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Jugend zwischen Überfluß und Mangel | APuZ 21/1980 | bpb.de

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APuZ 21/1980 Jugend zwischen Überfluß und Mangel Extremismus und Exodus — Konsequenzen für die politische Bildung. Ergänzungen zu den Ausführungen von L. v. Balluseck: Zum Exodus Jugendlicher, in: B 30/79 Stellungnahmen und Ergänzungen zu den Beiträgen von H. und Th. Castner und von F. v. Cube

Jugend zwischen Überfluß und Mangel

Hartmut und Thilo Castner

/ 45 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Eine wachsende Zahl junger Menschen steht ihrer Umwelt bindungs-und orientierungslos gegenüber, ist außerstande, sich mit den sozio-ökonomischen Gegebenheiten zu identifizieren. Flucht in politische Radikalität, in Drogen, religiöse Sekten oder in den subkulturellen Untergrund sind die Folge, ferner politisches Desinteresse und kritiklose Anpassung. Die beiden Autoren stellen zunächst Material zur Beschreibung dieses Trends zusammen und berichten außerdem über ihre Erfahrungen in der Schule. Ihre Schwierigkeiten im Umgang mit der gegenwärtigen Jugend — und hier wissen sie sich in Übereinstimmung mit vielen Kollegen der unterschiedlichsten Schulgattungen — zwingen sie zu der Überlegung, wo die Ursachen für das bedrohliche Anwachsen politisch-sozialer Verweigerung zu suchen sind. Ihre These lautet: Der Überfluß an Wohlstand, an materieller Versorgung und Verwöhnung einerseits, der Mangel an frühkindlicher Zuneigung, an affektiver Hingabe und Aufmerksamkeit andererseits haben die Ausprägung eines Sozialisationstyps begünstigt, der durch Willensschwäche, Passivität und Wehleidigkeit charakterisiert ist Die junge Generation spiegelt damit Fehlentwicklungen der gesamtgesellschaftlichen Prozesse während der letzten 20 Jahre wider, weshalb nicht einzeltherapeutische oder ausschließlich pädagogische Maßnahmen zur Behebung der geschilderten Krise ausreichend erscheinen, sondern nur eine veränderte Gesellschaftspolitik, in deren Mittelpunkt menschliche Existenz und nicht betriebliche Produktivität und ökonomisches Wachstum stehen. Die Autoren versuchen aus ihrer Sicht zu beschreiben, welche Maßnahmen im Bereich Schule, Familie und Politik notwendig erscheinen, soll der Trend jugendlichen Versagens und Verweigerns aufgefangen werden.

I. Vorbemerkung

Abbildung 1

Das Thema . Jugend" ist scheinbar wieder aktuell geworden. In Zeitungen und Illustrierten häufen sich sensationelle Artikel oder gar Serien zum Aspekt Jugendkriminalität, Alkoholismus, Heroinabhängigkeit, Jugendsekten oder über die Glücks-und Zukunftserwartungen der Jugend. Betrachtet man jedoch die Darstellungen genauer und berücksichtigt man die Entwicklung der letzten fünf Jahre, so fällt auf, daß in der Bundesrepublik das Problemfeld „Jugend" nur dann thematisiert wird, wenn juvenile Verhaltensmuster offenbar werden, die dem Erwachsenen als nicht mehr annehmbar oder gefährlich erscheinen. Die Massenmedien interessieren sich überdies zumeist nur für Jugendliche, deren psychisches Elend so kraß durchschlägt, daß es sich gut . vermarkten'läßt.

Zu fragen wäre also von vornherein, ob das bedrückende und besorgniserregende Bild, das Teile der Jugend tatsächlich von sich vermitteln, nicht Resultat politischer, pädagogischer und sozialpsychologischer Ignoranz der letzten Jahrzehnte ist, daß also derjenige Teil der Jugend, der als gesellschaftlich desintegriert erscheint, letztlich auf eine Krise der Erwachsenen und damit der Gesamtgesellschaft verweist, wobei diese Krise lediglich unter Teilen der Jugend besonders auffällig sichtbar wird. Da sich mittlerweile die jugendliche Subkultur so vielfältig und widersprüchlich darstellt, werden wir unsere Perspektive auf diejenigen Jugendlichen konzentrieren, die wir aufgrund unserer Schulpraxis am besten kennen, nämlich die Jugendlichen aus dem gymnasialen Bereich und der kaufmännischen Real-und Wirtschaftsschule. Jugendliche aus anderen gesellschaftlichen Sektoren werden wahrscheinlich vergleichbare Grundmuster des Verhaltens und der Ideologie aufweisen, doch sollten deren spezifische Probleme von anderer, kompetenterer Seite dargestellt werden. Ausgangspunkt unserer Betrachtung sind verschiedene Erfahrungen aus unserer Schulpraxis sowie Sorgen über die sich abzeichnende zersplitterte Zukunftsperspektive, die junge Menschen vor sich haben. Das Ziel unserer Betrachtungen besteht darin, zu einem weiten Erfahrungsaustausch über „Jugend" anzuregen und Möglichkeiten auszuloten, um in dem einen oder anderen Bereich neue Reflexionen, Konzeptionen und Aktivitäten in Gang zu setzen bzw. zu ermutigen.

Wie notwendig eine offensive Jugendpolitik ist, erweist sich an dem Faktum, daß der „Bericht zur Lage der Jugend 1978" vor weitgehend leeren Parlamentsbänken stattfand, hingegen die Plenarsitzungen zur Energiekrise ein volles Haus zeigten. Bei zahlreichen Politikern scheint sich das Denken über ökonomisches Wachstum und Energiesicherung mittlerweile verselbständigt zu haben.

II. Beschreibung der gegenwärtigen Situation

Fluchtwege Schon 1977 hat Hendrik Bussiek 1) alarmierende Fakten zur sozialen Desintegration und Psychischen Orientierungslosigkeit von Ju-gendlichen zusammengestellt, die wir, weil sie in Vergessenheit geraten oder nie beachtet worden sind, wieder in Erinnerung rufen wollen. a) Alkohol und Drogen Die Zahl der alkohol-und drogenabhängigen Jugendlichen liegt bei mindestens 20 000. Ein Sechstel der Jugendlichen gilt als alkoholgefährdet — Trunksucht bereits bei den 14-bis 16jährigen: Von der 8. Klasse aufwärts war jeder dritte Hamburger Schüler und jede fünfte Hamburger Schülerin mindestens zweimal im Monat volltrunken. Dasselbe Bild bei . harten'und . weichen'Drogen; um Schwierigkeiten zu entgehen, wird . gehascht'und . geschossen', obwohl die schädigenden Wirkungen den Jugendlichen in der Regel sehr klar sind. Aber der Wunsch, der ungeliebten Realität, den beruflichen, schulischen oder familiären Anforderungen zu entkommen, ist stärker als rationale Einwände oder gutgemeinte pädagogische Ermahnungen. Das Einstiegsalter für Kiffer und Spritzer ist in den letzten Jahren permanent gesunken: 12-und 13jährige Hauptschüler, die den Stoff mühelos, manchmal sogar im Schulbereich, angeboten bekommen und nehmen, sind keine Ausnahmen mehr:

„In der Schule war ich unter den Kiffern, das warsohe Szene. Ich warn sehrhübsches Mädchen und hab dann 'n Freund gehabt, der war in der letzten Klasse, und das war natürlich toll, so'n älteren Freund, das war angesehen, und ich kam mir auch unheimlich gut dabei vor, mit 13. Ich war da in so'ner Clique drin, mit vier Typen und ich als einziges Mädchen. Und da hab ich angefangen zu kiffen und Mandrax zu nehmen ... Mit 15 habe ich angefangen zu drücken. Das Drücken, das Gefühlkannste überhaupt net so beschreiben. Angenehm, ich habe Mama, Papa in der Vene drin, ich hab's Zuhause in der Vene. Eine Geborgenheit, ich war sicher, ich konnte reden, ich hab leben können, hat mir das Gefühl von Leben gegeben, alles warnicht mehr so tragisch, alles um mich rum war okay. “

1978 starben 430 Menschen an überhöhtem Drogenkonsum, 1979 über 600, überwiegend Jugendliche, vor zehn Jahren dagegen nur insgesamt 29. b) Flucht in den Freitod Die Schätzungen über die jährliche Selbstmordrate bei Jugendlichen reichen bis zu 6 000. Jeder zehnte Jugendliche trägt sich vorübergehend mit Suizidgedanken. Auch hier dieselben Symptome wie bei Alkohol und Drogen — der Freitod erscheint als einzige Möglichkeit, endlich Ruhe und Geborgenheit zu finden — und jährlich steigende Quoten 2a). Als besonders anfällig erweisen sich Abiturienten und Studenten: 25 % dieser Gruppe hatten nach einer INFAS-Umfrage schon einmal ernsthaft daran gedacht, sich das Leben zu nehmen. c) Flucht in die Religion Die Zahl der Jugendlichen, die sich Jugendreligionen angeschlossen haben, wurde Anfang 1978 vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit mit 150 000 angegeben. Die meisten religiösen Sekten stellen, gleichgültig wie widersprüchlich und vordergründig ihre Programme auch sein mögen, in den Augen enttäuschter Jugendlicher eine Alternative dar, sofern es den Sektenmitgliedern gelingt, den Anschein von Geborgenheit und Fürsorge zu erwecken. Die Beitrittsmotive von Jugendlichen hat das Bundesministerium auf einer Pressekonferenz im Juli 1978 wie folgt umschrieben: „Vielfach , Weltflucht'aus Zukunftsangst — Enttäuschung über weithin als sozial ungerecht empfundene gesellschaftliche Wirklichkeit — Probleme in Familie. Schule und Beruf — Unvermögen, Leistungsdruck zu kompensieren und Unfähigkeit, Spannungen im Verhältnis zur sozialen Umwelt zu ertragen — Wunsch nach sinnerfülltem Leben — Streben nach liebevoller Annahme und personaler Geborgenheit in Gemeinschaft Gleichgesinnter — Drang, ein von Askese, Unterordnung und Spiritualität gekennzeichnetes Leben zu führen." d) Flucht in die Kriminalität Nach allen veröffentlichten Kriminalstatistiken ist der Anteil der Straffälligkeit bei Jugendlichen und Kindern in den vergangenen Jahren permanent gestiegen. Auch wenn Gelegenheitsdelikte, wie Warenhausdiebstähle und Entwendung von Fahrzeugen, — oft als Geschicklichkeitswettbewerb oder Mutprobe mißverstanden —, einmal ausgeklammert werden, ferner die Straftaten, die im Alkohol-rausch oder zur Drogenbeschaffung begangen werden, bleibt eine wachsende Zahl von Verbrechen und Gewalttaten aus Rache, oder als Protest und Auflehnung gegen die Gesellschaft. Hinzu kommen Übergriffe aus Ich-Schwäche: Man will sich und anderen beweisen, wie stark man ist. . Jugendkriminalität als weiteres Indiz für die angeführte Legitimationskrise? Es deutet alles darauf hin." e) Flucht in radikale Gruppen Auch ein großer Teil der Jugend, der sich den militanten neonazistischen Gruppierungen wie der Wiking-Jugend oder dem Bund Heimattreuer Jugend anschließt, flieht seine herkömmliche Umwelt und sucht Kameradschaft, Geborgenheit und neuen Lebenssinn. Dabei verspricht die sonst in der Gesellschaft so sehr vermißte Gemeinschaft, wie sie alle rechtsradikalen Vereinigungen anbieten, nicht nur den Leistungsschwachen und Schulversagern eine Identifikationsmöglichkeit, sondern auch Gymnasiasten und Musterschülern Es ist kein Zufall, daß die erfolgreiche Rekrutierung des rechtsradikalen Potentials aus den Reihen der Jugendlichen in dem Augenblick einsetzte, als gesamtgesellschaftliche Krisenerscheinungen wie Jugendarbeitslosigkeit, ungesicherte Zukunftserwartungen und individuelle Hilflosigkeit manifest wurden, ein Hinweis darauf, daß Gegenmaßnahmen zur Eindämmung des sich ausweitenden Neonazismus nicht nur im politischen Kampf, sondern auch in einer neuen jugendpädagogischen Konzep-tion und sozialen Umstrukturierung gesucht werden müssen f) Flucht in die Subkultur Der Rückzug ins Ghetto, abseits der gesellschaftlichen Wirklichkeit, ist ein Fluchtweg, wie ihn vor allem Studenten angetreten haben. Die „Spontis" bestimmen das Bild in zahl-

