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Zwanzig Jahre Godesberger Programm der SPD | APuZ 46/1979 | bpb.de

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APuZ 46/1979 Zwanzig Jahre Godesberger Programm der SPD Gegner des Nationalsozialismus

Zwanzig Jahre Godesberger Programm der SPD

Klaus Lompe

/ 55 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Kein anderes Dokument einer politischen Partei in der Bundesrepublik hat so kontroverse Stellungnahmen und Interpretationen bewirkt, wie das vor zwanzig Jahren verabschiedete Godesberger Programm der SPD. Für die einen war es sichtbarer Ausdruck einer „Anpassung" der SPD, für die anderen die längst fällige programmatische Neuorientierung eines zeitgemäßen demokratischen Sozialismus. Der Autor analysiert die Entwicklung der Programmatik der SPD auf dem Weg nach Godesberg und zeigt, daß das Grundsatzprogramm das Ergebnis eines langen Lernprozesses einer traditionsbeladenen Partei war, bei dem es den Sozialdemokraten vor allem darum ging, Theorie und Praxis in Einklang zu bringen. In seinen Inhalten ist das Godesberger Programm, das hier in den aktuellen Kontext der Diskussion um den demokratischen Sozialismus in der Bundesrepublik gestellt wird, bestimmt von einer Absage an alle weltanschaulichen und politischen Ausschließlichkeitsansprüche. In diesem Programm wird eine politisch tragfähige Synthese von Traditionen der Arbeiterbewegung und den Kenntnissen der modernen Sozialwissenschaften versucht. Seit dem Eintritt in die Große Koalition und dann besonders seit 1969 steht der reformpolitische Ansatz des Godesberger Programms vor der praktischen Bewährung. Seit der Regierungsbeteiligung ist in der Sozialdemokratie aber auch eine Auseinandersetzung um die Grundlagen und Konzepte ihrer Politik von Grund auf neu entbrannt. Die neue Theoriediskussion war zunächst stark von den Jungsozialisten oder sich als links begreifende Positionen bestimmt. Die Diskontinuität in der Wahrnehmung der Grundlagen der Entwicklung des demokratischen Sozialismus sowie das Vorherrschen eines oberflächlichen Pragmatismus in der SPD nach Godesberg führten dazu, daß der Nachwuchs teilweise auf den Marxismus zurückgriff. Diese Marxismus-Renaissance in Teilen der jüngeren Generation und die konkrete Programmatik des Orientierungsrahmens wurde von Kritikern der Sozialdemokratie zum Anlaß genommen, zu behaupten, daß die Partei vom Godesberger Kurs abgehe. Eine dezidierte Position wird in diesem Zusammenhang von W. Hennis vertreten. Es wird gezeigt, daß der Versuch Hennis', den Orientierungsrahmen '85 als Gegensatz zum Godesberger Programm der SPD zu interpretieren, nicht gelungen ist. Für die Sozialdemokratie ist der Orientierungsrahmen '85 als ein Instrument der Präzisierung und Konkretisierung bestimmter Elemente des Godesberger Programms ein wichtiger Ansatz für langfristige Planungsüberlegungen und ein Rahmen für Reformpolitik auf mittlere Sicht, für den innenpolitischen Gegner eine Art Kristallisationspunkt für die Kritik an der Reformpolitik der 70er Jahre, über Erfolg und Mißerfolg der Politik innerer Reformen bzw. ihre Auswirkungen nach zehn Jahren sozialliberaler Koalition unter sozialdemokratischer Führung gehen die Meinungen heute weit auseinander. Viele Elemente dieser neuen Politik entstammen aber dem Reservoir sozialdemokratischer Programmatik, wie sie nach 1945 entwickelt wurde.

I. Einführung — Funktion von Parteiprogrammen

1979 ist ein Jahr zahlreicher gewichtiger Jubiläen in der Geschichte Deutschlands. Vor 60 Jahren wurde die Nationalversammlung von Weimar gewählt und vor dreißig Jahren trat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft Auch sind in diesem Jahr 20 Jahre vergangen, seit die Sozialdemokraten im November 1959 in Godesberg fast einstimmig ihr neues Grundsatzprogramm verabschiedet haben. So wie der 30. Geburtstag des Grundgesetzes für viele Anlaß ist, sich erneut mit der Entstehung unserer Verfassung zu beschäftigen und zu fragen, welche staatlich-gesellschaftliche Wirklichkeit durch sie geprägt wurde, scheint es heute ebenso geboten, die historische und aktuelle Bedeutung des Godesberger Programms zu beleuchten. Kein anderes Dokument einer politischen Partei der Bundesrepublik hat so kontroverse Stellungnahmen und Interpretationen bewirkt wie dieses Programm. Für die einen war es sichtbarer Ausdruck einer „Anpassung“ der SPD, für die anderen das Ergebnis eines langen Lernprozesses einer traditionsbeladenen Partei, bei dem es den Sozialdemokraten vor allem darum ging, Theorie und Praxis in Einklang zu bringen bzw. einsehbar aufeinander zu beziehen. Man kann Willi Eichler, einem der „Väter"

des Godesberger Programms, zustimmen, wenn er ausführt, daß wohl keinem der Teilnehmer auf dem außerordentlichen Parteitag vom 13. bis 15. November 1959 in Bad Godesberg sofort wirklich bewußt war, „wie sehr mit dieser grundlegenden Selbstverständigung der Partei eine entscheidende Wandlung nicht nur für die Sozialdemokratie, sondern auch für die freiheitlich demokratische Entwicklung der Bundesrepublik begonnen oder Ansätze solcher Wandlung bejaht und fortgesetzt worden waren“

Parteiprogramme haben einerseits die Aufgabe, nach außen zu wirken, andererseits die Funktion, das innere Gefüge der Parteien zu gestalten bzw. Richtpunkte für das Regierungs-oder Oppositionsverhalten zu setzen. Flöhr arbeitete vier manifeste bzw. latente Funktionen von 'Parteiprogrammen heraus: 1. Integration der Partei, 2. Mittel für parteiinterne Machtkämpfe, Instrumente zur verstärkten Fundierung der eigenen politischen Position, Werbung 3).

Ohne Zweifel hat das Godesberger Grundsatzprogramm 4) der sozialdemokratischen Partei in jeweils mehr oder weniger ausgeprägtem Maße diese Funktionen wahrgenommen. Besonders in jüngster Zeit standen im Blick auf die Binnenstruktur der Partei vor allem die In-tegrations-, die Herrschafts-und die Legitimationsfunktion des Godesberger Programms im Zentrum der Auseinandersetzungen.

Das Grundsatzprogramm war das Ergebnis eines langen, schwierigen innerparteilichen Willensbildungsprozesses und tiefgehender Auseinandersetzungen, in denen die geistigen Energien der Partei in einem Maße aktiviert worden sind, wie es weder vor noch nach Godesberg der Fall war. Die Verabschiedung dieses Programmes ermöglichte nach schwierigen Jahren in der Opposition und vielfältigen Auseinandersetzungen Geschlossenheit im politischen Handeln. Die Sozialdemokraten gewannen damit im Inneren ein neues Selbstverständnis und nach außen hin ein neues Bild in der Öffentlichkeit — eine Voraussetzung ihrer Regierungsfähigkeit

Herrschte in den Jahren nach der Verabschiedung des Godesberger Programmes eine Zeit-lang ein vordergründiger Pragmatismus in der Partei vor, so sind vor allem seit der Regierungsbeteiligung der Sozialdemokraten auf Bundesebene neue Auseinandersetzungen um die Grundlagen und die Konzepte ihrer Politik von Grund auf neu entbrannt. Das Godesberger Programm steht bei den internen Auseinandersetzungen deshalb im Vordergrund, weil sich die verschiedenen Gruppierungen auf das Programm berufen und dem innerparteilichen Gegner bestreiten, daß er noch von dem Programm als Basis ausgehe bzw. es hinreichend ernst nehme. Besonders auffallend in dieser Diskussion, in die die Gesamtpartei vor allem durch die Auseinandersetzungen um den Orientierungsrahmen '85 einbezogen wurde, war die Tatsache, daß die jüngere Generation — wie auch eine große Zahl der „externen" Kritiker — kaum Kenntnis von der theoretischen Neuorientierung des demokratischen Sozialismus hatte. Die philosophischen Wegweiser auf dem Weg nach Godesberg waren weitgehend unbekannt. Das gilt sowohl für die theoretischen Neuansätze am Rande der Partei in der Weimarer Republik und in der Exil-zeit wie vor allen Dingen auch in der Vorbereitungsphase auf Godesberg.

Die Diskonuinität in der Wahrnehmung der Grundlagen der Entwicklung des demokratischen Sozialismus, das Vorherrschen eines oberflächlichen Pragmatismus in der SPD nach Godesberg führte mit dazu, daß ein Teil des Nachwuchses in der Sozialdemokratie auf den Marxismus zurückgriff, und zwar zum Teil auf den orthodoxen Marxismus.

Andere Gruppierungen, die im Zuge einer Abgrenzungsstrategie gegenüber den Marxisten die Sozialphilosophie des kritischen Rationalismus Popperscher Prägung zur neuen Basis-philosophie sozialdemokratischer Politik machen wollten, behaupteten, das Godesberger Programm habe „nie eine philosophische und erkenntnistheoretische Grundlage besessen"

Solche Behauptungen können nur auf Unkenntnis jener philosophischen und erkenntniskritischen, aber auch psychologischen, soziologischen und sozialhistorischen Versuche beruhen, die nach dem Kriege und teilweise schon davor unternommen wurden, um der Parteiprogrammatik der SPD überzeugende Fundamente zu schaffen. Vor allen Dingen die Vorarbeiten und Kommissionsdokumente zum Godesberger Programm sind ja in ihrer theoretischen Fundierung viel anspruchsvoller, als es der Endtext dieses Programmes vermuten läßt.

Die Marxismusrenaissance in Teilen der jüngeren Generation und die konkrete Programmatik des Orientierungsrahmens nahmen auf der anderen Seite eine Reihe von Kritikern der Sozialdemokratie zum Anlaß, zu behaupten, daß die Partei vom Godesberger Kurs abgehe, sich eine Rückkehr von der „Volkspartei" zur „ideologischen Klassenpartei" vollziehe

Für die Sozialdemokratie selbst war der Orientierungsrahmen '85 als ein Instrument der Präzisierung und Konkretisierung bestimmter Elemente des Godesberger Programms ein wichtiger Ansatz für langfristige Planungsüberlegungen und ein Rahmen für Reformpolitik auf mittlere Sicht sowie eine große programmatische Integrationsleistung. Für den innenpolitischen Gegner ist er eine Art Kristallisationspunkt für die Kritik an der Reformpolitik.

Dies alles, auch die kontroversen Ansichten über Erfolg und Mißerfolg der Politik innerer Reformen bzw. ihrer Auswirkungen nach 10 Jahren sozialliberaler Koalition unter sozial-demokratischer Führung legen es 20 Jahre nach der Verabschiedung des Godesberger Programms nahe, einige Entwicklungslinien sozialdemokratischer Programmatik vor und nach Godesberg aufzuzeigen und in die aktuelle Diskussion um den freiheitlich-demokratischen Sozialismus einzuordn Jahren sozialliberaler Koalition unter sozial-demokratischer Führung legen es 20 Jahre nach der Verabschiedung des Godesberger Programms nahe, einige Entwicklungslinien sozialdemokratischer Programmatik vor und nach Godesberg aufzuzeigen und in die aktuelle Diskussion um den freiheitlich-demokratischen Sozialismus einzuordnen 8).

II. Der Weg nach Godesberg

Die Diskussion um die programmatische Neuorientierung der SPD begann unmittelbar nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes. Schon auf dem Gründungsparteitag in Hannover setzte die Diskussion um die Überprüfung der überkommenen politischen Zielvorstellungen ein. Willi Eichler forderte, „eine innere Klärung von Begriffen und Problemen herbeizuführen, die uns vor Jahrzehnten selbstverständlich und gelöst erschienen" 9). Eine Neuorientierung hielt er vor allen Dingen in Hinsicht auf das Verhältnis von Revolution und Demokratie, die Sozialisierung der Produktionsmittel und das Institut des Eigentums allgemein für notwendig. Aber auch die Beziehungen zwischen Sozialismus und Christentum, über die Marx und Bebel so dezidierte und endgültige Urteile gefällt hatten, und das Verständnis des geschichtlichen Prozesses seit der russischen Oktoberrevolution sollten in diese Neubesinnung mit einbezogen werden.

Von der Mehrheit der Parteimitglieder war zu diesem Zeitpunkt die Notwendigkeit einer fundamentalen inneren Klärung der neuen Programmatik noch nicht erkannt — und auch Kurt Schumacher teilte den Standpunkt Eichlers noch nicht. Er betonte, daß man noch kein neues Programm formulieren könne, weil man sich in einer „Periode des Übergangs“ befände, in der alles im Fluß sei. Er befürchtete, daß Grundsatzüberlegungen zu sehr von den aktuellen Problemen der Wiederaufbauphase bestimmt werden könnten. Zudem sei seit dem Ersten Weltkrieg „keine ausreichende Analyse" als Grundlage einer neuen sozialistischen Theorie mehr vorgenommen worden 10).

Während Schumacher später darauf hoffte, über ein Wahl-und Aktionsprogramm hinauszugelangen blieben führende Vertreter der Partei bis zur Verabschiedung des Godesberger Programmes skeptisch gegenüber der Möglichkeit bzw. Notwendigkeit eines Grundsatzprogrammes. Während sich besonders Ollenhauer schon sehr früh — und mit Nachdruck vor allen Dingen nach den Wahlniederlagen von 1953 und 1957 — für die Erarbeitung und Verabschiedung eines neuen Grundsatzprogrammes einsetzte hatten „gerade Männer, die zu den Reformern zählten, wie Willi Brandt, Fritz Erler, Helmut Schmidt, Herbert Wehner,... Bedenken dagegen, die Grundsätze des demokratischen Sozialismus programmatisch neu zu fixieren und die Partei damit auf längere Zeit hin festzulegen." Dabei waren diejenigen, die den Möglichkeiten der Formulierung eines Grundsatzprogramms skeptisch gegenüberstanden, keineswegs identisch mit denjenigen, die eine grundlegende Reform der sozialdemokratischen Partei für nicht notwendig hielten. Viele sahen in einer solchen Bindung der Partei die Gefahr, daß man sich mit solchen Programmen freiwillig den Zugang zu bestimmten Wählerschichten verbaue

Hinzu kam, daß auch Unsicherheit darüber herrschte, ob die Partei angesichts der sehr verschiedenen Strömungen in der Gesamtorganisation eine verbindliche Grundsatzformulierung durchstehen könnte oder ob wegen der Vielfalt der geistigen Richtungen Grundsatzformulierungen nicht entweder leerformelhaft bleiben müßten oder aber die Partei in die Gefahr des Dogmatismus gerate.

