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Deutscher Widerstand im Ausland. Zur Geschichte des politischen Exils 1933-1945 | APuZ 31/1980 | bpb.de

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Deutscher Widerstand im Ausland. Zur Geschichte des politischen Exils 1933-1945

Werner Röder

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Zusammenfassung

Dieser Überblick ist Teil der Einleitung zu Band I des vom Institut für Zeitgeschichte, München, und von der Research Foundation for Jewish Immigration, New York, herausgegebenen Biographischen Handbuchs der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Ein dort ebenfalls enthaltener Beitrag von Herbert A. Strauss (New York) behandelt die Verfolgungs-, Wanderungs-und Akkulturationsgeschichte der annähernd 500 000 aus dem „Großdeutschen Reich" vertriebenen Juden: ihre Emigration setzte den „Illusionen einer dauerhaften Integration der Juden in Deutschland“ ein Ende und führte über die Rückbesinnung auf das jüdische Volkstum zu neuen Lebensformen innerhalb des ethnischen Pluralismus überseeischer Einwanderungsländer (H. A Strauss). Die etwa 30 000 politischen Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich, Österreich und den ehemaligen deutschen Siedlungsgebieten in der Tschechoslowakei verstanden sich dagegen — bei vielfältiger personeller Überschneidung und Mobilität zwischen diesen beiden Hauptgruppen der Emigration und unabhängig von Konfessionen oder Abstammung — als freier Arm der Volksopposition gegen das Regime in der Heimat und als auf baldmögliche Rückkehr verpflichtete Mandatsträger demokratischer Traditionen ihrer Herkunftsländer. Ausgehend von dem extremen Gegnerbild, das sich der Nationalsozialismus von der sozialistischen Bewegung ebenso wie vom Judentum aufgebaut hatte, beschreibt der vorliegende Beitrag die den einzelnen politischen Verfolgungsphasen entsprechenden Flucht-wellen. Er beschäftigt sich dann mit der Verteilung der Exilanten auf die Asylländer und mit der dort praktizierten, größtenteils höchst restriktiven Flüchtlingspolitik. Anschließend werden die von den Exilorganisationen als historischer Auftrag begriffenen Tätigkeiten skizziert: die Unterstützung der Widerstandsbewegungen in der Heimat und die Aufklärung der Weltöffentlichkeit durch eine „Offensive der Wahrheit“ gegen den Nationalsozialismus. Nach dem weitgehenden Abreißen der Verbindungen zu illegalen Kreisen im Innern reduzierte sich die direkte Aktivität gegen das NS-Regime auf eine durch beidseitige politische Vorbehalte stark eingegrenzte Zusammenarbeit mit den militärischen Gegnern Hitlers. Angesichts des Ausbleibens einer innerdeutschen Volkserhebung wurde ein alliierter Sieg an den Fronten schließlich auch für das Exil zur Voraussetzung einer freiheitlichen Ordnung in der Heimat. Die nichtkommunistischen Gruppen wandten sich dabei aber mehr und mehr gegen radikale Deutschlandpläne der Anti-Hitler-Koalition: die „antifaschistische“ Phase des Exils wurde von einem „demokratischen Patriotismus“ abgelöst, der bei unversöhnlicher Gegnerschaft zu Traditionen und Trägern des nationalsozialistischen Gewaltregimes Gebietsabtrennungen, Entindustrialisierung, dauernden Souveränitätsverlust und Kollektivschuldthesen ablehnte. Als zentrale Ergebnisse der Exilerfahrungen sieht der Autor die in der Emigration entwikkelten neuen Bündniskonzeptionen zur Überwindung der historischen Isolierung der Arbeiterbewegung und des Liberalismus: Nach dem Scheitern der Volksfrontexperimente von Kommunisten, linken Splittergruppen, bürgerlichen Demokraten und Teilen der Sozialdemokratie setzte sich bei den nichtkommunistischen Exilparteien die Überzeugung durch, daß politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Demokratie nur im Bündnis einer parlamentarisch orientierten und von „proletarischen“ Klassenabgrenzungen freien Arbeiterbewegung mit dem liberalen Bürgertum zu verwirklichen sein werde.

Vorabdruck eines Teils der Einleitung zu BandIdes vom Institut für Zeitgeschichte, München, und von der Research Foundation for Jewish Immigration, Mw York, herausgegebenen „Biographischen Handbuchs der deutschsprachigen Emigration“, das in ^‘esen Tagen im Verlag K. G. Saur, München, New York, Paris, London, erscheint.

I. Einleitung

Die deutschsprachige Emigration nach 1933 umfaßt annähernd eine halbe Million Vertriebene und damit etwa ein Zehntel der Flucht-bewegungen in Europa zwischen den beiden Weltkriegen. Die überwiegende Mehrheit ist durch die antijüdische Politik des Nationalsozialismus zur Auswanderung gezwungen worden; schätzungsweise 30 000 Emigranten dürften als aktive Regimegegner ins Ausland geflohen sein. Für die Geschichte der politischen Kultur Deutschlands und Österreichs ist die Emigration nach 1933 ein weiteres Beispiel der Heimatlosigkeit demokratisch-oppositioneller Kräfte. Anders als seine historischen Vorläufer bot das politische Exil in der nationalsozialistischen Zeit jedoch den einzigen Freiraum für Planen und Handeln, der sich nicht nur dem allumfassenden Unterdrükkungsapparat des totalitären Regimes, sondern auch seinen unmittelbaren geistigen und psychischen Einwirkungen entzog. Dies war um so bedeutungsvoller in einer Periode, in der sich die Entwicklung Deutschlands auf eine historische Zäsur zubewegte und entscheidende Neuordnungen auf dem europäischen Kontinent bevorstanden: So etwa die Zerschlagung des Deutschen Reiches, die Vertreibungen aus den abgetrennten Ostgebieten und aus der Tschechoslowakei, der Konflikt um die Einflußzonen der Sowjetunion und der Westmächte in Europa. Das Exil hat nicht nur frühzeitig zu diesen bereits absehbaren Veränderungen Stellung bezogen, sondern teilweise selbst aktiven Anteil am politischen und geistigen Neuaufbau in den Nachfolgestaaten des Deutschen Reichs und in der Republik Oster-reich genommen. Zum anderen markiert die Emigration der vom Nationalsozialismus „rassisch" Verfolgten den Endpunkt des jüdisch-deutschen Zusammenlebens, das vor allem im kulturell-wissenschaftlichen Bereich durch außerordentliche Leistungen geprägt war. Von entsprechender Bedeutung war deshalb auch die Wirkung dieser Gruppe in den Immigrationsländern bzw.der in ihren Herkunftsstaaten zu verzeichnende Verlust.

In der Bundesrepublik hat sich das in den 60er Jahren erwachte Interesse an diesem Bereich der jüngsten deutschen Geschichte zunächst der Exilliteratur zugewandt. Die Forderung, gerade diese Literatur nicht allein mit werk-immanenten Interpretationsmethoden zu untersuchen, sondern sie auch im Zusammenhang mit der politischen, ideologischen und sozio-ökonomischen Entwicklung der Zeit zu sehen, hat zweifellos die Beschäftigung mit der Geschichte des Exils unterstützt und zur Förderung multidisziplinärer Forschungsvorhaben geführt. Die entscheidenden Impulse für eine Exilforschung im Bereich der Zeitgeschichte und Politikwissenschaft dürften jedoch von jenem neuen Bewußtsein ausgegangen sein, das in der Bundesrepublik das „Ende der Nachkriegszeit" signalisierte: Die Vorherrschaft des wirtschaftlichen Gründergeists, das Bemühen um allseitige Absicherung gegenüber dem Osten und die Sorge um den inneren Frieden bei der „Bewältigung" der nationalsozialistischen Vergangenheit wurden mehr und mehr durch die Frage nach den intellektuellen und politischen Traditionen überlagert, an die eine freiheitliche Republik als juristischer Nachfolgestaat des Dritten Reichs auf Dauer würde anknüpfen können. Freilich erschwerten die zunächst äußerst spärlich scheinenden Quellenüberlieferungen eine Entscheidung darüber, ob das organisierte Exil in seiner geschichtlichen Substanz wie von seiner Beschreibbarkeit her überhaupt ein Erkenntnis-gegenstand der historischen Forschung sei. Erst eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Dokumentation hat die Möglichkeit systematischer Untersuchungen auf breiter Basis nachgewiesen und eröffnet: Im Rahmen des „Projektes zur Sicherung und Erschließung von Quellen zur deutschsprachigen Emigration" sind zwischen 1969 und 1973 umfangreiche schriftliche Überlieferungen zur Geschichte des politischen Exils in Archiven der Bundesrepublik und des Auslands festgestellt bzw. aus Privatbesitz erworben und in einem Zentralkatalog beim Institut für Zeitgeschichte verzeichnet worden.

Forschungen zur jüdischen Emigration fanden vor allem Ansätze in der ungewöhnlichen Sozialstruktur: Im Unterschied zu den historischen europäischen Auswanderungsschüben haben nicht nur „unbekannte Emigranten" ihre Ursprungsländer verlassen; einen starken Anteil stellten Intellektuelle, Angehörige der freien Berufe, Beamte und Richter, Hochschullehrer, Wirtschaftsführer und Leiter des jüdischen Gemeinschaftslebens, Rabbiner, Verbandsfunktionäre, Künstler und Journalisten. So gilt das Interesse bei der Erforschung der Geschichte des ehemaligen deutschen Judentums neben dem Ausnahmezustand jüdischen Lebens im Dritten Reich zwischen Ausharren, Emigration und Massenmord vor allem dem Beitrag der Ausgewanderten zu Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft der Aufnahmeländer und dem über mehrere Generationen zu verfolgenden Prozeß ihrer Akkulturation.

Das Institut für Zeitgeschichte in München und die Research Foundation for Jewish Im-migration, New York, kamen 1972 überein, durch eine repräsentative biographische Dokumentation der Gesamtgruppe, also des politischen Exils und der „rassisch" begründeten Emigration, Quellen für weiterführende historische und sozialwissenschaftliche Forschungen bereitzustellen und darüber hinaus mit der Veröffentlichung eines biographischen Handbuchs zum Wissensstand über Strukturen und Geschichte von Exil und Emigration beizutragen -

In langjährigen, systematisch betriebenen Recherchen in Archiven, Bibliotheken und vor allem auch im betroffenen Personenkreis selbst haben die Bearbeiter eine rund 25 000 Emigranten umfassende Datensammlung aufgebaut, die nach dem Abschluß des Projekts der Forschung in München und New York zugänglich sein wird. Auf der Grundlage dieses Archivs wurden für das Handbuch über 8 000 Kurzbiographien erstellt. Der inzwischen erschienene Band I, den das Institut für Zeitgeschichte in München redaktionell betreut hat, dokumentiert fast 4 000 Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und öffentlichem Leben; Band II, für den die Federführung bei der Research Foundation for Jewish Immigration liegt, wird 1981/82 zunächst in englischer Sprache veröffentlicht werden. Er enthält biographische Eintragungen aus den Bereichen Wissenschaft, Literatur, Sachpublizistik, Kunst und Theater. Der zweisprachige Index-band, den das Institut für Zeitgeschichte vorbereitet, soll zur gleichen Zeit vorliegen. Ohne großzügige Hilfe von Förderungseinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland hätte ein Forschungsprojekt dieses Umfangs nicht verwirklicht werden können. Von 1972 bis 1974 hat der Bundesminister für Forschung und Technologie und anschließend die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Rahmen ihres Schwerpunkts Exilforschung die Arbeiten in München und in New York finanziert. 1978/79 hat die Research Foundation der City University of New York und 1979 das National Endowment for the Humanities (Washington/D. C.) die Tätigkeit des amerikanischen Projektpartners zusätzlich gefördert. Der nachfolgende Überblick zur Geschichte des deutschsprachigen Exils ist ein Auszug aus der Einleitung zu Band I des Biographischen Handbuchs der deutschsprachigen Emigration.

II. Motive, Anlässe, Dimensionen

Die gemeinsame Kausalität der „rassischen", „politischen" und „weltanschaulichen" Emigration ist im totalitären und terroristischen Charakter der NSDAP zu suchen, einer sozial und intellektuell zunächst randständigen Partei, die durch das Zusammentreffen spezifisch deutscher Entwicklungen mit der Erschütterung des gesellschaftlichen Gleichgewichts im Verlauf der Weltwirtschaftskrise herrschaftsfähig wurde.