INHALT I. Vorbemerkung II. Beschreibung der gegenwärtigen Situation 1. Fluchtwege a) Alkohol und Drogen b) Flucht in den Freitod c) Flucht in die Religion d) Flucht in die Kriminalität e) Flucht in radikale Gruppen f) Flucht in die Subkultur 2. Anpassungswege a) Sozialer Aufstieg b) Politische Desorientierung III. Erfahrungen aus der Schulpraxis 1. Im Schullandheim mit einer 9. Klasse 2. Diskussion im Klassenzimmer 3. Besuch eines Ehemaligen 4. Schüleraufsätze über Schule und Zukunftserwartungen 5. Schülerfragebogen a) Konsumverhalten b) Körperliches Wohlbefinden c) Schülerinteressen d) Selbsteinschätzung e) Sozial-emotionale Bedürfnisse IV. Berichte anderer Pädagogen 1. Die Bielefelder Laborschule 2. Hauptschullehrer F. Gürge: Mathematikunterricht 3. J. Unbehaun: Orientierungsstufe V. Der narzißtische Jugendliche — ein neuer Sozialisationstyp 1. Die neue psycho-soziale Grundstruktur des Jugendlichen 2. Das gehobene Anspruchsniveau VI. Schlußfolgerungen 1. Schule und Unterricht 2. Familienpolitik 3. Wirtschaft und Politik 4. Jugendpolitik reichen westdeutschen Universitäten wesentlich mit, Studenten, die der traditionellen Wissenschaft feindlich gegenüberstehen und einem unverhohlenem Subjektivismus huldigen.

Da gibt es die „Superspontis, die sich Stadtindianer oder an der Universität FU-Indianer (oder Inianer, von Initiative) nennen. Diese oft bunt angemalten, sich bewußt kindlich gebärdenden Landluft-Romantiker sind kaum noch politisch einzuordnen und legen wohl auch keinen Wert darauf. Sie stellten sich ein entsprechendes Armutszeugnis aus, als sie am 2. Juni auf der Kundgebung zum 10. Todestag von Benno Ohnesorg die Gedenkrede Erich Frieds mit albernem Singen und Tanzen störten."

Noch eindringlicher ist die Schilderung, die F. Fichter und S. Lönnendonker geben: „Der Durchschnitts-Stadtteilindianer wacht in einer Wohngemeinschaft auf, kauft sich die Brötchen in derStadtteilbäckerei um die Ecke, dazu sein Müsli aus dem makrobiotischen Tante-Emma-Laden, liest zum Frühstück . Pflasterstrand', , INFO-BUG', , zitty, ‘ geht — falls er nicht , zero-work'-Anhängerist — zurArbeit in einem selbstorganisierten Kleinbetrieb oder in ein . Alternativ-Projekt', alle fünf Tage hat er Aufsichtin einem Kinderladen, seine Ente läßt er in einer linken Autoreparaturwerkstatt zusammenflicken, abends sieht ersieh Casablanca'mit Humphrey Bogarth im, off'-Kino an, danach ist er in einer Tee-Stube, einer linken Kneipe oder im Musikschuppen zu finden, seine Bettlektüre stammt aus dem Buchladen-kollektiv. Ärzteund Rechtsanwaltkollektive, Beratungsstellen für Frauen, Frauen-und Männergruppen gibt es im Ghetto. Der gesamte Lebensbereich ist weitgehend abgedeckt bis hin zum Besuch der letzten Ausstellung der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst oder der neuesten Inszenierung des Theaters am Turm... In West-Berlin und Frankfurt gibt es Angehörige der , scene', die stolz daraufsind, seit zweieinhalb Jahren kein Wort mehr mit einem von denen, die draußen sind, gewechselt zu haben ... Von . neuen Bedürfnissen 'ist die Rede, , deren sprachlicher und politischer Ausdruck erst noch zu finden ist', von der produktiven Sprachlosigkeit', von . neuen Wertvorstellungen'. Tatsache ist, daß sich schon längst nicht mehr nur Studenten aus bürgerlichem Elternhaus, sondern auch Jungarbeiter, Lehrlinge und Frauen im Ghetto ansiedeln.“

Diese Fluchtwege sind ein beredter Beweis dafür, wie wenig sich Hunderttausende von Jugendlichen mit der Gesellschaft identifizieren können, in der sie leben. Die oft verwendete Floskel von der „Staatsverdrossenheit" erfaßt nur die Oberfläche des Problems. In Wirklichkeit trennen diese Jugendlichen schon Welten von den Wertvorstellungen und Lebenserfahrungen der älteren Generation. Leider hat Claus Richter nur allzu recht, wenn er konstatiert: „Schon heute ist eine Entfremdung zwischen der etablierten Politik und weiten Teilen der Jugend größer als je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Aus der außerparlamentarischen Opposition der 60er Jahre führt eine gerade Linie in die Alternativbewegung unserer Tage, die im Gegensatz zu früher diese Gesellschaft nicht mehr politisch verändern, sondern mit ihr und ihrer Kultur nichts mehr zu tun haben will." 2. Anpassungswege Die Zahl derjenigen, die ausgeflippt sind oder nach alternativen Lebensformen suchen, steigt zwar unablässig, stellt aber noch die absolute Minderheit der Jugendlichen dar. Insofern erscheint es uns nicht berechtigt, im Sinne Lothar von Ballusecks von einem „Exodus" der Jugend zu sprechen 9a). Allerdings ist mit dieser Feststellung kein Anlaß zum Jubeln gegeben, wenn man betrachtet, wie sich die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen derzeit verhält. a) Sozialer Aufstieg Wer keinen Grund und keine Möglichkeit zum Aussteigen sieht, paßt sich geschickt an. Eingeschüchtert durch ein zunehmend autoritäres Klima in Schule und Betrieb, verängstigt durch Numerus Clausus, Arbeitslosigkeit und Lehrstellenmangel, verunsichert durch . Berufsverbote'und . Gesinnungsschnüffelei'haben alle diejenigen, die sich integrieren wollen, das Ducken gelernt und sind bereit, sich ohne Murren unterzuordnen, den Mund zu halten, zu gehorchen, wegzustecken, den Kopf einzuziehen, nichts zu riskieren, geduldig und widerspruchslos auf eine Chance zu warten. Seit drei, vier Jahren ist bei allen Gewerkschaften, Jugendverbänden und politischen Parteien ein vehementer Rückgang an aktiven und engagierten Jugendlichen zu beobachten; denn gesellschaftspolitische Aktionen zahlen sich nicht mehr aus, da steckt man die noch vorhandene Energie doch lieber in die berufliche Karriere, pflegt seine privaten Interessen (damit kann man nicht anecken) und bekennt sich zu den Grundsätzen der Leistungsgesellschaft. Die Erinnerungen von R. M. Goetz an Schule und Universität spiegeln die Erfahrungen und Verhaltensweisen von Tausenden junger Menschen der letzten Jahre wider: „Schon auf der Schule die paradoxe Haltung, Einzelgänger und Mitläufer in einer Person zu sein. Bilderbuchabitur, bei der Zeugnisverteilung trug ich eine kollektiv verfaßte Abiturrede vor, deren letzter Satz den Grundtenor wiedergibt: , Den Bedingungen, die Schuld daran waren, daß das Positive Ausnahme bleiben mußte, gilt unser sprachloser Zorn.'Schon damals also beides, die Einordnung und der nur gedanklich und verbale Protest, ich meine, das System der Zwänge unterlaufen zu können, indem ich die Anforderungen übererfülle, mir dadurch Narrenfreiheit sichere. Erst viel später merke ich, wie unvermeidlich eine nur für äußerlich gehaltene Anpassung eine Anpassung auch des Denkens zu werden droht. Aufder Schule habe ich, gerade rechtzeitig, mit 16, die globale Verweigerung aufgegeben, mich angepaßt, wo es nötig war, mich interessiert, gelesen, gelernt. Erfolge stellten sich ein, und es wäre verlogen zu behaupten, daß diese Erfolge keinen Spaß gemacht hätten, daß nicht neue Lust gedeckt worden wäre, fch entwickelte und perfektionierte ein System, das mir half, ganze Lehrbuchpassagen auswendig zu lernen und in Schulaufgaben wiederzugeben. Die Noten gaben mir recht, belohnten mich dafür. Gewiß, auch Kritik. Aber nur die von vornherein vorgesehene, jederzeit integrierbare. Ist es wirklich nur ein Zufall, daß die beiden einzigen Linken, wie hilflos und verbissen sie ihre Positionen auch immer vertraten, irgendwann abgehängt wurden, das Abitur nie erreichten? An der Universität dann mein beflissenes, graues, pflichtbewußtes, nirgends engagiertes Studium für die Geschichte. Die Belohnungen, nach schnellen acht Semestern, auch hier. Hätte ich auch nur in einem einzigen Seminar eine abweichende eigene Meinung und dadurch den Schein riskiert, all dies wäre nicht so problemlos gegangen. Aber: Erfolge, Belohnungen — Versuchungen ... "

So radikal ein gewisser Teil der Jugendlichen das Profit-und Karrieredenken der etablierten Kreise ablehnt, so sehr akzeptiert der weitaus größere Teil jede Form sozialer Anpassung, um sich eine stabile Existenzgrundlage und ökonomische Sicherheit zu schaffen. Aber der politische Preis solchen Anpassertums ist hoch. b) Politische Desorientierung Tatsächlich ist das Interesse an Politik, an Parteiarbeit und Demokratie unter den Jugendlichen in unserem Land in den letzten Jahren stetig geschrumpft. Einer STERN-Umfrage Mitte 1979 zufolge hat sich zwischen den Jungwählern des Jahres 1976 und denen der bevorstehenden Bundestagswahl Erhebliches geändert: Auf die Frage, wer von den genannten Personen einen großen Einfluß auf sie habe, antworteten die Interviewten so Der Trend geht eindeutig dahin, daß die Jugendlichen zwischen 17 und 20 Jahren Politiker wie Kennedy, Brandt und Schmidt erkennbar niedriger einstufen als ihre um durchschnittlich vier Jahre älteren Zeitgenossen, während Personen des nicht-politischen Lebens wie Spencer, Travolta und Lindenberg von den Jüngeren beträchtlich höher eingestuft werden. Die gleiche Umfrage erbrachte, daß die heute 17-bis 21jährigen eine um % geringere Neigung als die Jungwählergeneration von 1976 bekunden, sich bei der nächsten Bundestagswahl überhaupt zu beteiligen.