Banden in der Anfangsphase der Republik zunächst auch die tagespolitischen Aufgaben des Wiederaufbaus Kräfte, die der programmatischen Erneuerung hätten dienen können, so erzwangen Entwicklungen in der Partei und äußere Faktoren die Programmdebatte, die in Godesberg einen vorläufigen Abschluß fand Innerparteilich stellte sich immer stärker das Bedürfnis heraus, das geistige Fundament der Politik der SPD klarer hervortreten zu lassen, weil man aus der „babylonischen Verwirrung in den eigenen Reihen" herauskommen wollte. Terminologische und programmatische Verschwommenheit hatten zur Unsicherheit in der Partei geführt. Die Uneinheitlichkeit des Erscheinungsbildes in der Öffentlichkeit erzwang eine Klärung in einer innerparteilichen Debatte. Eine solche programmatische Klärung wurde aber auch zum Zwecke der politischen Kommunikation nach außen notwendig, um nämlich neue Anhänger vor allen Dingen in den Mittelschichten zu gewinnen Entscheidend für die Fortentwicklung der Programmarbeit war dann die innerhalb der Partei in diesem Ausmaß kaum erwartete Niederlage bei der Bundestagswahl von 1953. Der SPD war es — wie später auch 1957 — nicht gelungen, sich als linke demokratische Volkspartei glaubwürdig zu profilieren und sich durch Programm und Persönlichkeiten als attraktive politische Alternative zu präsentieren Es wurde daraufhin nicht nur in der neutralen und gegnerischen Presse, sondern auch innerparteilich eine intensive Dis-kussion um Anspruch und Selbstdarstellung der SPD geführt. Waren zunächst Probleme der Organisation und Fragen der Personal-wahl für Führungspositionen Gegenstand heftiger Diskussionen gewesen, so trat nun die Frage der Programmatik der Partei immer mehr in den Vordergrund.

Hatte sich in den ausgehenden 40er Jahren die Programmdiskussion vornehmlich in nicht organisierte Gruppen kulturpolitisch interessierter Sozialdemokraten verlagert so wurde nach der Wahlniederlage 1953 neben einer Kommission, die sich mit Organisationsfragen befaßte, auch eine Kommission eingesetzt, die Probleme der theoretischen Fundierung der Politik bearbeiten sollte. Nach der Verabschiedung der Empfehlungen dieser Kommission setzte der Parteivorstand eine 60köpfige Programmkommission unter Federführung von Willi Eichler ein, die Vorschläge für die Ergänzung des Aktionsprogramms durch eine Präambel über die Grundsätze der SPD ausarbeitete. Darüber hinaus wurde dem Parteitag der Vorschlag für die Einsetzung einer Studienkommission für ein Grundsatzprogramm unterbreitet, der vom Berliner Parteitag 1954 angenommen wurde.

Die Arbeiten an diesem Grundsatzprogramm dauerten bis zu seiner Verabschiedung fast fünf Jahre. Dabei kann man mit H. J. Mann vier Phasen unterscheiden: Die erste Phase reichte von der Einsetzung der Programm-kommission im März 1955 bis zum Stuttgarter Programmentwurf von 1958. Die zweite liegt zwischen dem Stuttgarter Parteitag und dem Ende der Diskussionen im Sommer 1959 über den dort vorgelegten Entwurf. In der dritten Phase wurden von Programmkommission und Vorstand die Stellungnahmen aus der Partei zum zweiten veröffentlichten Entwurf von September 59 verarbeitet und die letzte Phase reichte schließlich von der Veröffentlichung des zweiten Entwurfs bis zur Verabschiedung auf dem Parteitag in Godesberg

Die Entwicklung der Inhalte der sozialdemokratischen Programmatik nach 1945 wurde zunächst weitgehend von Einzelpersonen oder Minderheitsgruppen bestimmt. Im Berliner Programm — vor allem in der Präambel — haben von ihnen seit 1945 erarbeitete Analysen und Normen zum ersten Mal Eingang in ein parteiverbindliches Dokument gefunden. Zu Recht weist Klotzbach darauf hin, daß die von vielen als entscheidender Fortschritt angesehene Präambel zum Berliner Programm nichts fundamental Neues für denjenigen enthielt, der die seit 1945 geführte theoretische Diskussion aufmerksam verfolgt hat War die Programmdiskussion zunächst vor allem von den Parteieliten geführt worden, so wurden im Jahr vor der Verabschiedung Mitglieder und Öffentlichkeit in den Prozeß der Meinungs-und Willensbildung in einer Breite ein-bezogen, wie nie zuvor In den Wintermonaten 1958/59 wurden in allen Bezirken Arbeitsgemeinschaften gegründet, die sich mit dem Programmentwurf von 1958 befaßten

III. Godesberger Programm — Ergebnis der Anpassung oder eines kontinuierlichen Erneuerungsprozesses?

Das Godesberger Programm ist durch eine klare Absage an alle weltanschaulichen und politischen Ausschließlichkeitsansprüche gekennzeichnet. In der Öffentlichkeit wurde es weithin als Novum, oft als plötzlicher und radikaler Bruch mit der Vergangenheit interpretiert. Die politischen Gegner der Sozialdemokraten sahen in ihm eine politische Kehrtwendung, eine Kapitulationserklärung gegenüber der erfolgreichen Politik der CDU/CSU-geführten Bundesregierungen. Auch wurde oft mit pejorativem Unterton von . Anpassung" gesprochen, nicht zuletzt angesichts der Gesprächsangebote an die katholische Kirche, die nach der Verabschiedung des Programms unter Führung Willi Eichlers von den Sozialdemokraten ergingen Andere vermuteten hinter dem Unternehmen bloße wahltaktische Überlegungen, indem man „die Ziele des Sozialismus" in gefälligerem Gewand verkaufen wolle.

Für die „linken" Kritiker der Partei wiederum ist das Godesberger Progamm Ausdruck einer völligen Anpassung an die gegebenen Machtverhältnisse ein Dokument, in dem der „Sozialismus als Überzeugung der Notwendigkeit der Umgestaltung des Systems des Kapitalismus nicht mehr greifbar ist“

Eine vorurteilslose Betrachtung zeigt, daß das Godesberger Programm das Ergebnis eines jahrzehntelangen Neubesinnüngsprozesses war. Ein entscheidendes Moment jener Programmentwicklung liegt darin, daß sich eine an Traditionen so reiche Partei wie die Sozialdemokratie im Einklang mit neuen Entwicklungen von Logik, Philosophie und Sozialwissenschaften aus sich selbst heraus und nicht primär in taktischer Anpassung von der Vorherrschaft Hegel-Marxscher Geschichtsmetaphysik, von Geschichtsfatalismus und dogmatisch fixierten revolutionären Endzielvorstellungen befreite. Diese Entwicklung ist nicht als ein schroffer Bruch mit der „ursprünglichen Wahrheit" zu begreifen. Sie wurde schon in der Zeit der Weimarer Repu-blik, in der Emigration und im Untergrund in Deutschland vorbereitet Nach 1945 vollzogen sich Entwicklung und Wandel der Programmatik der sozialdemokratischen Partei mit bemerkenswerter Kontinuität. Den Programmatikern war klar, daß veränderte Gesellschaftsstrukturen neue Ordnungsvorstellungen erforderlich machten. Sozialstrukturelle Wandlungen in der Wählerschaft wurden ebenso in die programmatischen Überlegungen einbezogen wie die dominierenden Haltungen zu wertbezogenen politischen Problemen. Auch die Konkurrenzsituation der Partei im Parteiensystem beeinflußte die konkreten Programmaussagen. Ohne Zweifel wurde der Prozeß der Programmentwicklung beschleunigt durch die Krisensituation der Partei nach drei verlorenen Bundestagswahlen. Immer deutlicher wurde die Erkenntnis, daß man neue Wählerschichten gewinnen mußte, wenn man Mehrheitspartei werden und die Möglichkeit erhalten wollte, eigene Gestaltungsziele zu realisieren. Der konkrete Text des Godesberger Programms enthält so auch einzelne aktuell und wahlpolitisch bedingte Schärfungen, „wie etwa die pointierte Verurteilung des Kommunismus vor dem Hintergrund der 1958 von der Sowjetunion entfachten Berlinkrise oder das völlige Verschweigen der Bedeutung, welche die Autoren des kommunistischen Manifests für die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung hatten"

Die grundsätzlichen Entscheidungen des Godesberger Programms waren aber nicht Ausdruck wahltaktischer Anpassung, sondern das Ergebnis einer konsequenten, auf Lernprozessen basierenden Entwicklung einer Partei, die Theorie und Praxis in Einklang bringen wollte. Die Anhänger des undogmatischen Sozialismus nach 1945 wollten — wie Gerhard Weisser es ausdrückt — keine neue sozialistische Lehre verkünden, sondern in ihren programmatischen Aussagen die Neuorientierung des tatsächlichen Verhaltens deutscher Sozialisten nach den Erfahrungen mit dem Totalitarismus, dem Faschismus und dem Bolschewismus zum Ausdruck bringen Wer im Blick auf die Grundprinzipien des Programms die Ausführungen zu den Grundwerten, zum Motiv-Ziel-Mittel-Verhältnis, zu den Grundrechten, den Prinzipien .der Rechtsstaatlichkeit und des parlamentarischen Mehrparteiensystems, zum weltanschaulichen Pluralismus, zur Einstellung zu den Kirchen und auch zu wirtschaftspolitischen Ordnungsproblemen im Programm mit den Diskussionsleitlinien vergleicht, die innerparteilich während der 40er und 50er Jahre formuliert wurden, erkennt, daß das Godesberger Programm den Abschluß einer kontinuierlichen geistigen Entwicklung darstellt. Godesberg war so auch nicht eine Kapitulationserklärung gegenüber der bisherigen Politik. Und auch die Entschei-düng der Sozialdemokratie für eine prinzipiell marktwirtschaftliche Ordnung ist keine Anpassung an Vorstellungen des Neoliberalismus, von dem man sich früh ebenso abgrenzte wie vom Kollektivismus der Zentralverwaltungswirtschaft Wichtige Elemente der wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen wurden in der Weimarer Republik entwickelt — sie waren bereits in Grundzügen im Revisionismus enthalten und sind dann durch Elemente der Keynes'schen Wirtschaftslehre erweitert worden.

Nach 1945 wurde die Neuverständigung über die geistigen Grundlagen und politischen Ziele der Bewegung und das praktische Verhalten der Sozialisten stark von den Ereignissen im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich bzw. in der Emigration beeinflußt. Hatte schon in der Weimarer Zeit die charakteristische Kluft zwischen revolutionärer Klassenkampfperspektive im grundsatzprogrammatischen Bekenntnis und der reformerischen Praxis im gegebenen liberal-kapitalistischen System sowohl die politische Handlungsfähigkeit als auch die Anziehungskraft der Partei beeinträchtigt, so förderte die Praxis der Politik in den westlichen Demokratien positive Einstellungen zu einer bewußt evolutionären Politik. Auch wurden die traditionellen Über-zeugungen von einem „wissenschaftlichen Sozialismus" oder einem historischen Entwicklungsautomatismus durch die Erfahrungen mit dem realen „Sozialismus" in der Sowjetunion in den 30er Jahren erschüttert. Nicht zuletzt die kommunistische Sowjetunion erschien als Beweis dafür, „daß die Vernichtung des Privatkapitalismus durchaus nicht per se ein Befreiungsakt war, sondern daß sich unter der soge-nannten Diktatur des Proletariats ein Unterdrückungssystem verfestigte, das der antihumanen Wirksamkeit rechter Diktaturen kaum nachstand"

Dabei ist die inhaltliche Neuausrichtung in der Programmatik des demokratischen Sozialismus — wie Alf Mintzel zu Recht jüngst in einer Analyse der dreißigjährigen Entwicklung des Parteienwesens in der Bundesrepublik Deutschland herausstellte — mehr von Kräften weiter entwickelt worden, die nicht im Rampenlicht des politischen Alltags gestanden haben — wobei er besonders Willi Eichler und Gerhard Weisser aus dem Kreis des Göttinger Philosophen Leonard Nelson herausstellt In der Tat war ja das, was häufig die „Anpassung der SPD" genannt wurde, nicht zuletzt das Ergebnis einer langen geistigen Reflexion neuer philosophischer und wissenschaftlicher Positionen und ihre Fruchtbarmachung für die-Programmatik Ohne Zweifel hat jene vom Gedankengut der Fries-Nelsonsehen kritischen Philosophie beeinflußte Gruppe freiheitlich-demokratischer Sozialisten maßgebenden Einfluß auf die politische Programmatik der sozialdemokratischen Partei gewonnen Und Godesberg ist dabei der Abschluß einer Entwicklung zum undogmatischen Sozialismus der politischen Reform, deren wichtige Fundamente über den Revisionismus hinausgehend in der ausgehenden Weimarer Republik, in der Emigration und unmittelbar nach 1945 gelegt wurden.

Es wäre sicherlich eine unzulässige Vereinfachung, wollte man Bernstein und Nelson in eine Entwicklungslinie einreihen und die Gruppe der Nelson-Schüler unter den Oberbegriff „Revisionisten" subsumieren. Gleichwohl gibt es Gemeinsamkeiten mit jener historischen Bewegung in der Sozialdemokratie, die nicht sehr glücklich mit „Revisionismus“ bezeichnet wurde. Diese Bezeichnung wurde von den dogmatischen Kritikern meist zur Kennzeichnung einer opportunistischen Position benutzt, die vom angeblich allein richtigen Weg der ursprünglichen „Wahrheit" des Sozialismus abwich. Der „Revisionismus" war aber weder schwächliche Anpassung noch Resignation. Es mangelte ihm auch nicht an schöpferischer Gestaltungskraft. Entscheidende Impulse erhielt er von dem politischen Willen, dem notleidenden Arbeitnehmer mehr als die Vision eines Paradieses auf Erden zu bieten, auf das die Geschichte dialektisch hinauslaufe. „Seine Lebenslage soll vielmehr schon in der Gegenwart verbessert werden, so daß sie nicht eine Verheißung mobilisiere, sondern ihm der Weg gewiesen wird, heute und hier kämpferisch eine bessere materielle und immaterielle Lebenslage zu erreichen." Wie Bernstein lehnten die Nelson-Schüler es ab, Sozialismus mit Totalsozialisierung gleichzusetzen Sie wurde von ihnen vor allem we-gen der mit der Totalsozialisierung verbundenen Gefahren für die Freiheit abgelehnt und der instrumentelle Charakter der Forderung nach Vergesellschaftung herausgestellt. Die Forderung nach Vergesellschaftung der Schlüsselbetriebe, die auch im Godesberger Programm noch eine Rolle spielt, wurde unter zwei Gesichtspunkten erhoben: dem des Abbaus einseitiger, demokratiegefährdender Machtkonzentrationen und dem der Notwendigkeit planvoller Gestaltung des Wirtschaftsablaufes. Der Verzicht auf Totalsozialisierung war eine Absage an jede Form der Uniformierung einer im hohen Maße organisierten Gesellschaft. Der freiheitlich-demokratische Sozialismus hat an die Stelle dieser Forderungen Vorstellungen gerückt, die in Einklang mit seinen Grundwerten stehen und es dem politischen Gegner nicht erlauben, jenen Verzicht als taktisches Zugeständnis an den Wirtschaftsliberalismus und seine geistige Grundlage oder gar an nichtstaatliche Macht von Kapitalisten zu deuten.