Für sie verkörperte die sozialistische Arbeiterbewegung, hierin dem Judentum durchaus ähnlich, ein politisches, ideologisches und mo-ralisches Feindbild, das die Grenzen der in modernen westlichen Gesellschaften üblichen Polarisierung weit überschritt: Durch das obrigkeitliche System des wilhelminischen Deutschlands war nicht allein die Integration der organisierten Arbeiterschaft in einen parlamentarischen Verfassungsstaat verhindert worden; das Scheitern der bürgerlichen Revolution hatte vor allem dazu geführt, daß die der Arbeiterbewegung zugrunde liegende emanzipatorische Tradition vom Bürgertum nicht mehr als Teil gemeinsamer politischer Interessen verstanden wurde. Gründung und Aufstieg des Deutschen Reiches vollzogen sich nicht unter ideologischen Prämissen von übert^, 6galit 6, fraternit^, sondern Hand in Hand mit der Erhöhung des autoritär regierten nationalen Machtstaats zur selbstgenügsamen sittlichen Kategorie. In der Arbeiterbewegung war damit auch — anstelle der Erfahrung pragmatischer Bündnisse mit dem liberalen Bürgertum — die politische und psychologische Grundvoraussetzung hergestellt, um auf der eschatologischen Geschichtsphilosophie des Marxismus eine geschlossene, schichten-spezifische Weltanschauung zu errichten. Neben dem rhetorischen Anspruch, die revolutionäre Kraft bei der historisch zwangsläufigen Ablösung des Kapitalismus durch eine sozialistische Zukunftsordnung zu sein, stellten ihr internationalistisches Bekenntnis, die Ablehnung jeder monarchisch-ständischen Hierarchie und ihr grundsätzlicher Laizismus die ideologischen Grundpositionen der Gesellschaft auch unmittelbar in Frage. Dies rückte die sozialistische Arbeiterbewegung viel wirksamer in die Position des bedrohlichen Außenseiters, als es sozialpolitische oder parlamentarische Konflikte vermocht hätten. Während große Teile des Judentums in der wilhelminischen Ära um die Eingliederung in diese Gesellschaft bemüht waren, entwickelte die Arbeiterbewegung ihre „Gegenkultur" zu hoher interner Wirksamkeit: Mit ihren Bildungsund Freizeiteinrichtungen, ihren Selbsthilfeorganisationen, ihrem Verlags-und Presseapparat und den innerhalb einer solchen Solidargemeinschaft entstehenden besonderen Ausdrucks-und Verhaltensweisen nahm die sozialistische Arbeiterbewegung eine gesellschaftlich ähnlich fremdartige Rolle ein wie das traditionell geprägte Judentum. Freilich zog sie aufgrund ihrer ungleich höheren Zahl und ihrer zunehmenden Präsenz im parlamentarischen Bereich neben den ideologischen und sozialen Aversionen auch existentielle Ängste der staatstragenden Schichten und des Kleinbürgertums auf sich.

Der relativ hohe Anteil von Politikern, Intellektuellen und Funktionären jüdischer Abstammung in führenden Positionen der Arbeiterbewegung erklärt sich — abgesehen von einer gewissen Affinität zwischen jüdischer Ethik und sozialistischem Reformismus — zu einem guten Teil aus dem gesellschaftlichen Außenseitertum beider Gruppen: Anstelle der Anpassung an die sozialen und religiösen Werte des herrschenden Systems versprach der „wissenschaftliche Sozialismus" in seiner Zukunftsordnung nicht nur staatsbürgerliche Gleichheit, sondern auch die Aufhebung der jüdischen Sonderexistenz an sich. Ideologie und Solidarismus der Arbeiterbewegung boten die Möglichkeit, zumindest innerhalb einer deutschen Gegenkultur voll integriert zu sein; darüber hinaus öffnete sich im Rahmen der Sozialdemokratie ein Zugang zu einflußreichen politischen und parlamentarischen Funktionen, die in bürgerlichen Parteien für Juden ungleich schwerer erreichbar waren.

Mit dem Ersten Weltkrieg und dem Fronterlebnis einer scheinbar klassenlosen Kampf-und Überlebensgemeinschaft waren erstmals die Voraussetzungen für eine gefühlsmäßige Identifizierung von Arbeiterbewegung und „gesamtnationalen'1 Interessen gegeben. Die Einbeziehung sozialdemokratischer Politiker in Verwaltungsaufgaben und zuletzt in die Regierungsverantwortung schien schließlich auch eine Integration in die politischen Herrschaftsstrukturen des Kaiserreichs anzubahnen. Es war gerade diese Teilhabe an einer untergehenden Ära, die es den Führern der deutschen Sozialdemokratie nach dem verlorenen Krieg psychologisch erleichterte, auf das Gedeihen der Republik ohne wirklich tiefgreifende Veränderungen in Verwaltung, Justiz, Militär und Bildungswesen zu hoffen. Andererseits hatte der sozialpatriotische Kurs der SPD-Mehrheit das Erstarken einer radikalen Linken innerhalb und außerhalb der eigenen Partei gefördert: Die kriegsgegnerische Aktivität dieser linken Opposition und die führende Rolle der Sozialdemokratie bei der Ablösung der Monarchie belasteten im Bewußtsein der deutschen Nationalisten die Arbeiterbewegung mit der Hauptschuld am militärischen Zusammenbruch und an der Erniedrigung des Vaterlandes. Die hohe Emotionalität dieses Gegnerbildes wurde durch die Periode der relativen Stabilität der Republik letztlich noch verstärkt. Denn unter der Ägide von So-5 zialdemokratie und Liberalismus bahnten sich im politisch-sozialen Bereich und auf dem Gebiet der Künste, der Literatur und der Sitten Modernisierungstendenzen an, die zwar nur in den kulturellen Metropolen eine nachhaltige Blüte erlebten, von den politisch zeitweise in den Hintergrund gedrängten Traditionalisten aber um so stärker als Provokation und Bedrohung empfunden wurden. Sozialdemokraten und Freie Gewerkschaften sahen ebenso wie der liberale Teil des Bürgertums und die Mehrheit der deutschen Juden in der Weimarer Republik jene Voraussetzungen verkörpert, die ihnen zur Verwirklichung von sozialer Gerechtigkeit, individueller Freiheit und bürgerlicher Gleichberechtigung notwendig erschienen. In den Augen der nationalistischen und monarchistischen Rechten verbanden sich demgemäß Arbeiterbewegung, Liberalismus und jüdischer Einfluß in Wirtschaft, Kultur und Politik mit der demokratischen Republik zum Symbol für den Niedergang des deutschen Machtstaates und seiner „natürlichen" Ordnung; der Rassenantisemitismus der Völkischen hinwiederum begriff Kommunismus, Sozialdemokratie, Liberalismus, kapitalistische Ausbeutung und Republik insgesamt als Produkte jüdischen Geistes und weltweiten jüdischen Machtstrebens.

Die NSDAP ist nicht nur als Partei dieser nationalsozialistischen „Weltanschauung" am 31. Juli 1932 zur stärksten Reichstagsfraktion gewählt worden. Eine entscheidende Rolle spielten dabei die Hoffnungen industrieller Kreise auf wirtschafts-und gesellschaftspolitische Interessenvertretung sowie die Enteignungsfurcht des Mittelstands und Kleinbürgertums angesichts einer fortdauernden Wirtschaftskrise und der lautstarken Propaganda der kommunistischen Organisationen. Dazu kam das Protest-und Veränderungsbedürfnis einer Armee von proletarischen und intellektuellen Erwerbslosen. Wie schließlich auch große Teile der übrigen Bevölkerung waren diese ideologisch unprofilierten, d. h. einem geschlossenen politisch-weltanschaulichen System nicht verpflichteten Wählergruppen der NSDAP aufgrund allgemein verbreiteter sozialer Ängste, nationalistischer Affekte und eines traditionellen Milieu-Antisemitismus bereit, in der Hoffnung auf Wiederherstellung wirtschaftlicher Sicherheit, staatlicher Autorität und nationaler Selbstbestätigung auch die Zerschlagung der Arbeiterbewegung und die Zurückdrängung von Juden aus einflußreichen öffentlichen und wirtschaftlichen Positionen zu begrüßen, ohne daß sie die damit verbundenen „Exzesse" mehrheitlich gewünscht oder gebilligt hätten. Auch die Betroffenen selbst, vor allem aber die meisten der mittlerweile an Einfluß und Rechtsstaatlichkeit gewohnten Partei-und Verbandsfunktionäre, hatten von einer vorübergehend amtierenden nationalsozialistischen Reichsregierung schlimmstenfalls Organisationsverbote bzw. die Beschränkung der Juden in ihren beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten erwartet. Der ungehemmte Terror, in dem der hochgradig ideologisierte Haß der Nationalsozialisten nach der Machtergreifung seinen Ausdruck fand, traf sie deshalb in der Regel unvorbereitet. Die Intensität dieses Hasses entsprach dem historisch geprägten Charakter des nationalsozialistischen Gegnerbilds: Nicht die Ablösung des innenpolitischen Kontrahenten war in erster Linie das Ziel, sondern eine „Abrechnung" in der Tradition von Volkstums-oder Religionsfehden. Hierbei fiel der sozialistischen Arbeiterbewegung und dem Judentum die Rolle der artfremden Minderheiten zu, deren usurpierte Herrschaft ein für allemal zerschlagen werden mußte.

Anlaß für die erste Welle der politischen Emigration war die akute physische Gefährdung jener, die aufgrund ihrer Rolle bei der Gründung der Republik als „Novemberverbrecher" galten oder als prominente Politiker, demokratische Verwaltungsbeamte, „Kulturbolschewisten" und literarische Exponenten der Linken sich einen Ruf als Gegner des Nationalsozialismus erworben hatten; hinzu kam die Bedrohung vieler kommunistischer, sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Funktionäre, die auf lokaler Ebene als militante Antifaschisten bekannt waren und nun persönliche Racheakte örtlicher Nationalsozialisten befürchten mußten. Allein in Preußen, wo schon seit dem 22. Februar 1933 die SA als Hilfspolizei eingesetzt worden war, wurden im März und April an die 30 000 offizielle Festnahmen verzeichnet. Ende 1933 befanden sich zwischen 60 000 und 100 000 KPD-Mitglieder in Haft. Vor allem nach dem Reichstagsbrand überschritten Tausende von regional und örtlich exponierten Aktivisten der Linken sowie einzelne Angehörige der politischen und publizistischen Prominenz als Touristen getarnt oder illegal die jeweils nächsten Grenzen ins Saargebiet, nach Frankreich, Holland und Belgien, nach Dänemark, in die Tschechoslowakei, nach Österreich oder in die Schweiz. Ihre Flucht war auch innerhalb der großen Parteien noch unorganisiert. Viele unter den politischen Exilanten waren wegen ihrer jüdischen Herkunft auch potentiell Verfolgte des Rassenantisemitismus; den Ausschlag für ihre Flucht gab jedoch die aktive politische Gegnerschaft zum Nationalsozialismus. Hinzu kam — wie in den weiteren Jahren des NS-Regimes auch — ein kleiner Kreis von Emigran-B ten aus überwiegend wissenschaftlichen und kulturellen Berufen, die zwar nicht aufgrund ihrer Abstammung oder politischen Betätigung gefährdet waren, aber ihre moralische, intellektuelle oder kreative Verkümmerung unter dem nationalsozialistischen System befürchteten.

Wie begründet die Motive der ersten Flucht-welle waren, zeigen die blutigen Ereignisse in den SA-Kellern und „wilden" Konzentrationslagern in den Monaten nach der sogenannten Machtergreifung. 500 bis 600 politische Gegner sind in dieser Zeit von Nationalsozialisten ermordet, Tausende in grausamster Weise gefoltert worden. Andererseits illustrieren die zahlenmäßig überwiegenden Fälle vergleichsweise glimpflicher Mißhandlung, relativ kurzen Lageraufenthalts und lediglich beruflich-gesellschaftlicher Zurücksetzung auch ehemals besonders aktiver Gegner des Nationalsozialismus, daß die Flucht ins Ausland zwar das eventuell tödliche Risiko in der „revolutionären" Phase des Regimes aufhob, für die nichtjüdischen Emigranten jedoch in der Regel nicht die einzige Überlebensalternative gewesen wäre. Nach der politischen . Ausschaltung" der Gegner, der Zerschlagung ihrer Organisationen und der Eliminierung ihres weltanschaulichen Einflusses im öffentlichen und kulturellen Leben gab man sich zumeist mit einer Abkehr von den früheren Ideen zufrieden; die Eingliederung vormals „marxistisch verhetzter Volksgenossen" in die nationale Gemeinschaft war ein vom Regime proklamiertes Ziel. Daher lag auch die ungehinderte Abwanderung politischer Gegner keineswegs in seinem Interesse. Im Gegenteil: Verschärfte Grenzkontrollen und die vorübergehende Einführung eines Sichtvermerks für Auslandsreisen sollten die Zugriffsmöglichkeiten für die Partei-und Staatsorgane sicherstellen. Darüber hinaus vermutete man mit Recht, daß politische Emigranten sich nicht lediglich den Verfolgungsmaßnahmen zu entziehen trachteten, sondern vom Ausland her die Tätigkeit gegen den Nationalsozialismus fortsetzen würden. So hat denn auch nur ein kleinerer Teil dieser Emigranten die Gelegenheit zur Rückkehr wahrgenommen, die seitens des Dritten Reichs denjenigen nichtjüdischen Flüchtlingen geboten wurde, die unter der Schockwirkung der Machtergreifung ins Ausland gegangen waren, sich anschließend aber politischer Aktivitäten im Exil enthalten hatten. Demgemäß unterschied sich die individuelle Emigration der ersten Monate im wesentlichen zwar durch Anlaß und Umstände, kaum jedoch durch politische Substanz und Zielrichtung von der gegen Jahresmitte 1933 einsetzenden und in höherem Maße organisierten zweiten Phase der Emigration.

