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Stellungnahmen und Ergänzungen zu den Beiträgen von H. und Th. Castner und von F. v. Cube | APuZ 21/1980 | bpb.de

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APuZ 21/1980 Jugend zwischen Überfluß und Mangel Extremismus und Exodus — Konsequenzen für die politische Bildung. Ergänzungen zu den Ausführungen von L. v. Balluseck: Zum Exodus Jugendlicher, in: B 30/79 Stellungnahmen und Ergänzungen zu den Beiträgen von H. und Th. Castner und von F. v. Cube

Stellungnahmen und Ergänzungen zu den Beiträgen von H. und Th. Castner und von F. v. Cube

Lothar von Balluseck

/ 14 Minuten zu lesen

Vorbemerkung

Der zu Stellungnahmen Stellung nimmt, befindet sich den Objekten seiner Untersuchung genüber in vorteilhafter Lage, weil er das Subjekt dabei darstellt. Er hat gewissermaßen das tzte Wort; in einer Diskussion stellt er die letzte Instanz dar.

Das soll hier nicht so sein. Es wäre schlimm, wenn die Diskussion, die von Felix von Cube und artmut und Thilo Castner geführt wurde, hier ihren Abschluß fände. Ich will nur zu ihrer Verefung beitragen. Das jedenfalls motiviert mich zum Schreiben dieser Zeilen.

Zu: Hartmut und Thilo Castner, Jugend zwischen Überfluß und Mangel

Der Aufsatz von Hartmut und Thilo Castner esticht zunächst durch anschauliche Erfahungsberichte der Verfasser und anderer ädagogen aus der Schulpraxis. Dabei wird mmer wieder die Hilflosigkeit deutlich, mit er die meisten Lehrer und Erzieher vor der on Thomas Ziehe und mir gedeuteten le-hargischen Haltung Jugendlicher stehen. Schelsky spricht hier abwertend von „Faul-eit".) Mir fehlt da allerdings der Hinweis auf Dtsprechungen bei der übrigen Gesellschaft, ie, allem Reden vom „mündigen Bürger" zum trotz, den Menschen in seiner realen Selbständigkeit immer mehr zu entmündigen droht Ein wenig von dieser Hilflosigkeit zein auch die Autoren, wenn sie sich auf Klaus taubes Werk „Wachstum oder Askese? Zur Kritik der Industrialisierung von Bedürfnis-berufen, das von dem „Bedürfnis nach frischer Luft, nach Baden im nahegelegenen uß, nach Genuß des köstlich schmeckenden pfels, nach Kommunikation, nach sinnerfüllrArbeit" im Sinne einer hoffnungsvollen Zukunftsperspektive spricht: Die Autoren soll-h uns da reinen Wein einschenken und klar gen, daß es mit der Erfüllung dieser Bedürfnisse ein für allemal vorbei ist — und daß die raus resultierenden Frustrationen beim Jugendlichen nur deshalb stärker als beim Erwachsenen auftreten, weil der letztere sich an ein reduziertes Leben, wenn auch mehr schlecht als recht, angepaßt hat.

Zu dem Bedauern über die verbreitete Lethargie, Passivität und Gleichgültigkeit der Jungen gegenüber dem schulischen Anspruch sei darauf aufmerksam gemacht, daß Arbeit ursprünglich, und noch bei Luther, die Bedeutung von „Mühsal“ hatte, daß Arbeit sozusagen nur im Notfall — Hunger, Durst und Kälte — verrichtet werden mußte. Es gibt eine Menge nicht unbedingt skurril zu wertender Aussagen gegen die Ideologie der Arbeit. Hier sei nur der Schwiegersohn von Karl Marx, Paul Lafargue, zitiert, der 1848 in seiner Schrift „Das Recht auf Faulheit. Zurückweisung des Rechtes auf Arbeit" proklamierte. Er beschrieb eine Gesellschaft, in der es strafbar war, mehr als drei Stunden zu arbeiten, er verdammte die „seltsame Sucht der Liebe zur Arbeit".

