatlich von ganz den USA in Südostasien umgesiedelt werden, kommen jedoch nur rund 500 aus Hongkong.

Schlimmer als Dantes Inferno

Die Verhältnisse in den Lagern sind katastrophal. Die Flüchtlinge sind wie Tiere auf engstem Raum zusammengepfercht, und es ist heute müßig zu differenzieren, in welchem Land Südostasiens die Situation am dramatischsten ist. Die kurze Schilderung, die ich hier von der malaysischen Flüchtlingsinsel Pulau Bidong geben möchte, dürfte auf fast jedes andere Lager in Südostasien zutreffen. Vor elf Monaten noch war diese Insel unbewohnt. Heute ballen sich auf einem Quadratkilometer 42 000 Menschen zusammen. Pulau Bidong ist eine Elendsstadt, die aus Ästen, Bambus, Plastikplanen und alten Säcken zusammengeflickt ist, eine Kloake, die einen entsetzlichen Gestank verbreitet. Ärzte des französischen Hospitalschiffs „Ile de lumire" bezeichneten es als ein Wunder, daß die Insel bisher von Epidemien verschont geblieben ist. Die Nahrungsmittelrationen aus dem UN-Programm sind eintönig und ernährungswissenschaftlich unausgewogen. Allenthalben machen sich die Folgen der Mangelernährung bemerkbar. Es fehlt an Medikamenten, an einer funktionierenden sanitären Infrastruktur — und selbst an Raum für Bestattungen. Die Gräber werden in die spärlichen Lücken zwischen den Behausungen gezwängt. Von et-wa 350 Neugeborenen in den zurückliegenden elf Monaten verstarben 164 in den ersten Tagen nach der Geburt. Das Wasser ist rationiert; oft werden noch nicht einmal vier Liter pro Tag pro Person ausgegeben.

Hanois „menschliche Bomben"

Es ist naheliegend, daß sich die Weltpresse auf diese vordergründige Sensation verlegt, daß sie das Elend in den Lagern beschreibt und Schlagzeilen mit der oft grauenerregenden Odyssee einzelner Flüchtlinge macht. Zweifelsohne, die humanitäre Seite des Indochina-Flüchtlingsproblems ist augenblicklich die drängendste. Die Einzelschicksale würden Bände füllen. Doch der politische Aspekt des Flüchtlingsdramas gerät allzusehr in den Hintergrund. Zumindest die „dritte Flüchtlingswelle" ist nach Ansicht von ASEAN-Politikern kein Zufall. Sie ist nach Überzeugung des Singapurer Außenministers Sinnathamby Rajaratnam eine bewußt von Hanoi inszenierte Aktion, um politische Unruhe in das freie Südostasien zu tragen.

Der Zeitpunkt der „dritten Flüchtlingswelle" — die unzweifelhaft mit Wissen und Hilfe der vietnamesischen Regierung gestartet wurde — wurde überaus geschickt gewählt. Es war im September /Oktober, als der vietnamesische Premier Pham Van Dong auf einer Rundreise durch das freie Südostasien um die Gunst der ASEAN-Staaten buhlte. Kurz zuvor war das chinesisch-japanische Abkommen unterzeichnet worden, zudem stand der Besuch von Pekings Deng Xiaoping in den ASEAN-Staaten bevor. Hanoi sah sich zunehmend regional und international isoliert. Außerdem lag zum Zeitpunkt des ASEAN-Besuchs von Pham van Dong bereits der Invasionsplan für Kambodscha in der vietnamesischen Schublade. Für ihn war es eine politische Notwendigkeit, die ASEAN zu einem Kooperationsvertrag oder gar zu einem Friedens-und Freundschaftspakt zu bewegen. Doch Pham Van Dong kam in den ASEAN-Ländern nicht über einen höflichen roten Teppich der Diplomatie hinaus. Diese Reise war für den Vietnamesen frustrierend und in gewisser Weise demütigend.

