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Politischer Unterricht im Sinne des Grundgesetzes Wider die rechtsverbindliche Festlegung von Lernzielen | APuZ 15/1980 | bpb.de

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APuZ 15/1980 Artikel 1 Politischer Unterricht im Sinne des Grundgesetzes Wider die rechtsverbindliche Festlegung von Lernzielen Konflikte und Konfliktbewältigung in der politischen Bildung Der Beitrag der Erdkunde zur politischen Bildung

Politischer Unterricht im Sinne des Grundgesetzes Wider die rechtsverbindliche Festlegung von Lernzielen

Hagen Weiler

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Da wissenschaftliche Aussagen aus ihrer grundgesetzlich gebotenen Selbstbeschränkung heraus in den Grenzen überprüfbarer Erkenntnisbildung und -Vermittlung verbleiben und somit weder Grundrechte anderer noch die Staatsziele des Grundgesetzes tatbestandsmäßig verletzen können, ergeben sich vier durch die Schulaufsicht wahrzunehmende Leitlinien: 1. Es dürfen nur Kenntnisse und Erkenntnisse vermittelt werden, welche sich wissenschaftlich begründen lassen können. 2. Alternative, ebenfalls wissenschaftlich begründbare Positionen dürfen nicht unterdrückt werden (Indoktrinationsverbot). 3. Der Unterricht hat sich auf (Er) kenntnisfindung, -diskussion und -Vermittlung zu beschränken, d. h. auf unmittelbar tätige, praktische Umsetzung in die Wirklichkeit zu verzichten (Agitationsverbot). 4. Der Unterricht hat den wissenschaftlich-systematisch gebotenen Sachzusammenhang zu beachten (Verbot sachfremden Unterrichts). Staatliche Schulaufsicht kann ihre Funktion grundgesetzlich nur begründen in der Garantie der Bedingungen wissenschaftlich qualifizierten und qualifizierenden Unterrichts. Der Gesetzgeber trägt die Verantwortung für die grundlegenden organisatorisch-gegenständlichen Regelungen eines gleichwertig geordneten Unterrichtsangebots. Die Festlegung inhaltlich-methodischer Zielvorstellungen unterliegt kollegialen Einigungszwängen der Lehrer unter Berücksichtigung der Schüler-bzw. Eigeninteressen. Es besteht weder ein rechtlicher Zwang noch ein praktischer Bedarf, Richtlinien zum Politischen Unterricht anders als in Empfehlungsform zu vermitteln.

I. Der Streit um die obersten Lernziele

Seit den hessischen „Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre Sekundarstufe I" (RRL, 1973) und den nordrhein-westfälischen „Richtlinien für den politischen Unterricht" (NRW-RL, 1973) hat sich ein offener Streit um die obersten Lernziele im politischen Unterricht entwickelt. Die Kritiken konzentrieren sich hauptsächlich auf das „oberste Lernziel... (der) Befähigung zur Selbst-und Mitbestimmung" in den hessischen RRL sowie auf die „Qualifikationen und Lernziele" in den NRW-RL wie die . Fähigkeit und Bereitschaft, gesellschaftliche Zwänge und Herrschaftsverhältnisse nicht ungeprüft hinzunehmen ... bzw. „Fähigkeit zum Widerstand gegen nicht akzeptierbare Herrschaftsverhältnisse und gesellschaftliche Zwänge.. "

Die Einwände reichen von der „problematischen, in ihrer Zielsetzung undurchsichtigen imperativen Überinterpretation des Grundgesetzes", der „Gefahr verfassungswidriger Indoktrination", der „Maximierung eines einzelnen Zielwertes", „der totalen Demokratisierung der Gesellschaft", der „einseitigen Auslegung der Verfassung" gegenüber den hessi-sehen RRL bis zur „Propagierung des Widerstandes gegen die Rechtsordnung", der „Verletzung der verfassungsrechtlichen Grenzen des Art. 79, III GG", der „Verletzung des Toleranzgebotes der Verfassung", des . Ansatzes zum systemüberwindenden Gegenstoß", der mangelnden „Formulierung der Grundnormen der Bundesrepublik".

Es kann an dieser Stelle dahinstehen, ob und inwieweit diese Kritiken zu belegen waren auf der Grundlage des Wortlauts und Sinnzusammenhangs der Richtlinientexte. Es kann auch dahinstehen, ob und inwieweit diese Kritiken mehr waren als spitzfindige Wortklaubereien gegenüber einigen, aus (juristischer) Sicht mißverständlichen Formulierungen in den ersten Fassungen der Richtlinien, die sich erklären ließen vor allem aus dem Umstand, daß sie von Nichtjuristen für Nichtjuristen gemacht worden waren. (Die Richtlinienverfasser hätten sich überflüssige Einwände weitgehend ersparen können, wenn sie von vornherein ihren Richtlinien die Grundsätze der Grundrechte und Staatsziele im Sinne der Art. 1— 20 GG vorangestellt hätten, ohne damit auch nur ein einziges ihrer möglichen bildungspolitischen Reformziele aufgeben zu müssen.)

Der Vorwurf, der hier erhoben wird, begründet sich auf dem Verdacht, eine „Reform" des politischen Unterrichts „von oben nach unten" verordnet oder diese zumindest versucht zu haben. Es gab und gibt keinen verfassungsrechtlichen Grund, Richtlinien nicht parlamentarisch diskutieren und beschließen zu lassen. (Dieser Grundsatz gilt selbstverständlich nicht nur für die Bundesländer, in denen die CDU die Opposition stellt.) Dabei sollten jedoch die Lernziele des (politischen) Unterrichts — so das erkenntnisleitende Interesse dieses Beitrags — wenn überhaupt, nur in empfehlender Form gesetzgeberisch verabschiedet werden.

DieserBeutrag beruht aufeinigen zusammenfassenden bzw. weiterführenden Schlußfolgerungen mei‘er 1973 vorgelegten Untersuchungen:

a/Verfassungstreue im öffentlichen Dienst. Dokumentation und Kritik politischer Justiz und Rechtsiehre zur politischen Meinungsfreiheit des Beamten. b) Wissenschaftsfreiheit des Lehrers im politischen Unterricht. Dokumentation und Kritik politischer Justiz und Rechtslehre zum grundgesetzlichen Bildungsauftrag der wissenschaftlichen Verfassungstreue in der Schule (beide Königstein/Ts. 1979).

9 Das Lehrstück „Sexualkunde" — Elternrecht versus Staatsschulprinzip in: Ernst-August Roloff, Vhule in der Demokratie — Demokratie in der Schule? Stuttgart 1979.

II. Das Konsensproblem in der politischen Didaktik

Während das verfassungsrechtliche Gebot, die „wesentlichen", „grundrechtsrelevanten" obersten Lernziele des (politischen) Unterrichts der traditionellen Richtlinienkompetenz der Kultusminister zu entziehen, nach dem sog. Sexualkunde-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Dezember 1977 verfassungsrechtlich nicht mehr in Frage gestellt wird, erscheint inzwischen schon die Forderung, überhaupt noch Lernziele des politischen Unterrichts in Richtlinien rechtsverbindlich vorzugeben, umstritten.