Der Weg der heutigen, prinzipiell freiheitlichmarktwirtschaftlichen Wirtschaftspolitik der Sozialdemokratie ist durch eine Entwicklung von mehr als einem Jahrhundert vorbereitet worden. In der politischen Auseinandersetzung war die Abwehr der Sozialdemokratie gegen Kennzeichnung gerade dieses Prozesses als „Revisionismus" oft recht schwach. Besonders dies hat den Gegnern erlaubt, die Weiterentwicklung oft als taktische Konzession hinzustellen. Und auch dem Nachwuchs wurden dabei die grundsätzlichen Argumente für die Neuorientierung sozialdemokratischer Politik im ökonomischen Bereich kaum vermittelt. So kann es auch nicht überraschen, daß sich heute noch Vertreter demokratischsozialistischer Positionen in der SPD bei Sozialisierungsfragen eher auf Überlegungen der Jungsozialisten stützen und kaum die Argumentation der Theoretiker des Godesberger Programms zur Kenntnis nehmen. Dabei war die Sozialisierungsdebatte in der Frühphase der SPD nach 1945 zugleich eine grundsätzliche Debatte über wirtschafts-und gesellschaftspolitische Ordnungsvorstellungen.

Als entscheidende sozialistische Zielvorstellung kristallisierte sich dabei nicht die allgemeine Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln heraus, sondern die Abschaffung oder Kontrolle wirtschaftlicher Machtballungen zur Verhütung des Machtmißbrauchs und zur Erreichung gleicher Startchancen im Wirtschaftsleben. Schon das prinzipiell noch orthodox-marxistische Heidelberger Programm von 1925 hatte ja die traditionellen Sozialisierungsforderungen erheblich relativiert. Zwar herrschten in der sozialdemokratischen Partei und der Programmdiskussion über den Stellenwert der Sozialisierung und über ihre wirtschaftstechnische Konkretisierungen durchaus nicht einheitliche Auffassungen vor. Gerhard Weisser gelang es aber nach 1945 schon sehr früh, seine Vorstellungen von einer „gemischten Wirtschaftsverfassung" und vom „Gebildereichtum" der Wirtschaft in die Programmatik der Sozialdemokraten einfließen zu lassen, obwohl sie mit dogmatischen Positionen wie denen von Viktor Agartz und Ernst Nölting nicht in Einklang zu bringen waren

Besonders seit Anfang der 50er Jahre wurde auf parteioffizieller Ebene das Bestreben immer deutlicher, der Sozialisierungsfrage ihren Prioritätscharakter zu nehmen. Fragen von Planung und Lenkung, des Verhältnisses von Wettbewerb und Planung und der Mitbestimmung der Arbeitnehmer traten in den Vordergrund Ohne Zweifel wurde das Verhalten der Sozialdemokratie dabei auch davon mitbestimmt, daß angesichts der offensichtlichen Erfolge der Erhardschen Wirtschaftspolitik das Interesse der Bevölkerung an fundamentalen ökonomischen Strukturveränderungen zurückgegangen war. Dennoch bedeutet die auf dem Godesberger Parteitag am heftigsten umstrittene prinzipielle Entscheidung für marktwirtschaftliche Ordnung der Wirtschaftsabläufe nicht kritiklose Übernahme der faktisch vorhandenen Marktwirtschaft. Schon der freiheitlich-demokratische Sozialismus der ausgehenden Weimarer Zeit betonte, daß es sehr verschiedene Typen von Marktwirtschaft geben kann, und nannte die Bedingungen, die an einen akzeptablen Typ von Marktwirtschaft zu stellen sind. Die Entscheidung für öffentlich gelenkte Marktwirtschaft geht dabei auf die generelle Hochschätzung der Freiheitsmaxime zurück, weil in einer prinzipiell marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung am ehesten die Vielgestaltigkeit des sozialen Lebens als eine Voraussetzung der Freiheitlichkeit gewährleistet werden kann. Marktwirtschaft wird instrumentell dann geschätzt, wenn sie wirklich wettbewerblich ist, wenn sie von Diskriminierungen infolge einer ungerechten und nicht mehr zeitgemäßen Originärverteilung des Produktionsvermögens und der Einkommen befreit wird und wenn das freiheitliche Postulat der Vielfalt der Unternehmenstypen nicht durch private Uniformierung der Gesellschaftswirtschaft pervertiert wird Dabei werden die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität im Godesberger Programm explizit als Ziele des demokratischen Sozialismus herausgestellt und zur verbindlichen Basis auch der sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik gemacht.

Die offene Ausweisung der Grundwerte und deren undogmatische pluralistische Begründung erregte innerhalb der Partei und in der Öffentlichkeit neben der wirtschaftspolitischen Programmatik die größte Aufmerksamkeit

IV. Entwicklungen nach Godesberg — „Ent-" und „Re-ideologisierung"

Im Grundsatz blieb das Godesberger Programm nach seiner Verabschiedung zehn Jahre lang ebenso unangefochten wie der Charakter der deutschen Sozialdemokratie als einer linken Volkspartei demokratischer und sozialer Reformen. Die Beobachter konstatierten nach den grundsätzlichen Besinnungen in den Programmkommissionen vor Godesberg und nach der Verabschiedung des Programms eine Phase in der SPD, in der ein oberflächlicher, oft philosophisch primitiver Pragmatismus vorherrschte. Die Diskussion um grundsätzliche Fragen trat in den Hindergrund, die Orientierung an politischen Erfolgsleitbildern überwog oft alle anderen Überlegungen. Dabei war der oft vordergründige Pragmatismus keineswegs nur von taktischen Erwägungen bestimmt. Weisser sieht in ihm vor allem auch eine weitgehend generationsbedingte Erscheinung: „Immer mehr traten an die Stelle der im Kampf gegen den Nationalsozialismus erprobten ersten Nachkriegsgeneration der SPD jüngere Politiker, deren Engagement-Bereitschaft in der Jugendzeit fürchterlich mißbraucht und enttäuscht worden war, so daß sie jede gesinnungsmäßige Bindung als . ideologisch abzulehnen geneigt waren."

Dazu trugen auch bestimmte Auffassungen in den „Theorien" von der „Entideologisierung" bzw.der „nachideologischen Epoche“ bei. Hinter der These von der Entideologisierung, die vielen als die einzig mögliche Antwort auf gescheiterte Denkentwürfe und Weltbilder erschien, verbarg sich bei näherem Zusehen nicht selten eine Rückkehr zu ursprünglichen Ideologien oder eine Ideologie der Ideologielosigkeit. „Was heute meist unter Ende der Ideologie verstanden wird“, konstatierte Flechtheim seinerzeit, „spiegelt... in erster Linie das Verschwinden zukunftsorientierter Haltungen und Überzeugungen wider." Besonders die logisch und psychologisch unhaltbare „Sachzwanglehre" lieferte willkommene Argumente für diejenigen, die sich gern eines angeblich „weltanschauungsfreien pragmatischen“ Denkens rühmten

Vor allem die wirtschaftlichen Einbrüche Mitte der 60er Jahre — die erste wirtschaftliche Rezession nach 15 Jahren wirtschaftlichen Wachstums und die Finanzkrise von 1966—, die Folgeprobleme des ökonomischen Wachstums und zahlreiche soziokulturelle Konflikte gaben den Anstoß zu umfassender Kritik an einer nur an kurzfristigen Erfolgskriterien orientierten Politik der politischen Parteien.

Wichtige Impulse gingen dabei von der „Revolte der jungen Generation" aus. Veränderte Bewußtseinsstrukturen, Wandlungen in den Wertsystemen der Öffentlichkeit führten dazu, daß sich die Politiker massiv mit Problemen und Forderungen konfrontiert sahen, welche vornehmlich die immateriellen Seiten der Lebenslagen der Bürger betrafen. In der SPD führte das zu einem Wiederaufleben der innerparteilichen Grundsatzdiskussion — nicht zuletzt auch als Folge des Eintritts der SPD in die Große Koalition

Die neue Theoriediskussion war zunächst stark von den Jungsozialisten oder sich als „links" begreifenden Positionen bestimmt, über einige Unterschiede hinweg war ihnen gemeinsam, daß sie jeweils für sich in Anspruch nahmen, die Theorie des demokratischen Sozialismus gegen den theoriefeindlichen Pragmatismus aller anderen Gruppen in der SPD zu vertreten. Soweit theoretisch argumentiert wurde, griff ein großer Teil der jüngeren Generation in der sozialdemokratischen Partei auf längst überwunden geglaubte Marxismen zurück Sozialpsychologisch kann dieser Rückgriff unter anderem vielleicht da-mit erklärt werden, daß er im Widerstand ge-gen das zum Teil wirklich, zum Teil scheinbar Öpportunistische der Pragmatismusideologie geboren wurde. Gefördert wurde diese Entwicklung auch durch Wandlungen der sozialen Strukturen in der SPD in den 60er Jahren, die vor allem einen Zuwachs von jüngeren Mitgliedern hatte die vielfach von der stu-dentischen Bewegung jener Zeit stark, beeinflußt waren

Die Theoretiker der sogenannten „Neuen Linken" ignorierten die geistigen Tendenzen in der Sozialdemokratie der ausgehenden Weimarer Republik und die theoretischen Auseinandersetzungen in der Zeit vor Godesberg. Als das Interesse an historischen und theoretischen Fragen in den 60er Jahren neu erwachte und kleine Richtungsgruppen eine Polemik entfesselten, . sozialisierte'man so einen Teil einer ganzen Generation junger Parteimitglieder, soweit sie überhaupt erreicht wurden, „zunächst einmal an den geltenden politischen Grundlagen der Sozialdemokratie vorbei" Man kann davon ausgehen, daß die Mehrheit der mittleren Generation der SPD und des Nachwuchses sich mit den wissen-schaftlichen Grundlagen des Godesbergei Programms nicht befaßt hat und sie daher größtenteils auch nicht mehr kennt. Ebenso blieben Theoretiker des Godesberger Programms wie Eichler und Weisser bei ihnen weitgehend unbeachtet. Inhaltlich hätten diese Autoren wie auch die Ergebnisse der Programmdiskussionen vor Godesberg der „Neuen Linken" viel zu bieten gehabt. Fragen des Umweltschutzes, Energieprobleme, das Verhältnis zu den Entwicklungsländern sind dort schon zu einer Zeit thematisiert worden, als dafür noch keine öffentliche Resonanz existierte.

Ohne Zweifel mobilisierten aber die politische Sensibilisierung der jüngeren Generation und die provozierenden Positionen der „Neuen Linken" in der sozialdemokratischen Partei viele neue geistige Kräfte. Ein neues Problembewußtsein erzwang programmatische Diskussionen, die schließlich zum Orientierungsrahmen '85 führten.

Die Marxismusrenaissance in Teilen der jüngeren Generation und die konkrete Programmatik des Orientierungsrahmens wurden von vielen außerhalb — aber auch manchen innerhalb — der Partei als „Re-ideologisierung" als Rückkehr der Gesamtpartei zu alten Verhaltensmustern kritisiert. Nach einem Teil der öffentlichen Meinung dominiert in der SPD immer stärker eine breite marxistische „Linke", die sich anschickt, die SPD wieder in eine sozialistische Klassenpartei zurückzuverwandeln und das Godesberger Programm aufzugeben.

V. Der Orientierungsrahmen '85 — das Ende des Godesberger Kurses?

Eine dezidierte Position wird in diesem Zusammenhang von Wilhelm Hennis vertreten. In seinem Vergleich des Godesberger Programms mit dem Orientierungsrahmen '85 sieht er eine Entwicklung von einem „freiheitlich-liberalen" zu einem „organisierten" demokratischen Sozialismus. Sie ist für ihn vor allen Dingen durch eine Veränderung im Staats-und Politikverständnis gekennzeichnet, die er als Übergang von einer „ordnungspolitischen" zu einer „zielpolitischen" Orientierung umschreibt und als „das eigentlich Bemerkenswerte und Beunruhigende an diesem Papier" begreift.

Da Hennis, der nach Schwan „mit seiner harten Analyse der programmatischen Fehlentwicklung der SPD ins Schwarze" trifft viele der gängigen Kritiken an der Entwicklung der Sozialdemokratie auf den Begriff bringt soll an dieser Stelle auf einige seiner Behauptungen über den Vergleich der beiden Programme eingegangen werden Grundsätzlich sagt der Orientierungsrahmen wie jedes politische Programm für Hennis mehr über den Standort und die Richtung der Partei aus, als über die praktische Politik. So konstatiert er im Orientierungsrahmen gegenüber dem Godesberger Kurs den Geist einer „ganz anderen Politik". Er ist für ihn eindeutig „marxistischer" als das Godesberger Programm, nicht so sehr in den Inhalten als im Sprach-und Denkstil, im Strategie-und Mittelbereich, in seiner Form „eines militärwissenschaftlichen Dokumentes" Dabei bleibt weitestgehend im Vagen, was hier unter „marxistisch" verstanden wird. Prinzipiell ist es weder philosophisch noch empirisch angemessen, der SPD von heute insgesamt eine starke marxistische Schlagseite nachzusagen. Eine Kennzeichnung der heutigen Situation in der SPD als Renaissance des Marxismus ist zu einfach, denn in der jüngeren Zeit war die Marxrenaissance keineswegs repräsentativ für die SPD, allenfalls für Randgruppen in der Partei. Und auch bei der „Linken“ in der SPD handelt es sich nicht um eine schlichte Rückkehr zur Marxschen Geschichtsphilosophie, sondern meist um eine Rückkehr zu zentralen empirischen Fragestellungen Marxscher Provenienz, soweit nicht einige mehr oder weniger bewußt eine Rückkehr zum Hegelianischen Essentialismus vollziehen. Dieser hat aber-keineswegs merklichen Einfluß auf die sozialdemokratische Programmatik gewonnen, und auch im Orientierungsrahmen lassen sich keine marxistischen Konzepte der politischen Strategien finden, die in der geschichtlichen Entwicklung der SPD absolet geworden sind. Für die innerparteilich ausschlaggebenden Gruppen scheint außer Zweifel zu sein, daß die SPD keine reideologisierte Klassenpartei werden darf, wenn sie ihren Einfluß auf die Gestaltung der Republik erhalten will.