Nach SA-Terror, Versammlungs-und Presse-verboten und regionalen Polizeimaßnahmen gegen die Linkskräfte begann mit der Notverordnung Zum Schutze von Volk undStaatvom 28. Februar 1933 für die Parteiorganisationen selbst und ihre Parlamentsvertreter eine Periode der Halblegalität; am 9. März wurden die Reichstagsmandate der KPD annulliert, am 2. Mai die Gewerkschaften aufgelöst, am 22. Juni erfolgte das Verbot der SPD und am 14. Juli 1933 die formelle Besiegelung der nationalsozialistischen Alleinherrschaft durch das Gesetz gegen die Neubildung von Parteien. Die bürgerlichen Parteien der Weimarer Republik verkündeten zwischen dem 27. Juni und dem 6. Juli 1933 ihre Selbstauflösung. SPD, KPD und die Splittergruppen der Linken hatten sich angesichts zunehmender Behinderung ihrer Organisations-und Pressearbeit schon ab Frühjahr 1933 gezwungen gesehen, ihren Aktionsspielraum durch Vertretungen und Stützpunkte im benachbarten Ausland zu vergrößern. Zunächst unter der Leitung von einigen wenigen Beauftragten stehend, erweiterten sie sich ab Sommer 1933 durch die Ausreise gefährdeter Spitzenfunktionäre, bis sie nach den endgültigen Parteiverboten im Reich den Charakter von Auslandsleitungen bzw. Parteivorständen im Exil annahmen. Ihnen oblag zum einen die Organisation, Unterstützung und publizistische Vertretung der illegalen Gruppen; zum anderen traten sie an die Spitze von Parteiorganisationen im Exil, die sich aus den Angehörigen der ersten Flucht-welle bildeten.

Im Rahmen einer dritten Abwanderungsphase, die bis in die Kriegsjahre hinein andauerte, erhielt die „Parteiemigration" Zuzug durch geflüchtete Mitglieder ihrer Widerstandsorganisationen. Die Fortführung der alten Parteien und Gewerkschaften bzw. die Betätigung in ihrem Sinne war inzwischen Gegenstand polizeilicher Verfolgung und gerichtlicher Ahndung geworden. Der terroristische Charakter des Nationalsozialismus in seiner Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner fand nunmehr seinen Ausdruck in den Praktiken der Geheimen Staatspolizei und zum Teil auch der Sondergerichtsbarkeit; überdies drohte nach der Verbüßung der Justizstrafe in der Regel zeitlich unbegrenzte „Schutzhaft" in Konzentrationslagern. Der „Terror von unten" wurde durch den „Terror von oben" abgelöst. Um so mehr bildeten der Widerstand in der Illegalität und der Widerstand im Exil eine Einheit, da die organisierte Opposition im Inland auf Kommunikations-und Koordinierungsfunktionen, auf das Propagandaschriftgut der Exilgruppen und auf die von ihnen bereitgestellten Fluchtwege und Auffangstellungen in hohem Maße angewiesen war. Die Flucht oder Delegierung von gefährdeten illegalen ins Ausland und die Fortsetzung ihrer politischen Arbeit im Rahmen der Exilpartei waren ebenso wie der Inlandseinsatz von Emigranten als Kuriere und Instrukteure konzeptioneller Teil des Widerstands unter den Bedingungen des sich mehr und mehr perfektionierenden nationalsozialistischen Polizeistaats. Neben den Parteien, Gruppen und Verbänden, die das Gesamtspektrum der Linken in der Weimarer Republik verkörperten, fanden sich auch Vertreter der bürgerlichen Politik bis hin zu oppositionellen NSDAP-Mitgliedern in der Emigration wieder. Meist um führende Persönlichkeiten geschart, versuchten Liberale, Christlich-Soziale, Bündische, Nationalkonservative, Monarchisten und linke Nationalisten in wechselnden Organisationsformen und Bündnissen, ihren Kampf gegen Hitler fortzusetzen. Die Emigration von Würdenträgern der beiden großen christlichen Konfessionen war dagegen nur in wenigen Fällen durch akute weltanschauliche oder politische Konflikte mit dem NS-Regime bedingt; darin unterscheiden sie sich von einer relativ großen Anzahl theologischer Hochschullehrer. Ein großer Teil der prominenteren Geistlichen und Ordensleute ist aufgrund ihrer jüdischen Herkunft von den Kirchenbehörden ins Ausland versetzt oder vermittelt worden. Allerdings kann an der Basis eine breitere Emigrationsbewegung von oppositionellen Klerikern konstatiert werden, als dies gemeinhin in der Widerstandsliteratur erkannt wird. In diesem Zusammenhang spielten auch die von den Nationalsozialisten inszenierten Kriminalisierungsversuche eine Rolle, so etwa die Devisenprozesse gegen mehr als hundert Ordens-leute in den Jahren 1935/36. In Österreich war die politische Bedrohung, der sich geistliche Anhänger des christlichen Ständestaates 1938 nach dem Anschluß ausgesetzt sahen, neben der rassischen Verfolgung für viele Anlaß zur Flucht.

Die Zahl der sozialdemokratisch und gewerkschaftlich organisierten Emigranten wurde Ende 1933 auf 3 500 Personen geschätzt; nach Angaben des Hochkommissars des Völkerbunds befanden sich 1935 neben etwa 65 000 rassisch verfolgten Emigranten aus Deutschland 5 000— 6 000 Sozialdemokraten, 6 000 bis 8 000 Kommunisten und fast 5 000 Oppositionelle anderer Richtungen als Flüchtlinge im Ausland. Insgesamt dürfte 1935 das politische Exil zwischen 16 000 und 19 000 Menschen gezählt haben. Dies legt den Schluß nahe, daß neben den etwa 4 000 politischen Flüchtlingen aus dem Saargebiet nach dem Referendum vom Januar 1935 vor allem der zunehmende Erfolg der Gestapo bei der Zerschlagung von Widerstandsgruppen einen wesentlichen Anstieg in den Jahren 1934/35 verursacht hat. Aus dem gleichen Grund wird man von einer relativen numerischen Stagnation des reichs-deutschen politischen Exils in den folgenden Jahren ausgehen können.

Nach dem 12. Februar 1934 gesellten sich zu den politischen Emigranten aus Deutschland mehrere Tausend Verfolgte des österreichischen Ständeregimes, also Aktivisten der verbotenen Linksparteien und der aufgelösten Freien Gewerkschaften Österreichs. Ihre Auslandsorganisationen standen in enger Verbindung mit den illegalen Parteiapparaten in der Heimat. Da die österreichische Polizei bei weitem nicht die Effizienz der Gestapo erreichte, lag der Schwerpunkt ihrer politischen Arbeit bis 1938 weitgehend im Inland. Das autoritäre System wurde neben der Bekämpfung der Linkskräfte und der ebenfalls verbotenen NSDAP zunehmend auch in scharfe weltanschauliche, außen-und wirtschaftspolitische Konflikte mit dem Dritten Reich verwickelt. Nach dem deutschen Einmarsch im März 1938 richtete sich deshalb der Haß der Nationalsozialisten — abgesehen von ihren brutalen Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung — mindestens ebenso gegen die Repräsentanten des Ständestaats wie auf die ehemaligen Arbeiterparteien, mit deren Angehörigen man immerhin die Haft in . Anhaltelagern“ und Gefängnissen geteilt hatte. Der erneuten Flucht von Österreich-Emigranten aus dem „Altreich" und einer unbekannten Zahl einheimischer sozialistischer und kommunistischer Aktivisten schloß sich deshalb auch eine kleine Gruppe konservativer Gegner des Nationalsozialismus an. Christlich-Soziale, Legitimisten und die teilweise schon seit 1934 im Exil lebenden Vertreter der Linken erhoben jetzt gleichermaßen den Anspruch, die eigentlichen Exponenten des österreichischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus zu sein. Diese Konstellation trug wesentlich zur besonderen Zersplitterung des österreichischen Exils bis 1945 bei. In den Asylländern, vor allem ab 1940/41 in Großbritannien und den USA, später in Schweden und in Lateinamerika, kam es zu einer mehr oder minder ausgeprägten Teilung der österreichischen Exilorganisationen in drei Hauptlager: Auf der einen Seite die kommunistische Emigration, die unter konspirativer Beibehaltung der Kaderstruktur Volksfrontpolitik innerhalb von sogenannten Massenorganisationen zu betreiben versuchte; auf der anderen Seite die bürgerlich-ständestaatlichen und legitimistiB sehen Kreise, die der kommunistischen Bündnisstrategie in unterschiedlichem Maß entgegenkamen, und schließlich die sozialistische Emigration, die mit keiner der beiden anderen Richtungen zusammenzuarbeiten bereit war. Ab Herbst 1938 wurde das deutschsprachige Exil schließlich noch durch die politischen Flüchtlinge aus der CSR erweitert. Innerhalb der deutschen Minorität in der Tschechoslowakei war die politische und gesellschaftliche Polarisierung zwischen der Arbeiterbewegung und dem antisozialistischen Lager durch den nationalen Konflikt verschärft worden. Seit dem Ende der 20er Jahre hatte die sudetendeutsche Sozialdemokratie vergeblich die Zusammenarbeit mit den tschechoslowakischen Regierungsparteien zugunsten einer sozialpolitischen Lösung der Minderheitenfrage angestrebt. Im Bewußtsein weiter Teile der deutschen Bevölkerung, die nach 1935 mehr und mehr der irredentistischen Sammlungsbewegung Konrad Henleins zulief, entfernten sich die Sozialdemokraten damit zunehmend von den nationalen Zielen der eigenen Volksgruppe. Aufgrund der weitreichenden Unterstützung, die sie seit 1933 den reichsdeutschen Exilorganisationen in der CSR gewährt hatte, war die sudetendeutsche Arbeiterbewegung darüber hinaus besonderes Verfolgungsobjekt der Geheimen Staatspolizei. So flüchteten bei der Abtretung der Sudetengebiete an das Reich im Herbst 1938 annähernd 30 000 politisch gefährdete Deutsche ins Landesinnere. 4 000— 5 000 Sozialdemokraten, etwa 1 500 Kommunisten und schätzungsweise 150 Mitgliedern und Funktionären der Deutsch-Demokratischen Freiheitspartei gelang anschließend — neben etwa 25 000 verfolgten Juden — die Emigration ins Ausland. Zahlenmäßig stellten damit die Sudetendeutschen das Hauptkontingent der politischen Emigration aus der Tschechoslowakei. Tausende, die keine Auswanderungsmöglichkeit fanden, fielen nach der Errichtung des Protektorats der Gestapo in die Hände oder waren schon vorher von tschechischen Behörden in ihre Heimatorte abgeschoben und so de facto den Na-tionalsozialisten ausgeliefert worden. Mit der Gründung der tschechoslowakischen Exilregierung waren Paris und später London auch die Hauptzentren sudetendeutscher Exilpolitik. Starke sozialdemokratische Gruppen bildeten sich in Norwegen und — nach Kriegsbeginn — in Schweden. Die kommunistische Führung emigrierte in die UdSSR, wo sich zwischenzeitlich auch die Leitungsgremien der übrigen kommunistischen Exilparteien niedergelassen hatten. Im Unterschied zur reichs-deutschen und österreichischen Emigration nach 1933/34 verblieben den sudetendeutschen Gruppen kaum noch Zeit und politisch-geographische Möglichkeiten, mit der Opposition im Land Verbindungen aufzunehmen. Ihre Flucht war vielmehr Teil einer Entwicklung, die zur Bedrohung des europäischen Exils insgesamt führte.

Bis kurz vor Beginn des Kriegs dürften annähernd 30 000 Menschen das Deutsche Reich, Österreich und die deutschsprachigen Teile der Tschechoslowakei aus politischen Gründen verlassen haben. Ihre Mehrheit hat sich über kürzere oder längere Zeit dem Exil zugehörig und seinem Kampf gegen den Nationalsozialismus verpflichtet gefühlt, über 300 000 politische Gegner des NS-Regimes befanden sich im Frühjahr 1939 in deutschen Konzentrationslagern, in Gefängnissen, Zuchthäusern und Untersuchungshaft.

Die Geschichte des deutschsprachigen Exils in den Jahren 1933 bis 1945 ist durch die Vielfalt von Organisationen, ideologischen Richtungen, Bündnissen und geographischen Sonderentwicklungen gekennzeichnet. Nur ein Teil der Geschehnisse ist bisher in der wissenschaftlichen Literatur ausreichend abgehandelt worden. Vieles wird — auch gestützt auf die in Band I des Biographischen Handbuchs erstmals dokumentierten Fakten und Zusammenhänge — durch weitere monographische und regionale Untersuchungen zu erhellen sein, bevor eine Gesamtdarstellung der deutschsprachigen Emigration unternommen werden kann

III. Die Zufluchtsländer

Während sich ein nicht unerheblicher Teil der jüdischen Emigration nach überseeischen Einwanderungsländern mit dem Ziel dauernder Niederlassung wandte, blieb die Mehrheit der politischen Flüchtlinge zunächst in den Anrainerstaaten des Reichs. Für die Parteien und Gruppen waren die möglichst enge Teilnahme an den Entwicklungen in der Heimat und die Verbindung zur Opposition im Lande wesentlicher Teil ihres Selbstverständnisses; darüber hinaus sahen sie in den europäischen Demokratien die tatsächlichen oder potentiellen Verbündeten gegen den Nationalsozialismus und die eigentlichen Zentren der internationalen Politik. Schriftsteller, Publizisten und Journalisten fanden den engen Wirkungskreis des Exils durch eine Leserschaft in den deutschen Sprachgebieten Europas erweitert und auf dem Kontinent am ehesten ein ihnen vertrautes kulturelles Klima. Der Mehrheit der Parteiemigration, also den einfachen Mitgliedern und Arbeiterfunktionären, gebrach es in der Regel an Mitteln, Beziehungen und Weltläufigkeit, um den bedrückenden Lebensumständen des Flüchtlingsdaseins durch Auswanderung nach Ubersee zu entgehen. Vor allem aber erhoffte man — zumindest in den ersten Jahren des Exils — den baldigen Zusammenbruch des Regimes, der die unverzügliche Rückkehr in die Heimat ermöglichen würde.

