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Das CDU-Grundsatzprogramm aus liberaler Sicht | APuZ 51-52/1979 | bpb.de

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APuZ 51-52/1979 Zum neuen Grundsatzprogramm der CDU Das CDU-Grundsatzprogramm aus liberaler Sicht Das CDU-Grundsatzprogramm: Dokument politischer Erneuerung

Das CDU-Grundsatzprogramm aus liberaler Sicht

Siegfried Pabst

/ 14 Minuten zu lesen

Das auf ihrem Bundesparteitag im Oktober 1978 in Ludwigshafen von der CDU beschlossene Grundsatzprogramm hat in der öffentlichen Diskussion kaum Resonanz gefunden.

Dennoch ist es bei den anderen Parteien als ein erster Versuch der CDU, sich ein Programm zu geben, mit Interesse zur Kenntnis genommen und sorgfältig studiert worden. Immerhin tritt die CDU bereits in der Präambel mit dem Anspruch auf, als Volkspartei soziale, liberale und konservative Gedanken zu verei-Der bereits konstatierte Anspruch der CDU, als Volkspartei Gegensätze zwischen verschiedenen politischen Strömungen zu überwinden, stellt sie vor die Aufgabe, ihre weltanschauliche Grundlage derart weit zu fassen, daß sie von möglichst vielen akzeptiert werden kann. Die CDU tut das, indem sie sich auf ein christliches Verständnis von Politik beruft, das zwar nicht direkt handlungsanweisend sein soll, aber für ihr Welt-und Menschenbild entscheidende Konsequenzen hat.

So wird z. B.der Freiheitsbegriff transzendental abgeleitet: Der Mensch ist frei und seine Freiheit „beruht auf einer Wirklichkeit, welche die menschliche Welt überschreitet"

(Grundsatzprogramm, S. 6). Diese Auffassung führt notwendigerweise zu einem statischen Politikverständnis: vornehmste Aufgabe der Politik ist es, den vorhandenen Freiheitsraum zu sichern.

Dies geschieht zum einen durch das Recht, zum anderen durch eine Politik, die unzumutbare Abhängigkeiten beseitigt und die materiellen Bedingungen von Freiheit sichert. Auffallend ist bei der Behandlung des Freiheitsbegriffs durch die CDU eine starke und positive Bewertung von Bindung, Verpflichtung und Verzicht. Auch das ist letztlich auf den statischen Freiheitsbegriff zurückzuführen. Interessanterweise ist von der Notwendigkeit, Freiheit und Freiheitsrechte zu erweitern, nur im Zusammenhang mit dem Eigentum die Rede.

Dieser Artikel basiert auf einer Studie des Thomas-Dehler-Hauses (Autoren: Hans-Jürgen Beerfeltz, Hans-Jürgen Beyer, Dr. Monika Faßbender-Ilge, Siegfried Pabst, Heidrun Schmitt, Herbert Willner). nen, was sicher nicht zuletzt im Hinblick auf eine Erweiterung der Wählerschaft geschieht. Die folgende Analyse setzt sich mit dem Grundsatzprogramm der CDU unter dem Aspekt des liberalen Gehaltes auseinander. Dabei bietet es sich an, die Kapitel „Grundwerte", „Entfaltung der Person“ und „Der Staat" zu untersuchen, da es gerade auf diesem Gebiet zu den Verdiensten des politischen Liberalismus gehört, grundlegende und gültige Aussagen getroffen zu haben.

Grundwerte

Von einem solchen Freiheitsverständnis muß sich der liberale Freiheitsbegriff notwendigerweise abheben. Er begründet Freiheit weder transzendental, noch sieht er sie als gegeben und noch weniger als gesichert an.

In den Freiburger Thesen von 1971 hat die FDP als die Partei des organisierten Liberalismus in Deutschland den traditionellen individualistischen Freiheitsbegriff überwunden zugunsten eines sozialen, der Freiheit nicht länger verstand als die „Freiheit eines aus der Gesellschaft herausgedachten, dem Staat entgegengesetzten autonomen Individuums"; sie formulierte Freiheit als die „Freiheit jenes autonomen und sozialen Individuums, wie es als immer zugleich einzelhaftes und gesellschaftliches Wesen in Staat und Gesellschaft wirklich lebt" (Freiburger Thesen, S. 6).