Die „dritte Flüchtlingswelle" startete im November mit der Hai Hong, gefolgt von weiteren Frachtern. Sie bestand vor allem aus Sino-Vietnamesen. Rajaratnam sieht darin eine klare Strategie. Auf der ASEAN-Außenminister-Konferenz Anfang Juli auf Bali legte er dar: „Sie (die Vietnamesen) wissen, daß nahezu alle ASEAN-Staaten ihre eigenen delikaten Probleme mit ihren chinesischen Minderheiten haben. Das massive Abladen von ethnischen Chinesen kann das rassisch sensible Gefüge (der ASEAN) nur noch verschärfen. Lange genug betrieben, ist dies wirksamer als eine Invasion der vietnamesischen Armee. Bevor man sich umsieht, ist das Wachstum der ASEAN, ist die Stabilität der ASEAN, ist der Zusammenhalt der ASEAN in Luft aufgelöst." Rajaratnam nennt die ausgestoßenen Sino-Vietnamesen „menschliche Bomben".

Das chinesische Dilemma der ASEAN

Es wäre zweifellos übertrieben, würde die ASEAN die Welt glauben machen wollen, daß die Integration von 250 000 Flüchtlingen in Thailand, von 72 000 in Malaysia, 35 000 in Indonesien oder 000 in den Philippinen einen nennenswerten Einfluß auf das derzeitige Wirtschaftssystem dieser Länder ausüben könnte. Zahlenmäßig würden die Flüchtlinge in der lokalen Bevölkerung aufgesogen. Das eigentliche Problem ist der ethnische Faktor, das. chinesische Dilemma der ASEAN 7).

Die chinesischen Minderheiten der ASEAN-Staaten stellen eine Gruppe besonders aktiver, risikobereiter Einwanderer dar, die es in weniger als hundert Jahren schafften, die Wirtschaft der Region zu beherrschen. Der malaysische Minister für Land-und Regional-entwicklung, Sanusi Junip, nennt sie Kämpfernaturen, eine Eigenschaft, die den genuinen Rassen verlorengegangen sei. Die jetzt fliehenden Sino-Vietnamesen — auch in Vietnam einst die Beherrscher der Wirtschaft — stellten darüber hinaus eine weitere Auslese dar. Menschen, die ihr Leben riskierten, um in der freien Welt nach „grüneren Weiden" zu suchen, seien just aus dem Holz geschnitzt, aus dem man Kapitalisten mache.

Politische Zwietracht in der ASEAN

Mag es Hanoi auch nicht gelingen, die ASEAN-Staaten mit Chinesen zu überschwemmen, so ist es ihm letztlich jedoch gelungen, Zwietracht in die Gemeinschaft zu tragen. Singapurs Rajaratnam kritisierte nach der Bali-Konferenz seine Kollegen, daß sie entweder nicht fähig oder nicht willens seien, Vietnams politische Rolle in der Region richtig zu beurteilen. Für ihn ist „die Anwesenheit vietnamesischer Truppen an der Thai-Grenze kein unglücklicher Zufall, es ist ein Test, eine Herausforderung Unseres Willens und unseres Verständnisses für Realität". Rajaratnam greift damit mutig die Domino-Theorie wieder auf, die aus politisch-opportunistischen Gründen aus dem ASEAN-Vokabular verdrängt wurde. Der Außenminister Singapurs spricht seinen Kollegen den Blick für die politische Realität ab. Es sei unrealistisch, zu glauben, daß die vietnamesische Führung im Grunde ihres Herzens gut sei, daß sie lediglich etwas Zeit brauche, um sich von dem Schock und der Bitterkeit eines grausamen Krieges zu erholen, daß man sie letztlich jedoch mit Nachsicht zu guten Nachbarn bekehren könne. Solange man in Hanoi glaube, daß man bei der ASEAN mit Pflaumenmus und nicht mit hartem Stahl rechnen müsse, werde Vietnam die Politik bestimmen. Rajaratnam fragt: „Warum sollte eine Führerschicht, die rücksichtslos und kaltblütig Menschen aufs Meer hinaus schickt, dem möglichen Tod überantwortet, nicht irgendwann einmal die ASEAN als eine minderwertige Brut betrachten?"