Parallel zu der geringeren Wahlbereitschaft entwickeln sich Skepsis und Indifferenz gegenüber Parlamentarismus und Demokratie. Infratest befragte 1976 im Auftrag des Senders Freies Berlin Jugendliche zwischen 17 und 24, ob ihrer Meinung nach das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung in der Bundesrepublik gewährleistet sei: 51 % verneinten, 26 % bejahten, 22% hatten keine Meinung 12). Der gleiche Personenkreis erwartete nur zu 24 % „eine demokratische friedliche Entwicklung in Europa, die allen zufriedenstellende Lebensbedingungen sichert", der Rest, also 76 %, rechnete mit Krisen, Arbeitslosigkeit, politischen Unruhen 12a). Was Wunder, wenn ein großer Teil der Jugend, in Bayern nach EMNID immerhin 48 % der interviewten Jugendlichen, nichts Grundsätzliches gegen eine Diktatur einzuwenden hat.

Zehn Jahre nach der Studenten-und Schüler-revolte zeigt sich: Teile der ehemals politisierten Jugendlichen sind entweder in sektiererischen Splittergruppen oder in der Alternativ-bewegung gelandet, von denen der Weg in die Gesellschaft im Sinne von Dutschkes „Weg durch die Institutionen" kaum möglich ist. Der weitaus größte Teil der Jugend hat sich von Staat, Gesellschaft und Politik zurückgezogen und ist bereit, „wieder die Hände an die geistige Hosennaht zu nehmen" (Dieter Lattmann). Doch bieten weder unpolitische Anpassung noch subkulturelle Fluchtreaktionen eine tragfähige Basis für die Weiterentwicklung und Verteidigung demokratisch-republikanischer Traditionen.

III. Erfahrungen aus der Schulpraxis

Die Resultate der Jugend-Soziologie, die eine Jugend zwischen gesellschaftlicher Verweigerung und übergroßer sozialer Anpassung diagnostiziert, korrespondieren mit den Erfahrungen, die wir seit einiger Zeit in der Schule antreffen. Vielfach beschleicht uns im Klassenzimmer das Gefühl, vor einer gläsernen Wand zu unterrichten; schüleraktivierende Methoden, die noch vor ein paar Jahren großen Erfolg hatten, aktuelle Unterrichtsinhalte, die uns Lehrern hochinteressant erscheinen, dringen gar nicht erst in den Motivationskern der Schüler ein. Es bleibt der Eindruck von der Vergeblichkeit pädagogischen Tuns, von der Inadäquatheit erzieherischen Bemühens, manchmal sogar die Angst vor der Unfähigkeit, die Lehrerrolle bewältigen zu können. Zur Veranschaulichung zunächst einige Erfahrungen und Beobachtungen aus unserer Schulpraxis. 1. Im Schullandheim mit einer 9. Klasse Um der Passivität der Klasse, ihrer Lethargie und Gleichgültigkeit gegenüber allem, was Schule bedeutet, zu begegnen, setzt sich der Klassenlehrer für einen einwöchigen Schullandheimaufenthalt ein. Die Schüler freuen sich, alle kommen mit. Während der fünf Tage reaktivieren sich jedoch die gewohnten Verhaltensmuster: Die Schüler haben zu nichts Lust, weder zum Wandern, zum Spielen, zum Diskutieren, zum Gespräch. Sie wollen in der Sonne liegen, stundenlang Rockmusik hören, rauchen und trinken. Alles, was an Aktivitäten dann doch vorübergehend . läuft', geht auf das energische Intervenieren der beiden Lehrkräfte zurück. Interesse und echte Stimmung kommen nur abends in den Zimmern sowie am letzten Tag auf, als ein Bunter Abend mit Tanz stattfindet. Hat also Hendrik Bussiek recht, wenn er das Saturday-Night-Fever-Syn-droin konstatiert, die Narkotisierung durch Medien, die Selbstbetäubung durch Konsum? 2. Diskussion im Klassenzimmer Der Lehrer beschafft regelmäßig Filme (z. B. »Helmut, 18 Jahre, Alkoholiker", „Kriegsspiel", „Nur leichte Kämpfe in Da Nang“, „Public Relation", . Angelika Urban, Verkäuferin“), um die anstrengenden Unterrichtsstunden aufzulok-kern. Die Schüler nehmen die Filmvorführungen zwar erfreut entgegen, bekunden jedoch anschließend wenig Bereitschaft, darüber zu reden. Während die Filme laufen, ist erkennbar, daß die Mehrzahl der Schüler betroffen reagiert Dennoch: Trotz intensiver Bemühungen des Lehrers kommt kein Gespräch zustande. Die Schüler verharren schweigend und abweisend auf ihren Plätzen, sind in sich gekehrt und nicht bereit, Eindrücke oder persönliche Meinungen zu äußern. Der Hinweis des Lehrers, unter solchen Umständen habe es eigentlich wenig Sinn, die Filmstunden fortzusetzen, hinterläßt keine Reaktion. Einige Schüler schauen hilflos, einer bemerkt, es sei schon besser, weiter Filme anzusehen. 3. Besuch eines . Ehemaligen'

Jürgen kommt zwei Jahre nach bestandener Abschlußprüfung wieder in die Schule, um seine früheren Lehrer zu sprechen. Er hat gerade seine Kaufmannsgehilfenprüfung abgelegt, möchte aber die Lehrfirma, eine weltweite Spedition, wechseln, weil es dort zu langweilig ist Ein paar seiner früheren Klassenkameraden, so erzählt er weiter, sind nach der Lehrzeit nicht übernommen worden, einige haben freiwillig die Firma verlassen, weil es auf die Dauer zu anstrengend war, immer das gleiche zu tun. Einer arbeitet jetzt als Disc-Jockey. Die, die jetzt daheim oder in Kneipen herumhingen, hätten es jedenfalls besser als die, die sich in ihrem Beruf krummarbeiten. Jürgen kommt aus einem wohlbehüteten Elternhaus, sein Vater ist gut verdienender kaufmännischer Angestellter. 4. Schüleraufsätze über Schule und Zukunftserwartungen Um herauszufinden, wie die Schüler sich und ihre Umwelt selbst sehen, stellten wir ihnen zur freien Beantwortung das Aufsatzthema: . Wie ich mich im vergangenen Jahr innerhalb und außerhalb der Schule gefühlt habe, und was ich von der Zukunft erwarte“.

Die Auswertung von 70 Aufsätzen vermittelt ein anschauliches Bild von den Gefühlen und Einschätzungen der gegenwärtigen Schuljugend. Nur in Ausnahmefällen schreiben Schüler, daß sie sich in der Schule wohlfühlen. Vielmehr dominieren Aussagen wie „Ich fühlte mich beschissen", „mies", „mittelbis saumäßig". „Ich stand ständig unter Druck". „Ich hatte keine Lust". „Ich war oft deprimiert". „Ich hatte oft Angst, — vor den Schulaufgaben, aber auch vor den Eltern.“ „Ich hatte ein richtiges Leck-mich-am-Arsch-Gefühl." Die Mehrzahl der Schüler beklagt den starken Leistungsdruck, unter dem sie stehen, spricht von Streß, von ständigem Lernen-Müssen, und ist voller Zorn auf die meisten Lehrer, die wenig Verständnis für die Schülersituation aufbringen. „Manchmal, als ich in der Frühe aufstand, wollte ich erst gar nicht mit dem Zug in die Schule fahren. Ich hatte direkt eine Wut auf die Schule, und wenn dann irgendein Lehrer das Schulzimmer betrat, war für mich der Tag schon gelaufen. Denn der ständige Druck, doch gute Noten zu schreiben, belastete mich seelisch sehr stark."

„Manchmal hat mich alles angekotzt, teilweise der Schmarrn, den die Lehrer erzählt haben, und das, was einige Mitschüler gebracht haben.“ „Die Schule war für mich ein großer Streß. Ich mußte immerzu nur lernen, ich hatte fast keine Zeit mehr für mich selbst. Manchmal nicht eine Stunde am Tag. Ich war auch manchmal sehr niedergeschlagen und überarbeitet. Dieses Schuljahr war eine einzige Katastrophe für mich.“

„In der Schule war die Stimmung meist so, daß ich oft aufgereizt war und bei einerkleinen geringfügigen Sache in die Luft ging. Untereinander war die Stimmung genau so, fast jeder gegen jeden.“

„Ich fühlte mich im vergangenen Jahr total beschissen. Das lag allerdings meiner Meinung nach nicht direkt an der Schule, weil ich einfach meine Ruhe haben wollte und sie nie bekam, weil man immer etwas von mir verlangte.

Diese Schule mußte ich machen, damit ich einen . anständigen Beruflernen kann! Wenn ich diese Schule mache, ist es zwar für mich, und ich verlange es irgendwie selber von mir, aber aufderanderen Seite wäre es mirlieber, überhaupt nichts zu machen, das Leben zu genießen, irgendwo, wo es nicht um Reichtum und Arbeit geht, wo man auch leben kann, ohne zu schuften! Manchmal denke ich, daß ich nach meinerLehre einfach abhaue, auswandere und nicht mehr so scheißanständig bin!"

Die Schuld an dieser Lage, wie auch der letzte Aufsatz andeutet, wird nur teilweise den Lehrern und ihren Methoden angelastet. Ein Teil der Schüler räumt ein: sie fühlten sich immer wieder „müde" („obwohl ich immer früh schlafen ging"), „abgeschlafft", „überfordert" und hätten einfach „keine Lust", sich anzustrengen. Oder ihr privates Vergnügen ging vor: „Hatte ich eine Gelegenheit, wo ich am Wochenende ausruhen kann, hatte ich diese Gelegenheit wahrgenommen.“

„Ich glaube, wenn ich aufetwas verzichtet hätte, wäre ich bloß verrückt geworden und hätte die Prüfung nie geschafft.“

Das Bild außerhalb der Schule, zu Hause oder in den Cliquen unterscheidet sich von dem geschilderten Schulleben doch wesentlich. Zwar schreiben etliche, daß sie sich in ihrer Freizeit dem Druck der Schule nicht entziehen können: „ich war die meiste Zeit zu Hause, weil ich von derSchule sogeschafft war, daßichnicht mehr fähig war, etwas zu übernehmen. Ich hatte auch sehr wenig Lust, mich für etwas zu interessieren. Es fehlte mir außerhalb der Schule auch an Ausdauer oder Konzentration.“

Ein Teil der Schüler jedoch bezeichnet sich, sobald die Schule verlassen ist, als „befreit" und schildert diese Zeit als „locker", „sehr gut", „ausgeglichen" und sogar als „glücklich", wenngleich als störend und belastend die Auseinandersetzungen mit den Eltern — die sich mit der Forderung ihrer Kinder nach Selbständigkeit nicht abfinden können — sowie umfangreiche Hausaufgaben und Konflikte mit Freunden genannt werden.