Offenbar bedauern die Autoren, daß es der Jugend an Leitbildern fehlt. Aber man sollte sich fragen, ob derart überhöhte Vorstellungen in unserer Zeit noch lebensfähig sind, jedenfalls dann, wenn sie sich auf Ideologien stützen. Heinrich Böll hat einmal die Aufgabe des Staates — und damit war auch die gesamte Gesellschaft gemeint — als „Müllabfuhr" abgewertet. Wenn wir auf diese Entwertung verzichten und mit dem Wort „Müllabfuhr" das Funktio-B nieren lebensnotwendiger, sozial unerläßlicher Institutionen verstehen, stellt sich die Frage nach einer ideologiefreien Erziehung fürs Sozialverhalten. Die Autoren schlagen dazu vor, alle 14 Tage einen Vormittag für die Durcharbeitung sozialer, pädagogischer und psychologischer Probleme zu reservieren. Sie fragen: „Wäre es wirklich so absurd, wenn ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat ein Fach „Sozialverhalten’ einrichtete, das außerhalb der Notenfächer läuft?" Eine allzu bescheidene Forderung, wie ich meine; sollte diese Kost nicht zum täglichen Brot gehören, das die Schule, und nicht nur sie, zu verabreichen hat?

Gewiß, wenn gelehrt wird, „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut" oder „Was Du nicht willst das man Dir tu', das füge keinem andren zu", werden Leitbilder gezeichnet, moralische Forderungen gestellt. Auf ideologische Leitbilder sollte dagegen völlig verzichtet werden: Jede Ideologie setzt sich als das höhere, bessere und künftige Prinzip von jeder von ihr nicht bestimmten Denkweise, diese entwertend, ab. Das jeweilige „auserwählte Volk“ vertritt ein höheres Lebensrecht als andere, die Arbeiterklasse versteht sich als, im Sinne der kommunistischen Ideologie, positive, weltgeschichtliche Kraft: Stets liegt die Verteufelung der anderen nahe. Zu diesen Leitbildern gehören immer auch Feindbilder. (Hier darf die Vermutung geäußert werden, daß das mancherorts bedauerte Verblassen von Leit-und Feindbildern einen globalen Gesundheitsprozeß auslösen könnte. Die sogenannte Krankheitsgeschichte der Menschheit wäre im Falle einer Realisierung dieser utopischen Vision ohne letalen Ausgang abgeschlossen.)

Wir steuern hier gewissermaßen zwischen Skylla und Charybdis. Einerseits wäre es für die Gesellschaft zu begrüßen, wenn Ideologien mit ihrem psychotischen Ansatz wie einst die Saurier ausstürben. Die höheren Zwecke, in deren Dienst alles als bedrohend und böse Empfundene und Gewertete nach Möglichkeit besiegt, vernichtet, ausgerottet werden muß, entfielen damit. Es ginge dann nicht mehr um den Kampf des Guten gegen das Böse; mit derlei ethischen Vorwänden ließe sich nicht mehr arbeiten. Andererseits ist es gerade der Verzicht auf ideologische Bindemittel, der Jugendliche — und nicht nur sie — überhaupt erst zum Exodus aus der Gesellschaft befähigt. Dieses kardinale Dilemma wird von den Autoren vielleicht erkannt, jedoch in ihrem Aufsatz kaum herausgearbeitet. überhaupt scheint mir, was bei ihnen über reine Kasuistik hinausgeht, weniger lesenswert. So enthält die Bestandsaufnahme über die Fluchtwege Jugendlicher in Alkohol, Drogen, Freitod, Religion, Kriminalität, rechtsradikale Gruppen (ein entsprechender Abschnitt über linksradikale Gruppen fehlt) und in Subkulturen viel Bekanntes. Die analytischen Versuche der Autoren etwa über den jugendlichen Narzißmus und ein ihn „begünstigendes Industriesystem" spiegeln die Ergebnisse aus Werken einschlägiger Autoren wie Thomas Ziehe, Claus Richter und des Verfassers dieser Zeilen. Sie fallen jedenfalls ein wenig ab im Vergleich zu den faszinierenden Berichten der Autoren aus ihrem eigenen Erfahrungsschatz. Zu Ziehe, dessen Thesen die Autoren übernehmen, zwei kritische Marginalien: In seinen klugen „Bemerkungen zu einer neuen Motivationskrise Jugendlicher" findet sich Widersprüchliches. So lehnt Ziehe es „selbstverständlich" ab, Mütter moralisch zu verurteilen, wenn sie ihre eigenen Lebenssituationen psychisch so wenig verarbeiten, daß sie als Ausgleich dafür das Kind zwecks emotionaler Stabilisierung mißbrauchen. Wenn Ziehe an anderer Stelle jedoch durchaus moralische und meist nicht erfüllte Forderungen an Erziehende stellt, darf man fragen, ob diese nicht auch für besagte Mütter gelten oder ob nicht überhaupt auf das Erheben moralischer Ansprüche, an wen auch immer, zu verzichten ist An anderer Stelle unterliegt er dem Irrtum, in den meisten Familien erfolge „die emotionale Ablösung, was die Seite der Jugendlichen angeht, . kurz und schmerzlos'während der frühen Pubertät". Aber gab es nicht schmerzhafte Bedrückungen in viel früheren Lebensphasen,:

stellt der Augenblick der emotionalen Ablö-, sung nicht lediglich den Abschluß einer lan-> gen Entwicklung dar? Wolfgang Henrich)

schreibt in einem unveröffentlichten Manuskript: „Was Ziehe als die . kurz und schmerzlos(e)'emotionale Ablösung bezeichnet, betrifft lediglich das Abwerfen der bewußt gebildeten, also rationalisierten Sprachregelungen in Familie und Gesellschaft." Diese These er-cheint mir plausibler als die von Ziehe: Auch er Jugendliche unserer Tage wird die Imagies der Kindheit so wenig wie seinen Schatten mals los. Es ist hier nicht der Ort für eine reiterführende Auseinandersetzung mit Ziee, über dessen Narzißmusbegriff Korrigieren-es zu sagen wäre; ich sehe in Thomas Ziehe rotzdem einen unserer fruchtbarsten Fachau-oren, dessen Thesen freilich nicht immer un-eprüft übernommen werden sollten, wie das ei Hartmut und Thilo Castner der Fall zu sein cheint las gilt auch für die Schlußbemerkungen mit iren Vorschlägen zur Lösung des Dilemmas. Zugegeben, den Stein der Weisen hat da noch iemand gefunden. Aber mit reiner Rhetorik er kaum zu finden sein: „Hier sollten rird Par-eien, Gewerkschaften und Jugendverbände lellhörig werden und sich auf politische In-alte besinnen, die für junge Menschen nachollziehbar wirken. Wenn die Leitbilder der ugend schon heute überwiegend aus der Veit des . schönen Scheins', aus Musik, Film ind Sport stammen, fällt das nicht zuletzt auf lie Politiker und . Persönlichkeiten des öffent-ichen Lebens zurück, die vor lauter Manage-ient und Betriebsamkeit offenbar nicht in der age waren, jungen Menschen eine humane, zukunftsweisende Orientierung und Perspektive zu vermitteln."

Aber mit den Appellen, die die Autoren an die Parteien, die Gewerkschaften und die Jugendverbände adressieren, ist es nicht getan. Ich jedenfalls lese die Aufrufe an die politischen Instanzen, künftig gegenüber der Jugendproblematik „hellhörig" zu werden und ihre auf Management gerichtete Betriebsamkeit durch eine „humane, zukunftsweisende Orientierung und Perspektive" zu ersetzen, wie eine ins Blaue gesetzte Himmelsschrift. Gutgemeinten Konjunktiven wie „man müßte", „man sollte" oder „man dürfte nicht" gegenüber verhält man sich eher schwerhörig.