Liberale geben sich mit der formalen Freiheitsgarantie nicht zufrieden, sondern fordern die Umsetzung gesetzlich gesicherter Freiheit und Würde in reale Chancen gesellschaftlich erfüllter Freiheit und Würde des Menschen. Die FDP fordert in ihren Freiburger Thesen die Demokratisierung der Gesellschaft.

Diese Erweiterung des Freiheitsbegriffs ist ein wesentliches Fundament des sozialen Liberalismus, der die bis dahin mehr formal — als Abgrenzung gegenüber staatlichen Eingriffen und als Sicherung der verfassungsmäßigen Organisation des Staates — definierten Freiheits-und Menschenrechte ergänzte um soziale Teilhabe-und Mitbestimmungsrechte.

Man könnte vermuten, daß die soziale Komponente des Freiheitsbegriffs im CDU-Begriff der „Gemeinschaft" enthalten ist. „Gemein-schäft" wird nämlich als dem Begriff der Freiheit zugehörig bestimmt: Um Freiheit zur vollen Entfaltung zu bringen, muß der Mensch lernen, in Gemeinschaft zu leben.

Nicht nur wird nicht gesagt, was es konkret heißt: „Lernen in Gemeinschaft mit anderen zu leben", sondern bei näherem Hinsehen stellt man fest, daß es mehrere Gemeinschaften gibt, die zudem noch unterschiedlich bewertet werden.

Man kann sagen, daß für das Verständnis der CDU „Gemeinschaften" um so problematischer werden, je größer sie sind. Es gibt im CDU-Programm ein geradezu hierarchisch aufgebauter Begriff der Gemeinschaft, der von „Familie", „freiwilligem Zusammenwirken mit anderen" über Verbände zum Staat reicht Hier tritt eine statisch-hierarchische Auffassung von Staat-Gesellschaft-Individuum zutage, die historisch längst überwunden ist, die aber das auf Autoritäten fixierte Denken der CDU bis in die Konzeption von der „wehrhaften Demokratie" hinein bestimmt und letztlich das konservative Staats-und Gesellschaftsverständnis der CDU offenbar macht.

Dem steht das liberale Leitbild einer freien und offenen Gesellschaft gegenüber. Danach ist der einzelne Mensch mit seinen vielfältigen Interessen, Wünschen und Bedürfnissen Triebkraft jeder gesellschaftlichen Entwicklung. Gesellschaft muß daher den größtmöglichen Freiraum für die Entfaltung jedes einzelnen bieten, wenn Fortschritt in Freiheit erreicht werden soll. Organisationen und Institutionen sind in diesem Sinn nie Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck individueller Entwicklung.

Beispielhaft für liberales Staats-und Gesellschaftsverständnis wurde das Verhältnis von Staat und Individuum in den bereits zitierten Sätzen der Freiburger Thesen formuliert. In diesen Thesen wurde ja gerade die klassisch-liberale Antinomie von Staat und Individuum begrifflich aufgehoben, indem das Individuum als Zugleich „einzelhaftes und gesellschaftliches Wesen" bestimmt wurde (vgl. Freiburger Thesen, S. 6).

Eine Konkretisierung der postulierten sozialen Komponente von Freiheit ist da zu erwarten, wo die CDU den zweiten Grundwert ihres Programms — die Solidarität — behandelt.

Solidarität ist seit dem 19. Jahrhundert einer der zentralen Begriffe der Arbeiterbewegung gewesen und löste als allgemeinen Kampfbegriff die „Brüderlichkeit" der Französischen Revolution ab. Beide Begriffe: „Solidarität" und „Brüderlichkeit" — und das muß hier betont werden — waren in ihrem Ursprung kämpferische Losungen von aufstrebenden gesellschaftlichen Bewegungen, die angetreten waren, alte Ordnungen zu überwinden. Dies muß deshalb so nachdrücklich hervorgehoben werden, weil Solidarität im CDU-Grundsatzprogramm der harmonisierende Grundwert par exellence ist: „Solidarität heißt, füreinander dasein, weil der einzelne und die Gemeinschaft darauf angewiesen sind. Solidarität verbindet die Menschen untereinander und ist Grundlage jeder Gemeinschaft" (Grundsatzprogramm, S. 9).