Die Antworten über die Zukunftserwartungen fielen uneinheitlich aus. Etwa ein Drittel der Schüler erwartet von der Zukunft beruflichen Erfolg, „einen guten Arbeitsplatz", „viel Geld“, „finanzielle Unabhängigkeit", ein „gutes Auskommen mit den Arbeitskollegen", Aufstieg und privates Glück: „Ich erwarte, daß ich im BerufErfolg habe und in etwa 4— 5 Jahren einen netten Mann heirate und ca. 2Kinder, eben eine glückliche Familie gründen kann.“ „ich werde Angestellte im mittleren Fernmeldedienst und hoffe, daß ich eines Tages die Chance haben werde, ins Beamtenverhältnis übernommen zu werden." . Auch möchte ich, wenn ich zu arbeiten anfange, mir etwas mehr leisten, wie z. B. Führerschein, eigenes Auto usw. Und vor allem wünsche ich mir, daß ich nie ernsthaft krank werde.“Die meisten Schüler allerdings stehen der Zukunft skeptisch und abwartend gegenüber. Sie haben keine großen Hoffnungen, daß der Streß geringer sein wird als in der Schule, fürchten um ihre Arbeitsstelle und haben für sich persönlich keine Perspektive:

Aufdie Zukunft setze ich nicht, weilich mich aufmeine Tätigkeit nicht freue. Ich sehe keine Möglichkeit, aus dem alltäglichen Trott herauszukommen. Es läuft alles so gleich ab, man hat keine Ferien mehr, nur noch die paar Wochen Urlaub.“ „Die allgemeine Lage wird eher schlechter als besser. Man wird wahrscheinlich noch härter arbeiten müssen. Keine rosige Zukunft." „Manchmal überlege ich mir, was wäre, wenn ein 3. Weltkrieg beginnen würde, dann würde es für uns in der Zukunft schlecht aussehen.“ „Da ich noch keine Lehrstelle habe, habe ich Angst vor der Zukunft." „Leider habe ich nicht den Beruf bekommen, den ich gerne gehabt hätte. Jedenfalls ist mir klargeworden, daß ich die Mittlere Reife nicht für diesen Berufgebraucht hätte. Zwei verlorene Jahre, wenn ich es bedenke."

Einige wagen gar nicht, sich über die Zukunft Gedanken zu machen, wollen wohl auch gar nicht wissen, was auf sie zukommt, und geben als lapidare Antwort: „Von der Zukunft erwarteich nichts.“ 5. Schülerfragebogen Um die teilweise widersprüchlichen und zudem subjektiv gefärbten Eindrücke besser einschätzen zu können, haben wir in sechs Klassen, in denen wir selbst unterrichten, um die Beantwortung einiger Fragen gebeten. Insgesamt haben sich 142 Schüler daran beteiligt, 65 Jungen und 77 Mädchen der Klassenstufen 8— 10. a) Konsumverhalten Knapp die Hälfte der 14-bis 17jährigen gibt an, regelmäßig zu rauchen: 1— 5 Zigaretten täglich — 14 % 6— 10 Zigaretten täglich — 13 % 11— 15 Zigaretten täglich — 8 % 16— 20 Zigaretten täglich — 5 % Das bedeutet: Mindestens jeder vierte Schüler dieser Altersgruppe schädigte in den befragten Klassen seine Gesundheit durch überhöhten Nikotingenuß: Die Vermutung liegt nahe, daß viele Schüler rauchen, weil sie ohne Zigaretten schon nicht mehr auskommen 13a). So geben etwa 25 % an, sie bräuchten an einem Vormittag Zigaretten oder Cola, um durchhalten zu können, um sich zu beruhigen oder einfach, weil sie es gewohnt sind. Die meisten Lehrer können bestätigen, daß zahlreiche Schüler während des Unterrichts austreten, um im Klo heimlich eine zu paffen — in den Pausen gleichen die Toiletten ohnehin einem Rauchersalon, trotz strenger Strafen. Für Schülerinnen gilt dies in erhöhtem Maß. b) Körperliches Wohlbefinden Auf unsere Frage gaben nur 60 % an, sie fühlten sich „selten schlapp". Die anderen sind müde, weil sie zu wenig schlafen (18%), können sich schlecht konzentrieren (10 %), wissen nicht, wozu sie sich anstrengen sollen oder fühlen sich überfordert. Eine Kontrollfrage belegt dieses Ergebnis: Nur 58 % behaupten von sich: „Ich kann mich anstrengen", während der Rest die Auffassung vertritt, es habe keinen Sinn, sich für die Schule anzustrengen (5 %), Anstrengungen seien gar nicht notwendig (15 %), weil sie sich schlapp fühlen (5 %) oder ihnen alles „wurscht" ist (6 %).

Das mangelnde körperliche Wohlbefinden, so darf gefolgert werden, ist eine der Hauptursachen, warum ein großer Teil der Schüler Schwierigkeiten hat, im Unterricht aufzupassen. Etwa ein Viertel gibt an, in der Schule nicht bei der Sache zu sein, weil sie sich für etwas anderes interessieren (8 %), weil sie der Unterricht anödet (12 %) oder weil sie sich schlapp fühlen (8 %). Nur 26 %, also ebenfalls ein Viertel, behauptet von sich, gut aufpassen zu können, die restliche Hälfte macht es vom Fach oder vom Lehrer abhängig. g Schülerinteressen Desinteresse an Schule und Unterricht bedeutet aber nicht Interessenlosigkeit schlechthin. Immerhin 82 % der von uns befragten Jugendlichen geben an, ihnen sei „nur selten langweilig", nur 9 % wissen nicht, was sie tun sollen, 5 % finden alles fad und sich selbst schlapp. Vor allem die Musik steht im Mittelpunkt der Interessen. Auf die Frage „Wie lange hörst du täglich Musik?" sehen die Antworten so aus: täglich 1 Stunde = 30 % täglich 2 Stunden = 24 % täglich 3 Stunden = 14 % täglich mehr als 3 Stunden = 27% Es dürfte klar sein, daß Schüler, wenn sie täglich so intensiv Musik hören, die sie fasziniert und beschäftigt, schon zeitlich gesehen in ihrem Engagement für die Schule eingeengt sind, ganz zu schweigen davon, daß zwischen den subkulturellen Werten der Jugend und der von der Schule vermittelten Kultur so gut wie keine Verbindung besteht d) Selbsteinschätzung Ist die Jugend oder zumindest ein Teil . angeschlagen'und integrationsunwillig? Die von uns gefragten 142 Schüler und Schülerinnen sehen es so:

23 % — ein großer Teil der Jugend ist wirklich . kaputt'58 % — nur ein kleiner Teil der Jugend ist . kaputt', nicht mehr und nicht weniger als zu anderen Zeiten 20 % — die Jugend ist im großen und ganzen okay.

Damit vertreten also etwa ein Viertel eine pessimistische Auffassung über die gegenwärtige Jugend. Bestätigt wird dieses Resultat durch die Antworten zu der Frage, wie der einzelne Jugendliche sich selbst einordnet:

1, 5 % — ich bin selbst auch . kaputt'

26 % — ich bin nur ab und zu . kaputt'

68 % — im großen und ganzen bin ich okay.

Es fällt sicherlich nicht leicht, sich als „kaputt" zu bezeichnen, einfacher ist es da schon, dieses Attribut nur „ab und zu" für sich verwendet zu sehen. Darum kann man davon ausgehen, daß die Mehrzahl der Schüler, die sich der mittleren Kategorie zurechnen, zum Teil erhebliche Schwierigkeiten mit sich haben, entsprechend den Ergebnissen der vorangegangenen Fragen (26 % rauchen zwischen 6 und 20 Zigaretten am Tag; 25 % können ohne stimulierende Genußmittel den Schulvormittag kaum durchstehen; ein Viertel kann sich schlecht auf den Unterricht einstellen). Was es bedeutet, wenn etwa 25 % der Schüler einer Klasse unkonzentriert. , abgelascht'und reagieren, wissen viele Lehrer aus eigener Erfahrung. e) Sozial-emotionale Bedürfnisse Wir wollten schließlich von unseren Schülern auch wissen, was ihrer Meinung nach den derzeitigen Zustand verbessern könnte. Die Antworten haben überrascht:

0 % — die Erwachsenen müssen mehr verbieten 2 % — die Erwachsenen müssen mehr erlauben 10% — wir brauchen mehr Zucht und Ordnung (fast nur Jungen)

73 % — es ist mehr Verständnis und Menschlichkeit zwischen den Generationen nötig 11 % — die Gesellschaft ist selbst . kaputt'.

Drei Viertel der Schüler versprechen sich demnach die entscheidenden Anstöße von einer Verbesserung der zwischenmenschlichen Beziehungen, ein Ergebnis, das weitgehend von einer anderen Aussage gestützt wird. Auf die Frage, was sich die Schüler für die Zukunft am meisten wünschen, wird geantwortet:

1, 5 % — die Möglichkeit, einmal richtig , rein-hauen'zu können 1, 5 % — Bequemlichkeit und wenig Anstrengung 1, 5 % — in Ruhe gelassen zu werden 10 % — ein gut bezahlter Beruf • 37 % — ein aktives und bewußtes Leben 51 % — Freundschaft und Vertrauen zu anderen Menschen.

Bei aller Vorsicht gegenüber jugendlicher Selbsteinschätzung sprechen diese Zahlen doch dafür, daß einem großen Teil der gegenwärtigen Jugend menschliche „Werte“ wichtiger sind als materielle Anreize — ein Hinweis auch für die Vermutung, daß viele junge Menschen . aussteigen', weil ihnen die ökonomischutilitaristischen Denkund Lebensgewohnheiten der industriellen Wachstumsgesellschaft nicht zusagen.

Wenn wir das Fazit aus den Schüleraussagen, Fragebögen und unseren Beobachtungen ziehen, kommen wir zu folgender Charakterisierung Schuljugend in der fünf Merkmalen:

— eine beträchtliche Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, sich schwierigen Aufgaben zu stellen, dafür schnelles Resignieren und körperliche Ermüdung; — ein starkes Mißtrauen Erwachsenen gegenüber, insbesondere Lehrern, mit der gleichzeitigen Erwartung, daß Erwachsene ihnen helfen, sie unterstützen müssen, ohne erkennbare Bereitschaft, Vertrauen und Verständnis zu erwidern; — große Angst, keinen Anschluß zu finden, und unfähig, mit sich allein zurechtzukommen, gleichzeitig kaum in der Lage, selbst Bindungen zu knüpfen und Beziehungen zu entwik-kein, und schnell verschnupft, wenn andere es nicht tun; — interessiert weitgehend nur an sich selbst und stark fixiert auf Dinge, die einen soliden Wohlstand repräsentieren-, — ohne tragende Perspektive für die Zukunft und das eigene Leben. Dieses Erscheinungsbild unserer Schüler, das wir während der letzten Jahre festgestellt haben, ist trotz aller Bemühungen um Objektivität unscharf und abhängig von Zufälligkeiten oder subjektiven Eindrücken. Darum sei anschließend auf ergänzende Beobachtungen anderer Pädagogen verwiesen.

IV. Berichte anderer Pädagogen

1. Die Bielefelder Laborschule über die Schüler der Sekundarstufe I — die Klassen sind so zusammengestellt, daß sie die sozialen der Merkmale Bevölkerung repräsentieren — schrieb Hartmut von Hentig vor drei Jahren „Die Kinder an meiner Schule sind fast ununterbrochen in heftiger Bewegung. Wenn sie nicht Unterricht haben, rasen sie durch das Gebäude; wenn sie Unterricht haben, tappen sie mit den Händen auf die Tischplatten, die Sitzlehne, ihre Knie; sie kippeln mit den Stühlen ...

Sie hüllen sich, sobald es geht, in den Lärm ihrer Transistorgeräte oder Kassettenrecorder oder bedröhnen sich in den Musikzellen mit den elektronisch verstärkten Baßgitarren! Und sie schreien pausenlos aufeinander ein...

Meine Kinder erdulden mich wohlwollend; daß ich Unterricht geben muß — das sehen sie genau in dieser Form ein; meine Anstrengungen sind ihnen selbstverständlich; geht es um die ihren, befällt sie etwas, was ich ihre pädagogische Wehleidigkeit nenne-, sie reden von Motivation, und daß sie ihnen leider fehle; sie seien Legastheniker..; die alte Schule habe sie . verkorkst'; sie hätten das Lernen nicht gelernt; ich .frustriere'sie mit dem vielen Latein ...