Zentren des organisierten politischen Exils waren in der Vorkriegszeit Frankreich und die Tschechoslowakei. Ende 1933 hielten sich annähernd 30 000 der insgesamt etwa 65 000 deutschen Emigranten in Frankreich auf; die Größenordnung dieser Emigrantenkolonie scheint — nachdem sie 1935 durch die Saarflüchtlinge auf ca. 35 000 angestiegen war — in den Folgejahren verhältnismäßig konstant geblieben zu sein. Es ist anzunehmen, daß zwischen 7 000 und 10 000 deutsche Emigranten als politische Flüchtlinge nach Frankreich gekommen sind. Dies würde auch mit der bei der Reichsvertretung der Juden in Deutschland registrierten Zahl von annähernd 18 500 jüdischen Frankreich-Auswanderern in etwa korrespondieren. Paris wurde zum geistigen, kulturellen und politischen Mittelpunkt des oppositionellen Deutschlands mit einem Mikrokosmos von Organisationen, Gruppen, Vereinigungen und Diskussionszirkeln, in dem auch Persönlichkeiten des literarischen Lebens und eine hochstehende linksbürgerliche Publizistik wesentlichen Einfluß ausübten. Stärkste politische Kraft war jedoch die Exil-KPD, die mit Unterstützung der französischen Schwesterpartei bis 1935 ihre Auslandsleitung und ab 1936 die Operative Leitung des Politbüros in Paris unterhielt. Etwa die Hälfte der emigrierten deutschen Kommunisten dürfte Mitte der 30er Jahre in Frankreich gelebt haben.

Die Tschechoslowakei war durch die Niederlassung des Parteivorstands der SPD in Prag im Juni 1933 und die Gründung der Auslandsvertretung der deutschen Gewerkschaften in Komotau im Juli 1935 zum Zentrum des sozialdemokratischen Auslandswiderstands geworden. Die weit ins Reich hineinragenden Grenzen der CSR und die Solidarität der sudetendeutschen Arbeiterbewegung boten außerordentlich günstige Voraussetzungen, geheime Kontakte nach Deutschland aufzubauen. Für die österreichische Linke war die Tschechoslowakei zwischen 1934 und 1938 sogar der einzige Nachbarstaat, der bei geeignetem Grenzverlauf die politischen Möglichkeiten zu illegalen Verbindungen in die Heimat bot. Im Mai 1933 etablierte sich in Prag das Zentralkomitee der KPÖ, in Brünn wurde im Februar 1934 das Auslandsbüro österreichischer Sozialdemokraten gegründet. Obwohl vermutlich an die 20 000 Flüchtlinge in der CSR ein erstes Asyl gefunden haben, lag das Land aufgrund der hohen Weiterwanderungsrate an der Peripherie der jüdischen Emigration. Bis 1938 dürften sich auf Dauer weniger als 3 000 jüdische Emigranten neben etwa 1 500 politischen Flüchtlingen in der Tschechoslowakei aufgehalten haben. So gaben die aus Mittel-deutschland, Schlesien, Bayern und Österreich über die nahe Grenze entkommenen Arbeiterfunktionäre dem CSR-Exil im Vergleich zu Frankreich ein eher proletarisches Gepräge.

Obwohl die Behörden hier wie in den anderen europäischen Zufluchtsländern rigoros das Verbot abhängiger Erwerbstätigkeit und unerwünschter Einmischung in die Innenpolitik durchzusetzen suchten, lagen die gegen das nationalsozialistische Regime gerichteten Tätigkeiten der Exilorganisationen durchaus im Interesse der Regierungen in Prag und Paris. Solange es die Kräfteverhältnisse im Innern und auf dem Kontinent zuließen, beantwortete man die Demarchen des Reichs mit dem Hinweis auf die im eigenen Land herrschenden demokratischen Freiheiten oder gab vor, von illegalen Aktivitäten der Emigranten an den Grenzen keine Kenntnis zu haben.

Neben den in der CSR und in Frankreich angesiedelten Auslandsleitungen unterhielten Parteien, Gruppen und Gewerkschaftsorganisationen des Exils Vertretungen, Sekretariate und Grenzstellen in fast allen anderen Nachbarstaaten und bis 1935 in dem unter Völkerbundsverwaltung stehenden Saargebiet. Letzteres bildete allerdings eher ein provisorisches Asyl auf dem Weg nach Frankreich. Zwischen März 1933 und Frühjahr 1934 war für etwa 37 000 Emigranten das Saargebiet erste Station ihrer Flucht. 5 000— 6 000 hatten sich dort vorübergehend niedergelassen, unter ihnen vermutlich 1 500 politische Flüchtlinge. Viele beteiligten sich unter der Devise „Schlagt Hitler an der Saar!" aktiv am Abstimmungskampf gegen die Rückgliederung an ein nationalsozialistisches Deutschland. Zusammen mit oppositionellen Saarländern aus dem sozialistischen, kommunistischen und christlichen Lager wanderten viele reichsdeutsche Flüchtlinge nach dem Referendum vom Januar 1935 nach Frankreich weiter. Auch Österreich war nur ein Transitland der Emigration, das für Angehörige der Links-gruppen spätestens mit dem Februarumsturz von 1934 seine Anziehungskraft verlor; abgesehen von den knapp 2 500 jüdischen Emigranten aus Deutschland, fand lediglich das katholisch-konservative Exil nach der Errichtung des Ständestaats bis 1938 in Österreich einen wichtigen Stützpunkt und offizielle Förderung.

Die Sowjetunion hat — zum Teil im Gegensatz zu Artikel 12 der Verfassung von 1925, der allen Ausländern Asyl zusicherte, die „wegen ihrer Tätigkeit im Dienste der revolutionären Befreiungsbewegung Verfolgungen ausgesetzt sind“ — nur wenige Emigranten aus dem nationalsozialistischen Machtbereich aufgenommen. Daß zwischen 1933 und 1941 lediglich 17 deutsche Juden von der Reichsvertretung als Rußland-Auswanderer registriert werden konnten, dürfte allerdings zum guten Teil auf die geringe Attraktivität der UdSSR als Immigrationsland zurückzuführen sein.

Nach 1938 wurde immerhinrund tausend jüdischen Verfolgten aus Österreich Aufnahme in der Sowjetunion gewährt — angesichts der zunehmend eingeengten Fluchtmöglichkeiten eine vergleichsweise geringe Zahl. Gegenüber den unteren Rängen der kommunistischen Parteiemigration war die sowjetische Aufnahmepraxis gleichermaßen restriktiv: Als Voraussetzung für eine Einreisegenehmigung galt, daß „Todesstrafe oder sehr lange Einkerkerung droht oder die Auslieferungsgefahr unmittelbar besteht und die Sowjetunion die allerletzte Möglichkeit der Asylgewährung darstellt". Das „Vaterland aller Werktätigen“ war also auch für die Linke kein offenes Zufluchtsland. Ausnahmen bildeten lediglich der Zuzug von mehreren Hundert Aktivisten des österreichischen Republikanischen Schutz-bundes, denen die UdSSR nach den Februar-kämpfen von 1934 zusammen mit ihren Angehörigen (insgesamt annähernd tausend Personen) demonstrativ Asyl bot, sowie 1938/39 die Einreisegenehmigung für etwa 200 kommunistische Familien aus der Tschechoslowakei. Der vorübergehende oder dauernde Aufenthalt sympathisierender Intellektueller, Schriftsteller und Künstler orientierte sich an den propagandistischen und kulturpolitischen Eigeninteressen Moskaus und war von der individuellen Einladung durch eine Sowjet-Institution abhängig. Die Stalinschen Säuberungen haben unter den führenden Funktionären der kommunistischen Exilparteien in der UdSSR einen hohen Blutzoll gefordert. Nach 1945 rückten die Heimkehrer aus der Sowjetunion, die durch linienkonformes Verhalten die Säuberungsperiode überlebt und nach 1941 in Partei-, Komintern-und Propaganda-funktionen ihre Loyalität gegenüber dem Sowjetstaat unter Beweis gestellt hatten, in beherrschende Positionen der kommunistischen Parteiapparate ein. Die innerhalb der Exilparteien ausgetragenen Führungskämpfe und ideologischen Konflikte wirkten auch nach Kriegsende fort. So sind den Säuberungen der 50er Jahre in der DDR und der CSSR vor allem ehemalige Angehörige der „Westemigration" zum Opfer gefallen.

Einen besonderen Platz unter den Exilländern nahm auch das republikanische Spanien ein. Für seine Verteidigung im Bürgerkrieg engagierten sich ab Ende 1936 vor allem kommunistische und linkssozialistische Emigranten in zivilen Hilfsfunktionen und als Angehörige der Internationalen Brigaden: Zum einen hatte für sie der bewaffnete Widerstand gegen den Faschismus im Rahmen einer völkerumspannenden Einheitsfront besonderen ideologischen und emotionalen Stellenwert; zum anderen bot sich hier den kommunistischen Exilorganisationen die Möglichkeit, nach weitgehender Lahmlegung der illegalen Arbeit in der Heimat durch die Erfolge der Gestapo eine größere Zahl ihrer einfachen Mitglieder aus den auf Dauer demoralisierenden Notunterkünften und Emigrantenkollektiven der Asyl-länder abzuziehen. Von den vermutlich etwa 5 000 deutschen und österreichischen Angehörigen der Internationalen Brigaden sollen annähernd 2 000 im Bürgerkrieg gefallen sein. Nach der Niederlage der Republik Anfang 1939 ging die Mehrzahl der Spanienkämpfer nach Frankreich, wo sie in der Regel schon beim Grenzübertritt interniert wurden. Ein Teil fand später Anschluß an die Resistance oder die Untergrundorganisationen der kommunistischen Exilparteien in Südfrankreich.

Durch die Annexion der Sudetengebiete im Herbst 1938 und mit der Besetzung der soge-nannten Rest-Tschechei im März 1939 wurden Großbritannien und Schweden, zwei bisher am Rande liegende Aufnahmeländer, zu Zentren der politischen Emigration in Europa. Die Londoner Regierung hatte strikt darauf geachtet, die Zahl der durchreisenden Flüchtlinge aus Deutschland bis 1935 mit etwa 2 500 und dann mit ? 000— 8 000 Transitemigranten konstant zu halten. Aufenthaltsgenehmigungen auf Dauer wurden nur in Ausnahmefällen erteilt. Erst nach den Pogromen der „Reichskristallnacht" und auch als moralische Reaktion auf die Mitverantwortung für das Münchner Abkommen öffnete sich Großbritannien Flüchtlingen ohne gesicherte Weiterwanderungsmöglichkeit. Anfang 1939 wurden neben 16 000 jüdischen Emigranten 4 000 politische Flüchtlinge aus Deutschland, Österreich und aus den Sudetengebieten registriert. 1940 hielten sich über 55 000 deutsche und österreichische Emigranten sowie 8 000 Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei in England auf, bis Ende 1941 haben insgesamt über 32 000 deutsche und 27 000 österreichische Juden Aufnahme gefunden. Durch Weiterwanderung nach Übersee und durch Internierung in Australien und Kanada verringerte sich die Zahl der Deutschen und Österreicher bis 1942 auf etwa 40 000, bis 1943 auf annähernd 25 000. Der Anteil der politischen Flüchtlinge aus Deutschland, Österreich und der CSR dürfte 1940 etwa 5 000 betragen haben. Seine Bedeutung als Exilland erhielt Großbritannien vor allem durch die Niederlassung des sozialdemokratischen Parteivorstands in London Anfang 1941 und durch eine starke Vertretung der sudetendeutschen Arbeiterbewegung.

In Schweden hatten sich bis 1937 angesichts der wenig attraktiven wirtschaftlichen Verhältnisse und besonders auch aufgrund der fremden-, speziell judenfeindlichen Einwanderungspraxis nur etwa 1 500 deutsche Emigranten niedergelassen. Die schwedische Haltung ist auch während der Kriegsjahre unter Hinweis auf die Neutralität im wesentlichen gleichgeblieben. Die meisten der knapp 4 000 nach 1938 eingereisten Emigranten aus Deutschland, Österreich und den Sudetengebieten hatten sich nur deshalb nach Schweden gewandt und waren dort aufgenommen worden, weil das Land für sie die letzte Asylmöglichkeit darstellte. 1943 dürften sich einschließlich der Flüchtlinge aus dem besetzten Dänemark und Norwegen höchstens 5 000 deutschsprachige Emigranten in Schweden aufgehalten haben. Da im Gegensatz zu anderen Aufnahmeländern sich hiervon ein sehr hoher Anteil, vermutlich ein Drittel, aus politischen Flüchtlingen rekrutierte und die Umwelt wenig Integrationsmöglichkeiten bot, wurde das Exil in Schweden durch relativ mitgliederstarke Parteiorganisationen in den städtischen Zentren geprägt. So entstand bei den nichtkommunistischen Gruppen ein breiteres Spektrum an innerparteilicher Diskussion als etwa in Großbritannien, wo nach 1941 in erster Linie die offiziellen Leitungsgremien der Exilparteien das politische Geschehen innerhalb der Emigration bestimmten.