Mit solchen Überforderungen wird nichts ausgerichtet. Vielleicht erwiese es sich als wirkungsvoller, Politikern und anderen Managern unseres öffentlichen Lebens deutlich zu machen, daß rhetorische Beteuerungen, man müsse die Jugend anders verstehen und anfassen lernen, für sich gesehen wenig hilfreich sind.

Ich hätte es deshalb lieber gesehen, wenn die beiden Autoren Indizien dafür aufgeführt hätten, wie hierfür qualifizierte Kräfte Jugendliche davon überzeugen könnten, daß es für sie bessere Wege als Fluchtwege gibt.

Zu: Felix von Cube, Extremismus und Exodus — Konsequenzen für die politische Bildung

ie zustimmenden Ausführungen Cubes zu neinem Aufsatz „Zum Exodus Jugendlicher"

1 „Aus Politik und Zeitgeschichte", B 30/79, itte ich in meiner Eigenschaft als Autor gern lit Freude zur Kenntnis genommen. Jedoch:

ube meint, in der biologischen Verhaltensirschung eine ähnliche Erklärungsbasis zu »den. Dementsprechend behandelt er die ggressivität von Aussteigern ganz im Sinne «logischer Mechanismen. Dabei bleiben die * erursachenden Faktoren wie die zeitge-

thichtliche Problematik und der seelische atus solcher Jugendlicher außer Betracht.

ube behandelt die Phänomenologie heutiger ^endlicher, vor allem deren Extremismus d Dogmatismus, aus der Sicht des Kriti-

hen Rationalismus. Dabei wird nicht deut-h, daß Extremismus und Dogmatismus noch keine totale Abkehr von jedweder Gesellschaft, also den vollkommenen Exodus darstellen, sondern Gesellschaftlichem schon durch ihre Zukunftsverheißung zugewandt sind. Erst die völlige Beziehungslosigkeit zu unserer Welt, die Fiktion ihres Nichtvorhandenseins, führt zu den konsequentesten Formen des Exodus, über die Droge zum Exitus.

Cube stellt sich die Frage, wie es wohl kommen mag, daß der eine zum Extremisten, ja zum Terroristen wird, der Gewalt mit gutem Gewissen ausübt, während der andere zur Droge greift. Die Reflexionen des Autors führen zu dem Schluß, daß Gewalt wie auch Drogen auf ihre Weise Aggressionen abbauen. In einem Fall wird Aggression unmittelbar realisiert und der mit Gewalt verbundene Abbau von Aggressionen lustvoll erlebt. Beim Dro-B gensüchtigen dagegen findet nach Cube eine Vernichtung des aggressiven Energiepotentials statt In beiden Fällen kommt es — der Autor verweist hier auf Hacker — zur „Aggressionsentlastung". Das Bedürfnis danach resultiert nach Cube aus der westlichen Industriegesellschaft, die den Menschen nicht zu jenen Leistungen herausfordert, die nur in Verbindung mit einem Abbau des Aggressionspotentials erbracht werden können. Das wildlebende Tier muß sich anstrengen, um Nah-rungs-und Sexualtrieb zu befriedigen, der zivilisierte Mensch hat diese Anstrengung nicht mehr nötig. „Gesellschaft und Technik nehmen ihm die phylogenetisch programmierten Aktivitäten weitgehend ab" (Cube). Da der Mensch aber nicht auf die mit der Triebreduktion verbundene Lust verzichten will, kommt es, nach Cube, „zu einem vorzeitigen Abbau des Potentials durch immer stärker werdende Reize".

So glaubt Cube allen Ernstes, daß der sexuell Gesättigte „besonders exklusive Reize"

braucht, „besondere Perversionen, ura sich Befriedigung und Lust zu verschaffen". Dem Autor scheint nicht bekannt zu sein, daß Perversion keineswegs die Folge sexueller Sättigung und dem Kind bereits eigen sind, das Freud treffend als „polymorph pervers" charakterisiert hat. Es bedarf keiner ausführlichen Argumentation, um die Irrigkeit dieser These über die perversen Bedürfnisse des sexuell Gesättigten ad absurdum zu führen. (Zeugt es im übrigen nicht von fragwürdiger Sittlichkeit, die einem pathologischen Reinlichkeitswahn unterliegt, wenn die Autonomie der Partialtriebe als „pervers" im Sinne von schmutzig diffamiert wird?)