Was Singapur verlangte, war eine klare Verurteilung Hanois als dem wahren Schuldigen an dem anhaltenden Flüchtlingsdrama. Doch alles, was die Gemeinschaft in ihrem gemeinsamen Kommunique zustande brachte, war eine drängende Aufforderung an Hanoi, den Flüchtlingsstrom zu kontrollieren. Die ASEAN forderte nicht einmal mehr den Rückzug der vietnamesischen Truppen aus ganz Kambodscha, sondern beschränkte sich darauf, den Abzug der Truppen von der thai-kambodschanischen Grenze zu verlangen. Die Gemeinschaft fürchtet, Hanoi könne zu unüberlegten Kurzschlußreaktionen neigen, wenn es von den südlichen Nachbarn zu sehr unter Druck gesetzt würde.

Betrachtet man die internationalen Reaktionen zum Flüchtlingsproblem, so gewinnt man den Eindruck, daß die Mehrheit der freien Welt diese Furcht teilt. Bis zums heutigen Tage steht eine unmißverständliche Verurteilung Vietnams aus. Hanoi kann ohne Widerspruch fordern, daß auf internationalen Konferenzen der politische Aspekt des Dramas ausgeklammert wird. Hanoi kann mit scheinheiligem Augenaufschlag unwidersprochen behaupten, daß das Flüchtlingsdrama eine Folge des Vietnamkrieges sei, an dem allein die USA und Frankreich schuldig wären. Hanoi kann alle nur denkbaren Beweise vom Tisch fegen, daß der Exodus von ihm inszeniert sei und daß es an dem Menschenhandel verdiene. Nicht die mächtige freie Welt zwingt den Vietnamesen das Handeln auf, sondern umgekehrt.

Während der UNHCR mit der vietnamesischen Führung verhandelt, um den Exodus in geordnete Bahnen zu lenken, um in Vietnam selbst Abfertigungszentren zu errichten, geht die unkontrollierte Flucht weiter. Hanoi äußert sogar in aller Öffentlichkeit, daß es den unkontrollierten Exodus nur vorübergehend stoppen werde. Hanoi kann der freien Welt hohnlachend ins Gesicht sagen, es folge den internationalen humanitären Idealen, indem es den Fluchtwilligen die Ausreise gestatte.

Die militärische Front der ASEAN

Die ASEAN ist jedoch nicht ganz so naiv, wie das Kommunique von Bali andeuten mag. Malaysia, das mit Hanoi ein Handels-und Assistenzabkommen zur Entwicklung der vietnamesischen Wirtschaft unterzeichnet hat, kündigte bereits zu Beginn dieses Jahres alle Verpflichtungen auf. Die anderen ASEAN-Staaten sind inzwischen dem malaysischen Beispiel gefolgt. Vor allem aber hat sich die Gemeinschaft sehr wohl die Frage gestellt, ob sie einer möglichen militärischen Bedrohung Hanois allein wird standhalten können. Indonesiens Generäle, die Außenminister Mochtar Kusumaatmaja in Bali berieten, gaben die Antwort, man wolle selbst eine verbale Konfrontation mit Hanoi vermeiden, solange die militärische Situation der Gemeinschaft unzureichend sei.