Weiter wird ausgeführt, daß es nicht nur ein Recht auf, sondern eine Pflicht zur Solidarität gibt. Das Gebot der Solidarität soll nicht nur für die Beziehungen der Menschen untereinander, sondern auch für die Beziehungen zwischen (unterschiedlichen) gesellschaftlichen Gruppen und Kräften und für die Beziehungen zwischen den Völkern stehen.

Nicht nur muß man sich fragen, ob und wie eine aufgezwungene Solidarität („solidarische Pflicht"! [Grundsatzprogramm, S. 9]) möglich sein soll, sondern in Verknüpfung mit dem Subsidiaritätsprinzip erhält dieser Begriff rückwärtsgewandte romantische Züge. Postuliert wird die „persönliche Zuwendung von Mensch zu Mensch" (ebd.), die in einer von „Technik und materiellen Leistungsmaßstäben" geprägten Gesellschaft „Sicherheit und Geborgenheit" (ebd.) garantieren soll. Zuwendung, Sicherheit, Geborgenheit gehören sicher zu den elementaren Bedürfnissen eines jeden Menschen, und jede Politik hat sich an solchen Bedürfnissen zu orientieren. Im CDU-Grundsatzprogramm geschieht dies jedoch in einer Weise, die nicht nur hinter Aussagen der katholischen Kirche zum Prinzip der Subsidiarität, zurückbleibt, sondern auch das Leitbild einer vorindustriellen Gesellschaft heraufbeschwört, in der alle Menschen auf harmonische Weise für ein abstraktes „Wohl des Ganzen“ Zusammenwirken.

Es gehört zum Grundkonsens aller Demokratietheorien, daß es in demokratischen Gesellschaften einander widersprechende Interessen gibt, daß diese Interessen in der offenen Diskussion und auch im Konflikt miteinander ausgetragen werden, und daß es über Diskussion und Konflikt zu einem akzeptablen Ausgleich eben dieser divergierenden Interessen kommen muß. Die CDU überhöht dieses klassische Muster einer demokratischen Konfliktlösung, indem sie das „Gebot der Solidarität" (Grundsatzprogramm, S. 10) über die „wider-streitenden Interessen hinaus" auch und gerade zwischen „Ungleichen" postuliert.

Das auch diesem Postulat zugrunde liegende harmonistische Weltbild ist rückwärts ge-wandt: es sehnt sich — angesichts der zu konstatierenden Interessengegensätze in der modernen Industriegesellschaft — mit moralischen Postulaten (Solidarität auch da üben, wo es besonders schwerfällt, vgl. Grundsatzprogramm, S. 10) nach einem Zustand zurück, in dem es so etwas wie ein von allen anerkanntes Gemeinwohl gibt. Das CDU-Programm gibt keine Antwort auf die Frage, wie ein solches Gemeinwohl heute — anders als über Konfliktaustragung und Konfliktlösung — zu definieren wäre.

Das Kapitel über den Grundwert der „Gerechtigkeit" ist ganz offensichtlich Ergebnis langer innerparteilicher Auseinandersetzungen in der CDU. Der Begriff der Gleichheit, ja sogar der Begriff der Chancengleichheit wird sorgfähigst vermieden — hier werden Berührungsängste überdeutlich. Der erste Satz, in dem es heißt: „Grundlage der Gerechtigkeit ist die Gleichheit aller Menschen in ihrer Würde und Freiheit ..." (Grundsatzprogramm, S. 10), ist ein rührendes Beispiel für das Bemühen in der „Volkspartei" CDU, es allen recht zu machen. Was bedeutet in diesem Zusammenhang der Begriff „Grundlage"? Heißt Grundlage Voraussetzung, muß also zuerst die Gleichheit geschaffen werden, um Gerechtigkeit zu erlangen? Oder ist Grundlage etwas, was man einfach als gegeben voraussetzt, somit also nicht mehr fordern und anstreben muß?