Nicht von der Hand zu weisen ist Hennis'These, daß in der Diskussion um den Orientierungsrahmen sehr oft eine Sprache vorherrschte, die seit Ende der 60er Jahre gängiges Vokabular des in den Hochschulseminaren dominierenden marxistischen Politikökonomismus war. Hier lassen sich dann auch schwerlich Bezüge in der Diskussion zu der wissenschaftlichen und philosophischen Tradition des freiheitlich-demokratischen Sozialismus vor Godesberg wiederfinden. Schon die Diskontinuität in der Sprache verschüttete auch frühere fruchtbare Ansätze für die Lösung von Problemen, die später — oft mit neuen Sprachsymbolen versehen — spektakuläre Aufmerksamkeit erfahren haben So sehr hier Hennis gewisse neuralgische Punkte in der neueren Theoriediskussion der Sozialdemokratie des Orientierungsrahmens richtig aufzeigt, so problematisch bleiben viele seiner Ausführungen über den Weg vom „freiheitlich-liberalen“ zum „organisierten" demokratischen Sozialismus, auch wenn er als Kronzeugen für die von ihm behaupteten „Fehlentwicklungen" in der neueren Programmatik der SPD neben Kurt Schumacher, Adolf Arndt und Carlo Schmid Godesberger Theoretiker wie Willi Eichler und Gerhard Weisser heranzieht

Gerade die Arbeiten Eichlers und Weissers lassen es nicht zu, die vermeintlichen Unterschiede von Godesberger Programm und Orientierungsrahmen '85 mit der Dichotomie „ordnungspolitische" versus „zielpolitische" Orientierung zu kennzeichnen.

Die Frage nach einer Ziel-oder Ordnungsorientierung kann sich zunächst einmal 5 grundsätzlich so nicht stellen, weil beide Ansätze logisch nicht auf der gleichen Ebene lie-gen.

Ziel(Ideal) -Analyse-Programm, das ist das logische Schema zur Ableitung eines jeden politischen Urteils. „Das ist der Gedankenweg, den jeder Politiker zurücklegt. Bewußt oder unbewußt, er muß ihn gehen, weil logisch nichts an-deres möglich ist... Für den Despoten treten an die Stelle des Ideals das Bedürfnis nach Macht oder andere eigensüchtige Ziele; die logische Form bleibt die gleiche."

Dem „Ideal" wie den Grundzielen des demokratischen Sozialismus ordnet man unmittelbaren Wert zu. Ordnungen schätzt man nur mittelbar, allenfalls ästhetisch kann ihnen unmittelbarer Wert zugemessen werden. Ordnungen sind soziotechnische Voraussetzungen, sie setzen nur Bedingungen für politisches Handeln, nicht Ziele.

Die Schöpfer des Godesberger Programms ha-ben den Sozialismus nicht primär als Ordnungssystem begriffen, das die Struktur der Gesellschaft im Soziotechnischen bestimmen soll. Sie waren sich darüber im klaren, „daß von einer und derselben Gesinnung aus je nach den jeweiligen gesellschaftsgeschichtlichen Bedingungen ganz verschiedene Ordnungskonzeptionen geboten sein können. Wenn man das nicht mehr oder noch nicht weiß, dann läßt sich trefflich im Trüben fischen und zum Beispiel ein Wahlkampf versimpeln. Es kann dann gesagt werden, der Gegner, der, da-mit man ihn besser bekämpfen kann, als Träger einer feindlichen Gesinnung hingestellt werden muß, täusche die harmlosen Gemüter unter den Wählern, wenn er ordnungspolitisch nicht mehr das fordert und verspricht, was er vor 50 Jahren oder um die Jahrhundertwende gefordert hat." Die Entscheidung für einen bestimmten Typ der gesellschaftlichen Ordnung wird immer bestimmt von den gesinnungsmäßigen Voraussetzungen und den sich ständig ändernden äußeren Bedingungen. Auch der grundsätzliche Konsens über politische Ordnungen ist das Ergebnis des Ringens um Ziele und muß unter sich wandelnden historischen Bedingungen immer wieder in der Auseinandersetzung unterschiedlicher politischer Werturteile neu gewonnen werden. Auch Hennis ist nicht frei von einer alten Schwäche des Konservatismus, der meint, treu an einer Gesinnung festzuhalten, wenn er die äußeren Formen, in denen er früher einmal die Gesinnungswerte realisiert hat, so brav beibehält, als wären diese Regeln zugleich Ausdrucksformen der Gesinnung. Dabei liegt es auf der Hand, daß — wie jede Technik — auch die Technik der Ordnung obsolet wird, wenn sie unter gänzlich veränderten zeitgeschichtlichen Bedingungen an den alten technischen Regeln festhält.

Ich kann Hennis auch nicht folgen, wenn er in der Entscheidung von Godesberg eine Abkehr der SPD von einer „traditionellen Programmpartei" zu einer „Volkspartei'sieht, im Orientierungsrahmen wiederum eine erneute Umkehr wobei dann meist in einem Teil der Presse „Programmpartei" mit „Klassenpartei" identifiziert wird.

Läßt man einmal die Fruchtbarkeit dieser Gegenüberstellung außer acht, so muß betont werden, daß gerade der Weg nach Godesberg geprägt war durch eine Neubesinnung im Programmatischen. Die Reflexion über Werte und Zielvorstellungen des demokratischen Sozialismus war vorrangig. Die Erfahrungen mit einem System, das entschlossen war, menschliche Würde und personale Autonomie zu zerstören, hatten gerade nach 1945 vor allem in den Gruppen der sozialistischen Emigration zur Rückbesinnung auf letzte Werte menschlicher Existenz geführt. Die Frage, ob sich die SPD stärker zu einer Volkspartei entwickelt hat, hängt so nicht — zumindest nicht primär — von ihrer Einstellung zum Ordnungspolitischen ab, sondern von der Offenhaltung der Begründung von Werten und Zielen der Bewegung Menschen sehr unterschiedlicher „Weltanschauungen" bekennen sich hier zu einem Bündel von Grundentscheidungen. Erst die klare Interpretation der Grundwerte läßt eine Entscheidung darüber zu, welcher Ordnungstyp zur schrittweisen Erreichung von Zielen am besten geeignet ist. Dies gilt z. B. auch für den Ordnungstyp Marktwirtschaft. Freiheitlich-demokratische Sozialisten haben auch die Freiheitsforderung ihrer Bewegung meistens deshalb besonders herausgestellt, weil ein demokratisches System als äußere Organisationsform des Staates nicht unbedingt Freiheit garantieren muß.

Wenn man aber aber die Ziele, denen eine politische Ordnung dient, im Dunklen läßt oder nur dem freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte überläßt, liegt es nahe, daß in einer weiterhin interessengespaltenen Gesellschaft, in der Macht legal und faktisch ungleich verteilt ist, meist die Stärkeren sich auf Kosten der Schwächeren durchsetzen. Und hier liegt der zentrale Unterschied in den Auffassungen der Sozialdemokraten sowohl des Godesberger Programms wie des Orientierungsrahmens zur Hennisschen Position, die sich hinter der problematischen Alternative von „Zielkampf" und „Ordnungsgestaltung" verbirgt. Während sich die Sozialdemokratie in beiden programmatischen Dokumenten zur aktiven Gesellschaftsgestaltung bekennt, wird von Hennis Politik mehr oder weniger auf die Aufgabe beschränkt, „Ordnung" zu schaffen und zu halten. „Sozialgestaltung", staatliche „Steuerung" sind ihm suspekt. Und wer den Begriff „Gesellschaftspolitik" benutzt, bewegt sich für ihn „am Rande einer für ein freiheitliches Gemeinwesen zulässigen Denkweise" Erkenntnisleitend für die Hennissche Kritik am Orientierungsrahmen ist eine Position, die der klassischen konservativen Auffassung von der natürlichen Harmonie der Interessen nahe-kommt. Man gewinnt bei ihm den Eindruck, als sei doch eigentlich alles in Ordnung in der sozialen Welt; die sich selbst überlassene gesellschaftliche Realität dränge zu immer gerechteren und besseren Formen, wenn nur die Politik den äußeren Ordnungsrahmen sichere. Wenn der Staat weitestgehend von aktiver Gestaltung, von Gesellschaftspolitik ausgeschlossen wird, liegt es nahe, jedem einzelnen dann die Verantwortung für Mängel und Versäumnisse in Gesellschaft und Wirtschaft aufzubürden. Mit der Realität des Interventionsstaates und der Notwendigkeit für das politisch-administrative System, überall dort einzugreifen, wo gesellschaftliche Konflikte zu Problemen werden, ist die Auffassung Hennis'kaum kompatibel. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung lassen sich aber heute selten noch als eigenständige, aus sich selbst heraus verständliche Prozesse beschreiben bzw. analysieren. Sie sind vielmehr unauflösbar mit den sich ebenfalls entwickelnden und verändernden Problemen, Zielen, Strategien und Maßnahmen der staatlichen Politik verflochten und nur in dieser Verflechtung zu interpretieren. Und dort, wo die Eigendynamik ökonomischer und wissenschaftlich-technologischer Entwicklungen Veränderungen in den verschiedenen Teilsystemen der Gesellschaft bewirken, zwingen sie auch den Konservativen, den am Status quo Orientierten, zu gezielten Eingriffen und Reformen, soweit die Veränderungen das für ihn Bewährte bedrohen Und gerade der Orientierungsrahmen macht deutlich, daß man heute der Setzung eindeutiger Prioritäten der politischen Gestaltung bedarf, wenn man das Erreichte in seiner Substanz in Zukunft erhalten und Bedingungen für gesellschaftliche Verbesserungen eröffnen will. Vor allem Politik, die heute bereit ist, angesichts sich zuspitzender Problemlagen auch Neugestaltung zu wagen, ist Zielkampf. In der konkreten Politik, bei den politischen Auseinandersetzungen um Atomkraftwerke, Steuer-gesetze, Reformen im Bildungsbereich usw., geht es um Auseinandersetzungen in den Zielen. Politik heißt in komplexen Sozialsystemen immer Auswahl aus möglichen Handlungsnormen, Rangordnungen von Zielen und den entsprechenden Mitteln. Auch wenn eine weitgehende Übereinstimmung über Allgemeinformeln wie Freiheit, Demokratie, Sicherheit usw. vorhanden ist, bestehen große Unterschiede hinsichtlich der Gewichtung und bei der Konkretisierung. Brisante politische Auswahlprobleme ergeben sich vor allem dann, wenn die unstreitigen Globalwerte operational definiert und im konkreten Entscheidungsfall in Konflikt geraten. Es handelt sich um Zielkampf, wenn entschieden werden muß, ob etwas von dem einen, z. B.der Freiheit, zugunsten des anderen, z. B.der Sicherheit, geopfert werden soll. Die Alternative von Politik als Ordnungsgestaltung oder Zielkampf ist im Blick auf den Orientierungsrahmen falsch gestellt. Ein „Zielkampf" um angemessene Problemlösungen, die die verfassungsrechtlichen Prinzipien respektieren und der eigenen Konzeption zugrunde liegen, ist Ordnungsgestaltung. Ein solcher Zielkampl stellt ja nicht — was Hennis zu befürchten scheint — die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Frage. Sicherlich ist Bezugspunkt politischen Handelns „die Ordnung mit ihren ärgerlichen Mängeln und Problemen" Für das Erkennen dieser Probleme und ihrer Lösung bedarf es aber einer wie auch immer gearteten Konzeption, die von klaren Zielvorstellungen ausgeht. Solche Zielvorstellungen werden bestimmt von den Grundwerten politischer Bewegungungen, von denen der demokratische Sozialismus in der Bundesrepublik eine ist, die mit anderen um einen mehrheitsfähigen Konsens für die Durchsetzung ihres Zielbündels zur Lösung der Probleme im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung kämpft. Die „ärgerlichen Mängel und Probleme der Ordnung" sind nichts anderes als Defizite in der Verwirklichung solcher Grundwerte. Diese sind Maßstab und Richtungsweiser für politisches Handelns vor den jeweils konkret gestellten Aufgaben

Allerorten entdeckt Hennis im Orientierungsrahmen eine „absolute, imperativische Dominanz der Ziele des demokratischen Sozialismus"; der Staat des Orientierungsrahmens ist für ihn ein Handlungssystem zwecks „Beförderung des demokratischen Sozialismus"; die „Zielorientierung“ vernachlässigt die „Herrschaft“ als „Sorge für die Sicherung von Grundbedingungen und die Einhaltung von Regeln“

Nun kann man auch bei sorgfältigster Analyse im Orientierungsrahmen kein Freund-Feind-Schema oder die Auffassung finden, daß das Ziel „demokratischer Sozialismus" jedes Mittel heilige. Der Orientierungsrahmen beansprucht kein Monopol für die Erkenntnis des allein richtigen Weges der Gesellschaftsgestaltung. Auch in ihm bekennt sich die Sozialdemokratische Partei — wie im Godesberger Programm — dazu, eine demokratische und soziale Reformpartei zu sein, „die in Konkurrenz oder in Zusammenarbeit mit anderen Parteien Staat und Gesellschaft gestalten will" Voraussetzung dafür ist zunächst ein Fundamentalkonsens. Der von Hennis besonders scharf kritisierte Vorsitzende der Kommission, Peter von Oertzen, formuliert in seinem Einleitungsreferat zum Orientierungsrahmen '85: „Ungeachtet aller in unserer Gesellschaft fortdauernden sozialen Gegensätze und Konflikte, die offen und, wenn nötig, auch hart ausgefochten werden müssen, gilt doch auch dies. Es gibt eine allgemeine Solidarität der Mitbürger und der Mitmenschen, von der niemand ausgeschlossen werden darf... Der menschliche und politische Grundkonsens ist die unerläßliche Voraussetzung auch für das Wirken der sozialistischen Bewegung." Was darüber hinaus die von Hennis attackierte Forderung des Orientierungsrahmens betrifft, die bun-desrepublikanische Wirklichkeit nach den Zielvorstellungen des demokratischen Sozialismus zu gestalten — blumenreich mit Verordnung der „Sozialmedizin Demokratischer Sozialismus" an den „Patienten" Bundesrepublik umschrieben —, so ist sie zweifellos mit den Grundprinzipien unseres demokratischen Verfassungsstaates und den Vorstellungen der „Godesberger" SPD vereinbar. Auch im Godesberger Programm haben sich die Sozialdemokraten das Ziel gesetzt, die Mehrheit des Volkes zu gewinnen, um „Staat und Gesellschaft nach den Grundforderungen des demokratischen Sozialismus zu formen".