Etwas so zu lernen, daß sie es wiedergeben können, liegt dergroßen Mehrzahl dieserKinder nicht. Dabei mutet ihnen der Unterricht heute meist zu, sich gegenseitig etwas mitzuteilen, das sie für sich oder in einer anderen Gruppe . erarbeitet'haben... Aber sie interessieren sich für die Äußerungen der anderen nur in dem Maße, in dem sie sie bestreiten können. Eigene Meinungen ins Feld führen — das ist das Hauptvergnügen...

Die Verständnisbarriere zwischen der Eltern-und der Kindergeneration setzt meist erst mit dem 13. und 14. Lebensjahr ein. Wir haben offenbarstärker als zu irgendeiner anderen Zeit die gleich der Gemeinschaft und der Selbstbestätigung bedürftigen Pubertierenden aufsich selbst — aufihre eigene Altersgruppe — verwiesen ...

Das auffälligste an den heutigen Kindern ist ihre... . Unfähigkeit zu trauen'(nicht trauern!) — ein sie beherrschendes Gefühl, zu kurz gekommen, übergangen, übersehen, überhört, ungerecht belastet oder beschuldigt zu werden. Sie schreien sich gegenseitig ständig nieder; sie sind zu einer gemeinsamen Leistung und Ordnung nur unter mathematischer Aufteilung derAufgaben und Opfer bereit — oder in einer Clique, die sich gegen andere absetzt und möglichst einen Boß hat..

Daß diesen Kindern die Gemeinschaft fehlt, die sie zum Leben brauchen, ist mit Händen zu greifen. Es schmälert die Liebe zu diesen Kindern nicht, daß sie auch darauf beruht, daß sie ihrerseits etwas dauerhafte Beziehungen zu anderen Personen (oder Sachen) offenbar nicht oder nur schwer eingehen können..."

Von Hentigs wichtigsten Schlußfolgerungen aus seinen Beobachtungen scheinen uns zu sein: a) Die Schüler kommen aufgrund der Erlebnisse in ihrer unmittelbaren Umwelt mit einer „erschreckend unentwickelten Fähigkeit zur Sozialität“ in der Schule, d. h., sie sind unfähig, Beziehungen einzugehen;

b) gleichzeitig haben sie ein unermeßliches „Bedürfnis nach Geborgenheit, Zugehörigkeit, Verläßlichkeit";

c) die Schule ist ungeeignet und nicht in der Lage, den Schülern befriedigende soziale Erfahrungen zu vermitteln, denn die Lehrer sind auf diese Arbeit nicht vorbereitet, die Schulen nicht entsprechend ausgestattet. 2. Hauptschullehrer F. Gürge: Mathematikunterricht Gürge schildert zunächst eine Situation aus dem Lehrerzimmer. Ein älterer Kollege erzählt seine Mißerfolge im Bruchrechnen „Er sagte: , Ich mache die Bruchrechnung in meiner Klasse zum dritten Male. Die lernen das nicht. Jedesmal ist das so, als ob sie noch nie was davon gehört hätten. Nur drei Schüler haben das so ungefähr begriffen. Ich habe es auf alle möglichen Arten versucht. Was soll man da nur machen? Die wollen aber auch überhaupt nicht mehr lernen und arbeiten, vollkommen uninteressiert, nur noch Fernsehen. Na ja, hier läuft nichts mehr, schade, früher war das anders, ganz anders. Ich frage mich, wozu ich überhaupt noch hier bin, wozu ich überhaupt noch arbeite.'

Einer der anwesenden Kollegen bestätigt diese Feststellung, er hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Ein anderer zuckt mit den Schultern, leider wisse er auch nicht, was man dagegen machen könne. Schließlich empfiehlt der Schulleiter dem älteren Kollegen, sich nur nicht unterkriegen zu lassen. Die Schüler müßten zur Arbeit gebracht werden, notfalls müsse man streng durchgreifen, vor allem sei für Disziplin und Ordnung zu sorgen."

Gürge bemerkt dazu, daß es in seinem Unterricht „seit einigen Jahren" auch nicht mehr richtig läuft, und verdeutlicht seine Schwierigkeiten am Verhalten eines Schülers: „In einer Rechenstunde sollen die Schüler, nachdem der Lösungsweg für einen bestimmten Aufgabentyp herausgearbeitet wurde, mit einer entsprechenden Übung beginnen. Genau in diesem Augenblick fragt der agierende Schüler laut in die Klasse hinein:, Was sollen wir machen ? Ich gehe zu ihm, zeige ihm die Aufgaben im Rechenbuch und spreche mit ihm noch einmal den Lösungsweg durch. Als ich ihn wieder verlasse, äußert er:. Heute habe ich aber keinen Bock! Etwas später:, Mensch, ist das langweilig! und , Ach, schon wieder arbeiten!'Ich ermahne ihn, er wendet sich an die Klasse und ruft: , Wer hat mal 'nen Kugelschreiberfürmich?'Von einem Mitschüler be kommt er einen Bleistift. , Mit dem Bleistift kann ich nicht schreiben.'Schließlich ist er nach einigem Hin und Hermit Kugelschreiber und Papier versorgt. Abermit der Übung kann er nicht beginnen. Er gähnt, kramt herum, spielt mit den verschiedensten Dingen, blättert gelangweilt im Buch, flüstert mit dem Nachbarn, schaut dem bei derArbeit zu, räkelt und streckt sich ausgiebig, um nun laut zu rufen: , Das kann ich aber nicht! Ich gehe erneut zu ihm, erkläre ihm alles noch einmal. Aber auch jetzt kann der Schüler nicht mit der Übung beginnen.

Wieder kramt erherum, spielt usw. Erst als ich mich zu ihm setzte, ändert sich sein Verhalten. Er rückt Papier und Buch zurecht, nimmt den Kugelschreiber und sieht mich erfreut an. Ich arbeite eine Weile mit ihm zusammen, wobei ich vor allem strukturiere und über Lücken hinweghelfe. Nachdem ich ihn wieder verlassen habe, beginnt er schließlich eine Wanderung durch die Klasse. Zuerst beobachtet er aus einiger Entfernung einige andere Schüler, dann versucht er Kontakt aufzunehmen, unterhält sich mit diesem und jenem, hat dabei auch wohl schon eine bestimmte Schüler-gruppe im Auge, der er sich zuwendet und mit denen er sich unterhält. Zuerst leise, dann wird es in dieser Gruppe immer lauter und lustiger. Auf eine Ermahnung hin geht er zwar auf seinen Platz zurück, doch nur, um gleich mit der nächsten Wanderung zu beginnen. Diesmal kehrt er bald aufseinen Platz zurück, versorgt sich aus einer Einkaufstüte mit Cola und Gebäckstücken und ißt erst einmal. Danach beginnt er seine Wanderung erneut, fragt mich, ob er zur Toilette könnte, bleibt längere Zeit weg und kommt erst kurz vor dem Ende der Rechenstunde in die Klasse zurück." Kommentierend bemerkt Gürge, dieser Schüler sei nicht einfach „faul und frech“. „Ich denke, daß dieser Schüler einerseits sehr verzweifelt sich bemüht, sein schwaches und verletzliches Ich zu schützen. Andererseits sucht er nach Kontakt, nach Kommunikation, nach einer Bezugsperson und nach anderen Objekten, die es ihm ermöglichen würden, Objektbesetzungen nachholend zu erlernen“ Der Schüler stehe unter Leidensdruck und sei unabläs-sig auf der Suche nach Geborgenheit und Wärme, um die unerträgliche Isolation zu überwinden. 3. J. Unbehaun: Orientierungsstufe Unbehaun hat, ähnlich wie Gürge, das Gefühl, „den Boden unter den Füßen zu verlieren". Die Atmosphäre in seinen Klassen wird zunehmend diffuser. Die Schüler mögen nicht aufeinander hören, lassen sich gegenseitig nicht ausreden, wursteln allein vor sich hin und lehnen die Arbeit in der Gruppe ebenso ab wie das Gespräch im Kreis „Esgibt Klassen, in denen die Schülernurnoch sporadisch zu erreichen sind, wo man meint, sich gar nicht mehr an einzelne Schüler wenden zu können, wo man allenfalls noch in ihre Richtung zu sprechen vermag. Die kommunikativen Kontakte zwischen den Schülern selbst sind von einem Sammelsurium von Einzelimpulsen und ziellosen, vielleicht sogar ungewollten Lautgebungen überdeckt. Gerade die Bewältigung jener Situationen fällt den Schülern schwer, die außerhalb des eigentli chen Unterrichtsliegen und bei denen man erwarten möchte, daß die Schüler sie als Ablenkung vom Lehrplan freudig aufnehmen müßten:

— Ansagen des Klassensprechers und seine Besprechungen mit den Mitschülern gelingen nur, wenn der Lehrer für Ruhe sorgt.

— Vorgespräche für einen Wandertag oder eine Klassenreise gehen auch bei aktivem Eingreifen des Lehrers in Tumulten unter.

— Noch im 6. Schuljahr geraten Schüler bei solchen Gelegenheiten in einem Maße — wie man sagt — , aus dem Häuschen', daß die Planung wesentlicher Dinge in zahllosen Einzelgesprächen untergeht.“

Unbehaun verweist darauf, daß es ihm erst gelungen ist, mit seinen Klassen vernünftig zu arbeiten, als er gegenüber dem Verhalten der Schüler „weniger emotional und mehr gelassen bis nachsichtig" reagierte und seine Erwartungen „an die sozialen und intellektuellen Fähigkeiten der Schüler“ zurückgeschraubt hatte. Daraufhin entspannte sich die Unterrichts-situation, und die Schüler waren eher in der Lage, Leistungen zu bringen.

V. Der narzißtische Jugendliche ein neuer Sozialisationstyp

Antriebsarmut, Schlaffheit, Apathie, fehlende Willenskraft, Planungsunfähigkeit, Introvertiertheit, Flucht und passivische Verweige-rung, so argumentieren seit geraumer Zeit Vertreter der Sozialisationsforschung, seien Ausdruck eines neuen jugendlichen „Sozialisationstyps", der die gegenwärtige junge Generation zunehmend bestimme Vor allem Thomas Ziehe hat versucht, ein Erklärungsmuster für die beschriebenen Phänomene zu geben. Aus der Fülle der von Ziehe entwickelten Überlegungen wollen wir hier nur auf zwei uns besonders wichtig erscheinende Argumente eingehen. 1. Die neue psycho-soziale Grundstruktur des Jugendlichen Die traditionelle autoritäre Familie mit dem Vater als bestimmendem Oberhaupt ist im Zuge der fortschreitenden Wohlstandsentwicklung in den zwei vergangenen Jahrzehnten immer mehr verschwunden. Der einst dominierende Vater hat an Glaubwürdigkeit verloren, nachdem er nicht mehr als alleiniger Verdiener der Familie fungiert und durch eine zunehmend abstrakte, meist spezialisierte und wenig anschauliche Arbeit die Familie kaum beeindrucken kann. In einer „vaterlosen Gesellschaft", wie Alexander Mitscherlich die veränderte Lage genannt hat, ist den Kindern eine Identifikation mit der Vaterfigur kaum noch möglich, damit auch nicht mehr Unterwerfung unter den väterlichen Willen und Angst vor der väterlichen Autorität. Dadurch unberbleiben zwar, nachdem der Vater keine überhöhten Leistungsanforderungen mehr stellt und mit Strenge durchsetzen kann, früh-15 kindliche Neurosen und Autoritätsfixierungen; es bilden sich jedoch neue Gefährdungen in der Entwicklung des Kindes: „Der Mangel an Identifikation hat ein Gefühl der Leere, der Vereinsamung, der starken Verletzlichkeit des Selbstwertgefühls zur Folge."