Cum grano salis richtig ist dagegen, was Cube über die Mechanismen der menschlichen Aggressivität sagt: Wer sich den sozialen Zwängen zur strapaziösen Leistung beugt (und sonst mit seiner seelischen Ökonomie der eigenen Vorstellung nach leidlich zufriedenstellend wirtschaftet), staut weniger Aggressionen auf als manche, die sich diesen Zwängen entziehen. Aber Cubes Hinweis auf die Gegebenheiten der Industriegesellschaft erklärt die Tatsache nicht ausreichend, daß sich — wenigstens bei uns — immer mehr junge Leute besagten Zwängen entziehen. Mit keinem Wort wird auf den Zusammenhang mit den Verlautbarungen unserer Kulturkritik, den Aussagen von Kunst und Dichtung mit ihren apokalypti-sehen Visionen, den Thesen der modernen Philosophie hingewiesen. Der Exodus Jugendlicher ist letztlich doch wohl nur als eine von vielen Auswirkungen einer weltumfassenden Krise zu verstehen, die uns Kunst, Literatur und Philosophie längst signalisiert haben, bevor sie schließlich auch in der politischen Bildungsarbeit und in der Pädagogik manifest wurde!

Durchaus einleuchtend ist dagegen die These Cubes von der Affinität von Dogmatismus und Terrorismus in der westlichen Welt. Allerdings bleibt er die Antwort auf die Frage schuldig, warum in dem dogmatisch beherrschten Osten Terrorismus seltener als in unserer vergleichsweise dogmafreien Gesellschaft ist. Seinen Thesen wäre vielleicht die Vermutung hinzuzufügen, daß für den Terroristen in der Bundesrepublik die Heilsideologien weniger das Ergebnis eines weltanschaulichen Werdegangs als Mittel sind, um mit gutem Gewissen gewalttätig sein zu können. Hier werden Ursache und Wirkung von psychologisch nicht Geschulten leicht verwechselt.

Wie bei derartigen Arbeiten üblich, werden gegen das Ende zu moralische Forderungen — nicht, wie bei Hartmut und Thilo Castner, an Politiker und andere Meinungsmacher — an den Jugendlichen gestellt. Die Verhaltensforschung, mit den von Cube aufgezeigten biologischen Bedingungen, entlastet den Jugendlichen nicht „von der Verantwortung". Im Sinne von Lorenz meint Cube, daß „wir zwar mit den Trieben leben müssen, insbesondere mit der Aggression, daß wir aber über Steuerungsmöglichkeiten und damit über Entscheidungsfreiheit verfügen". (Nun ist aber gerade Lorenz alles andere als eine Autorität in Sachen Willensfreiheit. Dem KLADDARADATSCH Heft 4/5 1970 entnehme ich einen Satz, der diesen ohnehin problematischen Verhaltensforscher als Vertreter der „guten alten" autoritären Schule entlarvt: „Der müde Vater, der vom Büro heimkehrt, ist kein imposanter Anblick; wenn es etwas gibt, wozu er noch weniger Lust verspürt, als über seine Arbeit zu sprechen, dann ist es die Aufgabe, ein ungezogenes Kind zu bestrafen." Welch bedauernswerter Vater, den Müdigkeit daran hindert, seinem Kind Bö ses anzutun ... An anderer Stelle wehrt sich Lorenz dagegen, sogenannten verhaltensaufälligen Jugendlichen tolerant, geschweige jenn verständnisvoll entgegenzutreten. Er will sie wie Krebszellen auslöschen: „Das verlerbliche Wachstum bösartiger Tumoren (sic!) beruht darauf, daß gewisse Abwehrmechanisnen versagen oder von den Tumorzellen unwirksam gemacht werden, mittels derer der Körper sich sonst gegen das Auftreten , asozia-ef Zellen schützt Nur wenn diese vom umgeenden Gewebe als seinesgleichen behandelt ind ernährt werden, kann es zu dem tödlichen, nfiltrativen Wachstum der Geschwulst kom-nen." (Aus: Die Acht Todsünden der zivilisieren Menschheit, München 1973.) immerhin bleibt, abgesehen von so unqualifi-ierten Aussagen, zu bedenken, daß auf mora-ische Imperative in einer wie auch immer strukturierten Sozietät schwer verzichtet wer-len kann. Die zu Steuerungsmögichkeiten und Entscheidungsfreiheit, die Cube kontrapunktisch zu den der Verhal-von ensforschung untersuchten Mechanismen sieht, ist jedoch bei manchen Jugendlichen richt oder nur partiell vorhanden. Wir haben es hier mit einer Erscheinung zu tun, gegen lie Aufrufe im Sinne althergebrachter sozialer Ethik nichts ausrichten. Cube sagt mit Recht, die (extreme) Milieutheorie entmündigt den Menschen, indem sie ihn als Produkt der sozialen Umwelt auffaßt". Aber in welchem Umiang entmündigt die soziale Umwelt, wie und wodurch verhindert sie, daß der Jugendliche mündig wird? Das ist die eigentliche Frage. Auf sie gibt Cube keine Antwort.