Es liegt dabei doch in der Logik unserer Konkurrenzdemokratie, daß die politischen Parteien das Faktum ihrer unbezweifelbaren Partikularität nicht als überholbar ansehen können. Auch die Sozialdemokraten kämpfen so auf der Basis von aus den Grundwerten des demokratischen Sozialismus abgeleiteten Zielen mit dem politischen Gegner, „weil ihrem Anspruch, das Allgemeine konkret machtvoll zu bestimmen, die Überzeugung vorausliegt, die in der parteilichen Partikularität entwickelten Konzepte seien für die Bürger (und nicht nur für die Parteimitglieder) konsensusfähig, also verallgemeinerbar"

Auch hier unterscheiden sich aber die Zielsetzungen des Orientierungsrahmens nicht von denen des Godesberger Programms.

Aber auch in anderen Punkten scheint mir der Versuch Hennis, den Orientierungsrahmen in Gegensatz zum Godesberger Programm zu bringen, nicht gelungen. -So wird von ihm die Forderung nach einer Politik kontinuierlicher innerer Reformen im Orientierungsrahmen als inhumane Zielsetzung angesehen: Die dauernde Aufgabe, „Freiheit und Gerechtigkeit zu erkämpfen, sie zu bewahren und sich in ihnen zu bewähren", als Ziel einer Partei sei „Fron70) dienst, Fessel, Vergatterung". Dauernde Aufgabe ist für ihn in der Politik einzig „die Sicherung der Bedingungen und des Bezugsrah mens". Dauernde Aufgaben sind „Amtsaufga ben", für die es die auf Dauer eingerichteten öffentlichen Institutionen gibt, die für ihn außerhalb der politischen Parteien stehen Nun weiß Hennis auch, daß die Formel von der „dauernden Aufgabe" dem Godesberger Programm entstammt. Hier ist sie für ihn „reformistische Beschwichtigungsformel", im Orientierungsrahmen entscheidendes Agens mit ganz anderer Bedeutung

Sieht man einmal von der fragwürdigen Auffassung Hennis'ab, Politik fast ausschließlich als von staatlichen Institutionen zu betreibende Angelegenheit zu begreifen und die Gesellschaftsmitglieder weitestgehend außen vor zu lassen, so verkennt er auch die Absichten der bekannten These des Godesberger Programms, die schon in der Präambel des Berliner Programms enthalten war („Der Sozialismus wird ... stets Aufgabe bleiben"). Weisser hat in der Kommission dieser Aussage den Nachsatz hinzugefügt: „Auch wenn er sich mit seinen organisatorischen Ideen durchsetzt" Dieser Satz ist eindeutig gegen die Geschichtsmetaphysik des orthodoxen Marxismus gerichtet. Mit ihm wurde einem deterministischem Geschichtsbild von einem spezifischen „Sinn" der Geschichte eine Ab-sage erteilt. Mit der Berliner Präambel wurde eine metaphysische „Geschichtsphilosophie''durch eine geschichtstheoretisch fundierte Zeitanalyse ersetzt. Sie zielt darauf ab, die Gefahren der Freiheitsfeindlichkeit und Erstarrung auch einer klassenlosen und jeder hochorganisierten Gesellschaft herauszuarbeiten. Wenn diese Formel im Orientierungsrahmen wieder aufgenommen wird, so wird dokumentiert, daß man sich auch hier einer dialektischen Erkenntnistheorie versagte.

Das Gesagte zeigt aber auch, wie problematisch es ist, wenn Hennis beim Orientierungsrahmen das Mach-und Veränderbare der Verhältnisse im Vordergrund sieht, im Godesberger Programm, mit seinem „dezidiert anti-rationalistischen Geschichts-und Praxisverständnis", hingegen fast „Demut gegenüber den Unbegreiflichkeiten der Geschichte“ konstatiert und eine „ethische Unterordnung • der Zwecke unter die Mittel" Wir haben darauf hingewiesen, inwieweit das Grundsatzprogramm der Sozialdemokratie von der Kant-Fries’schen kritischen Philosophie beeinflußt wurde, deren Vorstellungen eindeutig „praktisch", also auf das Handeln bezogen sind. So ist auch das Godesberger Programm auf politisches Agieren gerichtet. Zwar werden die Bedingungen und Restriktionen der industriellen Umwelt wie im Orientierungsrahmen gesehen und beachtet, es regiert aber nicht etwa die „Philosophie" des Sachzwangs, der politische Handlungsmotivationen erstickt. Sozialtechnologisch bedeutet das auch hier wie im Orientierungsrahmen, daß grundsätzliche gesellschaftliche Veränderungen im Wege von Reformen möglich und nötig erscheinen. Schlägt in der Soziologie Marxens die Hegelsche Geschichtsmetaphysik im Glauben an den unausweichlichen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems durch, so dominiert in beiden Handlungsprogrammen der Glaube an die Möglichkeiten der fundamentalen Verbesserung des Systems. Nicht die Suche nach einem allgemeinen Ordnungsprinzip — wie etwa dem der Totalsozialisierung — kennzeichnet dabei die Programmatik, sondern ein ordnungspolitischer Pluralismus, der allen in der Gesellschaft vorhandenen Ta-lenten und Temperamenten gerecht werden soll

Man folgt dabei in beiden Programmen, was die Staatsauffassung betrifft, weder der aus liberalistischem Anti-Etatismus geborenen Vorstellung des Staates als wenig mehr als einer Truppe von Bürokraten, noch wird eine Neigung sichtbar, ihn hegelianisch zu vergotten oder marxistisch zu verteufeln. Man braucht ihn weder als besondere Form der Kulturobjektivation noch als großen Unterdrückungsapparat zu begreifen, um seine Unentbehrlichkeit als Instrument zur Verwirklichung sozialer Demokratie und damit natürlich auch der Gesellschaftsreform zu bejahen.

Wenn Hennis meint, daß die Schlüsselkategorie des Staatsverständnisses des Orientierungsrahmens der Begriff der „Organisation" sei, so wird man ohne weiteres einräumen, daß Probleme des Organisierens auch in der Programmkommission vor Godesberg intensiv diskutiert wurden. Auf die zunehmende Organisierungsbedürftigkeit der modernen Industriegesellschaften und die sich daraus erge— benden neuen disziplinären Abhängigkeiten und Gefahren für die Freiheit wird bereits in der Präambel des Berliner Aktionsprogramms hingewiesen. Die Sozialdemokratie erwartet also keineswegs — wie Hennis anzunehmen scheint — alles Heil vom Organisieren, sondern macht gerade auf die Gefahren von Organisationen aufmerksam, die die Tendenz ha-ben, „ein Eigenleben zu entwickeln und bürokratisch zu erstarren“ Aber Warnungen genügten den Programmatikern nicht. Die Sozialdemokratie setzt auch konstruktive Akzente. Wenn schon organisiert werden muß, dann nach dem Postulat der Vielgestaltigkeit des sozialen Lebens. Und wenn schon das Subsystem Wirtschaft nicht ohne große Organisationen auskommt, dann sollen die Strukturen dieser Organisationen, z. B. über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer, demokratisiert werden.

Beim Versuch des Ausspielens des Godesberger Programms gegen den Orientierungsrahmen lastet Hennis dem Orientierungsrahmen auch Mängel an, die entweder schon im Godesberger Programm zu finden sind oder die den Orientierungsrahmen nicht treffen können, weil mit ihm andere Absichten verbunden sind. Wenn es Aufgabe des Orientierungsrahmens ist, Partei und Öffentlichkeit mehr Klarheit darüber zu verschaffen, welche Probleme in den 80er Jahren wahrscheinlich auf uns zukommen werden und welche Lösungen möglich sind, so wird man nicht erwarten, daß alle wichtigen Aussagen des Grundsatzprogramms im Orientierungsrahmen wiederholt werden. Das Fehlen kann dann auch nicht mit „Preisgabe" Godesberger Positionen gleichgesetzt werden.

Hätte der Orientierungsrahmen nicht solche „Lücken“ gegenüber dem Godesberger Programm, dann wäre er tatsächlich Ersatz, was er nicht sein sollte. Was den konkreten „Vergleich" betrifft, so berücksichtigt Hennis im Blick auf die Konkretisierungen des Orientierungsrahmens nicht die gewandelten ökonomischen und politischen Bedingungen der letzten 20 Jahre Und über die großen Herausforderungen unserer Zeit, die sich abzeichnenden Probleme der 80er Jahre, die im Orientierungsrahmen angesprochen werden, verliert er kein Wort.

Ob der Orientierungsrahmen optimale Lösungen anbietet, ob die Handlungsperspektive konsistent ist, kann hier nicht im Detail erörtert werden. Wenn dem OR '85 z. B. von Kritikern aus den eigenen Reihen entgegengehalten wird, daß es ihm an einer fundierten Zeitanalyse mangele, so muß dieser Einwand auch das Godesberger Programm treffen. Eine sol-che Zeitanalyse, die in der Programmkommission in Teilen erarbeitet und in der Präambel des Berliner Programms aufgenommen wurde, hat die Redaktionskommission des Godesberger Programms nicht berücksichtigt. Dies wird oft damit begründet, daß unterschiedlich weltanschaulich gebundene Sozialdemokraten die Tendenzen und Gefahren der Zeit anders erklärten und akzentuierten und daß eine ausgewogene Zeitanalyse unverhältnismäßig viel Platz im Rahmen des Gesamtprogrammes beansprucht hätte’ Die Stichhaltigkeit dieser Einwände sei dahingestellt. Gerade heute aber wird deutlich, daß sie der Sache nicht angemessen sind, weil die Lücke, die der Verzicht auf eine Zeitanalyse schuf, so empfindlich ist. „Denn eine solche hatte es nicht nur in den Programmen vor 1933 gegeben. Von ihr als einer notwendigen Ansatzbasis waren auch alle jene ausgegangen, die sich nach 1945 an der theoretischen Diskussion beteiligt hatten, in der Erwägung, daß Forderungen und Ziele nur dann letzthin überzeugend dargestellt werden könnten, wenn man vorher ein zusammenhängendes Bild der gesellschaftlich-politischen Ausgangslage gezeichnet habe."

Die Kommission des Orientierungsrahmens hatte den Auftrag, zu untersuchen, wie durch Reformpolitik die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik in Richtung auf die drei Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität verändert werden könne Es bestand nicht die Absicht, angesichts der „neuen Probleme", die man 1959 noch nicht voraussehen konnte, den Grundwertekatalog zu erweitern. Diese Axiomentrilogie reicht aber heute nicht mehr aus, konsistente Konzepte der Gestaltung künftiger gesellschaftlicher Entwicklungen zu erarbeiten Darüber hinaus ist zu fragen, ob diese Grundwerte so operationalisiert sind, daß sie allen Programmteilen als Beurteilungsmaßstab dienen können, ob sie nicht nur am Anfang des Programms, sondern quer zum Programm in allen einzelnen analytischen und konzeptionellen Teilen zu finden sind. Wenn man auch eine Reihe von Argumenten gegen Strategie-und Mittelvorstellungen oder die „Sprache" des Orientierungsrahmens vorbringen kann und in ihm die „Machbarkeit" überschätzt erscheint, so kann man in ihm vor allem den ersten wichtigen Ansatz für langfristige Planungsorientierungen der politischen Parteien sehen Für die Sozialdemokraten waren die beiden Entwürfe zum Orientierungsrahmen parteipolitische Dokumente ihres Reformwillens, die zum ersten Mal konkrete Perspektiven eines geplanten sozialen Wandels der Gesellschaft aufzuzeichnen. Inwieweit der Orientierungsrahmen die praktische Regierungspolitik beeinflußt hat, bleibt zu analysieren. Für den innenpolitischen Gegner bildet er aber bis heute eine Art Kristallisationspunkt für ihre Reformkritik. >>VI. Ausblick

Das Godesberger Programm war das Ergebnis eines langen Lernprozesses, bei dem es auch darum ging, eine politisch tragfähige Synthese von Traditionen der Arbeiterbewegung und den Erkenntnissen der modernen Sozialwissenschaften zu schaffen. Die 60er Jahre waren bestimmt von der durch das Programm bewirkten Öffnung der deutschen Sozialdemokratie. Die Neuorientierung hat eine Fülle konkreter Reformideen initiiert, die von den gesellschaftlichen Bedingungen ausgehend bis in die Mitte der 70er Jahre die sozialdemokratische Reformpolitik in vielen Bereichen bestimmt haben.

Heute, zwanzig Jahre nach Verabschiedung des Godesberger Programms und vier Jahre nach der Verabschiedung des Orientierungsrahmens, bietet für manche Kritiker die SPD als Regierungspartei nichts weiter als ein Spiegelbild des gesellschaftlichen „Status quo". Für sie hat sie die Frage, „wohin der Weg ge-hen soll, aufgegeben, zugunsten der nur noch knapp bewältigten Aufgabe, an der Regierung zu bleiben" Und auch in der Partei selbst konstatiert man — in gewisser Analogie zu Entwicklungen nach der Verabschiedung des Godesberger Programms — eine Tendenz zur „nur noch verwaltenden Partei" oder zum „Kanzlerwahlverein"

Wenn heute allgemein vom „Versagen“ der Parteien gesprochen wird, beklagt man vor allen Dingen ein Defizit in der programmatischen Orientierung im Blick auf die Probleme der 80er Jahre.