Soweit ersichtlich, zeigt sich in der aktuellen Diskussion zum Konsensproblem in der politischen Bildung Sutor als der einzige Didaktiker, der oberste Lernziele aus dem Grundgesetz — in enger Anbindung an das „Menschenbild" und die „Werteordnung des Grundgesetzes" in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts" — gewinnen will. Eine präzise Analyse dieser Intention Sutors steht vor einer doppelten Schwierigkeit: Zum einen gebraucht Sutor vielfach Wendungen, die sich gegenseitig derart ausbalancieren, daß ihre Konsequenzen nicht eindeutig zu bestimmen sind, so z. B. wenn er „von der Grundthese ausgeht, daß die Richtziele politischer Bildung aus einer Orientierung am Verfassungskern des GG zwar nicht zwingend abgeleitet, aber interpretierend gewonnen und konsensfähig formuliert werden können" Der Leser bleibt ohne Antwort auf die Frage, ob die somit „gewonnenen Richtziele“ in Richtlinien nun rechtsverbindlich (und von wem?) vorgegeben werden sollen oder nicht.

Zum anderen zieht Sutor regelmäßig nur partielle Begründungspassagen aus der frühen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts heran, deren (Rechts-) verbindlichkeit er an keiner Stelle prüft. Weder geht er auf die rechtswissenschaftliche Diskussion zu § 31 BVerfGG ein, nach der nur die „Entscheidungen" des Gerichts, nicht aber seine „Begründungen" Gesetzeskraft erlangen können, zumal, wenn deren Ergebnisrelevanz nicht zwingend ist, noch berücksichtigt er die inzwischen umfangreich vorliegende methodologische Kritik bezüglich gravierender Begründungs-defizite in der Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts

Wer sich nicht damit begnügt, sich wie Sutor pauschal auf die „bekannten Grundgesetzkommentare" zu berufen sondern kritisch nach Textgrundlage, Subsumtionsregeln, kategorialer Bestimmtheit und konsistenter Beweisführung fragt gegenüber Argumentationsfiguren des Bundesverfassungsgerichts wie „Menschenbild" und „Werteordnung des Grundgesetzes", kann nicht — wie Sutor — einen „in Verfassungsinterpretation und Rechtsprechung unbestrittenen Tatbestand zugrunde legen, nach dem das Grundgesetz mehr ist als ein formales Organisationsstatutfür politische Prozesse; daß seine normative Substanz vielmehr Ausdruck auch materialer Wert-und Sinnorientierung ist"

Es gilt in der Herausbildung einer Verfassungstheorie zwei Ebenen analytisch voneinander zu trennen: Zweifelsfrei sind die „Verfassungsväter" von verschiedenen, sogar konkurrierenden, katholisch-naturrechtlichen, liberalen und demokratisch-sozialistischen „Werteordnungen" und „Menschenbildern" ausgegangen, die auch zum Teil Eingang in die Formulierungen bestimmter Grundrechte gefunden haben. Davon zu unterscheiden ist jedoch die Frage, ob und welche „Werteordnungen" und „Menschenbilder" als rechtsverbindliche Strukturkonzepte insgesamt zwingend, d. h. nach den Regeln (juristischer) Logik eindeutig und widerspruchsfrei aus dem Wortlaut und Textzusammenhang der Grundrechte und Staatsziele i. S.der Art. 1— 20 GG abzuleiten sind.

Eine in diesem Sinne textgetreue Verfassungsinterpretation kommt nicht um den Tatbestand herum, daß das Grundgesetz keine „Menschenbilder" und keine „Werteordnungen" benennt, sondern „Grundrechte" der Bürger und Rechtsverpflichtungen staatlicher Organe. Der Parlamentarische Rat hat sich bewußt nicht auf die inhaltliche Festlegung einer bestimmten Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung verständigen können und wollen. Auch dieser Tatbestand ist unbestritten. Was blieb ihm also anderes übrig als ein Verfahrensregelungskompromiß öffentlicher, staatlich-politischer Meinungs-und Willensbil-dungsprozesse in der westeuropäischen Tradition parlamentarisch-demokratischer Mehrheitsbildungen und grundrechtlich-gerichts-förmigen Rechts-und Minderheitenschutzes? Es ist kein Zufall, daß der Grundgesetzgeber die Konkretisierung des Würdeschutzgebotes des Menschen beginnt mit den formalisierten Grundrechten der „freien Entfaltung" („soweit nicht die Rechte anderer verletzt werden ..

Art. 2, 1) Und der „Gleichheit vor dem Gesetz" (Art. 3) bzw. sie beschließt mit den institutionellen Regelungen des gewaltenteiligen, demokratischen und sozialen Bundesstaates" i. S.des Art. 20 GG.

Im folgenden soll deutlich werden, daß dieses kombinierte Prinzip freier, gleichberechtigter und öffentlicher Meinungs-und Willensbildung den einzigen grundgesetzlich und wissenschaftlich-didaktisch überzeugenden Konsens für den politischen Unterricht enthält. Weitergehender inhaltlicher Zielorientierungen bedarf es nicht.

Schließlich kommt Sutor selber zu dem Eingeständnis, daß die von ihm als konsensfähig hingestellten „Grundnormen ... bis zu einem gewissen Grad ... Leerformeln bleiben ..., da die Begründung oder Herleitung aus dem Minimalkonsens herausfallen .." bzw. „Richtlinien sollen die Antworten nicht vorwegnehmen" Nach diesem Resultat läßt sich insgesamt ein Fazit aus der neueren Diskussion um den Konsens im politischen Unterricht ziehen. Als Beleg sollen zwei repräsentative Didaktiker zu Worte kommen, deren Formulierungen in ihrer spezifischen Aussagekraft für sich selbst sprechen können.

Kurt Gerhard Fischer:

Das Grundgesetz ist ein politischer Kompromiß auch in den Teilen, die man als . Kern'der Verfassung bezeichnen könnte, s ist interpretationsbedürftig und interpretierbar."

». als kontrovers ist im Unterricht darzustellen, was unter Wissenschaftlern kontrovers ist.." •Schüler haben einen Rechtsanspruch zu wissen, daß die Entscheidung hinsichtlich der Grundrechte zugunsten eines naturrechtl-eben Erklärungsansatzes eine und nicht etwa die alleinige darstellt und daß Naturrecht nicht etwas Vorfindliches, sondern etwas Gedachtes ist...

„Schülern ist zuzumuten, daß sie kritisch mit dem Grundgesetz umzugehen lernen, so daß sie selbst erkennen und üben, daß es interpretierbar und interpretationsbedürftig ist und daß keine erdenkliche Auslegung Exegese darstellt, sondern bestenfalls — im doppelten Wortsinn — herrschende Deutung ... „Das Angebot einer . philosophisch-politischen'Anthropologie als Konsensus, anders: eines womöglich dem Grundgesetz immanenten . Menschenbildes'ist zurückzuweisen aus zwei Gründen: dem GG ist kein . Menschenbild'immanent — es gibt nicht die . philosophisch-politische Anthropologie’ “

Hermann Giesecke:

„... das Konsensproblem kam nicht dadurch zustande, daß zwischen den gesellschaftlichen Gruppen Streitigkeiten entstanden, die der Staat nun als Hüter des gesellschaftlichen Friedens hätte zum Konsens bringen müssen, sondern dadurch, daß der Staat selbst Richtlinien festsetzte, durch, die sich bestimmte Gruppen der Bevölkerung hinsichtlich ihrer . weltanschaulichen Grundrichtung'benachteiligt fühlten... „Das Problem des Konsenses ist nämlich nicht schon dann gelöst, wenn die im zuständigen Parlament vertretenen Parteien sich einig sind; denn die weltanschauliche Pluralität kann gar nicht adäquat in den Parteien widergespiegelt werden, weshalb auch zu Recht von einem . Toleranzgebot'des Staates z. B. in Schulfragen gesprochen wird."