Die CDU vermeidet die Forderung nach Gleichheit oder Chancengleichheit, weil sie glaubt, daß die Verwirklichung dieser Postu-late „die menschlichen Existenzen als solche" gleichmache (vgl. Grundsatzprogramm, S. 11). Sie postuliert statt dessen die Chancengerechtigkeit, die — neben dem gleichen Recht für alle — als notwendiger Bestandteil der Gerechtigkeit definiert wird. Chancengerechtigkeit soll jedem die Möglichkeit bieten, sich „in gleicher Freiheit so unterschiedlich zu entfalten, wie es der persönlichen Eigenart des einzelnen entspricht" (Grundsatzprogramm, S. 10). Das dabei diese „persönliche Eigenart" für die CDU von vornherein dem Menschen sozusagen mitgegeben ist und nicht auch durch das soziale Umfeld geprägt wird, wird spätestens da deutlich, wo die CDU sich um die Konkretisierung des Begriffs „Chancengerechtigkeit“

bemüht.

Aus ihrer Forderung nach Chancengerechtigkeit leitet die CDU nämlich nicht die Verpflichtung ab, die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen der Menschen auszugleichen, damit gleiche Startchancen für alle soweit wie möglich hergestellt werden. Im Gegenteil macht vielmehr die häufige Betonung der Unterschiede zwischen den Menschen, ihren unterschiedlichen Begabungen und Fähigkeiten deutlich, daß die Forderung nach Chancengerechtigkeit eben gerade ausdrücklich keine gleichen Ausgangschancen für alle Menschen beinhaltet. Man fragt sich, ob der der Forderung nach Chancengerechtigkeit angefügte Satz „entsprechend der persönlichen Eigenart des einzelnen" nicht gleichbedeutend ist mit dem beliebten Begriff des „jedem das Seine", mit dem die bestehenden Verhältnisse zementiert werden sollen. Sozusagen naturgegebene Unterschiede sollen damit die Rechtfertigung dafür liefern, das Chancen ungleich verteilt sind und bleiben. Auf diese Weise wird dann der ebenfalls im Grundsatzprogramm erhobenen Forderung Rechnung getragen, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. Grundsatzprogramm, S. 11).

Auch dies entspricht eher einer konservativen als einer liberalen Gesellschaftsauffassung. Der Liberalismus erstrebt ja gerade die „Demokratisierung der Gesellschaft durch größtmögliche und gleichberechtigte Teilhabe aller an der durch Arbeitsteilung ermöglichten Befriedigung der individuellen Bedürfnisse und Entfaltung der persönlichen Fähigkeiten. Er tritt ein für entsprechende Mitbestimmung an der Ausübung der Herrschaft in der Gesellschaft, die zur Organisation dieser arbeitsteiligen Prozesse erforderlich ist" (Freiburger Thesen, S. 11).

Eine so formulierte Demokratisierung der Gesellschaft durch Mitwirkung und Mitbestimmung aller ist aber nur möglich, indem die Chancengleichheit für alle Bürger, vor allem im Erziehungsund Ausbildungssystem, garantiert ist. Nur eine so verstandene Chancen-gleichheit ist die Garantie dafür, daß unterschiedliche Begabungen und Voraussetzungen sich nicht nachteilig auf die gesellschaftliche Position des Individuums auswirken und eine einmal erreichte Stellung zementieren. Mit ihrer Ausfüllung des Begriffs „Chancengerechtigkeit" konstatiert die CDU nicht nur unterschiedliche Begabungen als naturgegeben, sondern schreibt sie auch als solche fest.