Die Schweiz, das dritte europäische Asylland während des Zweiten Weltkrieges, verhielt sich aufgrund von Wirtschaftsnationalismus und Überfremdungsangst, vor allem aber aus Rücksichtnahme auf ihre außen-und handelspolitischen Beziehungen zu Deutschland ebenfalls außerordentlich zurückhaltend bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Bis 1941 sind lediglich etwas über 1 800 jüdische Emigranten aus dem Reich und knapp 3 500 aus Österreich von der Reichsvertretung mit dem Auswanderungsziel Schweiz registriert worden. Die Zahl der Transitemigranten war freilich um vieles höher: 1938 zählte man bis zu 12 000 und 1939 bis zu 8 000 Emigranten, die auf Weiterwanderung warteten, darunter etwa 5 000 jüdische Flüchtlinge. Insgesamt haben während der Kriegsjahre annähernd 10 000 deutschsprachige Emigranten in der Schweiz gelebt; der Mehrzahl war nur aufgrund mangelnder Ausreisemöglichkeiten vorübergehend Asylrecht eingeräumt worden. Der Bundesrat hatte schon im April 1933 den Emigranten neben der Erwerbsarbeit auch jedwede politische Tätigkeit untersagt Dementsprechend niedrig war mit wenigen Hundert Personen der Anteil des parteipolitisch aktiven Exils. Bis in die zweite Hälfte der 30er Jahre war es einzelnen Gruppen durch streng konspiratives Verhalten gelungen, Verbindungen zum Widerstand in Süd-und Südwestdeutschland zu pflegen. Während des Krieges lag die Bedeutung der Schweiz als Exilland zum einen darin, daß sich hier für Verfolgte aus dem Reichsgebiet und aus dem besetzten Frankreich die letzte Fluchtmöglichkeit in ein Nachbarland bot. Zum anderen konnte man von der Schweiz aus — meist in Zusammenarbeit mit alliierten Geheimdiensten — Kontakte zu oppositionellen Kreisen in der Heimat wieder anknüpfen und in den letzten Kriegsmonaten und während der ersten Besatzungsperiode eine Anzahl von Funktionären und Politikern zur frühestmöglichen Mitarbeit am politischen Neuaufbau nach Deutschland entsenden. Die Vereinigten Staaten waren für die politische Emigration der Vorkriegsjahre aufgrund der besonderen Einwanderungsbedingungen und angesichts der auf ihre Heimat orientierten Bindungen und Interessen der Exilanten als Asylland von geringer Anziehungskraft. Mit der zunehmenden Bedrohung in Europa wandten sich in erster Linie politische Flüchtlinge aus wissenschaftlichen und akademischen Berufen, Schriftsteller, Publizisten und einzelne prominente Politiker vor allem aus dem sozialdemokratischen und bürgerlichen Lager nach den USA. Sie verfügten am ehesten über die Voraussetzungen für ein Non-Quota-Visum bzw. über die persönlichen oder politischen Möglichkeiten zur Beschaffung von Affidavits und Passagegeldern. Soweit sich die Aktivitäten dieser Gruppe während der Kriegsjahre noch im Bereich der Exil-politik bewegten, also nicht nur im Rahmen wissenschaftlicher oder propagandistischer Mitwirkung an den Kriegsanstrengungen der USA, konzentrierten sie sich auf die Weiter-B Verfolgung individueller Positionen der Vorkriegszeit in kleinen Zirkeln von Gleichgesinnten und — wie im Fall der sozialdemokratischen German Labor Delegation — auf die politische und materielle Unterstützung der in den europäischen Asylländern fortgeführten Parteiorganisationen.

Als einziges überseeisches Aufnahmeland beherbergte Mexiko ein organisiertes deutschsprachiges Exil größeren Umfangs und überregionaler Bedeutung. Vor allem emigrierte Kommunisten und Linkssozialisten hatten hier — in der Regel von Frankreich aus — Zuflucht gesucht, da Mexiko neben vertriebenen spanischen Republikanern auch ehemaligen Angehörigen der Internationalen Brigaden ohne Vorbehalt Asyl bot und eine entwickelte einheimische Arbeiterbewegung den Exil-gruppen Unterstützung gewährte. In Lateinamerika dürften sich während des Zweiten Weltkriegs insgesamt mehrere Tausend deutschsprachige politische Emigranten — unter ihnen an die 300 Mitglieder der KPD — aufgehalten haben. Neben Mexiko ist es jedoch nur in einigen wenigen Staaten zu größeren Zusammenschlüssen oder zu nennenswerter publizistischer Aktivität gekommen.

Die Verhältnisse in den Aufenthaltsländern waren von nicht unwesentlichem Einfluß auf die Entwicklung des politischen Exils. Sie wirkten als mehr oder weniger zufällige äußere Faktoren, denn nur in Ausnahmefällen konnte der Flüchtling ganz frei und in Kenntnis der ihn dort erwartenden Umstände ein Asylland wählen; mit dem Herannahen des Krieges wurde für die in Europa lebende Mehrheit der politischen Emigranten die Flucht aus dem nationalsozialistischen Machtbereich in ein beliebiges noch offenes Land zur Überlebensfrage. Schon die fremdenrechtliche Praxis entschied weitgehend über Art, Umfang und Dauerhaftigkeit des politischen Engagements. So war das Verbot der Erwerbstätigkeit zum Beispiel eher geeignet, den Zusammenhalt von Parteimitgliedern in städtischen Zentren und die Bewahrung eigenständiger politischer Lebensformen zu fördern als etwa der faktische Arbeitszwang im kriegführenden Großbritannien mit der damit verbundenen Verteilung der Emigranten auf die Produktionsstätten im Lande. Politisches Betätigungsverbot und Internierung wie in der Schweiz konnten zwar ein offenes Organisationsleben unterbinden, stärkten andererseits aber den persönlichen Zusammenhalt von Gleichgesinnten, ihre Loyalität gegenüber der eigenen Vergangenheit und die Bereitschaft zu künftiger Aktivität. Auch die politische Kultur des Aufnahmelands, vor allem die Existenz einer der eigenen Tradition verwandten Arbeiterbewegung, die den Flüchtling als Angehörigen einer Bruderpartei respektierte und von ihm die Fortsetzung des Kampfes gegen den Faschismus erwartete, gehörte zu den entscheidenden Faktoren für die Aufrechterhaltung der politischen Identität im Exil. Wo wirtschaftliche und gesellschaftliche Integrationschancen, geographische Distanz zum Herkunftsland und zivilisatorisch-kulturelle Assimilierungsmöglichkeiten zusammentrafen, also in den englischsprachigen Einwanderungsgebieten in Übersee, mußte mit fortschreitenden Jahren die personelle Auflösung des politischen Exils einsetzen.

Es wird geschätzt, daß sich höchstens vier Prozent der emigrierten Juden wieder in West-Berlin und in der Bundesrepublik niedergelassen haben. Die Anzahl der Rückkehrer unter den etwa 30 000 ursprünglich aus politischen Gründen Geflüchteten ist nicht verläßlich zu bestimmen. Sie könnte als Indikator dafür dienen, inwieweit das Exil seinen Charakter als Teil der Volksopposition gegen den Nationalsozialismus über die Funktionärskader der Auslandsorganisationen hinaus trotz langer Kriegsjahre und weltweiter Zerstreuung bewahrt hat. Von den annähernd 2 150 in Band I des Biographischen Handbuchs aufgenommenen politischen Emigranten sind ca. 280 (13 v. H.) vor 1945 bei illegalen Missionen ins Reich oder in den besetzten Ländern der Gestapo in die Hände gefallen; ein Teil hat Gefängnis-und Lagerhaft überlebt. Nur etwa 30 gingen vor Kriegsende — meist schon 1933/34 und nach der Besetzung Westeuropas — freiwillig nach Deutschland zurück. Annähernd 200 (9v. H.) starben vor 1945 im Ausland. Knapp 1 000 (46 v. H.) sind nach 1945 in ihre Heimatländer zurückgekehrt — bei Herkunft aus den ehemaligen Ostgebieten und der Tschechoslowakei meist in die deutschen Nachkriegsstaaten oder nach Österreich. Natürlich kann dieser unerwartet hohe Anteil von Rückkehrern nicht ohne weiteres auf das gesamte deutschsprachige Exil übertragen werden. Er erlaubt aber die Annahme, daß ein beträchtlicher Teil des Exils an seinem politischen Selbstverständnis festgehalten hat. Darüber hinaus sind manche der in den Emigrationsländern verbliebenen Flüchtlinge durch Beibehaltung bzw. Wiedererwerb der alten Staatsbürgerschaft zu Ausländsdeutschen oder Auslandsösterreichern geworden, die oft wesentlich zur Wiederanknüpfung politischer, wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen in ihren Niederlassungsländern beigetragen haben.

IV. „Für Deutschland — gegen Hitler": Exil und Widerstand

In der Vorkriegsperiode sahen die politischen Exilorganisationen ihre Hauptaufgabe in folgenden Bereichen: Zum einen in der Unterstützung, Anleitung und Außenvertretung illegaler Gruppen in der Heimat, zum anderen in der Beeinflussung der öffentlichen Meinung und der Politik des Auslands; schließlich bemühte man sich um Wahrnehmung der sozialen, rechtlichen und politischen Interessen der emigrierten Mitglieder sowie um Hilfe für inhaftierte Anhänger und deren Familien in der Heimat. Mit den letztgenannten Anstrengungen und in dem Ziel, dem Nationalsozialismus durch Aufklärung und politische Aktionen größtmöglichen Schaden im Ausland zuzufügen, bewegten sich die Exilorganisationen und die Verbände der jüdischen Emigration teilweise auf gleichem Terrain. „Mit dem Gesicht nach Deutschland" standen jedoch — soweit es eigene Zukunftsperspektiven betraf — lediglich solche Emigrantengemeinschaften, die sich zu Recht oder zu Unrecht als der freie Arm der in der Heimat geknebelten, die wahren Interessen des Volkes vertretenden Parteien und politischen Richtungen verstanden: also in erster Linie die traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung und ihre dissidierenden, oft erst im Exil entstandenen Sondergruppen; daneben die direkten oder sich auf deren Tradition berufenden Nachfolger der bürgerlich-liberalen Parteien sowie die Vertreter all jener konservativen, ständestaatlich-autoritären und neonationalistischen Strömungen, die trotz gewisser historisch-ideologischer Affinität zum Nationalsozialismus im NS-Regime den Verrat an ihren politischen, gesellschaftlichen und moralischen Wertvorstellungen sahen.

Bei allen Exilorganisationen stand zunächst der Kontakt zum Widerstand im Inland an erster Stelle der Bemühungen. Dem gemeinsamen Bewußtsein, Sprecher des inneren Widerstands und somit Repräsentanten der eigentlichen Volksinteressen zu sein, wurden in der Praxis am ehesten die Exilvertretungen der alten Arbeiterbewegung und die von ihnen abgespaltenen Linksgruppen gerecht: Die einen aufgrund ihrer tatsächlichen Anhängerschaft in der Heimat und mit Hilfe parteiähnlicher Organisationen, die sich auf gerettete Verbandsgelder und Zuwendungen aus ausländischen Quellen stützen konnten; die Splitter-gruppen dank ihrer frühzeitigen Vorbereitung auf Konspiration und Illegalität, die ihnen nun eine relativ erfolgreiche Zusammenarbeit mit Gesinnungsfreunden in der Heimat ermöglichte. Mit Hilfe besoldeter Grenzfunktionäre in der CSR, in Dänemark, den Niederlanden, in Belgien, Luxemburg, Frankreich und in beschränktem Maße auch von Polen, Österreich und der Schweiz aus versuchte man, Informations-und Propagandamaterial in Umlauf zu bringen oder an illegale Gruppen zur weiteren Verbreitung zu liefern. Kuriere und Instrukteure bemühten sich um ständige Verbindungen zu den Widerstandskreisen im Inland, um den Aufbau neuer Organisationen und um vertrauliche Nachrichten über politische und wirtschaftliche Entwicklungen. Abgesehen vom erhofften Aufklärungseffekt und einer direkten Verunsicherung des Regimes mußten die Exilgruppen darauf bedacht sein, sich in der Heimat durch illegale Organisations-und Propagandatätigkeit Kader zu erhalten und gegenüber der Bevölkerung das eigene Fortbestehen als politische Kraft unter Beweis zu stellen. Die Legitimierung durch Untergrundaktivitäten war schließlich auch wesentliches Argument in den politischen und ideologischen Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Parteien im Exil und bei ihren intern konkurrierenden Richtungen und Führungsgruppen. Die kommunistischen Parteien hatten darüber hinaus den einschlägigen Direktiven der Komintern zu folgen; bei der KPD führte die in der Illegalität zunächst noch fortgesetzte „revolutionäre Massenarbeit" zu besonders hohen Verlusten. Presse, öffentliche Meinung und die befreundeten Parteien des Auslands neigten dazu, die Bedeutung und den Vertretungsanspruch der Exilörganisationen — d. h. auch ihre politische, publizistische und materielle Unterstützung — von Verbindungen zu oppositionellen Kräften in der Heimat abhängig zu machen. Exilgruppen, die dazu aufgrund ihrer politischen Basis und ihrer finanziellen Möglichkeiten nicht eigentlich in der Lage waren, strebten zumindest nach dem Anschein enger Beziehungen zum inneren Widerstand. Ihre oft dilettantischen Organisationsversuche führten ebenso wie das illusionäre Bestreben der großen Exil-parteien, ein totalitäres System innenpolitisch mit den Mitteln der Schriftenpropaganda zu bekämpfen, nicht selten zur Gefährdung von Anhängern in der Heimat und der zu ihrer Hilfe entsandten Beauftragten. Der Wettbewerb um die Legitimierung der Exilorganisationen als Hauptvertreter der Opposition trug wesentlich zu der scharfen Fraktionierung der politischen Emigration und zur Schaffung jener menschlichen und moralischen Problematik bei, die Politik im Exil seit jeher begleitet.