Auch der Mutter gelingt es nicht, die durch den Fortfall der Vaterfigur entstandene Leere auszugleichen. Sie ist als „konkurrenzlose Bezugsperson“ jetzt häufig der einzige emotionale Partner des Kindes — die vielfach engen Wohnungen und begrenzten Spielmöglichkeiten des Kindes sowie die Schrumpfung der Familie auf häufig nur noch drei Personen begünstigen diesen Prozeß —, und das führt in zahlreichen Fällen zu einem nahezu „symbiotischen" Verhältnis zwischen Mutter und Kind. Die überaus enge, das Kleinkind zunächst mit großem Lustempfinden erfüllende Beziehung erweist sich aber bald als brüchig. Die Mutter ist bemüht, das Kind möglichst intensiv an sich zu binden, um sich (ihre eigene Unerfülltheit) über das Kind zu stabilisieren. Das Kind fühlt sich vereinnahmt und entwickelt auf die Trennungsängste der Mutter ebenfalls Trennungsangst .der es sich allmählich zu entziehen bemüht, indem es den ursprünglichen Glücks-und Lustzustand in die Phantasie verlegt. Das heißt, das Kind baut sich eine eigene imaginäre Welt auf und meidet so die als unangenehm empfundene Realität.

Dies geschieht, so betont Ziehe, bereits in den ersten Lebensmonaten und kann später durch rationale Einsichten nur schwer korrigiert werden. Das frühzeitige Ausweichen des Kindes auf sich selbst, auf eigene innere Erlebnis-qualitäten des Wohlbehagens, schafft ein narzißtisches Ich-Ideal. Weil die negativen Erfahrungen mit der Mutter nachwirken, ist es dem Individuum nur möglich, zu anderen Personen oberflächliche Kontakte herzustellen. Die Vorstellung von dem, was das Kind in seiner narzißtischen Entwicklung erwartet — nämlich höchstes Glück und Erfüllung — und den tatsächlichen Realisierungsmöglichkeiten — nämlich nur dürftige Kontakte —, beginnt in der weiteren Entwicklung zunehmend auseinanderzuklaffen. Die hohen Erwartungen brechen sich an den unvollkommenen Lebensbedingungen. Vollends der Jugendliche erlebt, aus der falschen Einschätzung seiner Fähigkeiten heraus, eine Fülle von Mißerfolgen, was zu einer „latenten Dauer-Unzufriedenheit mit sich selbst" führen kann, „bis hin zu Depressionen und diffusen körperlichen Leiden, wie Kopfschmerzen und Schlafstörungen". Als Ausweg aus diesem Dilemma, sagt Ziehe, flüchtet nun der Jugendliche erst recht aus der Realität; er macht sich vor, daß er alles kann, wenn er nur will, um auf diese Weise ein „Minimum an Selbstwert-Stabilisierung" zu behalten. 2. Das gehobene Anspruchsniveau Gestützt wird die beschriebene Motivationslo-sigkeit nach Ziehe durch das hohe Konsumangebot der Industriegesellschaften, kommt doch die Fülle der verfügbaren Konsumwaren dem Bedürfnis des Sich-verwöhnen-Lassens, Sich-passiv-Hingebens entgegen. Während die ältere Generation, die ja den gleichen Konsumverlockungen ausgesetzt ist, ihren entscheidenden Sozialisationsprozeß in einer Zeit erlebte, da Gütermangel und Entbehrungen dominierten, fehlt der heranwachsenden Jugend diese Kontrasterfahrung. Die gegenwärtige Jugend hat von Geburt an überwiegend materielle Fülle und uneingeschränkte Bedürfnisbefriedigung erlebt — entsprechend bestand auch keine Notwendigkeit zum Erlernen von Genußverzicht oder -aufschub. Asketische Lebenswerte, Sparsamkeit, Genügsamkeit werden Wohlstandskindern nicht abverlangt. Sie gewöhnen sich daran, ihre Bedürfnisse unmittelbar zu befriedigen, und lernen nicht, Bedürfnisse aufzuschieben, zu überbrücken, zu sublimieren. Völlige Sublimationsunfähigkeit aber bedeutet Ich-Schwäche und als Folge schnelles Resignieren, erfordert doch die Überwindung von Schwierigkeiten immer ein gewisses Maß an Durchhaltevermögen und Triebaufschub, eine Haltung, die dem narzißtisch geprägten Individuum abgeht Das gehobene Versorgungsniveau, das der Jugendliche als Sozialisationserfahrung in sich trägt, stellt er als Anspruch auch weiterhin an seine Umwelt. Ziehe vertritt die Auffassung, Jugendliche seien nur noch dann motivierbar, wenn der hohe gesellschaftlich-materielle Versorgungsstand mit einem hohen psychischen Anspruchsniveau konvergiere. Mit anderen Worten: Der Jugendliche sei nur bereit und fähig, Handlungsmotivationen zu entwikkeln, wenn bestimmte Voraussetzungen geschaffen sind: „Eigene Räumlichkeiten zu haben, gemeinsame Veranstaltungen durchzuführen, Musik zu hören, Sexualität zu erleben, sich ungestört unterhalten zu können, neue Formen Umgangs miteinander zu erproben, Orte zu haben, die ein Zuhausegefühl vermitteln."

Ohne inhaltliche Ausrichtung der gesellschaftlichen Institutionen Schule, Universität, Familie und Betrieb an den Lebensbedürfnissen der Jugendlichen, so Ziehes Schlußfolgerung, kann deshalb bei der Jugend von heute weder Interesse noch Engagement hervorgerufen werden. Was der Jugendliche braucht, um Aktivität und Leistung zu zeigen, ist das Eingehen der Umwelt auf seine Lage, ein hohes Maß an Zuwendung, Betroffenheit und Aufmerksamkeit. Überall dort, wo Unpersönlichkeit, bürokratisches Denken, Gleichgültigkeit, Leistungsdruck und Disziplinierung auf den Jugendlichen zukommen, fühlt er sich überfordert und verweigert sich, nicht aus Trotz oder bösem Willen, sondern weil seine innere Struktur der entemotionalisierten, technokratischen und herrschaftsbetonten Beanspruchung nicht gewachsen ist.

Sicher gilt: Den narzißtischen Jugendlichen, der sich gegen Ansprüche von außen verweigert und isoliert, gab es immer schon, er ist kein neues Problem unserer Tage, aber es gab ihn nie so massenhaft und dominierend wie heute. Wichtig ist auch festzustellen, daß der Rückzug in die eigene Innerlichkeit, das Leiden an Willensschwäche und Kontaktarmut, nicht bewußte Haltungen darstellen, sondern Ausdruck einer psychischen Disposition sind, bei der man sich von jeder Wertung freihalten sollte. Wenn auch einschränkend bemerkt Werden muß, daß der von Ziehe und anderen 23a) vertretene Erklärungsversuch — hier nur in knappster Form wiedergegeben — noch nicht zu einer voll befriedigenden Theorie ausgebaut erscheint, der alle Phänomene deuten kann, so stellt die Beschreibung des narzißtischen Sozialisationstyps dennoch ein Denkmodell dar, das geeignet ist, die oben beschriebenen Verhaltensweisen der gegenwärtigen Jugend, insbesondere der Schuljugend, verständlich zu machen.

Manches spricht allerdings dafür, daß der von Ziehe analysierte neue Sozialisationstyp ein Mittelschichten-Phänomen darstellt, wie auch der autoritäre Charakter der früheren Jahrzehnte eine spezifische Mittelschichten-Sozialisation voraussetzte. Im Unterschichten-Milieu, das gekennzeichnet ist durch einen höheren Grad an Frauenberufstätigkeit und geringerem Konsum an Luxusartikeln, erscheint uns Überverwöhnung und wohlstandsbedingte Übersättigung der Kinder nicht im gleichen Maße charakteristisch.

Gisela Dischner hat in einem bemerkenswerten Aufsatz darauf verwiesen, wie problematisch es ist, wenn Erwachsene das vorgeblich „ausgeflippte" Verhalten von Jugendlichen - sogleich narzißtisch gestört interpre tieren, es etikettieren und damit moralisch bewerten. Sie stellt zu Recht die Frage, ob der heutige Jugendliche nicht notwendig diese Maske von Konsumoberfläche und scheinbarer Bindungslosigkeit aufsetzen muß, um darunter verborgen seine wahre Identität und Kreativität zu erhalten. Eine sich verselbständigende Produktion, die nicht mehr nach dem sozialen Nutzen der erzeugten Waren für den Menschen fragt, begünstigt wohl zwangsläufig narzißtische, egoistische Menschen, weil spezifisch menschliche Eigenschaften wie Zärtlichkeit, Mitleid, Freude, Naturverbundenheit usw. in einer von der Warenproduktion und Warenkonsumtion beherrschten Gesellschaft sich immer schwerer entfalten können. Klaus Traube hat diesen Zusammenhang anschaulich und einleuchtend analysiert: „Im Endeffekt verweigert das Wirtschaftswachstum die Befriedigung der einfachsten Bedürfnisse oder erlaubt ihre Erfüllung nur noch über den Weg aufwendiger Konsum-handlungen: das Bedürfnis nach frischer Luft, nach Baden im nahegelegenen Fluß, nach Genuß des köstlich schmeckenden Apfels, nach Kommunikation, nach sinnerfüllter Arbeit Dieser den Menschen auferlegte Verzicht ist in das Wirtschaftswachstum selbst eingebaut... Die Frustration der Bedürfnisse in der überindustrialisierten Gesellschaft führtpraktisch in allen Entwicklungsländern, wo die Industrialiserung einzieht, zu rapidem Ansteigen sozial bedingter Anomalien, Zivilisationskrankheiten, Alkoholismus und Drogensucht, Selbstmord, Gewalt-und Jugendkriminalität. Aus einer Untersuchung dieser Phänomene schloß Miyawaki vom Japan Economic Research Institute: , Die soziale Anomalie steht in direktem Verhältnis zur Größe des Pro-Kopf-Einkommens.'Doch auch solche Feststellungen werden viele noch kurz vor ihrem Herzin farkt nicht an ihrem Glauben irre machen, daß , es uns noch nie so gut gegangen ist'."

Ohne auf die von Traube entwickelten Konsequenzen der verhängnisvollen Trennung von Produktion und Konsum in diesem Zusammenhang eingehen zu können, möchten wir im Sinne einer hypothetischen Fragestellung auf folgenden Kontext hinweisen: Wenn es stimmt, daß die Trennung von Konsum und Produktion sowie die perfektionierte Arbeitsteilung, die Eigengesetzlichkeiten der Groß-technologien, die Ausrichtung der Gesellschaft an ökonomischem Wachstum und größtmöglichem Konsum allmählich zu Autonomieverlust und zur Abrichtung von Bedürfnissen führten, dann müssen sich die massenhaften und massiven Entfremdungserscheinungen auch in den Grundmustern und Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen widerspiegeln. Demzufolge wäre der neue Sozialisationstyp nicht nur Ergebnis einer gestörten Mutter-Kind-Beziehung, sondern ebenso Konsequenz einer Umwelt, die dem Mythos erlegen ist, menschliche Bedürfnisse könnten mühelos über einen gigantischen Warenmarkt befriedigt werden.