Sicher handelt es sich bei bestimmten Elementen des von vielen heute allgemein als „Versagen“ interpretierten Erscheinungsbildes der Parteien eher um eine zufällige Häufung bestimmter, negativ eingeschätzter Erscheinungsformen, die schon immer mit dem Parteileben verknüpft waren und wohl auch nicht dauernd ausgeschlossen werden können Dennoch steht außer Zweifel, daß die Impulse für eine an der Zukunft orientierte und auf die Bewältigung ihrer Probleme hin konzipierte verantwortliche Politik von den politischen Parteien ausgehen müßten. Sie müßten dem Wähler aus ihren Grundwerten abgeleitete, umfassende Zielbündel zukünftiger Gesellschaftsgestaltung anbieten, die soweit konkretisiert werden, daß sie einer kontrollierbaren Verarbeitung im institutionalisierten Entscheidungssystem dienen können. Gegenüber anderen Institutionen des politischen Systems sind sie als Mobilisator von Innovationen eher geeignet, weil sie in der Problemwahrnehmung und Politikerzeugung weniger selektiv und fragmentierter vorgehen müssen als andere Institutionen. Ihnen müßte es eher möglich sein, im Machtgeflecht des etablierten Pluralismus Innovationen in die Diskussion aufzunehmen, weil sie nicht dem unmittelbaren Machbarkeitsdruck der direkten Erfolgskontrolle ausgesetzt sind und darüber hinaus für die politische Informations-und Wertaufnahme wie für deren Verarbeitung und Darstellung gegenwärtig legitimer erscheinen als alle anderen Institutionen Ohne die Schwierigkeiten einer sol-chen langfristigen Politik zu übersehen scheint gerade für die Sozialdemokratie ein gewisser „Sachzwang" zur perspektivischen Reformpolitik auf der Basis ihres Grundsatz-Programmes von Godesberg zu bestehen, wenn sie „überleben" oder Machtpositionen erhalten will. Der Mehrheit der Sozialdemokraten ist die Verteidigung des Erreichten wie die Sicherung des Bestehenden zu wenig. Entscheidende Gruppen in der Wählerschaft erwarten Reformen Zumindest sichert Reformpolitik die Loyalität der Stammwähler bzw. ist die Voraussetzung für deren Mobilisierung Dabei hat sich gezeigt, daß hauptsächlich junge Wähler und die Gruppe der „neuen Mittelschicht" der Reformpolitik besonders positiv gegenüberstehen. Der SPD war es gelungen, vor allem durch die Beto83) nung der nicht primär auf ökonomische Probleme abstellenden Inhalte der Reformpolitik neue Wähler in diesen Gruppen zu gewinnen Gerade das Wahl-und Sozialverhalten junger Menschen heute müßte von den Parteien als Alarmzeichen gewertet werden, die ihnen nicht nur zu denken geben, sondern sie auch zur Revision bisheriger Ansätze zwingen. Für die Jugend ist das „Muddling Through" langfristig weder eine theoretisch noch eine strategisch ansprechende Perspektive. Sie erwartet über das Tagespolitische hinausgehende, konzeptionelle programmatische Alternativen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. W. Eichler, Die politische Rolle des Godesberger Programmes, in: K. Lompe/L. Neumann (Hrsg.), Willi Eichlers Beiträge zum demokratischen Sozialismus, bonn-Bad Godesberg 1979, S. 158. Zur Rolle Willi ichlers, dem Leiter mehrerer Programmkommissonen bei der Entwicklung der sozialdemokrati-

  2. Allgemein unterscheidet man heute zwischen Grundsatz-, Aktions-, Wahl-und Regierungsprogrammen der politischen Parteien.

  3. H. Flohr, Die Rolle von Parteiprogrammen in der Demokratie, Göttingen 1968, S. 60ff.; H. Kaack (Geschichte und Struktur des deutschen Parteiensystems, Opladen 1971, S. 401 ff.) unterscheidet zwischen a) Funktionen nach außen, al) Werbefunktion, a 2) Profilfunktion, a 3) Agitationsfunktion, a 4) Operationsbasis und b) den Funktionen nach innen, bl)

  4. Im Gegensatz zu den anderen demokratischen Parteien (die CDU zum Beispiel verabschiedete zum ersten Mal im Jahre 1978 ein Grundsatzprogramm) hat die sozialdemokratische Partei seit ihrem Bestehen immer versucht, über kurzfristig ausgerichtete Reformprogramme hinaus auch Programme mit dem Ziel der grundsätzlichen Verständigung über die geschichtliche Situation von zunächst zeitlich unbegrenzter Gültigkeit zu erarbeiten. Das lag nicht zuletzt daran, daß sie von ihren beiden „Hauptlehrmeistern" Ferdinand Lassalle und Karl Marx ein Geschichtsbewußtsein mit auf den Weg bekommen hat, das ihr das Verständnis der Geschichte als Prozeß der Interdependenz aller gesellschaftlichen Kräfte und Erscheinungen erschließen ließ. Seit dem Erfurter Programm von 1891 stellten die Programme der SPD aber mehr oder weniger eine Mischung aus Grundsatz-und Aktionsprogrammen dar.

  5. Im Blick auf die Werbefunktion gegenüber dem Wähler scheint der große Durchbruch, der mit dem Godesberger Programm — obgleich kein Wahlprogramm — vorausgesagt worden war, erst 1969 erfolgt zu sein; vgl. W. Eichler (Die Rolle des Godesberger Programms, a. a. O., S. 177) mit Bezug auf Analysen von Liepelt und Scheuch. Allgemein zur 69er Wahl: M. Kaase, Determinanten des Wahlverhaltens bei der Bundestagswahl 1969, in: PVS, Heft 1, 1970, S. 46ff.

  6. G. Lührs, Th. Sarrazin, F. Speer, M. Tietzel, Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie, in: dieselben (Hrsg.), Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie, Bd. I, Berlin u. a. 19752, S. 11. Zur Kritik daran vgl. K. Lompe, L. Neumann: Willi Eichler.... a. a. O., S. 31 ff.

  7. Dezidiert wird diese Behauptung von W. Hennis in seinem Buch: Organisierter Sozialismus. Zum „strategischen" Staats-und Politikverständnis der Sozialdemokratie, Stuttgart 1977, vertreten.

  8. vgl Protokoll des Hannoverschen Parteitags, d 23, und K. Schumacher, Aufgaben und Ziele der deutschen Sozialdemokratie, in: Turmwächter der Demokratie, Bd. II, S. 71 ff., S. 75.

  9. Vgl. dazu K. Klotzbach, Die Programmdiskussion in der deutschen Sozialdemokratie 1945— 1959, in: Archiv für Sozialgeschichte 1976, S. 473.

  10. Nicht wenige sind zurückblickend geneigt, Ollenhauer das Hauptverdienst am Zustandekommen des Godesberger Programms zu geben; vgl. etwa H. J. Mann, Das Godesberger Grundsatzprogramm als Ergebnis innerparteilicher Willensbildung, in: Geist und Tat, Heft 4, 1969, S. 259ff., und F. Barsig, Freiheit und Sozialismus. Der „lange Marsch“ der SPD nach Godesberg, in: Stationen einer Republik, hrsg. von R. Klett und W. Pohl, Stuttgart 1979, S. 101 f.

  11. So problematisch es sein mag, die verschiedenen Richtungen in der sozialdemokratischen Partei jener Zeit typisierend zusammenzufassen, kann dennoch die Einteilung von Erwin Schöttle in „Ballastabwerfer“, „Traditionalisten” und „bedächtige Reformer" als praktikable Kennzeichnung der vorherrschenden Richtungen benutzt werden; vgl. dazu H. J. Mann, Das Godesberger Grundsatzprogramm ..., a. a. O., S. 229ff.

  12. Vgl. S. Miller, Die SPD .... a. a. O., S. 37. Willy Brandt, der dem Parteivorstand angehörte, der im September 1959 einstimmig den Entwurf des Grundsatzprogrammes annahm, erläuterte damals seine Bedenken: Er habe geglaubt, daß eine Partei „in diesem geteilten Lande und angesichts der uns umgebenden weltpolitischen und technisch-wissenschaftlichen Wandlungsprozesse die Grundsätze des demokratischen Sozialismus nicht neu fixieren, sondern sich auf ein Aktionsprogramm beschränken“ solle; vgl. W. Brandt in einer Stellungnahme in: „Rote Revue“, Heft 19, 1959.

  13. Dies mag auch ein Grund dafür sein, daß die anderen demokratischen Parteien der Bundesrepublik lange keine Grundsatzprogramme verabschiedet haben.

  14. Hier ist besonders beachtlich, daß nach 1945 Persönlichkeiten zur SPD gekommen waren und mehr oder weniger schnell in führende Positionen aufgestiegen sind, deren politische Vergangenheit und weltanschauliche Prägung von der für die Weimarer Sozialdemokratie charakteristischen abwichen. „In manchen Fällen sogar im Gegensatz zu ihnen standen, so um die bekanntesten zu nennen, Carlo Schmid, Adolf Arndt, Herbert Wehner, Karl Schiller. Hinzu kommt, daß auch Männer wie Willy Brandt, Waldemar von Knoeringen, Erwin Schoettle, Willi Eichler, die sich noch zur Zeit der Republik oder im Exil wegen politischer Meinungsverschiedenheiten von der SPD getrennt hatten, nun wichtige Funktionen innerhalb der Organisation ausübten." In: S. Miller, Die SPD ..., a. a. O., S. 14f.

  15. Zur Parteidiskussion vgl. die knappe, präzise Übersicht bei HJ. Mann, Das Godesberger Grundsatzprogramm ..., a. a. O., S. 227ff.

  16. G. Weisser zitiert in: „Tagesspiegel“ Nr. 196 vom 23. 8. 47.

  17. Kurt Schumacher hatte schon sehr früh betont, daß es zu der sozialdemokratischen Partei die verschiedenartigsten Zugänge geben sollte, seien es Motive der Philosophie, der Religion, der Moral oder gesellschaftsanalytische Erkenntnisse; vgl. K.

  18. Die Mehrdeutigkeit, Emotionsgeladenheit bzw.

  19. Die kulturpolitischen Konferenzen dienten als angemessene Koordinationsmittel, die einen lockeren, nicht parteioffiziellen Rahmen bildeten und offene und ungezwungene Aussprachen förderten; vgl. K. Klotzbach, Die Programmdiskussion in der deutschen Sozialdemokratie 1945— 1959, a. a. O., S. 472. Besondere Bedeutung hatte in diesem Zusammenhang die Kulturkonferenz in Ziegenhain; vgl. dazu G. Eckhardt, Auf dem Wege nach Godesberg. Erinnerungen an die Kulturkonferenz der SPD in Ziegenhain, in: Freiheitlicher Sozialismus, Beiträge zu seinem heutigen Selbstverständnis, hrsg. von H. Flohr, K. Lompe, L. F. Neumann, Bonn-Bad Godesberg 1973, S. 49— 58. Der Kulturpolitische Ausschuß und später die Studienkommission sozialdemokratischer Wissenschaftler haben die Programmarbeit entscheidend mitbestimmt. Für die Arbeit der Programmkommission 1955 waren neben der Ziegenhainer Erklärung (1947) und der Frankfurter Prinzipienerklärung der Sozialistischen Internationale (1951) die Bentvelder Erklärung über So-

  20. Vgl. H. J. Mann, Das Godesberger Grundsatzprogramm .... a. a. O., S. 231 ff. Zum Ablauf des Godesberger Parteitages vgl. J. Edler, Der Godesberger Parteitag der SPD von 1959, in: Gegenwartskunde, Heft 3, 1967, S. 208ff.

  21. Vgl. K. Klotzbach, Die Programmdiskussion in der deutschen Sozialdemokratie 1945— 1959, a. a. O., S. 480. Als wichtigste Ergebnisse der Diskussionen bis zu diesem Zeitpunkt sah Gerhard Weisser an: 1. Ablehnung der freiheitsfeindlichen Wirtschaftsform „Zentralverwaltungswirtschaft“, jedoch Feststellung, daß die wettbewerbliche Marktwirtschaft keineswegs automatisch alles das leistet, was von ihr erwartet werden muß. 2. Eine einseitige Zusammensetzung der Volkswirtschaft aus Erwerbsunternehmen wird als kulturschädlich angesehen. Die Marktwirtschaft soll mit dem Gedanken der Vielfalt der Unternehmenstypen verbunden werden, d. h. 3., das soziale Leben soll vielgestaltig an Gebildetypen sein. 4. Es wurde allmählich eine Zeitanalyse mit neuen Hypothesen erarbeitet, die das Schwergewicht auf die organisatorischen Abhängigkeiten in der hochentwickelten Industriegesellschaft lenkt, und 5. wurde erkannt, daß die gesinnungsmäßigen Grundlagen sozialistischer Haltungen in Politik und Erziehung einer viel intensiveren Klärung als bis-her bedurften, wenn sie nicht aus einer Reihe inhaltsleerer Formeln bestehen sollen.

  22. Großen Anteil an dieser Diskussion in der Partei hatten Eichler und Deist. Beide hatten auf über 350 Veranstaltungen die programmatische Neuorientierung der Partei dargestellt; vgl. H. J. Mann, Das Godesberger Grundsatzprogramm .. „ a. a. O„ S. 234.

  23. Die Stellungnahmen aus der Partei waren vielfältig und umfangreich und umfaßten fast 10000 Blätter. Da die von den verschiedenen Organisationseinheiten der Parteien gestellten Anträge inhaltlich kaum Anregungen bzw. Initiativen enthielten, die über das hinausgingen, was in den Programmdebatten seit 1945/46 und den Kommissionsberatungen seit 1945 behandelt worden war, kann man im Blick auf die innerparteiliche Demokratie mit einigem Recht sagen, daß diese Diskussionen für das Selbstverständnis der Partei von größerer Bedeutung waren als für den Inhalt des Pro-grammes; vgl. G. Edler, Der Godesberger Parteitag ..., a. a. O., S. 211.

  24. Vgl. dazu K. Lompe, L. F. Neumann, Willi Eichler ..., a. a. O., S. 16 ff.

  25. O. K. Flechtheim (Die Anpassung der SPD: 1914, 1933 und 1959, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Heft 14, 1964, S. 584f.) sieht Godesberg als „endgültige Unterwerfung unter die restaurative Entwicklung der Bundesrepublik“, als Abschluß eines Anpassungsprozesses, der 1914 mit der Zustimmung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten begonnen und sich 1933 in einer . Anbiederung an den Nationalsozialismus" fortgesetzt habe. In den „Thesen zur Strategie der Jungsozialisten in der SPD" heißt es noch 1972: „Mit dem Godesberger Programm endet... offiziell die Phase der antikapitalistischen Arbeiterpartei. Godesberg ist das Eingeständnis der Niederlage des klassischen Reformismus ... Die ehemals sozialistische Arbeiterpartei, die Partei der Unterprivilegierten, hat sich in einen systemintegrierten Machtund Vermittlungsapparat verschiedener Interessen verwandelt." (Jungsozialisten — Bezirk Hannover —, Schulungsmaterial, Schulungsgruppe 0, Wunstorf 1972, S. 7/8). Ähnliche Kritiken wurden auch von Wolfgang Abendroth, dem Exponenten des historischen Materialismus, in den Programm gremien der SPD in zahlreichen Aufsätzen und Artikeln formuliert; vgl. z. B. W. Abendroth, Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie, Frankfurt 1964; zu den Grundsatzauseinandersetzungen in den Kommissionen, die vor allen Dingen zwischen Abendroth und Gerhard Weisser geführt wurden, H. Köser, Die Grundsatzdebatte.. „ a. a. O S. 217ff.

  26. Vgl. W. D. Narr, CDU-SPD. Programm und Praxis seit 1945, Stuttgart u. a. 1966, S. 213.

  27. In der Emigration wurde die Programmdiskussion der Sozialdemokraten vor allem bei der „Union deutscher sozialistischer Organisationen" in Großbritannien geführt. Unter dem Titel „Die neue deutsche Republik" wurden 1943 Diskussionsgrundlagen veröffentlicht und 1945 programmatische Richtlinien „Zur Politik deutscher Sozialisten" publiziert. Eichler und Ollenhauer haben wiederholt darauf hingewiesen, daß diese Arbeiten eines der „fruchtbarsten Kapitel der deutschen Emigration" waren und viele Gedanken der Programme von Dortmund, Berlin und Godesberg vorweggenommen haben; vgl-dazu K. Lompe, L. F. Neumann, Willi Eichler ..., a a. 0. S. 11 ff.; und grundsätzlich zur Arbeit der so2ialistischen Gruppen in der Emigration W. Röder, Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, Hannover 1968.