Keine der Exilgruppen hat den vereinzelt geforderten Versuch unternommen, mit Attenta-B ten und Sabotage die Konsolidierung des Regimes möglicherweise wirksamer zu stören — nicht zuletzt aufgrund der Einsicht, daß Rückkehr und politische Zukunft nicht nur von ihren jeweiligen Parteigängern, sondern viel mehr noch von jener Mehrheit abhängen würden, die dem Regime im besten Fall mit kritischen Vorbehalten gegenüberstand und nicht durch die Anwendung von „Gegengewalt'1 in ihrer Furcht vor Anarchie und sozialem Umsturz bestärkt werden durfte. Innerhalb der Exil-SPD erwartete man zudem das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft am ehesten von einer Aktion aus Kreisen der Reichswehr in Verbindung mit traditionellen Ordnungskräften, also Teilen der konservativen Beamtenschaft und der Kirchen: Eine solche Entwicklung durch politische Aufklärungsarbeit im Inland und durch eine internationale Isolierung des NS-Regimes zu fördern, konnte als der eigentliche Beitrag zum Sturz Hitlers gelten. Insgesamt haben die Exilparteien — abgesehen von der grundsätzlichen Loyalität der Kommunisten gegenüber der Sowjetunion — in der Regel strikt darauf geachtet, sich in der Zusammenarbeit mit Regierungsstellen und besonders bei Kontakten zu zivilen und militärischen Geheimdiensten der Asylländer an den eigenen politischen Interessen zu orientieren. Auch nach Kriegsbeginn stand bei ihnen das Bestreben im Mittelpunkt, zwischen wirksamer Bekämpfung des Nationalsozialismus, politisch-ideologischen Grundpositionen und berechtigten Belangen der eigenen Nation im Hinblick auf eine spätere Rechtfertigungspflicht sorgfältig abzuwägen.

Das Scheitern der Widerstandsbewegungen und die Niederwerfung des Nationalsozialismus allein durch auswärtige Mächte waren geeignet, Tätigkeit und Wirkung auch der politischen Emigration als historisch irrelevant erscheinen zu lassen. In der Tat erwiesen sich die Mittel und Methoden des Widerstands dem nationalsozialistischen Herrschaftsapparat nicht gewachsen, Erwartungen und Zielsetzungen von Exil und innerem Widerstand meist als illusionär. Auf weite Strecken könnten deshalb Strategien und Aktionen der Opposition aus heutiger Sicht eher als Resultat ideologisch bedingter Fehleinschätzungen oder als Mittel zur Verfolgung parteipolitischer Sonderinteressen und nicht als verantwortbare Versuche zum Sturz der Diktatur gewertet werden. Für die damals Handelnden war jedoch die Fortführung des Kampfes gegen das Regime ein zentrales Element ihrer persönlichen Identität, die ja unter den Bedingungen des Exils vor allem durch den „politischen Auftrag" geprägt wurde. Die Frage nach der Wirksamkeit ihres opferreichen Bemühens kann nicht ausschlaggebender Maßstab sein. Der Widerstand in Illegalität und Exil gehört vielmehr zur Geschichte demokratischer Insurrektionen im deutschsprachigen Mitteleuropa und verdient es somit um so mehr, als Teil der jüngsten deutschen und österreichischen Nationalgeschichte rezipiert zu werden.

Eine vermutlich größere Beeinträchtigung nationalsozialistischer Interessen bewirkte die „Offensive der Wahrheit", also der publizistische Kampf gegen das Regime im Ausland. Obwohl er im Verständnis der Exilorganisationen der illegalen politischen Arbeit in der Heimat untergeordnet war, bildete er in der Tat die Hauptaktivität der Gruppen. Weit über 400 Zeitungen, Zeitschriften, Nachrichtendienste, Rundbriefe und Bulletins konnten bisher allein für die reichsdeutsche Emigration namhaft gemacht werden, in ihrer Mehrheit Kampfblätter der Parteien und ideologischen Richtungen. Nur zum Teil waren sie lediglich für die interne Diskussion und zur illegalen Verbreitung in der Heimat bestimmt. Die wichtigsten Periodika, oftmals Fortsetzungen der ehemaligen Parteiorgane oder von reputierten politisch-kulturellen Zeitschriften, erreichten neben einem deutschsprachigen Publikum in der Tschechoslowakei, in Polen, in der Schweiz, im Saargebiet und in Österreich auch Politiker, Behörden und Redaktionen des Auslands. Pressedienste, Verlautbarungen, Rednerauftritte, die Beiträge emigrierter Journalisten in Presse und Rundfunk der Asylländer, Buchveröffentlichungen prominenter Politiker und bekannter Autoren sowie Erlebnis-berichte von Verfolgten trugen des weiteren dazu bei, daß sich die Emigration auf dem Gebiet der internationalen Meinungsbildung zu einem ernst genommenen Gegner entwickeln konnte.

Wenn auch die Wirkung der Exilpolitik auf die Entwicklung in der Heimat und die Haltung des Auslands letztlich gering geblieben ist und ihr Einfluß auf die der Öffentlichkeit in den Asylländern sich nicht mehr messen läßt, so bezeugen doch die intensiven Abwehrmaßnahmen, daß das Dritte Reich zumindest die potentielle Gefährdung seiner Ziele durch die politische Emigration recht hoch eingeschätzt hat.

Die schon im Mai 1933 angeordnete listenmäßige Erfassung der politischen Emigranten führte zu einer detaillierten Datensammlung im Reichssicherheitshauptamt, die durch systematische Ausspähung mit Hilfe der diplomatischen Vertretungen, der NSDAP-Auslandsorganisation, von Gestapo-Agenten und nebenberuflichen „V-Männern" bis Kriegs-15 ende laufend ergänzt worden ist. Infiltrationsund Bestechungsversuche, Entführungs-und Mordaktionen jenseits der Grenzen, gezielte Gegenpropaganda, diplomatische Interventionen und auch die kollegiale Zusammenarbeit der Gestapo mit Polizei-und Ausländerbehörden der Asylstaaten sollten den Aktivitäten des Exils die personellen, materiellen und politischen Grundlagen entziehen. Eine besondere Wirkung erhoffte man sich von dem 14. Juli 1933 erlassenen Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und über die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft, auf dessen Grundlage bis in die letzten Kriegsmonate hinein annähernd 40 000 Personen namentlich zu Staatenlosen erklärt wurden. Es richtete sich zunächst ausschließlich gegen emigrierte politische Gegner; erst ab 1937 wurden zunehmend auch jüdische Flüchtlinge von der Ausbürgerung betroffen. Bis April 1939 wurden aufgrund der Recherchen von Gestapo und Auswärtigem Amt etwa 9 000 Emigranten der relativen Mobilität beraubt, die ihnen ein gültiger deutscher Reisepaß gewährt hätte. Die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 verfügte schließlich die kollektive Ausbürgerung der jüdischen Emigranten und schloß so auch die letzten Lücken in einem System der archaischen Ächtung durch Expatriation.

Die Tätigkeit der Auslandsgruppen wurde schon ab 1935/36 durch die Zerschlagung von Widerstandskreisen in Deutschland zunehmend behindert, da damit nicht nur die Möglichkeiten für die Inlandpropaganda abnahmen, sondern auch die Berichterstattung über den Nationalsozialismus an Detailkenntnis und Authentizität verlieren mußte. Ab 1937 schränkte die Prager Regierung unter massivem deutschen Druck die Bewegungsfreiheit der politischen Emigration in der CSR mehr und mehr ein. Die Besetzung Österreichs und der Tschechoslowakei und der Schock der „Reichskristallnacht" verstärkten den Druck der Zuflucht suchenden Emigranten auf die wenigen verbliebenen Asylländer Kontinentaleuropas, die sich zudem einer wachsenden Bedrohung durch die deutsche Expansionsmacht ausgesetzt sahen. Die damit Hand in Hand gehende Einengung des fremdenrechtlichen Spielraums für die Exilparteien und die Appeasementtendenzen der europäischen Staaten trafen sich mit der schwindenden finanziellen Basis der nichtkommunistischen Gruppen und dem Tiefpunkt der organisierten Opposition im Reich. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom August 1939 lähmte schließlich auch die kommunistischen Exilorganisationen.

Mit dem deutschen Angriff im Westen erreichte die Krisenphase der politischen Emigration zwischen 1938 und 1941 ihren Höhepunkt: Zum Betätigungsverbot und zur organisatorischen Auflösung durch die Flucht der Emigranten aus den westeuropäischen Hauptstädten oder die Weiterwanderung nach Über-see kamen Zwangsverschickung, Internierung und — wie in Frankreich — Dienstverpflichtung in Arbeitskompanien der Armee. In den Jahren 1939 bis 1941 wurden 18 000— 20 000 deutschsprachige Emigranten in über 100 französischen Internierungslagern festgesetzt Familienangehörige, Entlassene und Entflohene versammelten sich im Süden Frankreichs in der Hoffnung auf Ausreisemöglichkeit. Die Parteien und Gruppen des Exils konzentrierten sich in dieser Zeit auf Hilfsmaßnahmen für bedrohte Mitglieder durch Beschaffung von Einreisegenehmigungen vor allem nach Großbritannien und Übersee. 1940/41 konnten z. B. fast 1 000 sozialdemokratische Flüchtlinge mit Unterstützung amerikanischer Gewerkschaftsorganisationen aus Frankreich gerettet werden; 1942 dürften sich noch etwa 500 deutsche und österreichische Sozialisten ohne Ausreisevisum dort aufgehalten haben. Manche der auf dem Kontinent zurückgebliebenen Emigranten fanden schließlich illegalen Unterschlupf in den besetzten Ländern, konnten ihre Identität dauerhaft tarnen oder schlossen sich später einheimischen Widerstandsbewegungen an. Einige versuchten, trotz gesperrter Grenzen und des Risikos einer Abschiebung die nahe Schweiz zu erreichen; andere wählten — oft mit Sichtvermerken zweifelhaften Werts und mit Hilfe obskurer Schiffahrtsunternehmen — den Weg zu afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Zielhäfen. Unbekannt ist die Zahl derer, die in den Internierungslagern aufgrund mangelhafter Lebensbedingungen umgekommen, von der Gestapo aufgegriffen oder von kollaborierenden einheimischen Behörden an die deutsche Besatzungsmacht ausgeliefert worden sind. Erst mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion und dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg begann für das deutschsprachige Exil nach der organisatorischen Auflösung und der politischen Desorientierung der Jahre 1938 bis 1941 eine neue Phase der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Die Zentren der politischen Emigration hatten sich zwischenzeitlich nach England, Schweden, in die Schweiz und bei den kommunistischen Parteien in die Sowjetunion verlagert. Daneben bestanden kleinere Gruppen, Kreise und Parteizirkel — oft um Zeitschriften oder um einzelne prominente Persönlichkeiten geB schart — in fast allen überseeischen Ländern. Die geographische Verstreuung der Anhängerschaft stellte das organisierte Exil nicht nur vor das Problem, die alten Verbindungen über entfernte Grenzen und in Kriegszeiten aufrechtzuerhalten; die entmutigenden politischen Entwicklungen, die Mühsale eines permanenten Emigrantendaseins und die neuen Integrationsmöglichkeiten in den überseeischen Einwanderungsländern trugen auch wesentlich zur zahlenmäßigen Schrumpfung des Exils bei. Viele politische Flüchtlinge gaben mit den Jahren das Selbstverständnis des nach der Heimat orientierten Exilanten zugunsten einer neuen Identität als Einwanderer auf, die ihnen in der Regel eher die Energie zur Gründung einer erträglichen materiellen Existenz und die psychischen Voraussetzungen für ein Sichlösen von den politischen und moralischen Verstrickungen des Herkunftslandes geben konnte. Darüber hinaus war besonders außerhalb großstädtischer Emigrantenkolonien die Befürchtung weit verbreitet, durch politische Betätigung bei den Behörden des Gastlandes unangenehm aufzufallen bzw. mit einer offenen Stellungnahme auch für die freiheitlichen Kräfte in der Heimat vom steigenden Haß der Umwelt gegen den nationalsozialistischen Kriegsgegner betroffen zu sein. Die Parteien und Gruppen des Exils reduzierten sich zwar nicht zu „Generälen ohne Armee", das erschwerte Festhalten an politischen Zielen und kulturellen Werten führte jedoch das organisierte Exil durch einen Ausleseprozeß, der hohe Anforderungen an das nationale Identitätsbewußtsein des einzelnen stellte. Unter den politischen Flüchtlingen jüdischer Herkunft waren es in erster Linie die Anhänger der sozialistischen und kommunistischen Parteien, die auch in dieser letzten Phase trotz zunehmender Kenntnis des Genozids an ihren alten Bindungen festzuhalten vermochten.