Cube steht ganz im Bann der Verhaltensforichung, von der er zu Unrecht glaubt, sie führe mehr oder weniger zu den gleichen Ergebnissen wie die von mir vorgelegten. Während ene, wie die von ihr abgeleitete Verhalten-

den Begriff des „störenden Sozial-, stherapie, und die Spätfolge seelischer rerhaltens" Pro-zesse unmittelbar revidieren will, geht es mir Im Ursächlichkeiten — die Beziehung zwilchen Ich, Über-Ich und Es, die spiegelbildliehe Korrelation individueller und kollektiver Unlösbarkeiten und damit um die Entspre-thungen zwischen den Irrungen und Wirrun-

en der Aussteiger auf der einen und der seeli-ichen Erosion der angepaßten Mitmacher auf ler anderen Seite. Ich teile jedoch nicht den Standpunkt jener Analytiker, die die Verhaltenstherapie geringschätzig als ein Instrument für mindere Ansprüche ansehen. Die Auslotung letzter seelischer Tiefen braucht wirklich nicht in Betracht gezogen werden, wo sich dringlich nur die Aufgabe der Resozialisierung stellt. Dem ist durchaus ohne die Eruierung seiner Ursächlichkeiten beizukommen; ähnliches schaffen wohl auch ein autoritäres Regiment, ein neues Credo, hypnotische Behandlung oder Haldol; aber die Verhaltens-therapie ist dem schon deshalb vorzuziehen, weil sie einen höheren Beitrag an Eigenleistung erfordert. In praxi hebt sie sich von der Analyse aber dadurch ab, daß ihr Wirkungsfeld nicht für Wenige (zahlungskräftige) limitiert ist. Eine Brücke zwischen Verhaltens-und Psychotherapie versucht Horst Eberhard Richter in dem Aufsatz „Die Psychoanalyse muß sich demokratisieren", in MUSIK + MEDIZIN 11/80, mit dem Versuch zu sozial Position zu beziehen. Nach ihm soll die Analyse den Patienten, mehr es als geschieht, zur Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität motivieren: „Gerade durch ihr Vorhandensein erspart die Psychotherapie es der anderen gesellschaftlichen Realität, sie zu verändern... die Therapeuten sollten mehr gesellschaftliches Bewußtsein entwickeln.“ (Mit der „anderen gesellschaftlichen Realität“ ist die Gesellschaft schlechthin gemeint. In ihr soll der Patient „auf Veränderungen drängen“.)