Im Anschluß an die Behandlung der drei Grundwerte reflektiert das CDU-Grundsatzprogramm deren Verhältnis. Hierbei wird keinem dieser Grundwerte ein Vorrang eingeräumt, noch wird ihre Gleichrangigkeit grundsätzlich behauptet, sondern ihre „Gewichtung untereinander" als „Kern der politischen Auseinandersetzung" definiert. Damit grenzt sich das christlich-demokratische Grundwertverständnis deutlich sowohl von der sozialdemokratischen wie auch der liberalen Auffassung in dieser Frage ab. Sind für die Sozialdemokra-ten Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität gleichrangige und gleichwertige Begriffe, setzen die Liberalen dem ihr „im Zweifel für die Freiheit" entgegen:

„Der Vorrang des Grundwertes . Freiheit'ist für den Liberalen ein Prinzip, das sowohl für den einzelnen als auch für die Gesellschaft als die Gesamtheit der einzelnen gilt"

Die Entscheidung zugunsten der Freiheit ist durchaus kein voluntaristischer Akt, sondern Freiheit wird — von den klassischen liberalen Theoretikern bis zu Karl-Hermann Flach — als grundlegende und erste Bestimmung menschlicher Existenz behauptet, aus der sich die übrigen Werte begrifflich-logisch ableiten lassen.

Entfaltung der Person

Die familienpolitische Diskussion hat — nicht zuletzt im Zusammenhang mit der aktuellen Bevölkerungsentwicklung — in der jüngsten Zeit an Gewicht und Interesse gewonnen. Von einer Partei, die von einem christlichen Selbstverständnis ausgeht, sind daher gerade auf diesem Gebiet fundierte und überlegte Ausführungen zu erwarten, und es verwundert daher zuerst einmal nicht, daß die CDU Überlegungen zur Familie an den Anfang ihres Kapitels über die Entfaltung der Person stellt.

In der Formulierung des CDU-Grundsatzprogramms haben Ehe und Familie sich als die beständigsten Formen menschlichen Zusammenlebens erwiesen. Sie sind das Fundament unserer Gesellschaft und unseres Staates. Gezeichnet wird das Bild der Familie als eine heile Welt, daß da, wo es der gesellschaftlichen Realität nicht mehr entspricht, lediglich durch eine falsche Politik bedroht ist Nicht nur an diesem Punkt, sondern auch bei den einzelnen Ausführungen zum Problemkreis Familie schimmert bei der CDU — bei allem modernen Vokabular — das konservative Leitbild einer auf bestimmte Rollen fixierten Gemeinschaft von Mann, Frau und Kindern durch. Zwar geht die CDU von einem partnerschaftlichen Verhältnis von Mann und Frau aus, aber bei der Kindererziehung in den ersten Lebensjahren wird dann doch wieder auf das tradierte Rollenverständnis zurückgegriffen. Auf die spezifischen Probleme von Kindern und Jugendlichen wird nicht näher eingegangen, statt dessen am konservativen Erziehungsideal einer aus dem „Vorsprung an Reife und Erfahrung" (Grundsatzprogramm, S. 13) abgeleiteten Autorität festgehalten und die zu konstatierende Entfremdung der Generationen den Institutionen der öffentlichen Erziehung sowie den Medien in die Schuhe geschoben.

Daß das hehre Bild der harmonisch zusammenlebenden Familie nicht nur nicht der Wirklichkeit entspricht, sondern auch durchaus pragmatischen Zwecken unterworfen wird, wird deutlich, wenn die CDU Familienpolitik und Bevölkerungspolitik im Zusammenhang erörtert.

Ausgehend von einem angeblich „dramatischen Rückgang der Bevölkerung" (Grundsatzprogramm, S. 15) fordert sie eine „veränderte Einstellung zum Kind", eine „familien-und kinderfreundliche Haltung" unserer Gesellschaft. Eine derart auf den Nutzen bezogene Argumentation denunziert nicht nur mehr als alles andere die vorangegangenen Ausführungen zu der heilen Welt der Familie als Ideologie, sondern ist in sich extrem kinder-und familienfeindlich, indem sie Familie und Kinder zu Zwecken der Bevölkerungspolitik herab-würdigt. Dem muß jede Politik widersprechen, die vom Recht auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung für alle Menschen, für Männer und Frauen, für Kinder und Erwachsene ausgeht. Eine solche Politik wird gerade in ihren grundsätzlichen Äußerungen jedes Individuum für sich ernst nehmen und nicht für andere Zwecke einspannen.