Im Unterschied zur ersten Periode des Exils von 1933 bis 1938 konzentrierten sich die nichtkommunistischen Parteien und Gruppen während des Zweiten Weltkriegs fast ausschließlich auf den Versuch, durch ihre Publizistik sowie mit Hilfe direkter Kontakte zu Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und zu politischen Kreisen das Meinungsbild in den Gastländern zu beeinflussen. Hatten hierbei in der Vorkriegszeit noch die Aufklärung über die Verbrechen des Nationalsozialismus und die Forderung nach einer kompromißlosen Haltung der Demokratien im Vordergrund gestanden, so überwogen nunmehr die Propagierung des „Anderen Deutschlands" und die Fragen einer künftigen Nachkriegs-ordnung in Europa. Mit ihren Zukunftsprogrammen beschäftigten sich die Exilgruppen mehr und mehr im Rahmen interner Diskussionen und Planungsarbeiten. Die einst so rege publizistische Tätigkeit war durch die äußeren Umstände empfindlich eingeschränkt worden. Lediglich in einigen lateinamerikanischen Ländern konnten sich parteinahe Exil-zeitschriften und Buchverlage in der Kriegs-zeit halten; in den USA verlagerte sich die öffentliche Diskussion in die Spalten deutschsprachiger Emigrantenzeitungen, während in den übrigen Asylländern meist hektographierte, auflagenschwache Informationsblätter die Funktion von Partei-und Gruppenorganen übernehmen mußten. Finanziell hielten sich die verbliebenen, mitunter personell auf England, Skandinavien, Nord-und Südamerika verteilten „Auslandsleitungen“ durch die bescheidenen Beiträge der Gruppenmitglieder und durch Zuwendungen befreundeter Organisationen der Asylländer mehr schlecht als recht über Wasser.

Sieht man von der Schweiz und von Schweden ab, die allerdings „illegale“ Aktionen gegen das Dritte Reich als Verletzung ihrer Neutralität strafrechtlich verfolgten, war ein direkter Kampf gegen den Nationalsozialismus in der Regel nur im Rahmen der alliierten Kriegsanstrengungen möglich. So haben einzelne Mitglieder und Funktionäre der Exilparteien und eine Reihe ihnen nahestehender Intellektueller und politischer Publizisten ihren persönlichen Beitrag zur Niederwerfung des NS-Regimes als Mitarbeiter von Propagandaeinrichtungen, als Berater bei kriegswichtigen Behörden oder im Dienst der alliierten Streitkräfte zu leisten versucht. Die Exilvertreter der demokratischen Parteien und der Freien Gewerkschaften sahen sich dagegen gehalten, eine organisierte Zusammenarbeit mit den militärischen Gegnern Hitlers von einem Mindestmaß politischer Übereinstimmung bzw. autonomen Handlungsspielraums abhängig zu machen. Da Amerikaner, Briten und die tschechoslowakische Exilregierung aus grundsätzlichen Erwägungen eine auch nur einigermaßen selbstbestimmte Mitwirkung deutscher Organisationen als Verbündete im Kampf gegen das Dritte Reich ablehnten, waren deren Aktionsmöglichkeiten äußerst begrenzt. Lediglich in einigen Fällen ist es zur Ausstrahlung von Rundfunkbotschaften der Exilparteien, zur Verwendung ihrer Flugblatt-Texte oder zur Überlassung von Informationsmaterial an alliierte Behörden gekommen. Gegen Kriegsende haben einzelne Gruppen die Gelegenheit benutzt, in Verbindung mit den militärischen Nachrichtendiensten Kuriere hinter den deutschen Linien einzusetzen; neben der Berichterstattung an die Alliierten sollten sie vor allem die eigenen politischen Leitsätze un-17 ter den Kadern in der Heimat bekannt machen und durch schnellstmöglichen Wiederaufbau ihrer Organisationen Einfluß auf die künftige Entwicklung sichern. Darüber hinaus gab es vereinzelte Pläne, innerhalb der alliierten Streitkräfte Emigranten-Einheiten zu bilden oder gar selbständige „freideutsche" Verbände aufzustellen. Sie gingen ebenso wie Versuche zur Schaffung einer Exilregierung oder einer offiziellen Gesamtvertretung der deutschen Opposition in der Regel von konservativen Kreisen aus und scheiterten schon an der grundsätzlichen Weigerung der Westmächte, ihre Kriegsziele durch die Anerkennung eines „Anderen Deutschlands" auch nur in Teilen festlegen zu lassen. Einen Sonderfall bildet hier lediglich die österreichische Emigration: Zwar blieb der Versuch erfolglos, nach dem Kriegseintritt der USA unter legitimistischen Vorzeichen ein österreichisches Bataillon innerhalb der US-Armee aufzustellen; als jedoch die Moskauer Deklaration vom Oktober 1943 die Wiederherstellung Österreichs zum Kriegsziel erklärt, seine Behandlung aber von dem Beitrag abhängig gemacht hatte, den das Land zu seiner eigenen Befreiung leisten würde, entstanden Ende 1944/Anfang 1945 auf Initiative von Vertretern der KPÖ innerhalb der jugoslawischen Volksbefreiungsarmee in Serbien und Slowenien fünf österreichische Bataillone als offizielle Einheiten auf alliierter Seite. Allerdings kam nur ein Bataillon vor Kriegsende zum militärischen Einsatz. Abgesehen von den ausländischen Kampfgruppen des französischen und belgischen Maquis, denen sich auch deutsche und österreichische Emigranten anschlossen, war dies der einzige relativ eigenständige Beitrag des politischen Exils zur bewaffneten Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich.

Die Loyalität gegenüber der Sowjetunion bestimmte während des Krieges noch deutlicher als zuvor die Situation der kommunistischen Exilparteien. Zwischen dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt und dem Überfall auf die Sowjetunion waren sie innerhalb der politischen Emigration völlig isoliert und galten in den westlichen Asylländern als Werkzeug der Achse Berlin-Moskau. Ihre Aktivitäten richteten sich vor allem auf die Hilfe für internierte Mitglieder. Auch nach 1941 behielten sie zumeist ihre konspirative Organisationsform bei und traten als Parteiapparate kaum noch an die Öffentlichkeit. Die wesentliche Aufgabe lag nunmehr darin, im Rahmen von Hilfs-und Kulturverbänden und ab 1943 in „demokratischen Blockorganisationen" politische und nichtorganisierte Emigranten für eine gemeinsame Front zu gewinnen; diese Vereinigungen dienten in der Regel auch als Plattform für die propagandistische Arbeit der kommunistischen Exilparteien im Westen. Für die in der UdSSR etablierten zentralen KP-Führungen schien sich nach dem Ende der „imperialistischen Phase" des Krieges dagegen in der Tat die Perspektive einer weitreichenden Exilpolitik zu eröffnen. Im Bereich der Rundfunk-und Frontpropaganda, in der Roten Armee, in der sowjetischen Verwaltung und in den Einrichtungen der Komintern haben Emigranten zum Teil in maßgeblicher Position gewirkt; die Gründung des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ im Jahr 1943 konnte schließlich gar als Ausgangspunkt für eine anerkannte politische Gesamtvertretung der deutschen Opposition verstanden werden. Die weitere Entwicklung bewies jedoch, daß sich die kommunistischen Exilparteien in der UdSSR zwar voll als Verbündete der KPdSU und des Sowjetstaats begreifen durften, aber ebenso von den wechselnden Interessenlagen Moskaus abhängig und damit letztendlich Instrumente seiner Mitteleuropa-Politik waren. Mit der Festlegung der Sowjetunion auf eine Zerstückelung des Deutschen Reichs und den sogenannten Bevölkerungstransfer ergab sich ab 1944 außerhalb der UdSSR eine neue und endgültige Isolierung der Exil-KPD, recht eigentlich ihr Ausscheiden aus der politischen Emigration, die sich insgesamt ja als Vertretung deutscher Volksinteressen begriff.

V. Zwischen Volksfront und „demokratischem Patriotismus"

Die Diskussionen, Konflikte und theoretisch-ideologischen Überlegungen innerhalb der politischen Emigration hatten sich zunächst der Frage nach den Gründen für das Scheitern der eigenen Bewegung in der Heimat zugewandt. Mit Ausnahme der kommunistischen Parteien, die auch hier der Komintern-Linie verpflichtet waren und den Sieg der Reaktion 1933/34 als weiteren Schritt der kapitalistischen Gesellschaft in ihre unvermeidbare Krise begriffen, führte die Niederlage zur Selbstkritik an den politischen Strategien seit dem Ersten Weltkrieg und damit auch an den ideologischen Theoremen dieser Periode. Unmittelbare Folgen waren in der Regel eine Rückwendung zu linken Traditionen des politischen Denkens und radikale Forderungen an eine künftige Innen-, Wirtschafts-, Sozial-und Kulturpolitik. Freilich ist dieser Wandel bei den Auslandsleitungen der alten Parteien auch durch das Konkurrenzverhältnis zu linken Oppositionsgruppen stark gefördert worden, die ihren Standpunkt durch den Gang der Geschichte voll gerechtfertigt sahen.

Dieser ersten Reaktion schlossen sich jedoch bald schon Versuche an, durch Faschismus-Analysen die politischen Entwicklungen des zurückliegenden Jahrzehnts unter Anwendung sozialwissenschaftlicher und ideengeschichtlicher Methoden zu reflektieren. Die Besinnung auf die „objektiven Faktoren" für das Aufkommen und den Sieg des Faschismus förderte die ideologische Stabilisierung der Parteileitungen und ihre Rückkehr zu den grundsätzlichen Zielvorstellungen und politischen Mitteln der Vor-Exilzeit. Zu den weiterführenden Ergebnissen der historischen Aufarbeitung gehörte jedoch in fast allen Lagern des Exils die Erkenntnis, daß der Sieg der Diktatur wesentlich und zwangsläufig auf die soziale Isolierung der eigenen Bewegung zurückzuführen sei. Abgesehen von linken Splittergruppen, deren Hoffnung auf eine Einheitsfront der Arbeiterbewegung erst durch den deutsch-sowjetischen Pakt ganz zerschlagen wurde, gingen die Exilparteien davon aus, daß ihre künftige Politik auf einem Bündnis mit anderen Gesellschaftsschichten aufgebaut werden müsse.

Beeindruckt von den inneren Erfolgen des Nationalsozialismus, sahen Teile der reichsdeutschen und der sudetendeutschen Sozialdemokratie einen Bündnispartner in jenen Volksschichten, die — wie Kleinbürgertum und Bauernschaft — den Anschluß an die moderne Industriegesellschaft sozial, wirtschaftlich und bewußtseinsmäßig nicht oder nur mangelhaft vollzogen hatten und aufgrund des exklusiven Klassencharakters der alten Arbeiterbewegung dem Faschismus als scheinbare Massen-basis dienten: Sie sollten für einen national ausgerichteten, berufsständisch gegliederten und die christliche Sozialethik einbeziehenden Sozialismus gewonnen werden, in dessen Rahmen die organisierte Arbeiterschaft ihre bisherige Außenseiterposition innerhalb der Volksgemeinschaft würde überwinden können. Im Gegensatz dazu fand die Mehrheit des politischen Exils zu der Schlußfolgerung, daß lediglich durch das Zusammenwirken der freiheitlichen Arbeiterbewegung mit dem demokratisch gesinnten Teil des Bürgertums die Verwirklichung einer zeitgemäßen Sozialordnung möglich sein werde. In fast allen Lagern ging man davon aus, daß Privat-und Staatskapitalismus durch die ökonomischen und politischen Erfahrungen der 30er Jahre und die Instrumentalisierung der Wirtschaft für die Kriegspolitik des Dritten Reiches endgültig diskreditiert worden waren. An ihre Stelle müsse eine sozialistische Planwirtschaft treten, die ihre Produktionsziele am Konsumbedürfnis der Mehrheit ausrichten würde; Werktätigen und Verbrauchern sollte dabei durch ein wirtschafts-und rätedemokratisches Verfahren weitgehende Mitbestimmung garantiert werden. Während die Linksgruppen zunächst noch forderten, diese Neuordnung gegebenenfalls auch mit den Mitteln einer revolutionären Kampfpartei zu verwirklichen, sahen die Sozialdemokraten ihre Aufgabe darin, die Mehrheit im Rahmen einer pluralistischen Demokratie von dieser Politik zu überzeugen. Um so mehr schien es geboten, das Wiedererstehen rigider klassenmäßiger Parteischranken zu verhindern, die eine Gewinnung anderer Bevölkerungsgruppen und damit den erstrebten politischen Grundkonsens der Gesamtnation gefährden würden. Zweifellos umfassen diese Überlegungen bereits wesentliche Elemente des Volkspartei-Verständnisses der sozialistischen und christlich-sozialen Nachkriegsparteien und des historischen Ausgleichs zwischen der österreichischen Arbeiterbewegung und den ehemaligen Trägern des Ständestaats. Die Schaffung von Einheitsgewerkschaften nach 1945 dürfte von ihnen sogar unmittelbar beeinflußt worden sein.