„Das wissenschaftliche Studium ist überhaupt das einzige historisch vorliegende Modell einer Lehr-und Lerndienstleistung, das pluralistischen Zwecken, Zielen und Perspektiven nutzen kann, ohne dabei seine Identität zu verlieren"

III. Wissenschaftlichkeit und Verfassungstreue im politischen Unterricht

Sind nach einem Verzicht auf eine rechtsverbindliche Zielorientierung des politischen Unterrichts die Schüler ohne rechtlichen Schutz vor der „Willkür" oder „pädagogischen Autonomie" ihrer Lehrer? Dürfen diese nach freiem Belieben mal diese oder jene Zielvorstellung zugrunde legen, mal diesen oder jenen Gegenstand behandeln oder auch nicht, mal diese oder jene Methode benutzen, so daß es dem Zufall überlassen bleibt, wozu, mit welchen Inhalten, in welcher Weise und vor allem mit welchem Ausbildungsniveau Schüler politischen Unterricht erfahren?

Empirisch dürfte das Mißverhältnis zwischen dem (ver-) öffentlichten Aufwand an Lernziel-diskussion und seiner tatsächlichen Wirksamkeit für die Unterrichtspraxis nicht zu bestreiten sein. Tatsächlich wird die Unterrichtsrealität individuell bestimmt durch die Unterrichtsmaterialien (für deren Zulassung man sich deswegen erheblich mehr unter den Gesichtspunkten der Wissenschaftlichkeit und Verfassungstreue interessieren sollte!).

Zur verfassungsrechtssystematischen Bestimmung der Wissenschaftlichkeit und Verfassungstreue im politischen Unterricht stehen wir nun vor der Aufgabe, drei Grundgesetz-prinzipien widerspruchsfrei zu verbinden:

1. Wissenschaftsfreiheit 2. Verfassungstreue 3. Grundrechtsmündigkeit der Schüler (Die Anordnung könnte auch umgekehrt werden; entscheidend ist lediglich die logische Übereinstimmung in den Ergebnissen.)

Beginnen wir mit der Wissenschaftsfreiheit, so stehen wir zunächst vor der Tatsache, daß der Text des Grundgesetzes keine Definition von „Wissenschaft" benennt. Aus dem Gebot der Wissenschafts-Freiheit ist sogar der Schluß zu ziehen, daß das Grundgesetz eine (inhaltliche) Bestimmung von Wissenschaft nicht zuläßt. Dennoch muß zumindest eine (formale) Definition von Wissenschaft gefunden werden, denn sonst wäre die grundgesetzliche Unterscheidung zu anderen Grundrechten wie der Meinungsfreiheit oder Versammlungsfreiheit gegenstandslos. Um wiederum das Freiheitsgebot der Verfassung zum Schutze der Wissenschaft nicht zu verletzen, kann verfassungsrechtlich konsequent der Begriff der Wissenschaft nur bestimmt werden durch den Kon-B sens der Wissenschaftler. Dieser Konsens kann selbst nur formaler Natur sein, da die gegenwärtig vertretenen, konkurrierenden Wissenschaftstheorien sich zumindest inhaltlich gegenseitig (weitgehend) von ihrem Anspruch her ausschließen.

Der so gefundene Wissenschaftsbegriff soll in der Lehre „verfassungstreu" sein. „Verfassungstreue“ kann hier sinnvollerweise nur bedeuten, daß wissenschaftliche Lehre die verfassungsmäßigen Grundrechte anderer und die Staatsziele i. S.der Art. 1— 20 GG nicht verletzen darf.

Unbestritten steht diese verfassungstreue wissenschaftliche Lehre in der Schule unter dem Anspruch, die Schüler in rationaler Aufklärung zum Gebrauch ihrer Grundrechte zu qualifizieren. (Warum sollte sonst politischer Unterricht stattfinden?) Dazu bedarf es unbestritten eines bestimmten, qualitativ und quantitativ vergleichbaren Ausbildungsstandes schon als Grundlage staatlicher Prüfungen.

Nicht zuletzt darf unter dem Gebot der Entfaltungsfreiheit der Schüler i. S.des Art. 2, 1 GG nicht übersehen werden der grundgesetzliche Unterschied zwischen der Ausbildungsfunktion der Schule zugunsten der (intellektuellen) Grundrechtsmündigkeit der Schüler i. S.der Art. 7, 1; 2, 1 i. V. m. 20, I GG und dem elterlichen Erziehungsrecht i. S.des Art. 6, II GG, womit der gedankliche Kreis zu den grundgesetzlichen Grenzen von Wissenschaft und Verfassungstreue wieder geschlossen sein wird.

Alle die hier aufgezählten Gesichtspunkte sollen nun auf der Grundlage höchstrichterlicher Rechtsprechung und aktueller Rechtslehre im einzelnen geprüft und aufeinander bezogen werden.

Im Grundsatz erscheint der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und Verfassungstreue im politischen Unterricht in Richtlinien und Didaktiken unbestritten. Selbstverständlich wird vom Lehrer Verfassungstreue verlangt. Fast genauso selbstverständlich jedoch versuchen immer noch Schulbehörden, traditionelle Rechtsprechung und sog. herrschende Lehre dem Lehrer an staatlichen Schulen die Wissenschaftsfreiheit des Hochschullehrers zu verwehren. Dieser Versuch wird so lange weiter praktiziert und toleriert werden können, bis es nicht gelingt, allgemein verfassungs-rechtlich darüber aufzuklären, daß sich Wissenschaftlichkeit und Verfassungstreue im politischen Unterricht als Verfahrensformen für den Lehrer zu entsprechen haben.

Im Interesse der im folgenden versuchten verfassungsrechtlichen Aufklärung gilt es, 1. Wissenschaftlichkeit und Verfassungstreue (zunächst voneinander getrennt) kategorial zu bestimmen und 2. Wissenschaftlichkeit und Verfassungstreue als grundgesetzliche Gebote des politischen Unterrichts herauszuarbeiten. 1. Wissenschaft Aus der Formulierung des Art. 5, III, 1 GG („Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei ..") ist der Schluß zu ziehen, daß der Verfassungsgeber — zumindest unmittelbar — eine inhaltliche Festlegung der Wissenschaft unterlassen hat. Lediglich eine mittelbare Interpretation bietet sich durch die Zuordnung der „Wissenschaft“ zu „Kunst, Forschung und Lehre“ an. Vielfach ist die höchst-richterliche Rechtsprechung diesen Weg gegangen. So heißt es z. B. im KPD-Verbotsurteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE, Bd. 7, S. 146) vom 17. August 1956: Wissenschaft und Lehre ist die Erarbeitung und Darstellung von Erkenntnissen .. "

Eine ähnliche, noch weitergehende Zuordnung hat das Bundesverwaltungsgericht (Bd. 34, S. 69 ff., 77) in einer Entscheidung vom 26. September 1969 vorgenommen: „Äußerungen der Wissenschaft sind Forschung und Lehre. Mit dem Begriff . Forschung'ist das Bemühen um die Findung, mit dem Begriff . Lehre'das Bemühen um die Verkündung der Wahrheit erfaßt.."

Den Begriff der Wissenschaft weiter präzisiert hat der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (Bd. 35, S. 79ff„ 113) vom 29. Mai 1973 zum Niedersächsischen „Vorschaltgesetz": . Der gemeinsame Oberbegriff . Wissenschaft'bringt den engen Bezug von Forschung und Lehre zum Ausdruck. Forschung als . die geistige Tätigkeit mit dem Ziele, in methodischer, systematischer und nachprüfbarer Weise neue Erkenntnisse zu gewinnen', bewirkt angesichts immer neuer Fragestellungen den Fortschritt der Wissenschaft...