VI. Schlußfolgerungen

Es wäre ein Mißverständnis, wollte man unsere folgenden Erwägungen als fertige Rezepte zur Behebung eines Übels deuten. Wir sind uns der Kalamität bewußt, daß im Bereich der Jugendpolitik der einzelne wenig bewirken kann; Erst eine breite Zusammenarbeit von Lehrern, Eltern, Wissenschaftlern, Politikern, Journalisten und Jugendlichen kann Bewegung in das verkrustete öffentliche Bewußtsein bringen und Veränderungen erzwingen. Unsere Vorschläge verstehen sich als Appell, hinsichtlich der aufgeführten Fragen und Vermutungen auf vernünftigen, humanen Entscheidungen zu beharren. 1. Schule und Unterricht Für den Bereich der Schule hat Jochen Unbehaun wichtige Hinweise gegeben, wie der verständnisvolle Lehrer willensschwache, ich-be-zogene Schüler besser stützen und motivieren kann — „Die Errichtung eines stabilen Bezugsrahmens, was die Einrichtung des Klassenzimmers, die Unterrichtsorganisation, die . Stetigkeit'im Lehrerverhalten betrifft.

— Die Vermeidung offener, mißverständlicher Situationen bei Bekanntgabe von Unterrichts-vorhaben. Wo ohnehin vorausgeplant wird, sollte kein pseudodemokratisches, pseudoplanerisches , Wir könnten heute..',, Was meint ihr, wenn wir...'odergar, Wir wollen ...'ertönen, sondern . Unser heutiges Thema...', . Heutegeht es um Folgendes.. .'oderJeh habe mir für heute vorgenommen .. d. h. Aufhebung aller Verschleierungsversuche.

— Vermeidung von Überforderungen. Nur wenn die Unterrichtsinhalte an Vorwissen anknüpfen, lassen sich Ausfälle aufgrundplötzlicher Verunsicherung vermeiden. — Honorierung von Lernerfolgen zur Befriedigung des narzißtischen Omnipotenzstrebens, das der ständigen Zuweisung von Gratifikationen bedarf.

— Intensivierung persönlicher Zuwendung, deren Ziel nicht eine engere Beziehung sein kann (das ist bei 30 Schülern ohnehin nicht drin), da der narzißtische Charakter zu ihr nicht in der Lage ist; er würde sie fliehen. Der Narziß befriedigt seine Bedürfnisse nach Geborgenheit und Zugehörigkeit über das Erlebnis narzißtischer Gleichgewichtszustände, die allerdings den ständig. verfügbaren'Lehrerzur Voraussetzung haben. Aber nicht den microteaching-trainierten Lehrertyp, sondern jenen Lehrer, der es wagt, seine eigene Person einzubringen.“

Vor allem die beiden zuletzt genannten Punkte, „Honorierung von Lernerfolgen" und „Intensivierung persönlicher Zuwendung", erscheinen als besonders wichtige Maßnahmen, da sie an den tatsächlichen Lebensbedürfnissen der Schüler ansetzen. „Wissen, Bergriffe, Interpretationen, mit denen die Schüler konfrontiert werden (in der Schule, der Gleichaltrigen-gruppe, in den Medien), werden zuerst und hauptsächlich danach befragt, was sie für das eigene Leben'bedeuten könnten. Die Anwendbarkeit'für sich selbst wird tendenziell zum Hauptmaßstab für die Stabilität eigener inhaltlicher Interessen der Jugendlichen."

Es wäre aber verfehlt, scheinbare oder tatsächliche narzißtische Syndrome dadurch therapieren zu wollen, indem Lehrer und Schule sich völlig dem Anspruchsniveau der Schüler unterwerfen; denn Teile der Schülerinteressen und ihrer Motivationsstruktur sind in sich selbst widersprüchlich und problematisch, weil falsche Prägungen vorausgegangen sind. Die Schule darf nicht nur Wünschen der Schüler nachgeben, sondern muß sichtbare Zeichen setzen, daß ihr Menschenwürde, Zärtlichkeit, Aufrichtigkeit und Mitmenschlichkeit höchste Werte sind, die es zu stützen und zu verteidigen gilt. Will die Schule nicht weiter zur rüden Leistungsinstitution und Verteilungsstelle für Sozialchancen erstarren, benötigt sie den Durchbruch zu sozialer Erziehung, zur Förderung menschlicher Sensibilität und Soziabilität

Die Fixierung der Eltern und Schüler auf numerische Leistungen torpediert jegliches Bemühen, aggressive und unsoziale Verhaltensweisen zurückzudrängen. Es wäre z. B. notwendig, auf jeder Klassenstufe alle 14 Tage einen Vormittag zu reservieren, wo die Klasse in Kleingruppengesprächen und im Plenum soziale, pädagogische und psychologische Probleme, die ihrer eigenen Gruppenstruktur entspringen, durcharbeitet, sich soziales Wissen erwirbt und ihr Verhalten zu ändern lernt. Ob diese Aufgabe der Klassenlehrer oder ein besonders ausgebildeter Schulpsychologe übernimmt, bleibt sekundär. Die Erfahrung des Ernstnehmens der eigenen Sozialstruktur hätte auf jede Klasse nachhaltig prägende Auswirkungen. Wäre es wirklich so absurd, wenn ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat ein Fach „Sozialverhalten" einrichtete — und zwar außerhalb der . Notenfächer'?

Ferner zeigt sich, daß die im Zuge der Schulreformen vor zehn Jahren eingerichteten Schulzentren und Mammutschulen einem falschen Modell von Schule gefolgt sind. Schulen mit über 1000, 2000 oder gar 3000 Schülern sind nicht geeignet, Geborgenheit, Ruhe und Behaglichkeit zu vermitteln. Ab einer gewissen Größe wird jede Schule offensichtlich starr, technokratisch und unwohnlich, in ihr kann nur noch verwaltet und kontrolliert werden. Nach unseren Vorstellungen dürfte keine Schule mehr als 500 bis 600 Schüler haben — nur bis zu dieser Dimension sind menschliche Kommunikation und Überschaubarkeit gewährleistet. Somit erscheint es unabdingbar, die vorhandenen Großschulen wieder zu entflechten und in kleinere Einheiten zu integrieren. Prinzipiell würde es für das Direktorat jeder Schule heilsam sein, wenn im Zuge einer Verkleinerung die Leitung wöchentlich mehrere Stunden „vor Ort" unterrichten müßte und nicht abgelöst von der Unterrichtspraxis nur verwaltet. 2. Familienpolitik Es ist mittlerweile eine Binsenwahrheit, daß für die intellektuelle, soziale und emotionale Prägung des Kindes die Familie, und dort die Mutter-Kind-Beziehung, eine entscheidende Schlüsselstelle ausmacht Um so erstaunlicher bleibt das Faktum, daß Familienpolitik bislang nicht aktiv in das Erziehungsverhalten der Eltern einwirkt, und zwar bevor Kinder oder Jugendliche . sozial auffällig'werden. Statt Familiendarlehen für Heiratsund Geburtsurkunden zu gewähren, wäre es sinnvoller, zukünf-tige Mütter und Väter erst dann zu unterstützen, wenn sie einen intensiven Erziehungsund Sozialisationskurs hinter sich gebracht haben. Für eine Reihe relativ einfacher Betätigungen wie Segeln, Jagen oder Angeln braucht man einen qualifizierten Befähigungsnachweis, Familiengründung und Kindererziehung jedoch überläßt der Staat dem Wild-wuchs. Mit relativ geringem Aufwand könnte der soziale Rechtsstaat nachweisen, wie sehr ihm das „Wohl des Kindes" tatsächlich am Herzen liegt Warum bislang nicht für alle Schularten eine „Erziehungslehre" propagiert und durchgesetzt worden ist, geht vor allem als Frage an die Politiker.

Ein anderer Gesichtspunkt zur aktiven Familienpolitik ist das Umfeld der alten Menschen. Die augenblickliche Gerontologie sieht die Al-ten-Probleme viel zu stark unter dem Aspekt der bloßen Integration und Anpassung alter Menschen in das ihnen ungewohnte Industriesystem. Ergänzend ließe sich denken, Altenforschung so zu betreiben, daß junge Menschen Informationen über die Erfahrungen der Groß-und Urgroßeltern erhalten. In bezug auf Kleidung, Einrichtung oder Gebrauchsgegenstände ist dem Nostalgie-Markt kein Gegenstand zu kitschig, um ihn nicht zur Verklärung der „guten alten Zeit“ zu konservieren. Doch es gibt auch eine Menge zwischenmenschlicher, nicht industriell genormter Erfahrungen und Erinnerungen, über die alte Menschen verfügen und die sie der jungen Generation weiterreichen können. Wie soll eigentlich die Kluft zwischen den Generationen überbrückt werden, wenn die lebensgeschichtliche Substanz der alten Generationen in Vergessenheit gerät? 3. Wirtschaft und Politik Da Lehrer und Erzieher traditionellerweise überwiegend mit Minderjährigen zu tun haben und daher stets Gefahr laufen, „infantili-siert" zu werden, gelten Pädagogen in der Öffentlichkeit als wenig kompetent, wenn sie über andere als „kindliche" Probleme sprechen. Eingedenk dieser möglichen Inkompetenz belassen wir es dabei, nur einige Fragen zu stellen. Von unseren eigenen Kindern und Schülern werden wir hin und wieder verleitet, die Versprechungen und Illusionen des Werbefernsehens zu betrachten. Mit Ausnahme der Spots über die Gefahren der Kinderlähmung können wir uns an keine Werbung gegen Alkohol, Drogen, Sekten, Selbstmord oder für saubere Flüsse, entgiftete Wiesen und Wälder oder gesunde Nahrung erinnern.

Was wir für den Bereich der Großschulen angedeutet haben, gilt nahezu für jeden Sektor der industriellen Gesellschaft Der Trend zu gigantischen Komplexen, zu Zentralisierung und Bürokratisierung, lähmt autonomes, humanes Handeln des einzelnen, weil das Groß-system seine Spontaneität und Verantwortlichkeit erdrückt. Nicht von ungefähr bilden Großstädte einen idealen Nährboden für wachsende Jugendkriminalität und Verwahrlosung. Fragen wir also: Werden Politiker bereit sein, Forschungen, Projekte, Experimente in sämtlichen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft zu fördern und zu realisieren, wo es um dezentralisiertes Planen und Leben geht? Die alte Hopi-Weisheit: „Nach unseren Erfahrungen kann ein Mensch kein Mensch mehr sein, wenn sein Dorf mehr als 3 000 Einwohner umfaßt", ist in ihrem Kern auch heute noch bedenkenswert. Ivan Illich jedenfalls, den Klaus Traube bei seiner Kritik der Großtechnik als Kronzeugen zitiert, hat sich nicht geniert, die Wahrheiten der Volkskultur aufzunehmen und zu überdenken. Illich schrieb schon 1975: „Nur bis zu einem gewissen Punkt können Waren das ersetzen, was die Menschen von sich aus tun und schaffen ... Ob Bedürfnisse wirklich befriedigt, nicht nur abgespeist werden, bemißt sich an dem Vergnügen, das mit Erinnerung verbunden ist. Es gibt Grenzen, über die hinaus die Waren nicht vermehrt werden können, ohne daß sie den Konsumenten zu dieser Selbstbestätigung im autonomen Handeln unfähig machen." 4. Jugendpolitik Noch ist nicht erkennbar, daß von den Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft das „Ab-driften" bzw. . Aussteigen" großer Teile der Jugend wirklich zur Kenntnis genommen wird. . Die Arroganz der offiziellen Politik wird nur noch durch ihre Ohnmacht übertroffen. Hätte es noch des offenkundigen Beweises bedurft — der Deutsche Bundestag hat ihn Anfang 1977 geliefert, als ein kaum verständlicher Jugendbericht der Bundesregierung vor leeren Bänken diskutiert wurde", beklagt Claus Richter Was an Reaktionen auf die Krise der Jugend vorliegt, sind beispielsweise die neun Thesen des Forums „Mut zur Erziehung", Anfang 1978 in Bad Godesberg verabschiedet, in denen die pädagogischen Bemühungen mancher Reformer, Jugendliche zu Kritikfähigkeit, Mündigkeit, Interessenwahrnehmung zu erziehen, als Fehlentwicklungen eingestuft werden