  28. Vgl. K. Klotzbach, Die Programmdiskussion ..., ; a-O., S. 483. Dabei war die prinzipielle Abgrenzung zum Kommunismus aber immer schon ein zentraler Gegenstand der Reflexion der freiheitlich-demokratischen Sozialisten. Die Auseinandersetzung mit ihm vollzieht sich dabei auf drei Ebenen: auf der Ebene der erkenntniskritischen Fragen, bei der phiosophischen Fundierung der Programmatik und du der Ebene konkreter Politik, wie sie in den verschiedenen Ländern praktiziert wird. In der geistigen Auseinandersetzung mit der kommunistischen deologie werden von den demokratischen Sozialisten deutlich die Unterschiede in den Leitbildern zur Gestaltung der Gesellschaft herausgearbeitet. Unterschiede in der Gesinnung liegen darin, daß in der Bewegung des freiheitlich-demokratischen Sozialismus dem Menschen als Individuum unbedingter Selbstwert zugeordnet wird. Er wird nicht wie in der kommunistischen Bewegung lediglich als „nützliches Glied der Gesellschaft“ geschätzt. Auch in der Gesellschaftsanalyse gibt es fundamentale Unterschiede. Der Kommunismus geht davon aus, daß im Industriezeitalter die Klassenherrschaft das Kernübel ist und daß es zu einer Gesellschaft der Freien kommen werde, wenn diese Herrschaft gebrochen wird. Hingegen hält der demokratische Sozialismus die Klassenkampfhypothese zur Erklärung von Abhängigkeiten und sozialen Übeln in industrialisierten Gesellschaften unserer Zeit nicht mehr für ausreichend. Auch in den verfassungspolitischen Forderungen, die sich auf die Bildung des politischen Willens in der Gesellschaft erstrecken, unterscheiden sich diese Bewegungen zentral. Von den Kommunisten wird eine Diktatur auf Zeit erstrebt, ausgeübt durch die Klasse der bisher Entrechteten. Gestützt auf die konkreten historischen Erfahrungen geht der demokratische Sozialismus von der fundierten Vermutung aus, daß unter heutigen Bedingungen jede Diktatur auf Zeit mit großer Wahrscheinlichkeit in eine Despotie auf Dauer umschlägt

  29. Vgl. G. Weisser, Art. Freiheitlicher Sozialismus, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Band 9, Göttingen 1956, S. 509.

  30. Vgl. K. Klotzbach, Die Programmdiskussion ..., a. a. O„ S. 470.

  31. Vgl. A. Mintzel, Eine Konzentration der politischen Kräfte auf wenige Strömungen. Das Parteien-wesen der Bundesrepublik Deutschland — Entwicklung und Bewährung, in: Frankfurter Rundschau vom 15. 8. 1979, S. 14.

  32. Vgl. dazu L. F. Neumann, Prolegomena zu den sozialphilosophischen, wissenschaftstheoretischen und sozialpsychologischen Grundlagen des freiheitlichen, demokratischen Sozialismus, in: H. Flohr, K. Lompe, L. F. Neumann (Hrsg.), Freiheitlicher Sozialismus, a. a. O., S. 61 ff.; G. Weisser, Philosophischer Kritizismus, kritischer Rationalismus, kritische Theorie und Neomarxismus im Wettbewerb um die geistige Fundierung der Programmatik der SPD; in: Lührs u. a. (Hrsg.), Kritischer Rationalismus.. • a. a. O., Band II, S. 95ff.; sowie Th. Meyer, Grundwerte und Wissenschaft im Demokratischen Sozialismus, Berlin/Bonn 1978, und ders., Wissenschaftspluralismus im Demokratischen Sozialismus — am Beispiel des Godesberger Programms, in: H. Heimann (Hrsg.), Dialog statt Dogmatismus, Frankfurt 1978, S. 62 ff.

  33. Dazu und zum folgenden vgl. K. Lompe, L. r. Neumann, Willi Eichler ..., a. a. O., S. 22ff.

  34. G. Weisser, Philosophischer Kritizismus..., a. a. 0., S. 150.

  35. In klassischer Weise wurde eine solche Auffassung von Karl Kautsky in seiner Broschüre Die Diktatur des Proletariats, Wien 1918, formuliert: Würde uns nachgewiesen, daß ... die Befreiung des Proletariats uncj der Menschheit überhaupt auf der Grundlage des Privateigentums an den Produktionsmitteln allein oder am zweckmäßigsten zu erreichen sei.. dann müßten wir den Sozialismus über Bord werfen, ohne unser Endziel im geringsten aufzugeben.''(S. 4).

  36. Weisser fand sich in seinen Vorstellungen hier weitgehend in Einklang mit den vom Exilparteivorstand London entwickelten Konzepten und dem „demokratischen Sozialismus“ Kurt Schumachers; vgl. dazu, vor allem zur Diskussion im „wirtschaftlichen Ausschuß“ der SPD, H. Köser, Die Grundsatzdebatte in der SPD, a. a. O., S. 176 ff.

  37. Vgl. dazu K. Klotzbach, Die Programmdiskussion ..., a. a. O., S. 474ff.

  38. Vgl. dazu zuletzt G. Weisser, Marktwirtschaft: Seelenentscheidung für Sozialisten, in: SPD-Rundschau, Nr. 9, 1974.

  39. Grundsätzlich zur Frage Grundwerte und Wissenschaft im Godesberger Programm und der Rolle der Nelson-Schüler vgl. Thomas Meyer, Grundwerte und Wissenschaft im demokratischen Sozialismus, a. a. O., vor allem S. 102 ff. Bedeutsam war in der Godesberger Diskussion auch die Frage der Haltung der Sozialdemokraten zur Landesverteidigung.

  40. G. Weisser, Die wissenschaftlichen Grundlagen ..., a. a. O„ S. 1.

  41. Vgl. O. K. Flechtheim, Ideologie, Utopie und Futurologie, in: atomzeitalter 1964, S. 70, und ders., Die Institutionalisierung der Parteien in der Bundesrepublik, in: Zeitschrift für Politik 1962, S. 103 ff.

  42. Die These vom Sachzwang der technisch-wissenschaftlichen Entwicklung, der den Spielraum für politische Entscheidungen immer mehr fiktiv mache, wurde in der Bundesrepublik besonders von Helmut Schelsky vertreten, in: Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, Köln-Opladen 1961. -ur ausführlichen Kritik am Modell des „technischen Staates" vgl. K. Lompe, Wissenschaftliche Beratung der Politik, Göttingen 1966/19722, S. 33 ff.

  43. Sieben Jahre nach der Verabschiedung des neuen Programmes hatte die deutsche Sozialdemokratie die erste Gelegenheit, Elemente ihrer politischen Vorstellungen als Regierungspartei auf Bundesebene zum ersten Mal zu verwirklichen. Die Wahlen von 1961 und 1965 hatten ihr beträchtliche Stimmengewinne gebracht und parallel dazu eine ständige Zunahme der Mitglieder. Sicherlich ist nicht eindeutig festzustellen, ob diese Erfolge auf die Godesberger Programmatik zurückzuführen sind oder auf andere strukturelle Faktoren. Dennoch sprechen begründete Vermutungen dafür, daß die weltanschauliche Offenheit und Pluralität, die im Godesberger Programm angelegt ist, zumindest langfristig entscheidende Voraussetzungen für die Regierungsfähigkeit auf Bundesebene geschaffen haben, d. h. also für die Chance, von breiten Bevölkerungsschichten und weltanschaulichen Strömungen unterstützt zu werden.

  44. Zu einer knappen Übersicht über diese Entwicklung vgl. P. v. Oertzen, Die Zukunft des Godesberger Programms. Zur innerparteilichen Diskussion in der SPD, in: H. Flohr, K. Lompe, L. F. Neumann (Hrsg.), Freiheitlicher Sozialismus ..., a. a. O., S. 96ff.

  45. Neuere Untersuchungen zeigen, daß sich die SPD seit Mitte der 60er Jahre in ihrer Mitgliederstruktur stärker verändert hat als in den 100 Jahren davor. Fast jedes fünfte Parteimitglied ist dabei heute nicht älter als 30 Jahre und stammt aus der kritischen Wohlstandsgeneration, bei der Ansätze der Gesellschafts-und Konsumkritik sowie der Kritik an überkommenen Wertvorstellungen stärker ausgeprägt sind. Mit der Verjüngung steigt auch das formale Ausbildungsniveau, so daß der Anteil der Absolventen von höheren und Hochschulen heute in der SPD deutlich größer ist als in der Gesamtbevölkerung. Nichtsdestoweniger spiegelt die SPD in ihrer Zusammensetzung aber weitgehend die Zusammensetzung der Wahlbevölkerung wider, wenn man einmal davon absieht, daß bedeutende Bevölkerungsgruppen wie Frauen oder katholische Mitbürger unterrepräsentiert sind. Mitte der 50er Jahre waren zwei Drittel der SPD-Mitglieder Arbeiter, nur ein Fünftel Angestellte oder Beamte. Zwar ist der Anteil der Arbeiter in der SPD-Mitgliedschaft heute immer noch weit größer als bei allen anderen Parteien, die Gruppe der Angestellten und Beamten stellt aber die klare Mehrheit der Mitglieder. Auch entsprechend der sozialen Selbsteinschätzung der Mitglieder rechnen sich 70% der von Infratest und vom Infasinstitut in einer repräsentativen Erhebung befragten Parteimitglieder wenigstens zur Gruppe der Mittelschicht der bundesrepublikanischen Gesellschaft; vgl. dazu H. Becker, R. Scheller, Die „Kommunikationsstudie der SPD-Organisation" - Ergebnisse einer sozialwissenschaftlichen Bestandsaufnahme im Jahre 1977, in: Vorwärts vom 9. März 1978, S. 15; o. V., Röntgenbild einer modernen Volkspartei - Sozialstruktur, Parteiaktivität und Informationsverhalten der SPD-Mitglieder, in: Sozialdemokrat Magazin Heft 4/1978, S. 8ff.; U. Feist u. a., Strukturelle Angleichung und ideologische Polarisierung, in: M. Kaase (Hrsg.), PVS Nr. 2/3, Sonderheft: Wahlsoziologie heute, 1977, S. 258f., und M. Güllner, Daten zur Mitgliederstruktur der SPD, in: transfer 2, Opladen 19772, S. 91 ff.

  46. Ohne Zweifel liegt im Blick auf das politische System ein großer Verdienst der SPD darin, daß es ihr gelungen ist, einen großen Teil der Jugendlichen aus der außerparlamentarischen Opposition an die Partei zu binden. Auf der anderen Seite wurde da-mit das Konfliktniveau in der Partei entschieden erhöht.

  47. Th. Meyer, Die Sozialdemokratie und ihre Geschichtsschreibung, in: forum ds 1978, Bd. 5, S. 160f.

  48. Wie dem Worte „Ideologie" werden auch den Ausdrücken „Ent-" und „Re-ideologisierung“ sehr unterschiedliche Begriffe zugeordnet; vgl. dazu K. Lompe, Wissenschaftliche Beratung ..., a. a. 0., S. 32 ff. Bemerkenswert ist dabei, daß nicht selten die gleichen Kritiker, die in der Phase der „Entideologisierung" die SPD auf dem Wege sahen, die „beste CDU zu werden, die es je gab", später auch eine „Reideologisierung" der Partei im grundsätzlichen ebenso beklagten. Dabei ging es hier, soweit rational und grundsätzlich argumentiert wurde, doch auch darum, den Dissens innerhalb der in Wertkonflikten transformierten Interessengegensätze und innerhalb der Rangordnung gesellschaftspolitischer Ziele sichtbar zu machen und politisch auszutragen.

  49. Soweit nicht die dogmatische Marxrenaissance bestimmter Randgruppen als repräsentativ für die SPD angesehen wird, wird die These von der angeblichen Rückkehr zur Klassenpartei meist an konkreten Einzelfragen zu beweisen versucht. War es etwa auf dem Hannoverschen Parteitag der sogenannte Maklerbeschluß, so ist es im neuen Europaprogramm von 1979 das Eintreten für die 35-StundenWoche. Kritik an Fehlentwicklungen der realen Marktwirtschaft wird als „gegen die Marktwirtschaft gerichtete kollektivistisch eingefärbte sozialistische Politik“ — E. G. Vetter, Der wirtschaftliche Ruck nach links, in: FAZ vom 16. 4. 73 - bezeichnet. Als Ausdrucksformen solcher „kollektivistischer“ Politik werden die Forderungen nach Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen oder die Erwähnung von Investitionskontrollen im Programm der SPD angesehen. Die Auslassung von „Marx" im Godesberger Programm habe nur psychologische Bedeutung gehabt; „Marx aus der geistigen Ahnengalerie zu entfernen“, sei nur ein „zeitweilig gern gepflegter Schein" gewesen; vgl. D. Neumeyer, Der Atem der Geschichte im Nacken. Reformen zu Systemüberwindung oder zu Systemerhaltung?, in: Die Zeit vom 31. Oktober 1975, S. 15.

  50. Vgl. W. Hennis, Organisierter Sozialismus. Zum „strategischen" Staats-und Politikverständnis der Sozialdemokratie, Stuttgart 1977 passim, hier S. 16.

  51. A. Schwan, Im Clinch mit der Linken — Was ist der SPD das Godesberger Programm noch wert?, in: Die Zeit vom 5. August 1977. Auch Kurt Sontheimer hält die Analyse von Hennis für „treffend und lesenswert für jeden, sei es innerhalb und außerhalb der SPD, den diese Partei und ihr weiteres Schicksal nicht gleichgültig läßt." K. Sontheimer, Abschied von Godesberg?, in: Der Spiegel Nr. 25/1977,

  52. Das mit spitzer Feder geschriebene Buch wurde in der konservativen Presse enthusiastisch gefeiert Nach G. Gillessen präpariert Hennis heraus, daß die Linie des Gegensatzes zwischen Freiheit und Sozialismus, die die CDU in Wahlkämpfen zwischen sich und der SPD markieren wollte, in Wirklichkeit im Innern der SPD selbst zwischen Godesberg und dem Orientierungsrahmen verlaufe; vgl. G. Gillessen, Die SPD im Orientierungsrahmen, in: FAZ vom 13.