Auf diese überzeugende Definition wird zurückzukommen sein. Zuvor jedoch soll noch eine frühere, detaillierte höchstrichterliche Bestimmung von „Wissenschaft“ außerhalb der Forschung erwähnt werden. In einem Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts (Bd. 29, S. 78) vom 26. Januar 1968 wird die Tätigkeit eines Kustos am Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg als „vorwiegend wissenschaftlich" charakterisiert mit der Begründung: „Die Wissenschaft ist die Gesamtheit der Erkenntnisse auf einzelnen Wissensgebieten. Daß dieses Wissen zur Wissenschaft wird, hängt von folgenden Voraussetzungen ab:

a) ein möglichst lückenloses, geschlossenes Erfassenwollen eines bestimmten Teilbereichs der wirklichen Welt (System), b) das Beobachten aller Schritte, die bei der Erfassung des Gegenstandsbereichs gemacht werden (also bei der Forschung), und das folgerichtige Aufbauen einer Erkenntnis auf die andere (Methode) und c) Sicherung der systematisch und methodisch gewonnenen Erkenntnisse und das geordnete Zusammenfügen (Objektivität und Systematik). Daraus lassen sich folgende Stufen der wissenschaftlichen Aufarbeitung und damit der wissenschaftlichen Fähigkeit bestimmen:

a) Darstellen und Beschreiben (Tatsachenermittlung), b) Erklären (den nächstliegenden Ursachen-, Wirkungs-oder Grundfolgezusammenhang ermitteln und ausdrücken), c) Deuten (den tieferen Sinnzusammenhang aus der Sache ermitteln), d) Verstehen (einen Sinn-und Ausdruckszusammenhang im Bereich der menschlichen Person, der Sprache oder Geschichte in einem Nachvollzug erreichen), e) Beurteilen und Bewerten (den umfassenden Sinnzusammenhang ermitteln).. . Bemerkenswerterweise endet der für unser Thema interessante Begründungsteil mit der Feststellung:

„Die wissenschaftliche Tätigkeit erschöpft sich also nicht ... in der Forschung." Auf diese Erkenntnis wird noch zurückzugreifen sein im Zusammenhang der wissenschaftlichen Verfassungstreue im politischen Unterricht.

Aus der aktuellen Rechtslehre zur verfassungsrechtlichen Klärung des Wissenschaftsbegriffs im Sinne des Art. 5, III GG sind besonders die Dissertationen von Manfred Schumacher (1972) und Ekkehard Beck (1975) hervorzuheben. Schumacher geht von der Erkenntnis aus, daß es einen allgemein anerkannten Wissenschaftsbegriff nicht gibt. Andererseits hält er daran fest, daß Wissenschaft „Schutzgut der Verfassung ist, weil eine bestimmte Form von Wissenschaftlichkeit mit den Zielen und Grundprinzipien der Verfassung identisch ist. Es geht nicht um die Verfassungsadäquanz eines bestimmten Wissenschaftsbegriffs, sondern um die Verfassungskonformität eines Wissenschaftsprozesses", die keine „unfehlbare Instanz kennt, schon gar nicht eine staatlicher Organe"

Diese „Verfassungsadäquanz" des „Wissenschaftsprozesses" wird im Rahmen der Klärung der Verfassungstreue zu vertiefen sein. Die Kategorie Schumachers der prinzipiell unter Wissenschaftlern vereinbarungsfähigen „Objektivität" läßt sich durch zwei von Beck genannte Merkmale ergänzen: „Intersubjektiv verständlich und verfügbar gemachte (potentielle) Kritik bisherigen Wissens und gesellschaftlichen Handelns"; „Vollständigkeit als Korrektiv subjektiver Darstellung" (durch nachprüfbare Zitierung entgegenstehender Auffassungen) Fassen wir die bisher nachgewiesenen Erkenntnisse höchstrichterlicher Rechtsprechung und aktueller Rechtslehre zusammen, so läßt sich Wissenschaft begreifen als methodisch-systematisches, nachprüfbares Ermitteln neuer Erkenntnisse unter dem Anspruch einer gewissen, nur von den Wissenschaftlern selbst jeweils neu zu vereinbarenden Vollständigkeit und Objektivierbarkeit. Mit diesem ersten Zwischenergebnis verfassungsrechtlicher Klärung der „Wissenschaft“ i. S.des Art. 5, III, 1 GG ist dem grundgesetzlichen Freiheitsanspruch der Wissenschaft Rechnung getragen. Ausgeschlossen bleibt eine inhaltliche Festlegung sowie ein (staatliches) Wissenschaftsrichteramt.

Einzugehen bleibt an dieser Stelle nur noch auf folgendes Problem: Zwar verzichtet keine der heute vertretenen Wissenschaftstheorien auf den Anspruch der methodisch-systematischen Nachprüfbarkeit ihrer Aussagen; dennoch ist vor allem zwischen den Wissenschaftstheorien des sog. Kritischen Rationalismus und der sog. Kritischen Theorie umstritten und ungelöst, ob und inwieweit z. B. die Methoden empirisch-induktiver bzw. logisch-deduktiver Falsifizierbarkeit oder historisch-materialistischer Dialektik dem Anspruch intersubjektiver Nachvollziehbarkeit und kritischer Analyse genügen können. Diesen Streit, der auf unterschiedlichen Gesellschaftsanalysen und Erkenntnistheorien beruht, kann und darf der Verfassungsrechtler nicht entscheiden, der das Freiheitsgebot des Art. 5, III, 1 GG respektiert. Er kann jedoch darauf bestehen, daß wissenschaftliche Arbeiten ihrem eigenen, insoweit noch gemeinsamen verfahrens-mäßig vereinbarten Anspruch nachkommen, ihre Quellen, Methoden, Kategorien und Fragestellungen derart ausweisen und konsistent zugrunde legen, daß die konsequente Ableitung ihrer Ergebnisse intersubjektiv nachprüfbar ist. t Aus diesem nachvollziehbaren Ableitungsgebot wissenschaftlicher Erkenntnisbildung und -Vermittlung läßt sich ein weiteres Kriterium ermitteln, das bereits oben in der Zitierung von Schumachers und Becks Wissenschaftsbegriff ausgesprochen worden ist: Da der Wissenschaftsprozeß gekennzeichnet ist von der (kritischen) Auseinandersetzung verschiedener, ebenfalls im oben entwickelten Sinne begründbarer Positionen, versteht es sich von selbst, daß diese nicht unterschlagen werden dürfen, sondern zumindest (zitierend) auf sie zu verweisen ist. Man könnte in diesem Sinne von einem Indoktrinationsverbot wissenschaftlicher Lehre sprechen. 2. Verfassungstreue Ausgangspunkt zur Bestimmung verfassungstreuer wissenschaftlicher Lehre hat die Bestimmung des Art. 5, III, 2 GG zu sein, in der „die Freiheit der Lehre nicht von der Treue zur Verfassung entbindet". Zur Interpretation dieses Satzes sollen wiederum einige höchstrichterliche Entscheidungen sowie drei Beiträge aus der jüngeren Rechtslehre herangezogen werden.