Es war dann auch kein Zufall, daß die ASEAN die Außenminister der USA, Japans, Australiens, Neuseelands und einen Vertreter der Europäischen Gemeinschaft zu einer Anschlußkonferenz nach Bali gebeten hatte. Natürlich wollte man den reichen Freunden einige Millionen aus der Tasche ziehen, um die unmittelbaren Folgen der Flüchtlingsflut besser bewältigen zu können. Vor allem aber wollte man wissen, wer die Gemeinschaft verteidigen werde, sollte Hanoi seine Ziele über Kambodscha hinaus abstecken. In der Diskussionsrunde war man sich einig darüber, daß Hanoi zu einer militärischen Bedrohung werden könne und sich die ASEAN in einem solchen Falle Verbündete suchen müsse. Die Gäste gaben denn auch wunschgemäß die Zusage für ein militärisches standby commitment (Beistandsverpflichtung). Romulo, der philippinische Außenminister, faßte das Ergebnis zusammen: „Die Welt soll wissen, daß wir keine Aggressoren sind. Wir haben tapfere Herzen und Courage, und ich glaube, daß wir nicht ohne Freunde sind, die für uns eintreten werden." Auf Bali war auch davon die Rede, daß der SEATO-Pakt jederzeit wiederbelebt werden könne, der 1977 in Bangkok beerdigt worden war; man verwies überdies auf den ANZUS-Pakt, der Australien, Neuseeland und die USA in einem Verteidigungsbündnis zusammenfaßt.

Schlußbetrachtung

Als Gegenleistung für das standby commitment der Westmächte gab die Außenministerkonferenz von Bali ihnen das vage Versprechen, daß sich die ASEAN-Länder weiterhin ihrer humanitären Verpflichtungen für die Flüchtlinge bewußt seien, jedoch haben weder Thailand noch Malaysia ihre harte Haltung gegenüber den Neuankömmlingen bisher geändert. Zunächst will man dort Taten sehen. Je schneller ihnen also die aus dem Flüchtlingsstrom erwachsene Bürde abgenommen wird, desto eher werden beide Länder wieder ihre Grenzen öffnen. Vor allem aber besteht die ASEAN darauf, daß alle Flüchtlinge umgesiedelt werden. Es gehe nicht an, daß sich die Drittländer nur „nützliche Einwanderer" aussuchten und den „unproduktiven Bodensatz" zurückließen.

Niemand in der westlichen Welt, der so sehr um die Einhaltung humanitärer Ideale besorgt ist, sollte sich jedoch der Illusion hingeben, daß Malaysia beispielsweise nicht wahrmachen könnte, was es angedeutet hat: Sollten die Lager nicht bald geräumt sein, wird Malaysia Boote bauen und die Insassen aufs Meer ziehen. Dazu erklärt Rajaratnam: „Wenn uns die Vietnamesen heute ins Gesicht schauen, dann mit Schamesröte und schuldbewußt. Sie wagen es nicht, uns in die Augen zu blicken, weil sie die Barbaren sind und wir sind die Humanisten. In einem Jahr jedoch mögen sie uns gezwungen haben, Dinge zu tun, die uns nicht besser dastehen lassen als sie selbst. Wenn es ihnen gelingt, humane Menschen in Wilde zu verwandeln, dann ist das ein Sieg für die Wilden."

Fussnoten

Fußnoten

  1. ASEAN — Association of Southeast Asian Nations (Thailand, Malaysia, Singapur, Indonesien und die Philippinen).

  2. Der Autor stützt sich bei dem verwendeten Material überwiegend auf seine eigenen Recherchen und Quellen. Das Zahlenmaterial, das möglicherweise gegenüber anderen Quellen leicht differiert, stammt von dem Vertreter des UNHCR in Kuala Lumpur und von Flüchtlingssachbearbeitern westlicher Botschaften.

  3. Asian Wallstreet Journal, 23. Februar 1979.

  4. Siehe auch: Jürgen Dauth, Das „Dritte China“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40/78.

  5. Siehe auch: Jürgen Dauth, ASEAN — Die Gemeinschaft der südostasiatischen Nationen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 8/79.

  6. Siehe auch: Jürgen Dauth, Das „Dritte China", a. a. O.

Weitere Inhalte

Jürgen Dauth, geb. 1941 in Frankfurt/M.; Studium der Missionstheologie in Wuppertal; seit 1975 Rundfunk-und Zeitungskorrespondent für Südostasien mit Sitz in Kuala Lumpur/Malaysia.