Liberale begründen ihre Forderung nach einer kinderfreundlicheren Haltung nicht mit der angeblich notwendigen Anhebung der Geburtenrate. Kinderfreundlichkeit wird der Kinder wegen gefordert. Beispielhaft hat dies die FDP in ihrem Gleichberechtigungsprogramm von 1978 und in ihrem Kinderprogramm von 1979 getan. In letzterem heißt es beispielsweise, daß Kinder nicht nur Erziehungsobjekte, sondern selbst Träger von Grundrechten sind.

Weitere Aspekte der Entfaltung der Persönlichkeit sind im CDU-Programm Erziehung, Bildung und Kultur, Arbeit und Freizeit, Wohnen und Umwelt. Gerade im ersten Punkt fällt — nach den Ausführungen im Abschnitt Gerechtigkeit nicht überraschend — die starke Gewichtung der Unterschiede von Anlagen und Fähigkeiten auf. Daß die Schule helfen soll, „einen religiösen und ethischen Standpunkt zu finden“, mag dem Denken einer Partei, die für sich die gültige Definition von „christlich" gefunden zu haben glaubt, entsprechen.

Der im Programm an mehreren Stellen aufgezeigte und als konservativ bewertete Harmoniegedanke prägt auch die Aussage über Erziehung und Bildung und wird in seiner konservativen Tendenz noch dadurch verstärkt, daß Anpassungsfähigkeit als Erziehungsideal postuliert wird. Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung werden als Erziehungsziel nirgendwo genannt, statt dessen um so öfter die Begriffe Pflicht, Verantwortung, Bindung. Außerdem wird behauptet, daß Leistung ein gerechter Qualifikationsmaßstab sei, eine Behauptung, die schon im CDU-Programm selbst da aufgehoben wird, wo von den unterschiedlichen Begabungen und Fähigkeiten die Rede ist.

Wenn schon in den Bereichen Bildung und Erziehung die Begriffe „Pflicht“ und „Leistung" eine derart wichtige Rolle spielen, so ist eine ähnliche Gewichtung für den Bereich der Arbeit zu erwarten. Um so erstaunter ist man, daß gerade hier der Begriff der „Selbstverwirklichung" auftaucht. Arbeit als Form der Selbstverwirklichung (vgl. Grundsatzprogramm, S. 20) wird zugleich als Recht wie auch als Pflicht behauptet. Dabei wird durchaus nicht übersehen, daß die Arbeitsbedingungen der Selbstverwirklichung oft entgegenstehen — kennzeichnend ist auch hier, wie die CDU versucht, die erkannten Probleme zu beseitigen: abstrakt-moralisch fordert sie, daß Arbeitsbedingungen „menschlich erträglich“ zu gestalten seien, ohne auch nur an einer Stelle zu konkretisieren, welche Veränderungen — seien sie wirtschaftlicher, politischer oder juristischer Art — hierfür notwendig sind. Eine solche Unverbindlichkeit läßt sich nicht allein damit erklären, daß Grundsatzprogramme sui generis unverbindlich sind; Ursache hierfür ist vielmehr der Konflikt zwischen dem Anspruch als Volkspartei einerseits, auf alle Probleme für alle Wähler grundsätzlich akzeptable Antworten geben zu müssen, andererseits aber auf die Unterstützung bestimmter Interessengruppen nicht verzichten zu können.

Der Staat

Einleitend wurde bereits darauf hingewiesen, daß ein dualistisches Verständnis von Staat und Gesellschaft/Bürger kennzeichnend für das CDU-Programm ist: Der Staat als eine vor allem mit hoheitlichen Aufgaben betraute und neutrale Institution steht einer Gesellschaft gegenüber, deren Gruppen vor allem an der Durchsetzung ihrer egoistischen Interessen interessiert sind und damit das Gemeinwohl gefährden. Entsprechend diesem Leitbild ist der Staat des CDU-Programms eine starke Autorität, der von seinen Bürgern nicht nur Mitwirkung und Mitverantwortung, sondern auch Opferbereitschaft für das Gemeinwesen verlangt (vgl. Grundsatzprogramm, S. 44 und S. 45).