Als erstes wäre das bereits oben angeführte KPD-Verbotsurteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1956 zu nennen, das in seinem siebten Leitsatz (Bd. 5, S. 85) ausführt: „Die eindeutig bestimmbare Grenze zwischen wissenschaftlicher Theorie, die durch Art. 5, III GG geschützt ist, und politischen Zielen einer Partei, die der Beurteilung nach Art. 21, II GG unterliegen, ist dort, wo die ... gewonnenen Erkenntnisse von einer politischen Partei in ihren Willen aufgenommen und zu Bestimmungsgründen ihres politischen Handelns gemacht werden." Im einzelnen führt dazu die Entscheidungsbegründung (S. 145f.) aus: „Soweit es sich ... um wissenschaftliche Erkenntnisse ... im Sinne des Art. 5, III GG handelt, ist diese Wissenschaft als solche selbstverständlich frei, sie kann vorgetragen, gelehrt, weiterentwickelt, allerdings auch diskutiert und bekämpft werden ... Sie kann, auch wenn sie zu einer Prognose künftiger Entwicklungen führt, als solche niemals gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verstoßen. Andererseits können allerdings die ... praktisch-politischen Ziele einer Partei nicht deshalb eine Sonderbehandlung erfahren, weil sie auf dem Boden einer bestimmten wissenschaftlichen Grundhaltung erwachsen...

Auf dieser deutlichen Trennungslinie zwischen wissenschaftlich-theoretischer Er-kenntnis-(vermittlung) und praktisch-politischem Handeln bewegt sich auch die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Ber-lin(DVBl. 1972, S. 738 ff.) gegenüber dem damaligen Wissenschaftssenator Prof. Stein, in der die „Treueklausel" des Art. 5, III, 2 GG als Verpflichtung nur zu Wissenschaftlichkeit erkannt wird: „Zwar entbindet die Freiheit der Lehre gern. Art. 5, III, 2 GG nicht von der Treue zur Verfassung; diese Treueklausel enthält jedoch keine zusätzliche Schranke. Die Treue-klausel legt dem akademischen Lehrer keine weitere Pflicht auf als die zur Wissenschaftlichkeit. Somit spricht Art. 5, III, 2 GG nur eine Begrenzung aus, die sich bei richtiger Erkenntnis des Wesens der Lehrfreiheit aus dieser selbst ergibt. Daher ist ein Einschreiten nur gegen solche Verletzungen der Treue zur Verfassung zulässig, die sich gleichzeitig als wissenschaftswidrig darstellen ... Politische Agitation kann das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit nicht in Anspruch nehmen, weil wissenschaftliche Betätigung ihrer Natur nach in erster Linie auf Erkenntnis, nicht dagegen auf ein Handeln zur Erreichung eines Bestimmten Erfolges gerichtet ist."

Aus der jüngeren Rechtslehre, die in analoger Weise zur Rechtsprechung Wissenschaftsfrei-heit und Verfassungstreue gegenüberstellt, seien Gerd Roellecke, Michael Rennert und wiederum Ekkehard Beck zitiert. Für Roellecke „wird die Lehrfreiheit mißbraucht, wenn die Regeln des rechtsstaatlich-demokra-tischen Willensbildungsprozesses bzw. wissenschaftlichen Meinungsbildungsprozesses Praktisch aufgehoben und absolut gesetzt werden .., Die Treueklausel ermächtigt den Staat, die Kultusverwaltung rechtsstaatlich-demo-kratisch zu organisieren

Zu interpretieren ist Roelleckes Position in dem Sinn, daß der parlamentarisch-demokratisch legitimierte Gesetzgeber berechtigt und verpflichtet ist, die Verfahrensbedingungen freier wissenschaftlicher Kommunikation zu gewährleisten, die abweichende (Minderheits-) Positionen insoweit zulassen muß, als sie nicht ihrerseits darauf abzielen, sich in dem Sinne absolut zu setzen, daß sie andere wissenschaftlich begründbare Positionen nicht mehr zu Worte kommen lassen.

Auf diesem Hintergrund begründet sich auch überzeugend Rennerts Differenzierung der unterschiedlichen, selbständig nebeneinanderstehenden Bestimmungen des Art. 5, III, 2 und des Art. 18 GG: Gemäß Art 18 GG „verwirkt" seine Lehrfreiheit derjenige, der sie „zum Kampfe gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung mißbraucht". Gewissermaßen unterhalb des Geltungsbereichs des Art. 18 ist Art. 5, III, 2 GG heranzuziehen, wenn indoktrinierend oder agitierend die Grenzen wissenschaftlicher Lehre überschritten werden

Ekkehard Beck vertieft die Analyse des Verhältnisses von wissenschaftlicher Lehre und Verfassungstreue im Sinne der „Freiheit und Selbstverantwortung, der Emanzipation" als Ziel der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Ziel des Art. 5, III, 2 GG ist demnach, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schützen, da andernfalls Emanzipation des einzelnen nicht möglich ist. „Emanzipation des einzelnen und freiheitlich-demokratische Grundordnung bedingen sich gegenseitig. Jede von beiden ist zugleich Ziel und Voraussetzung für die jeweils andere.“

Nach der Auffassung des Verf. läßt sich dieses wechselseitige Bedingungsverhältnis in der Parallelisierung der Strukturmerkmale der freiheitlich-demokratischen Grundordnung einerseits und der verfassungstreuen Wissenschaftslehre andererseits weiter aufklären. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne der gern. Art. 79, III GG unveränderbaren Grundsätze der Menschenwürde i. S.des Art. 1 (bzw. ihrer Konkretisierung in den Hauptgrundrechten der Entfaltungsfreiheit i. S.des Art. 2 und der Gleichheit vor dem Ge-setz i. S.des Art. 3 GG) im demokratischen, sozialen Bundes-und Rechtsstaat i. S.des Art. 20 GG stellt sich dar als die Verbindung von Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, im einzelnen konkretisiert als freie, gleichberechtigte, öffentliche Meinungs-und Willensbildung („Demokratie") und institutionalisierter, gewaltenteiliger, gesetzmäßiger (Grund-) Rechts-und Minderheitenschutz („Rechtsstaat", „Bundesstaat“).

Greifen wir auf die oben entwickelten Merkmale des freien Wissenschaftsprozesses im Sinne des Art. 5, III GG zurück, so ist die inhaltliche Analogie von Demokratie und Wissenschaft nicht zu übersehen. Beide basieren auf dem Vertrauen in die freien, gleichen, öffentlichen Meinungs-und Willensbildungsprozesse auf der Grundlage zwangloser Information und Diskussion. Der Unterschied liegt lediglich in folgendem: Die (öffentlichen) nichtwissenschaftlichen Meinungen stehen nicht unter dem Anspruch ihrer methodisch-systematischen Begründung und ihres argumentativen, objektivierbaren Vergleichs. Ihnen fehlen die selbst auferlegten Grenzziehungen der wissenschaftlichen Lehre, die den freien Austausch aller kontrollierbaren Auffassungen zu gewährleisten hat.

Dazu kommt, daß sie ohne weiteres überleiten können zur politischen Willens-und Organisationsbildung etwa im Sinne der Art. 8, 9 und 21 GG. Sie stehen damit in der ständigen Problematik der gegenseitigen Grundrechtsbeschränkungen auf der Logik des Art. 2, I (1. Alt.) GG. Um die Realisierung der Grundrechte aller zu sichern nach den konditionalen Regeln der Entfaltungsfreiheit (Art. 2, I GG) und der Gleichheitvor dem Gesetz (Art. 3 GG), hat der Verfassungsgeber dem sog. einfachen Gesetzgeber den Gesetzesvorbehalt zur Beschränkung der Grundrechte eingeräumt. Im Wege der abstrakten Rechtsgüterabwägung sollen allgemeine Gesetze die Kriterien gegenseitiger Grundrechtsbeschränkungen konkretisieren, um so den ungehinderten, gewalt-freien, demokratisch-rechtsstaatlichen Willensbildungsprozeß rechtlich-institutionell zu sichern.