Das ist recht weit gegriffen. Die Psychoanalyse — von ihr ist bei Richter die Rede — muß keineswegs als gesellschaftlicher Integrationsfaktor herhalten. In letzter Konsequenz überläßt sie es dem Patienten, ob er nach Absolvierung der Analyse bewußt ein „Doppelleben“ (Gottfried Benn), getrennt zwischen Sein und Schein führt, ob er „asozial in einer asozialen Gesellschaft" (Bert Brecht) werden oder bleiben oder aber die Gesellschaft — als „irres Ganzes" (Adorno) verstanden — therapieren will.

Solche eigengesetzlichen Entscheidungen, die zu treffen ich wo irgend möglich dem Jugendlichen überlasse, schließt die Verhaltenstherapie mit ihren so gänzlich anderen Axiomen und Methoden aus. Ich darf daraus folgern, daß die Zustimmung Cubes zu meinen eher tiefenpsychologisch orientierten Darlegungen auf Mißverständnissen beruht.

Schlußbemerkungen

Trotz ihrer unterschiedlichen Ausgangspunkte und Konklusionen — Hartmut und Thilo Castner beziehen sich bei ihrer Zustimmung zu mir wesentlich auf Ziehes Arbeiten; Felix von Cube glaubt, auf der Basis der Verhaltensforschung zu gleichen Ergebnissen wie ich zu kommen — ist ihnen Fundamentales gemeinsam: Wie die meisten einschlägig bemühten Autoren empfinden sie den seelischen Status vieler Jugendlicher als fremd, als so befremdlich, daß sie sich mit der Einfühlung schwer tun. Es ist so, als trügen sie voller Gelehrsamkeit und Klugheit weiße Kittel, als hätten sie Dinge, die sie nicht unmittelbar persönlich betreffen, zu untersuchen. Das mag übertrieben sein; sicherlich fühlen sie etwas von jener Betroffenheit, ohne die es keine Brücke zu solchen jungen Menschen gibt. Andererseits treten sie ihnen doch mehr oder weniger akzentuiert als Vertreter der Gesellschaft entgegen, jener Gesellschaft, mit der manche der Jungen definitiv gebrochen haben.

Diese Unentschiedenheit ist verständlich Wenn sie sich auf von den Jungen entwertete Werte zurückziehen, wirken sie unglaubwür dig. Aber was anderes haben sie ihnen anstelle der Geborgenheit eines seelischen Reduil außerhalb der Gesellschaft zu bieten? Wie sol len sie die Jungen dazu motivieren, „hinaus ins feindliche Leben“ zu treten, das keinerlei Ver heißung bereithält, in eine Gesellschaft, derer Ethik Jean-Paul Sartre als „für unsere Epoche unmöglich“ bezeichnet? Hier liegt der eigentliche Grund dafür, daß es den Autoren, mich eingeschlossen, so schwerfällt, mit konkreter Rat-und Vorschlägen am Ende eine positive und doch unverfälschte Bilanz zu ziehen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Lothar von Balluseck, geb. 1906, Vertragsberater politischer Institutionen, Mitinhaber eines Verlags, Gründungsmitglied der . Aktion Gemeinsinn“, Gründer der „Godesberger Gespräche". Veröffentlichungen u. a.: Deutsche über Deutschland. Zeugnisse deutscher Selbstkritik, 1946; Dichter im Dienst. Der Sozialistische Realismus in der deutschen Literatur, 19632; Literatur und Ideologie. Zu den literaturpolitischen Auseinandersetzungen seit dem VI. Parteitag der SED, 1963; Frei sein wie die Väter...? Eine Geschichte der Freiheit in Deutschland, 197410; „Selbstmord" — Tatsachen, Probleme, Tabus, Praktiken, 1965; Bilder — Idole — Ideale. Vermutungen und Skizzen über die Welt der Bilder und die politische Welt, 1971; Die guten und die bösen Deutschen, 1972; Er-Läuterungen für Deutsche, 1975; Auf Tod und Leben — Letzte Dämmerungen für Deutschland, 1977. *