Bezeichnend sind in diesem Zusammenhang Formulierungen wie die, daß der Staat „die berechtigten Wünsche aller Bürger gegeneinander abwägen und die Leistungsfähigkeit der Gesamtheit berücksichtigen" muß (Grundsatzprogramm, S. 45). Eine solche Auffassung impliziert ja nicht nur, daß der Staat eine neutrale Instanz ist, die die Wünsche der Bürger in . berechtigte'und . unberechtigte'Interessen einteilen kann, sondern auch, daß ihm die letztliche Entscheidung über diese Interessen zusteht.

Dem entspricht die hohe Bedeutung, die der „politischen Führung" im CDU-Programm zukommt. Der Glaube an die Vernunft der jeweils Regierenden geht sogar so weit, daß sie „notwendige Entscheidungen auch gegen Widerstände in der öffentlichen Meinung zu treffen bereit sein" müssen (Grundsatzprogramm, S. 45).

Man vermißt hier nicht nur die Frage, wer die Entscheidung über „notwendig" und „nicht notwendig" kontrolliert, sondern ein solcher Satz widerspricht auch jeder liberalen Demokratie-auffassung. Danach leitet sich alle Staatsgewalt nämlich nicht nur vom Auftrag des Volkes her — wie auch im CDU-Programm betont —, sondern politische Entscheidungen setzen die Diskussion und den Wettbewerb unterschiedlicher Interessen voraus, ja, jede politische Entscheidung stellt im Idealfall entweder den Minimalkonsens dieser Interessen-unterschiede dar oder sie ist die Entscheidung der Mehrheit nach dem Versuch, die Minderheit mit Argumenten zu überzeugen. Nach dieser Auffassung bezieht der Staat seine Autorität daraus, daß er als Rechtsorganisation zur Gewährleistung des Wohls aller Bürger glaubwürdig bleiben kann und in welchem Maße er Ausgleichs-und Erneuerungsfähigkeit besitzt.

Daß nur ein solcher Staat diesem Anspruch gerecht wird, der sich selbst nicht als letzten und höchsten Zweck, sondern als Mittel zum Zweck der „Erhaltung und Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit in der ganzen Fülle ihrer Naturanlagen und Geisteskräfte" (Freiburger Thesen, S. 8) versteht, ist eine moderne Formulierung des alten liberalen Grundsatzes, daß der Ausgang jeder menschlichen Ordnung das Individuum sei. Daß das CDU-Programm in dieser Tradition steht, kann nach eingehender Lektüre nur schwer behauptet werden.

Eine Bemerkung am Rande: Der Sprachduktus des CDU-Programms offenbart an vielen Stellen ein überkommenes Staats-und Gesellschaftsverständnis. Begriffe wie Pflicht und Opferbereitschaft wurden bereits erwähnt. Zwei weitere Beispiele mögen hier zur Erläuterung stehen: Im Zusammenhang mit dem öffentlichen Dienst heißt es, daß „unser Staat (...) einen leistungsfähigen und verfassungstreuen öffentlichen Dienst" braucht ebenso wie „freie Initiativen und Gruppen“, wie es an anderer Stelle formuliert wird. Einem liberalen Demokratieverständnis angemessener wären hier Begriffe wie: „der Bürger braucht" oder: „unsere demokratische Gesellschaft braucht"!

Fussnoten

Fußnoten

  1. Helga Schuchardt/Carola von Braun, Grundwerte aus liberaler Sicht, in: Grundwertdiskussion. Der Streit um die geistigen Grundlagen der Demokratie. Köln 1978, Seite 208.

Weitere Inhalte

Siegfried Pabst, geb. 1944, Diplom-Volkswirt; seit 1973 Mitarbeiter der F. D. P. -Bundesgeschäftsstelle, dort Leiter der Abteilung Politik.