Eines derartigen Gesetzesvorbehalts gegenüber der Wissenschaftsfreiheit i. S.des Art. 5, III GG bedarf es nicht. Aus ihrer oben entwikkelten Selbstbeschränkung heraus kann wissenschaftliche Lehre rechtslogisch Grundrechte anderer nicht verletzen. Sie kann niemanden aus dem Prozeß wechselseitig überprüfbarer Diskussion ausschließen. Dazu kommt ein weiteres Spezifikum: Der Adressat wissenschaftlicher Lehre hat frei zu bleiben in seiner eigenen Erkenntnisbildung. Entweder überzeugen ihn die dargelegten Aussagen und Begründungen oder sie überzeugen ihn nicht. Jeder Versuch, über argumentative Kommunikation hinaus auf den Adressaten Druck auszuüben, überschreitet die seit der Aufklärung als selbstverständlich erkannten Grenzen wissenschaftlicher Auseinandersetzung.

Zusammenfassend können wir also von einem Agitationsverbot wissenschaftlicher Lehre sprechen, deren Verfassungstreue nichts anderes als ihre argumentativ-theoretisch-analytische Selbstbeschränkung zum Ausdruck bringt. Diese Erkenntnisse sollen nicht mißverstanden werden als Versuch, Wissenschaftler von politischen Engagements abzuhalten. Sie sollen lediglich verdeutlichen, daß für „politisierende" Wissenschaftler dieselben rechtlichen Grundrechtsbeschränkungen gelten wie für alle anderen politisch tätigen Bürger auch. Der demokratisch-egalitäre Rechtsstaat des Grundgesetzes kennt keine Privilegien.

Diese verfassungsrechtliche Analyse verfassungstreuer wissenschaftlicher Lehre soll nicht abgeschlossen werden, ohne ein weiteres, mögliches Mißverständnis auszuräumen: Aus dem bisher entwickelten wechselseitigen inneren und äußeren Entsprechungsverhältnis der Rationalität von freiheitlich-demokratischer Grundordnung und wissenschaftlicher Lehre i. S.des Art. 5, III GG darf nicht der Schluß gezogen werden, wissenschaftliche Lehre dürfe die Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung selbst nicht kritisieren oder gar (theoretisch-analytisch) ablehnen. Zwar erklärt das Grundgesetz in Art. 79, III die „Änderung“ der Grundsätze in Art. 1 und 20 GG für „unzulässig“; diese Bestimmung kann jedoch nicht im Sinne eines wissenschaftlichen Frage-, Analyse-und Kritikverbots interpretiert werden.

Jede unhistorische Tabuisierung und Festschreibung widerspricht wissenschaftlich fort-zuschreibender neuer Erkenntnisbildung und -Vermittlung. So wie der Verfassungsgeber nicht den (unsinnigen) Versuch unternommen hat, die Grundsätze der freiheitlich-demokratischen Grundordnung einer neuen Verfassung (vgl. Präambel) vorzuschreiben, so ist auch aus dem Text der geltenden Verfassung kein Verbot herauszulesen, in wissenschaftlicher Form über das Grundgesetz hinauszudenken und zu diskutieren.

IV.

In diesem Abschnitt unserer Überlegungen gilt es nun, die bisher entwickelten Kriterien verfassungstreuer wissenschaftlicher Lehre (methodisch-systematischer Begründungsanspruch, Indoktrinations-und Agitationsverbot) als Inhalte und Grenzen des grundgesetzlichen Bildungsauftrages der Schule und des politischen Unterrichts nachzuweisen. Auszugehen ist dabei wiederum von höchstrichterlicher Interpretation des Art. 7, 1 GG, in dem es heißt: „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.“

Als immer noch gültig anzusehen ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Bd. 26, S. 238 f.): „Zur Schulaufsicht i. S.des Art. 7, I gehört jedenfalls die Befugnis des Staates zur zentralen Ordnung und Organisaüon des Schulwesens mit dem Ziel, ein Schulsystem zu gewährleisten, das allen jungen Bürgern gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet." Erweitern läßt sich diese höchstrichterliche Erkenntnis der Bildungsaufgabe der staatlichen Schule im Interesse der gesellschaftlichen Qualifizierung der Schüler durch das verfassungsrechtliche Gebot der Toleranz, daß das Bundesverfassungsgericht (NJW 1976, S. 947 ff.) in einigen Entscheidungen vom 17. Dezember 1975 zur christlichen Gemeinschaftsschule herausgearbeitet hat, wenn es im einzelnen in der Urteilsbegründung feststellt:

„Das Grundgesetz legt ... nicht etwa einen ethischen Standard'im Sinne eines Bestands von bestimmten weltanschaulichen Prinzipien fest,... nach denen der Staat den von ihm gestalteten Schulbereich auszurichten hätte ... Der . ethische Standard'des Grundgesetzes ist vielmehr die Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen angesichts eines Menschenbildes, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung bestimmt ist. In dieser Offenheit bewahrt der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine religiöse und weltanschauliche Neutralität“ Toleranz, Offenheit, Sachlichkeit und Pluralität werden noch einmal angesprochen im abschließenden Begründungsteil: „Der Rahmen ist... auf Mit-und Gegeneinander pluralistischer Kräfte zugeschnitten .... auf Versachlichung des Unterrichts im Vortrag weltanschaulich religiöser Auffassungen ..., bei deren Innehaltung auch nichtchristliche Minderheiten nicht in eine Isolierung gedrängt werden .. .

Diese Grundsätze der Respektierung der Grundrechte, vor allem im Interesse von Minoritäten, Pluralität der Weltanschauungen, Toleranz und Verbot von Indoktrination lassen sich ebenfalls herauskristallisieren aus dem letzten, für unser Thema entscheidenden (sog. Sexualkunde-) Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (NJW 1978, S. 807 ff.) vom 21. Dezember 1977, wenn die Urteilsbegründung im einzelnen feststellt: „Der Jugendliche ist nicht nur Objekt der elterlichen und staatlichen Erziehung. Er ist vielmehr von vornherein in immer stärkerem Maße eine eigene, durch Art. 2, I in Verbindung mit Art. 1, I geschützte Persönlichkeit" (S. 809), und daraus an späterer Stelle die Konsequenz zieht: . Aufgrund der Vorschriften des Grundgesetzes (Art. 4; Art. 3, III; Art. 33, III GG) können die Eltern ... die gebotene Zurückhaltung und Toleranz bei der Durchführung der Sexualerziehung verlangen. Die Schule muß den Versuch einer Indoktrinierung der Schüler mit dem Ziel unterlassen, ein bestimmtes Sexualverhalten zu befürworten oder abzulehnen." Unschwer läßt sich die hier entwickelte verfassungsrechtliche Orientierung des Sexualkundeunterrichts auch auf den politischen Unterricht beziehen, wenn auch nicht zu übersehen ist, daß das Bundesverfassungsgericht hier nur einen ersten Schritt gewagt hat, „auf halbem Wege stehengeblieben ist“, indem es nicht erkannte, daß eine konsequente Subsumtion des Sexualkundeunterrichts (wie auch jeden anderen Unterrichts) unter die oben dargestellten Merkmale wissenschaftlicher Lehre am treffendsten den Geboten der Entfaltungsfreiheit der Schüler bzw.den diesen entsprechenden Bildungsauftrag der Schule nach den vom Bundesverfassungsgericht selbst zugrunde gelegten Regeln der Offenheit, Pluralität, Toleranz und Sachlichkeit Rechnung getragen hätte.