Ein wichtiges Ziel politischer Jugendarbeit muß sein, die Öffentlichkeit über den derzeitigen Stand der Jugendkultur aufzuklären, also auch ins Bewußtsein zu rufen, welche Veränderungen in den psychischen Strukturen von Jugendlichen mittlerweile eingetreten sind. Wissenschaftler und Pädagogen sind aufgerufen, ihr besonderes Augenmerk dem Phänomen des narzißtischen Jugendlichen zu widmen, indem sie Untersuchungen initiieren und über die Ergebnisse berichten -Augenblicklich ist noch nicht absehbar, wie sich die weitere Entwicklung einer auf Verweigerung und Ich-Schwäche angelegte Generation politisch manifestieren wird. So schreibt Thomas Ziehe: -Ob diese Motivationskrise sich in politischer Hinsicht als Neigung zu einem neuen Konservatismus der jungen Generation auswirkt, wie vielfach vermutet wird, ist noch nicht abzusehen. Ich neige zu der Annahme, daß ein starkes Vermeidungsverhalten, wenn es sich in der hier niedergelegten Tendenz empirisch fortsetzt, keine aktive Unterstützung einer spezifischen politischen Richtung bedeuten wird. Vielmehr wird man von einer eher passiven Anpassung an die jeweils vorherrschende politische Tendenz sprechen können; was natürlich auch eine Form von . Konservatismus bedeuten kann. Es wäre allerdings keine . weltanschaulich'verankerte Haltung, sondern eher ein situationsabhängiger Rückzug aus politisch konfliktträchtiger Realität in private — vermeintlich konfliktlose — Lebensbereiche."

Der von Ziehe prognostizierte „situationsabhängige Rückzug" in private Lebensbereiche birgt natürlich eminente politische Gefahren, weil dieser private Sektor politisch nicht neutral ist, sondern Haltungen und Wertmuster widerspiegelt und verinnerlichen läßt, die im Produktionsund Konsumbereich präformiert wurden. Die Einstellung, möglichst privat und ungestört, möglichst genußreich konsumieren zu können, beschreibt eine unsoziale, politisch elitäre Position.

Hier sollten Parteien, Gewerkschaften und Jugendverbände hellhörig werden und sich auf politische Inhalte besinnen, die für junge Menschen nachvollziehbar sind. Wenn die Leitbilder der Jugend heute überwiegend aus der Welt des „schönen Scheins", aus Musik, Film und Sport stammen, fällt das nicht zuletzt auf die Politiker und „Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens“ zurück, die vor lauter Management und Betriebsamkeit offenbar nicht in der Lage waren, jungen Menschen eine humanere, zukunftsweisende und damit letztlich persönlich befriedigende Orientierung und Perspektive zu vermitteln.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Hendrik Bussiek, Bericht zur Lage der Jugend, Frankfurt 1978.

  2. Das Gefühl, ich hab das Zuhause in der Vene. Zwei Mädchen aus der Schießer-Szene, in: Kursbuch 54: Jugend, Frankfurt 1978, S. 145 ff. Vgl. auch Christiane F„ Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, Hamburg 1979. Hier beschreibt eine 16jährige, wie sie mit 12 zum Hasch, mit 13 zum Heroin kam und daran zerbricht Das dieses Buch seit Monaten auf dem ersten Platz der SPIEGEL-Bestsellerliste zu finden ist, scheint ein Phänomen eigener Art — und zwar im Hinblick auf die spezifische Wahrnehmung dieses Problems durch Erwachsene — zu sein. 2a) Nach amtlichen Statistiken ist die Selbstmord-ziffer in der Bundesrepublik seit 1950 von 19, 2 auf 100 000 Einwohner nur unerheblich auf 22, 7 im Jahre 1977 angestiegen. Bei Kindern hat sich die Selbstmordrate dagegen im gleichen Zeitraum vervierfacht, bei Jugendlichen beträgt der Anstieg 50 %. Näheres vgl. bei Rainer Welz, Selbstmorde und Selbstmordversuche nehmen zu, in: betrifft: Erziehung, 1980/Heft 4, S. 26 ff. sowie die weiteren Beiträge im gleichen Heft.

  3. Zitiert nach Michael Mildenberger, Die religiöse Revolte. Jugend zwischen Flucht und Aufbruch, Frankfurt 1979, S. 35.

  4. Hendrik Bussiek, a. a. O., S. 107.

  5. Vgl. dazu Rolf Bringmann/Dirk Gerhard, Sie kamen mit Knüppeln und Messern. Von der Anziehungskraft rechter Parolen, in: Claus Richter (Hrsg.), Die überflüssige Generation. Jugend zwischen Apathie und Aggression, Königstein 1979, S. 162 ff. Vgl. ferner: „Ohne daß ich sagen würde, ich bin der neue Führer“. Gespräch mit einem jungen Nationalsozialisten, von A Meyer u. K. Rabe, in: Kursbuch 54, Frankfurt 1978, S. 117 ff.

  6. So auch Rainer Rotermundt, Nationalsozialismus und Neofaschismus. Thesen zur Entwicklung einer Bildungskonzeption, Nürnberg 1980, S. 122 ff.

  7. „Wir müssen jetzt einmal echt konkret werden", Frankfurter Rundschau v. 16. 7. 1977, zitiert nach: Päd. extra, Nr. 1/1979, S. 21 f.

  8. Tilman Fichter/Siegward Lönnendonker, Von der APO nach TUNIX, in: Die überflüssige Generation ..., a. a. O., S. 137 f.

  9. Claus Richter, Uneingelöste Versprechen oder: Wie eine Generation im Stich gelassen wird, in: Die überflüssige Generation, a. a. O., S. 5. 9a) Lothar von Balluseck, Zum Exodus Jugendlicher, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 30/79, S. 3— 15.

  10. Rainald Maria Goetz, Der macht seinen Weg. Privilegien, Anpassung, Widerstand, in: Kursbuch 54, a. a. O., S. 32.

  11. Nach STERN, Nr. 38/1979, S. 24.

  12. Nach H. Bussick, a. a. O., S 63 12a) Ebenda, S. 152

  13. Hendrik Bussiek, „Saturday Night" -Philosophie, oder: Eine Jugend auf der Flucht, in: C. Richter, a. a. O., S. 64 ff. 13a) In der jüngsten Studie der Universität Heidelberg, die an 35 Schulen im ganzen Bundesgebiet durchgeführt wurde, kommt man zu dem Ergebnis, daß rund 57 Prozent aller Jungen und etwa 25 Prozent der Mädchen bereits vor ihrem 10. Lebensjahr Zigaretten rauchen. Bereits 3 Prozent der 10jähri-gen bezeichnen sich als „regelmäßige Raucher“. Nach „Nürnberger Nachrichten“ v. 3. /4. April 1980.

  14. Hartmut von Hentig, Was ist eine humane Schule?, München 1 9772, S. 68— 75 und 97.

  15. Fritz Gürge, „... beginnt er schließlich eine Wanderung durch die Klasse", in: päd. extra, 1978/7 + 8, S. 40 ff.

  16. Ebenda, S. 42.

  17. Jochen Unbehaun, Stop! Vorsicht bei der Anwendung! in: päd. extra, 1978/7 + 8, S. 44.

  18. Häsing-Stubenrauch-Ziehe (Hrsg.), Narziß, päd. -extra-Buchverlag, Frankfurt 1979.

  19. Thomas Ziehe, Pubertät und Narzißmus, Frankfurt 19782; derselbe, Zur gegenwärtigen Motivationskrise Jugendlicher, in: Politische Apathie, hg. von der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Hannover 1976, S. 57 ff.; derselbe, Der Wunsch, sich selbst zu lieben, in: Neue Sammlung, 1979/1, S. 70 ff.

  20. Thomas Ziehe, Zur gegenwärtigen Motivationskrise ..., a. a. O., S. 60.

  21. Vgl. auch Horst E. Richter, Flüchten oder Standhalten, Hamburg 1976, S. 49 ff.

  22. Vgl. dazu: Thilo Castner, Konsum und Erziehung, in: Die Deutsche Berufs-und Fachschule, 1976/11, S. 846 ff.; Peter Hunziker, Erziehung zum Überfluß, Stuttgart 1972; Wolfgang Schmidbauer, Homo consumens. Der Kult des Überflusses, Stuttgart 1972.

  23. Thomas Ziehe, Zur gegenwärtigen .... a. a. O., 23a) So führt auch Lothar von Balluseck die Neigung vieler Jugendlicher zum gesellschaftlichen „Exodus" auf eine „narzißtische Grundeinstellung“ der Jugendlichen zurück, bedingt durch den Verlust der Vaterfigur und eine überstarke Mutterbindung (Balluseck, a. a. O., S. 10).

  24. Gisela Dischner, Gegen eine soziologische Verkürzung der Diskussion um den neuen Sozialisationstyp, in: Häsing/Stubenrauch/Ziehe: Narzißmus, a. a. O., S. 100— 118.

  25. Klaus Traube, Wachstum oder Askese? Zur Kritik der Industrialisierung von Bedürfnissen, Reinbek 1979.

  26. Jochen Unbehaun, a. a. O., S. 45.

  27. Thomas Ziehe, Zur gegenwärtigen .... a. a. O., S. 83

  28. Ivan Illich, Fortschrittsmythen, in: Klaus Traube, Wachstum oder Askese, a. a. O., S. 11.

  29. Claus Richter, a. a. O., S. 3.

  30. Die 9 Thesen, formuliert von H. Lübbe, R. Spaemann u. a„ sowie die kritische Stellungnahme dazu durch die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft finden sich in: Erziehung und Wissen-schäft, 1978/9.

  31. L v. Balluseck hat die Einrichtung eines „Zenttums für übergreifende empirisch-soziale Studien" Vorgeschlagen, in dem „alle einschlägige Erfahrung ter Zeit interdisziplinär akkumuliert wird“. Auch plädiert er dafür, die gewonnenen „Analysen, Diagnosen und Wegweisungen" qualifizierten Mitarteitern zugänglich zu machen (Balluseck, a. a. °

  32. Thomas Ziehe, Zur gegenwärtigen ..., a. a. O., S. 82.

Weitere Inhalte

Hartmut Castner, geb. 1945 in Saaz; Studium der Germanistik, Geschichte, Soziologie und Pädagogik in Göttingen und Erlangen; Oberstudienrat am Melanchthon-Gymnasium Nürnberg; Fachbetreuer für Geschichte/Sozialkunde; Dozent an der Volkshochschule Nürnberg. Thilo Castner, Dr. rer. pol., geb. 1935 in Breslau; Studium derWirtschaftsund SozialWissenschaften einschl. Pädagogik in Nürnberg und Köln; Studiendirektor an der Städt. Wirtschaftsschule in Nürnberg; Dozent an der Volkshochschule und an der Angestellten-Aka-demie. Gemeinsame Veröffentlichungen: Sexualrevolution und Schule, Neuwied 1970; Emanzipation im Unterricht, Bad Homburg 1972; Die Volksrepublik China — ein sozialistisches Modell, Düsseldorf 1975; Familie und Jugend in der Industriegesellschaft, Werbung in Wirtschaft und Politik, Leverkusen 1976; zahlreiche Beiträge in „Aus Politik und Zeitgeschichte".