  53. Wir können hier nicht im Detail auf alle Thesen Hennis'eingehen, auch nicht auf die Auseinandersetzungen mit seinen ehemaligen Studienkollegen v. Oertzen und Ehmke, mit denen er gemeinsam beim Göttinger Staats-und Kirchenrechtler Rudolf Smend promovierte. Stellenweise stellt die Argumentation von Hennis mehr eine innerschulische Kontroverse zwischen Rechts-und Links-„Smendianern“ dar. Viele seiner Attacken gegen den Orientierungsrahmen — vor allem sein „Staatsverständnis" — stützen sich nicht auf den Text des Programms selbst, sondern auf ältere und neuere Aussagen von v. Oertzen und Ehmke. Dabei verfährt er nicht selten nach dem Prinzip: Im Orientierungsrahmen steht zwar drin, aber eigentlich gemeint ist ... Für einen Teil der Presse signalisierte gerade die Bestimmung v. Oertzens — der zu den 16 Parteitagsdelegierten gehörte, die dem Godesberger Programm die Zustimmung verweigerten — zum Vorsitzenden eine partielle Rückentwicklung der SPD von einer „sozial-demokratischen“ zu einer „dogmatisch-sozialistischen" Partei; so G. Schmidt, Eine Art Ketzergericht, Die Welt v. 13. 8. 1977. Von Oertzen hat dabei betont, daß dem Godesberger Programm von ihm nicht vorgeworfen sei, daß es nicht „streng sozialistisch" oder gar revolutionär gewesen sei, „sondern daß es seine eigenen reformerischen Absichten nicht klar und konsequent genug zum Ausdruck gebracht habe“; P. v. Oertzen, Die Zukunft des Godesberger Programms, a. a. O., S. 92.

  54. Vgl. W. Hennis, ebd., S. 75, S. 79.

  55. Vgl. dazu K Lompe, L F. Neumann, Willi Eichler .. „ a. a. O., S. 27 ff.

  56. Vgl. W. Hennis, Organisierter Sozialismus, a. a. O., S. 38 ff., S. 58 ff.

  57. G. Weisser, Politik als System aus normativen Urteilen, Göttingen 1951, S. 47.

  58. G. Weisser, „Sozialismus” — Ordnungsrezept oder Gesinnungsausdruck?, in: Die Neue Gesellschaft, Heft 1/1976, S. 77.

  59. W. Hennis, ebd., S. 21.

  60. Die Schöpfer des Godesberger Programms ha-ben bewußt auf philosophische Letztbegründungen verzichtet, obwohl das in der Programmkommission nicht unbestritten war; vgl. dazu Th. Meyer, Grundwerte und Wissenschaft im demokratischen Sozialismus, a. a. O„ S. 102 ff. Diese Entscheidung lag ganz auf der Linie, die Kurt Schumacher schon 1945 vorgezeichnet hatte. Linke Kritiker sehen in dieser Ablehnung einer wissenschaftlichen Weltanschauung im Grundsatzprogramm von 1959. eine der vielen Brüche mit der bisherigen Tradition der Arbeiterbewegung“; vgl. M. Th. Greven, Organisatorisch-institutionalisierter Wissenschaftspluralismus als politische Aufgabe des Sozialstaats, in: H. Heimann r 582 Dialog statt Dogmatismus, Köln/Frankfurt 1928, S. 105. Im Grundsatzprogramm wird nach Greven damit auf den Anspruch verzichtet, „im Gegensatz zu anderen politischen Gruppen und Parteien die eigenen Zielsetzungen, das eigene Programm aus einer wissenschaftlichen Analyse der Entwicklungstendenzen der Gesellschaft herleiten und begründen zu können“, S. 106. Und Kodaile sieht innerparteiliche Dauerkonflikte (Streit um Stamokap, ad-

  61. W. Hennis, Parteienstruktur und Regierbarkeit, in: ders. u. a„ Regierbarkeit, Stuttgart 1977, S. 189 f. Die starke Betonung von Gesellschaftspolitik ab Mitte der 60er Jahre stellte eine Paradigma-Ver-Schiebung dar, die sich sowohl auf die Interpretation des Sozialstaatsprinzips als auch auf die politischen Programme und Gestaltungsprozesse auswirkte. Im wissenschaftlichen und politischen Sprachgebrauch war bis dahin das Wort „Gesellschaftspolitik" diskreditiert gewesen, während es parallel mit dem Umbruch zur Reformpolitik in der Bundesrepublik an Verbreitung gewann. Im Zuge einer allenthalben konstatierten „Tendenzwende" und zunehmender konservativer Kritik an der Reformpolitik geriet auch die Gesellschaftspolitik, nach Schelsky ein „antiliberaler Begriff" (Frankfurter Rundschau vom 3. /4. 9. 1977), wieder in die „Schußlinie", obgleich sie heute Bestandteil der Programmatik aller Parteien ist.

  62. Auch konservative Regierungen können sich heute nicht mehr auf reine Anpassungsstrategien beschränken, wenn sie nicht früher oder später immobil werden wollen. Das Konzept einer reinen Anpassungsstrategie würde die „Unregierbarkeit“ komplexer, pluralistisch strukturierter Gesellschaftssysteme, die neuerdings ja vornehmlich von konservativen Autoren behauptet wird, am ehesten Realität werden lassen oder verstärken.

  63. Vgl. W. Hennis, a. a. O., S. 17

  64. Im Vor-und Nachfeld der Bundestagswahl von 1976 kam es zu einer intensiven Grundwertediskussion in der Bundesrepublik. Mitbestimmend war dafür die Einsetzung von Grundwertekommissionen in SPD und CDU und auch der neue Dialog der Politiker mit den Kirchen; vgl. dazu vor allem G. Gorschenek (Hrsg.), Grundwerte in Staat und Gesellschaft, München 1977; Der Streit um Grundwerte. Tagungsbericht der katholischen Akademie Hohenheim/Stuttgart 1976, und Otto Kimminich (Hrsg.), Was sind Grundwerte?, Düsseldorf 1977. Greiffenhagen sieht in diesen Diskussionen in Anlehnung an Vorstellungen Hermann Lübbers Krisenzeichen, die eine Auflösung der politischen Normalsituation und fortschreitende Züge eines Ausnahmezustandes signalisieren. Er folgert daraus: . Ein politisches System mit unausgesprochener, ja unbewußter Wertbasis erlaubt in der politischen Praxis mehr Beweglichkeit Nie geht es um das große Ganze, sondern nur um die praktische Lösung einer Situation, um die Befriedigung eines Anspruches — und also desto leichter darum, einen Kompromiß zu finden. ” In: M. u. S. Greiffenhagen, Ein schwieriges Vaterland, München 1979, S. 132.

  65. Vgl. W. Hennis, ebd. S. 24, S. 54, S. 80.

  66. Vgl. S. Miller, Das Problem der Freiheit im Sozialismus, Frankfurt 1964, S. 298.

  67. P. v. Oertzen, Einleitungsreferat zum Orientierungsrahmen '85, in; P. v. Oertzen, H. Ehmke, H. Ehrenberg (Hrsg.), Orientierungsrahmen 85, Bonn-Bad Godesberg 1976, S. 84.

  68. Vgl. W. Hennis, ebd., S. 17. Hennis will zeigen, daß der Freiheitsbegriff des Grundgesetzes, den auch das Godesberger Programm aufgenommen habe, eine „Zielpolitik''zur Verwirklichung des demokratischen Sozialismus im Sinne des Orientierungsrahmens nicht zulasse. — Frei nach der Devise, er erlaubt auch nicht, die Verwirklichung des Katholizismus oder einer anderen werten Gesinnung zum Zwecke des Staates zu machen, selbst wenn dies demokratisch gewollt wird; vgl. G. Gillessen, a. a. O.

  69. K. M. Kodalle, Frieden ohne „Kampf"? a. a. O., S. 63; diese Überzeugung kann falsch sein. Zu Recht betont Kodalle, daß, um sich davor zu schützen, Parteiprogramme und ihre scharfe kritische Prüfung, wie sie Hennis im Sinne hat, unerläßlich sind, auch wenn sie nur eine begrenzte Gewähr dafür bieten, daß sich das Partikulare als Partikulares, und nicht unmittelbar als Allgemeines setzt.

  70. Vgl. W. Hennis, ebd., S. 22 ff.

  71. Vgl. W. Hennis, ebd., S. 21.

  72. G. Weisser, Philosophischer Kritizismus • a. a. O„ S. 101.

  73. Vgl. W. Hennis, ebd., S. 21 f.

  74. Vgl dazu K. Lompe, L. F. Neumann, Willi Eichler a die Programmatik des demokratischen Sozialis-mus, a. a. O„ S. 22 ff.

  75. Vgl. Präambel des Berliner Aktionsprogramms.

  76. Vgl. W. Hennis, a. a. O„ S. 10.

  77. Vgl. so U. Lohmar, Zum Godesberger Programm der Sozialdemokratie, in: Die Neue Gesellschaft 1959, S. 416.

  78. K. Klotzbach, Die Programmdiskussion ..., a. a. O„ S. 483; vor allem Kurt Schumacher hat immer wieder gefordert, daß auch ein geschichtstheoretisch fundierter zeitanalytischer Teil in die Grundlagen des zukünftigen Grundsatzprogrammes aufgenommen werden sollte; vgl. dazu G. Weisser, Philosophischer Kritizismus ..., a. a. O„ S. 106, S. 124.

  79. Vgl. P. v. Oertzen u. a. (Hrsg.), Orientierungsrahmen '85, Bonn-Bad Godesberg 1976, S. 5.

  80. Darauf hat immer schon Gerhard Weisser hingewiesen. Die Axiomentriologie der Aufklärung allein sagt weder etwas darüber aus, in welchem Tempo die Wirtschaft der angestrebten Gesellschaftsordnung wachsen soll, noch kann sie über das angestrebte Maß der Realisierung kultureller Werte Auskunft geben. Wenn man sich auf diesen Katalog von Grundwerten beschränkt, fehlt gerade im Blick auf heutige Entwicklungen der Maßstab für die Entscheidung über Art und Richtung des wirtschaftlichen Wachstums, für die Vorsorge für künftige Generationen und über das Verhältnis zur Technik (Energieproblematik!). In der Kommission „Orientierungsrahmen '85” ist intensiv darüber diskutiert worden, ob der Begriff der Gleichheit, der im Begriff der Gerechtigkeit nicht ohne weiteres aufgeht, hinzugefügt werden solle; vgl. R. Ermrich, H. Heidermann, H. Lindner, Bericht über die Arbeit der Kommission Orientierungsrahmen '85 der SPD, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36/75. Auch in den ersten von der Grundwertekommission inzwischen vorgelegten Ergebnissen wird auf dieses Problem der Erweiterung des Grundwertekatalogs nicht eingegangen. Fragen der Grundrechte im Verhältnis zu den Grundwerten und das Verhältnis von Staat und Grundwerte stehen hier im Vordergrund; vgl. Vorstand der SPD (Hrsg.), Theorie und Grundwerte. Grundwerte und Grundrechte, Bonn 1979.

  81. Neben einer Präzision der Grundwerte wurde vor allem die Diskussion über Funktionsweise und Umfang staatlicher Wirtschaftssteuerung durch ihn angeregt. Es wird deutlich gemacht, daß der Marktmechanismus als ein Instrument begriffen wird, ne-ben das die Instrumente staatlicher Planung treten müssen — eine Auffassung, die auch von Godesberger Theoretikern wie Eichler, Weisser und Deist immer schon vertreten wurde. Zu den Möglichkeiten und Grenzen dieser Politik siehe K. Lompe, Bilanz der Polititk „Innerer Reformen", in: Die Mitarbeit, Heft 2/3, 1979., S. 119 ff.

  82. M. u. S. Greiffenhagen, Ein schwieriges Vater-and..., a. a. O„ S. 164.

  83. Im theoretischen Organ der SPD „Die Neue Gesellschaft" wurden im Augustheft 1979 diese Pro-bleme in Fortsetzung einer Diskussion im Parteirat unter dem Stichwort „Vertrauensarbeit" zum zentralen Schwerpunkt gemacht.

  84. Vgl. Sontheimer, Ist unsere Demokratie überfordert?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 50/77. Er verweist auf die Themen Verfilzung und Patronage, die geistige Trägheit und Lethargie der Parteien, auf das unsolidarische Innenleben und das verkrampfte Verhältnis der Parteien zueinander. Als Gradmesser für die mangelnde Sensibilität zur Aufnahme der Bedürfnisse der Menschen in unserer Gesellschaft wird dabei immer wieder das Auftreten zahlloser Bürgerinitiativen gewertet.

  85. Vgl. C. Bohret, Institutioneile Bestimmungsfaktoren politischer Veränderungen, in: Politik und Wirtschaft. Festschrift für Gerd von Eynern, PVS Sonderheft 8/1977, S. 170, und K. Lompe, Bilanz der Politik „Innerer Reformen", a. a. O., S. 150 f.

  86. Dabei ist beachtlich, wie die Gesamtszenerie des öffentlichen Lebens, der gesellschaftlichen Entwicklung und der staatlich politischen Tätigkeit heute durch eine bisher nicht gekannte Ungewißheit und durch eine zunehmende Abhängigkeit von schwer berechenbaren Einflußgrößen gekennzeichnet ist. Tendenziell wachsen die Probleme heute schneller als die Problemverarbeitungskapazität des politischen Systems, unter anderem, weil viele Probleme völlig neu sind, es keine adäquaten Theorien und daraus ableitbare, überzeugenden Prognosen gibt und keine erprobte, anwendbare politische Praxis.

  87. Auch 1978 meinten 48 % der Anhänger der SPD, daß man trotz angespannter wirtschaftlicher Lage nicht auf Reformen verzichten dürfe; vgl. Infas-Ge-Werkschaftsbarometer 1979.

  88. Vgl. M. G. Schmidt, Die „Politik der Inneren Reformen“ in der Bundesrepublik Deutschland 1969— 1979, in: PVS, Heft 2, 1978, S. 238.

  89. Vgl. dazu K. Hildebrandt/R. J. Dalton, Die neue Politik. Politischer Wandel oder Schönwetterpolitik?, in: Wahlsoziologie heute, hrsg. von M. Kaase, PVS, Heft 2/3, 1977, S. 247 f.

Weitere Inhalte

Klaus Lompe, Dr. rer. pol., geb. 1937; seit 1970 Professor für politische Wissenschaft und Soziologie an der Technischen Universität Braunschweig. Veröffentlichungen u. a.: Wissenschaftliche Beratung der Politik. Ein Beitrag zur Theorie der anwendenden Sozialwissenschaften, Göttingen 1966/19722; Gesellschäftspolitik und Planung. Probleme politischer Planung in der sozialstaatlichen Demokratie, Freiburg 1971, Bern-Stuttgart 1976 2; Möglichkeiten und Grenzen politischer Planung in parlamentarischen Demokratien mit marktwirtschaftlicher Ordnung, Hannover 1975; Bilanz der Politik „Innerer Reformen", in: Die Mitarbeit, Heft 2/3 1979.