Offensichtlich erscheint dem Gericht der Verpflichtungscharakter wissenschaftlicher Lehre in seinen Konsequenzen auch für den Lehrer an der staatlichen Schule noch nicht völlig geklärt, wenn die Urteilsbegründung (S. 811) dem Parlament „die Festlegung der Erziehungsziele in den Grundzügen („Groblernziele") und den Schulbehörden die Bestimmung der „Fein11 lernziele und der zur Erreichung der Ziele zweckmäßigsten Unterrichtsmethoden" zuweist und erst die „letzten Einzelheiten dem Lehrer beim Unterricht in der Schulklasse anheimgibt". Das Gericht hat sich nicht von tradierten Vorstellungen über die „pädagogische Freiheit" und seiner „pädagogischen Verantwortung" lösen können, die anscheinend nur darin begründet sein sollen, daß „Einzelheiten der Lehr-und Lernmethoden ... grundsätzlich nicht der gesetzlichen Regelung" (also auch hier noch Zugriffsmöglichkeiten der Schulbehörden?) „vorbehalten seien, zumal da solche Einzelheiten kaum normierbar sein werden und die Unterrichtsgestaltung für situationsbedingte Anpassung offen bleiben muß“.

Mit keinem Wort hat das Gericht einen verfassungsrechtlichen Begründungsansatz angesprochen, aus dem sich zwingend die hier eingeräumte Kompetenz der Schulbehörden zur Bestimmung der „Feinlernziele" und „Unterrichtsmethoden" ableiten läßt Auch der ansonsten richtige Grundgedanke bezüglich des Gesetzesvorbehalts in grundrechtsrelevanten Fragen im Schulwesen erscheint in den Konsequenzen ungeklärt. Anscheinend hat das Gericht sich nicht praktisch veranschaulicht, ob und inwieweit parlamentarisch-gesetzlich bestimmte Groblernziele des Unterrichts die Grundrechte von Schülern überhaupt verletzen können.

Dazu sind zum einen Lernziele im politischen Unterricht erfahrungsgemäß viel zu leerformelhaft und kaum operationabel Zum anderen jedoch könnte eine hinreichende bestimmte Zielfixierung — möglicherweise noch dazu nur von einer knappen parlamentarischen Mehrheit getragen — die Grundrechte der Schüler in problematischer Weise einschränken. Läge es da nicht nahe, aus didaktischen und rechtlichen Gründen generell auf gesetzliche — und konsequenterweise auch auf behördliche — Zielfixierungen zu verzichten? Damit würden keineswegs die grundgesetzlichen Bildungsaufgaben eines vergleichbaren, gleichwertig qualifizierenden Schulwesens gefährdet. Verfassungsrechtlich überzeugend hat das Bundesverfassungsgericht, wenn auch erst am Schluß seiner Urteilsbegründung zur Sexualkundeentscheidung (S. 811), die Verpflichtung des Gesetzgebers zur grundrechtsrelevanten gegenständlichen Organisa-tion und Verfahrensregulierung des Unterrichts herausgearbeitet.

Einen rechtlichen Weg, gegenständliche Organisation von Lernprozessen und wissenschaftliche Qualifizierung institutionell regelnd unter dem Anspruch der Effizienz aufeinander zu beziehen, hat das Hochschulrahmengesetz gewiesen, wenn es in den §§ 2; 3, III, IV; 7; 11; 12; 15 und zum Ausdruck bringt, daß die Freiheit wissenschaftlicher Lehre i. S.des Art. 5, III GG bezüglich ihrer Fragestellungen, ihrer Methodik, ihrer Bewertungen und Verbreitung gewährleistet ist im Interesse systematisch-geordneter Qualifizierung der Lernenden. Welches rechtliche Interesse könnten Gesetzgeber und Schulbehörden darüber hinaus für sich in Anspruch nehmen, es sei denn, es ginge ihnen gar nicht um die Sicherung wissenschaftlichen Unterrichts, dessen Begründung im Anschluß an die neuere Rechtslehre noch vertieft werden soll.

Im Zentrum der Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates steht das Anliegen, „für alle das wissenschaftsorientierte Lernen zu organisieren". Dieses wird im wesentlichen begründet mit dem . Anspruch ebenso des einzelnen wie der Gesellschaft darauf, daß die Selbstentfaltung der Person und die Selbständigkeit ihrer Entscheidungen und Handlungen durch eine hinreichende Orientierung in der modernen Welt gefördert wird, insbesondere durch ein kritisches Verständnis der Zusammenhänge, die das Leben des Menschen mitbestimmen. Ebenso liegt es im Interesse des einzelnen wie der Gesellschaft, daß die Fähigkeit zur Mitwirkung im demokratischen Staat, das elementare Verständnis von Wissenschaft... entwikkelt wird ... Die Bedingungen des Lebens in der modernen Gesellschaft erfordern, daß die Lehr-und Lernprozesse wissenschaftsorientiert sind." 16)

Leider beläßt es der Deutsche Bildungsrat bei derartigen „Empfehlungen“, ohne wirklich konsequente, rechtlich relevante, institutionalisierte Regelungsvorschläge.

Aus der großen Anzahl von Beiträgen der jüngeren Rechtslehre zur Wissenschaftsfreiheit des Lehrers soll -wiederum Ekkehard Becks Dissertation herausgehoben werden. Zu würdigen ist vor allem Becks Erkenntnis über den Charakter moderner Didaktik als forschungsund lehrbezogener Unterrichtswissenschaft, deren Grundzüge wegen ihrer rechtlichen Be-deutung relativ ausführlich zitiert werden sollen. Beck (S. 41) setzt sich auseinander mit der weithin verbreiteten, in der Regel auf Unkenntnis beruhenden Abwehrhaltung gegenüber der Didaktik, über die „die Meinung herrscht, sie sei etwas Wissenschaftsfremdes, weil sie — gleichsam von außen — an die wissenschaftliche Lehre herangetragen werde". Im Kontrast dazu vertieft Beck (S. 47 f.) die Erkenntnis, daß das Bemühen um optimale kommunikative Verwertung von Forschungsergebnissen selbst ein Prozeß ist, in dem Forschung und Lehre einen jeweils aktualisierten Bedingungszusammenhang eingehen in dem Verständnis von Wissenschaft, die „eine... Erkenntnis darstellt und dabei offenlegt, wie diese zustande gekommen ist".

Für Beck „konstituiert sich ein wissenschaftlicher Sachverhalt durch die Aussage, deren Gegenstand er ist. Daraus folgt, daß die Aussage nicht neben der . eigentlichen Erkenntnis'besteht und dieser lediglich hinzugefügt wird. Sie ist vielmehr das . Zwischenmedium', in dem die wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt erst existiert. Denn wissenschaftliche Erkenntnis ist undenkbar ohne die Sprache, in der wissenschaftliche Feststellungen niedergelegt werden."

Becks schlußfolgerndes Resümee: „Wissenschaft ist somit nicht nur Darstellung schlechthin, sondern Darstellung, die sich an und nach dem Adressaten und dem Zweck richtet, dem sie dient ... Es besteht ein notwendiges Verhältnis zwischen Erkenntnis und Kommunikation .. „ das sich als ein der Wissenschaft selbst innewohnendes Prinzip begreifen läßt." „Es macht Wissenschaft" — so Beck (S. 54) — »nicht unwissenschaftlich, wenn sie sich Rechenschaft darüber gibt, wozu sie dies oder das treibt und sagt; es gehört nicht auch noch dazu, es macht geradezu ihre zentrale Aufgabe aus, die Aussage in ein... ökonomisches, rationales Verhältnis zur möglichen Anwendung zu bringen."

Es wäre nicht einzusehen, daß die systematische Katalogisierung von Museumsgegenständen — wie oben erwähnt — höchstrichterlich (zu Recht) als wissenschaftliche Tätigkeit erkannt wird, während der jeweils forschend und lehrend zugleich didaktisch reflektierte Zusammenhang zwischen „Stoff" und möglichen Erkenntnisinteressen der Lernenden »bloßer", d. h. nichtwissenschaftlicher Unterricht sein soll.

Hochschullehre und Unterricht bewegen sich aufeinander zu. Unbestritten dürfte die Beobachtung sein, daß der Anteil der „reinen Lehre" im Sinne des monologisierenden Vortrages quantitativ zurückgegangen ist, nicht zuletzt angesichts der Erkenntnis geringerer Lerneffizienz dieses eindimensionalen Kommunikationsweges. Dazu kommt die ebenfalls unbestreitbare Einsicht in die Notwendigkeit, Schüler und Studenten in Methoden wissenschaftlichen Arbeitens einzuführen, um sie in den Stand zu versetzen, die expandierende Flut von Informationen systematisch, zielgerichtet und problembezogen auszuwerten. Angesichts massenhaft vorliegender oder leicht vorzulegender schriftlicher Materialien würde es einen anachronistischen Rückfall bedeuten, wenn Lehrer und Hochschullehrer nicht in das Zentrum ihrer Organisation von Lernprozessen mit Studenten und Schülern den kritischen Umgang mit ausgewählten Materialien und Quellen selbst stellten. Gerade im politischen Unterricht erscheint das Lehrbuch für sich allein genommen in der Regel — notwendigerweise — eher einseitig und rasch überholt. Wichtiger wäre eine technisch-optimale Ausstattung der Schulen mit Unterrichtsmaterialien aus den Bereichen des Fernsehens und der Presse. Je vielseitiger und differenzierter den Schülern auf diesem Wege das öffentliche politische Meinungsspektrum zu ihrer eigenen, vom Lehrer methodisch angeleiteten Analyse vorgelegt wird, desto gegenstandsloser wird die Gefahr der Indoktrination und Agitation.

Unter dieser Perspektive sollte ein letztes, verbreitetes, rechtliches und didaktisches Mißverständnis korrigiert werden. Intentionen — selbst solche gesetzgeberischer oder behördlicher Herkunft —, die Schüler mit irgendwelchen „Werten" zu „identifizieren", sind als wissenschaftlich und verfassungsrechtlich unzulässig anzusehen. Das Grundgesetz hat keine „Werte“ normiert, sondern Grundrechte der Bürger und Rechtspflichten staatlicher Organe. Verfassungsrechtlich zweifelhaft ist auch, ob den Lehrern überhaupt neben den Eltern i. S.des Art. 6, II GG ein Erziehungsrecht gegenüber den Schülern zusteht, das über deren Verhaltensorientierung im Interesse eines geordneten Unterrichtsablaufs hinausgeht. Zweifelsfrei ist allerdings der grundgesetzliche Bildungsauftrag der Lehrer an einer staatlichen Schule, unzweideutig den rechtlichen Verpflichtungscharakter (grund-) gesetzlicher Regelung herauszustellen, deren Respektierung allerdings in ihren allgemeinen Vorteilen begründet werden sollte; dies ist jedoch nicht im Sinne einer Propagandapflicht mißzuverstehen. Welche wissenschaftlich-politische Substanz sollte einer gesinnungsmäßigen Werte-Identi-fikation zukommen, die nicht auf argumentativ vergleichende, freigebildete Einsichten in die Vorteile grundrechtlicher Ordnung beruht?

V. Ergebnis

x Halten wir abschließend die Kriterien wissenschaftlich-verfassungstreuer Verfahrensformen des Lehrers im politischen Unterricht fest:

1. Er ist gebunden an die gegenständlich-organisatorischen, gesetzlichen und behördlichen Regelungen bzw. kollegialen Absprachen bezüglich der Auswahl und Reihenfolge der Unterrichtsthemen, damit ein geordnetes, gleichwertiges und vergleichbares Unterrichtsangebot gewährleistet bleibt.

2. Er ist gehalten, nach den Regeln wissenschaftlicher Diskussion im Unterricht den Schülern gegenüber seine Quellen, Kategorien, Methoden und Fragestellungen insoweit auszuweisen, als diese willens und interessiert sind, diese kritisch analysierend zu vergleichen und zu überprüfen. 3. Er darf abweichende, ebenfalls wissenschaftlich begründbare Positionen nicht unterdrükken, sondern hat zumindest auf sie zu verweisen.

4. Ihm ist jeder Druck auf die Willens-und Entscheidungsbildung der Schüler verwehrt. Wohl aber ist er berechtigt und unter Umständen sogar verpflichtet, im Rahmen seines grundgesetzlichen Bildungsauftrages die Schüler zur Wahrnehmung ihrer Grundrechte zu qualifizieren, politische Aktionen (der Schüler) antizipierend oder nachträglich in ihren Verlaufsformen, Bedingungen, Alternativen und Konsequenzen zu analysieren.

Was könnte und sollte angesichts dieser strengen Pflichten des Lehrers weiter an wissenschaftlicher Verfassungstreue im politischen Unterricht zu fordern sein?

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Hagen Weiler, Wissenschaftsfreiheit des Lehrers im politischen Unterricht, 1979, S. 136.

  2. Ebenda, S. 136.

  3. Bernhard Sutor, Verfassung und Minimalkonsens. Die Rolle des Grundgesetzes im Streit um die politische Bildung, in: Siegfried Schiele/Herbert Schneider, Das Konsensproblem in der politischen Bildung, Stuttgart 1977, S. 159.

  4. Vgl. u. a. Helmut Goerlich, Werteordnung und Grundgesetz, Baden-Baden 1973.

  5. Sutor, a. a. O„ S. 156.

  6. Ders., a. a. O., S. 156.

  7. Ders., a. a. O., S. 162».

  8. Kurt Gerhard Fischer, über das Konsensproblem in Politik und politischer Bildung heute, in: Schiele/Schneider, Stuttgart 1977, S. 43, 48, 51.

  9. Hermann Giesecke, Die Schule als pluralistische Dienstleistung und das Konsensproblem in der politischen Bildung, in: Schiele/Schneider, Stuttgart 1977, S. 58, 60 f.

  10. Manfred Schumacher, Wissenschaftsbegriff und Wissenschaftsfreiheit. Zur Auslegung von Art. 5, III GG, jur. diss. Mainz 1972, S. 74 ff.

  11. Ekkehard Beck, Die Geltung der Lehrfreiheit des Art. 5, III GG für Lehrer an Schulen, jur. diss. Bonn 1975, S. 164 ff.

  12. Gerd Roellecke, Wissenschaftsfreiheit als institutionelle Garantie, JZ 1969, S. 729.

  13. Michael Rennert, Die Bindung der Hochschullehrer durch die Treueklausel des Art. 5, III GG, jur. diss. Heidelberg 1973, S. 75 ff.

  14. Beck, a. a. O„ S. 230 f.

  15. Lutz-Rainer Reuter, Normative Grundlagen des politischen Unterrichts, Opladen 1979, 3. Kap.

  16. Deutscher Bildungsrat, Strukturplan für das Bildungswesen, 1971, S. 30ff.

Weitere Inhalte

Hagen Weiler, Dr. jur., Dr. rer. pol., Dipl. Pol., geb. 1939, Studium der Rechtswissenschaft, der Politologie, der Erziehungswissenschaft und politischen Didaktik; Akademischer Oberrat für Politische Bildung und Bildungsrecht am Pädagogischen Seminar der Universität Göttingen. Veröffentlichungen u. a.: Politische Emanzipation in der Schule. Zur Reform des politischen Unterrichts, Düsseldorf 1973; Verfasssungstreue im öffentlichen Dienst; Wissenschaftsfreiheit im politischen Unterricht (beide Königstein/Ts. 1979).