Die Möglichkeit zur Einbeziehung der Kommunisten in eine demokratische Bündnispolitik eröffnete sich erst nach dem 7. Weltkongreß der Komintern vom Sommer 1935. Anstelle des bisherigen „ultralinken" Kurses forderten die kommunistischen Parteien nun die Einheitsfront der Arbeiterbewegung und eine Volksfront aller Hitlergegner. Es zeigte sich jedoch bald, daß die nur taktische Annäherung der KPD an parlamentarisch-demokratische Prinzipien ohne ein glaubwürdiges Abgehen vom Ziel der Diktatur des Proletariats den Gegensatz zur Sozialdemokratie nicht überbrükken konnte. Die zeitweilige Kooperation zwischen Vertretern der KPD und einzelnen bürgerlichen und sozialdemokratischen Exilpolitikern — so vor allem in Paris innerhalb der Deutschen Volksfront — scheiterte am Führungsanspruch der kommunistischen Partner. Nach 1939 engte die KPD ihr Bündniskonzept zunehmend auf die „Einheitspartei aller Werktätigen“ neben der Zusammenarbeit mit bürgerlichen Kräften ein. Ereignisse wie die „Säuberungen" in der UdSSR oder der deutsch-sowjetische Pakt machten es dabei noch illusorischer als zuvor, auf eine Bündnisbereitschaft innerhalb der sozialistischen Exilgruppierungen zu hoffen. Einen vorübergehenden Aufschwung erlebte das kommunistische Bündniskonzept durch die Moskauer Gründung des Nationalkomitees „Freies Deutschland" im Juli 1943, nach dessen Muster bald Freie Deutsche Bewegungen in den westlichen Exilländern entstanden. Entscheidendes Moment wa19 ren dabei die weitgehenden Zugeständnisse, die die Sowjetunion einer wirksamen deutschen Widerstandsbewegung einzuräumen bereit schien. Angesichts der zu erwartenden harten Haltung der Westmächte gegenüber einem besiegten Deutschland weckte der sowjetische Schritt gerade bei den nationalgesinnten Kreisen des Exils Hoffnungen auf ein neues Tauroggen. Die Moskauer Deutschland-politik ab 1944 entzog schließlich auch dieser Koalition jede Grundlage. Nach 1945 wurde die „Blockpolitik" mit bürgerlichen Organisationen unter Ausschluß oder Gleichschaltung der sozialdemokratischen Parteien zu einem konstitutiven Element der kommunistischen Strategie in den sowjetisch dominierten Ländern Mitteleuropas.

Das ambivalente Verhältnis des deutschen Exils zu den Kriegszielen der Alliierten war schon in den theoretischen Positionsschriften zu Ende der 30er Jahre vorgezeichnet. Neben den Kommunisten mit ihrer bis 1941 von Moskau bestimmten Definition des „imperialistischen Krieges“ sahen auch die übrigen politischen Gruppen die militärische Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich mehr oder weniger als traditionellen Interessenkonflikt zwischen imperialistischen Mächten und nicht ausschließlich als „Bürgerkrieg zwischen Demokratie und Diktatur". Es war jedoch offenbar, daß der Expansionswille des Regimes nur durch ein militärisches Eingreifen des Auslands gebrochen und der Sturz des Nationalsozialismus nur durch seine Niederlage an den Fronten eingeleitet werden konnte. Nach dem Wahlspruch „Für Deutschland, gegen Hitler!" ergab sich eine zwangsläufige Solidarität mit dem militärischen Kriegsziel der Alliierten. Die entmutigenden Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Unterdrückungssystem hatten darüber hinaus zu der Überzeugung geführt, daß die Erhebung des „Anderen Deutschlands" und die sozialistische Revolution nur durch einen „militärischen Kaiserschnitt" auszulösen seien. Als ein wirksamer Widerstand im Reich auch im Verlauf des Krieges immer unwahrscheinlicher wurde, hoffte man — wenn überhaupt — auf eine demokratische Erhebung zum Zeitpunkt der letzten entscheidenden Niederlage auf dem Schlachtfeld. Die Neugestaltung Deutschlands durch die freiheitlichen Kräfte in der Heimat und im Exil würde in jedem Falle von der Haltung der künftigen Besatzungsmächte abhängig sein.

Bis 1943, also während der Periode der policy of postponement in der alliierten Deutschlandplanung, sahen die Exilgruppen in den Friedenszielen der Labour Partyvom November 1939, in der Atlantik-Charta, den Erklärungen Stalins vom November 1941 und vom Mai 1942 oder in der Rundfunkrede Churchills am 21. Mai 1943 durchaus Voraussetzungen für den Aufbau eines unabhängigen demokratischen Deutschlands innerhalb einer kooperativen europäischen Staatengemeinschaft. Es galt, in der Öffentlichkeit und bei Parteien und Politikern der Gastländer um Vertrauen für die selbstregenerativen Kräfte des . Anderen Deutschlands" zu werben. Der Kampf gegen die „vansittartistische“ These von der grundlegend autoritären, militaristischen, imperialistischen und humanitätsfeindlichen Natur des deutschen Volkes und seiner Kollektivschuld an Aufstieg und Untaten des Nationalsozialismus wurde deshalb zu einem der Hauptanliegen des Exils. Nachdem auf der Konferenz von Teheran Ende 1943 das Einverständnis der Mächte mit der Abtretung deutscher Gebiete an Polen bekanntgeworden war und Pläne zur Aufteilung des Reichs in den Diskussionen auftauchten, versuchten die nichtkommunistischen Exilgruppen trotz aller Aussichtslosigkeit dieses Bemühens, durch Proteste, Memoranden und Stellungnahmen den Plänen für Gebietsabtretungen, Bevölkerungstransfer, Entindustrialisierung und staatliche Zerstükkelung entgegenzutreten. Mit der Einsicht in die Vergeblichkeit politischer Aktionen im Ausland wurde die antifaschistische Periode des Exils von einer Phase des demokratischen Patriotismus abgelöst, der zwar weiterhin den Nationalsozialismus als Hauptfeind begriff, in erster Linie aber die politische Selbstbestimmung, die territoriale Unversehrtheit und die materiellen Existenzmöglichkeiten des deutschen Nationalstaats in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellte. Die Haupttätigkeit der Exilorganisationen galt ab 1943 der Ausarbeitung von politischen, sozialen und wirtschaftlichen Plänen und Programmen für eine autonome deutsche Nachkriegsrepublik. Sie sollten den demokratischen Kräften in der Heimat eine einsatzfähige Konzeption in die Hand geben und den Westmächten nach dem erwarteten Fiasko ihrer Besatzungspolitik als Alternative dienen.

Trotz aller harten Bedingungen, die Washington und London dem besiegten Deutschland zu diktieren gedachten, lag für die nichtkommunistischen Gruppen die langfristige Zukunftsperspektive im Bündnis mit den westlichen Demokratien: Zum einen setzten sie ihre Erwartungen in den wirtschaftlichen und politischen Zwang zu einer Föderation der mittel-und westeuropäischen Staaten, die früher oder später auch zur Eingliederung des auf diese Weise zum Partner aufsteigenden deutschen Gemeinwesens führen müsse. Zum anderen aber sah man voraus, daß die Westmächte sehr bald in Konflikte mit der expansiven Sowjetunion gerade in der europäischen Kernzone verwickelt sein würden. Gewisse Revisionen des Kriegsergebnisses zugunsten eines demokratisch orientierten Deutschlands würden dann in den Bereich des Möglichen rücken.

Innerhalb der österreichischen Emigration standen nationale Frage und politische Bündniskonzeption in engem Wechselverhältnis. Die Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten hielt an dem seit 1918 als Verfassungspostulat bestehenden Grundsatz fest, daß Deutsch-Österreich ein Teil der deutschen Republik sei. Ihre Zukunftsperspektive lag zunächst im Aufgehen Österreichs in einem revolutionären Gesamtdeutschland; bis zur Moskauer Deklaration von 1943 hoffte man zumindest auf die Eingliederung des österreichischen Staatswesens in eine europäische Föderation unter sozialistischen Vorzeichen. Auch für die östereichischen Kommunisten war der Anschluß an ein „Rätedeutschland" bis in die zweite Hälfte der 30er Jahre hinein selbstverständlicher Programmpunkt. Ab 1937 allerdings erfolgte in dieser Frage eine zunächst mühevolle, dann aber um so rascher vollzogene Kehrtwendung: Noch vor dem deutschen Einmarsch bekannte sich die KPÖ zu einer historisch und kulturell gewachsenen östereichischen Nation, die getrennt von der deutschen bestehe. Auf dieser Grundlage konnte die kommunistische Emigration von Anfang an den Widerstand gegen das NS-Regime als nationalen Befreiungskampf definieren. Das ständestaatliche und legitimistische Exil vertrat in seinen zum Teil ganz unterschiedlichen Gruppierungen zwar nicht die gleichen Vorstellungen in der nationalen Frage, wandte sich aber ebenso gegen den vollzogenen Anschluß und die preußisch-protestantische Überfremdung Österreichs. So bildete sich schließlich auch hier ein national-österreichisches Selbstverständnis heraus, das vielerorts die Zusammenarbeit mit der kommunistischen Emigration ermöglichte. Sie sollte in erster Linie in den Asylländern darauf hinwirken, daß der Anschluß von 1938 als völkerrechtswidriger Akt nicht anerkannt wurde. Nachdem sich 1943 die künftigen Siegermächte für die Eigenstaatlichkeit Österreichs entschieden hatten, rückten auch für das österreichische Exil einschließlich der Sozialisten Form und Inhalte des künftigen Nationalstaats in den Vordergrund seiner Überlegungen und Auseinandersetzungen.

Für das sudetendeutsche Exil stellte sich das Problem der nationalen Interessenvertretung unterweitaus schwierigeren Bedingungen. Sozialdemokraten und Kommunisten hatten zunächst eine Wiedererrichtung des tschechoslowakischen Staats ohne autonomistische Lösung der Minderheitenfrage abgelehnt. Während der Kriegsjahre stand dann die weiterhin auf Selbstbestimmungsgarantien beharrende Mehrheitsgruppe der Sozialdemokratie einer volksfrontähnlichen Koalition aus Kommunisten, „staatsloyaler" sozialdemokratischer Opposition und Bürgerlich-Liberalen gegenüber, die mit der tschechoslowakischen Exilregierung zusammenarbeitete. Dieses Bündnis zerbrach 1944 an den Plänen für eine Aussiedlung der deutschen Minderheit, denen sich lediglich die Kommunisten anschlossen. Die sozialdemokratische Mehrheitsgruppe versuchte vergeblich, diese Politik durch publizistische Interventionen und die Schaffung einer eigenständigen Widerstandsbewegung in der Heimat zu durchkreuzen. Die Vertreibung der deutschen Volksgruppe aus der Tschechoslowakei kam zumindest für die nichtkommunistischen Exilanten einer zweiten, endgültigen Emigration gleich. Sie ließen sich entweder in den Asylländern nieder oder gingen als „Rückkehrer" nach Deutschland oder nach Österreich. Einige von ihnen sind an führender Stelle in der Vertriebenenpolitik tätig geworden.

Von den westlichen Besatzungsmächten wurde eine frühzeitige oder gar gruppenweise Rückkehr von politischen Emigranten bewußt verhindert. Nur in Einzelfällen sind Einreisegenehmigungen erteilt worden; wer aufgrund seiner politischen Haltung zu Bedenken seitens der Militärregierungen Anlaß gab, konnte in der Regel erst nach 1949 eine Rückkehr in die Bundesrepublik in die Wege leiten. Eine vermutlich nicht geringe Zahl ehemaliger Exilanten hatte angesichts der personell und strukturell restaurativen Tendenzen in Westdeutschland inzwischen die Hoffnung aufgegeben, an der Gestaltung einer neuen gesellschaftlichen Ordnung mitwirken zu können. Obwohl zunächst ein waches und durchaus positives Interesse gegenüber der Emigration — etwa bei der Diskussion zwischen Walter von Molo, Frank Thieß und Thomas Mann in den Jahren 1945 und 1946 — bestanden hatte, orientierte die Öffentlichkeit ihr Bild vom Exil schließlich an ehemaligen Emigranten, die als Spezialisten der Besatzungsverwaltung und somit in der Rolle des „Siegers" in Erscheinung traten. Unbemerkt und ungewürdigt blieb dagegen, daß die zurückgekehrten nichtkommunistischen Mitglieder des deutschen Exils in ihrem Bewußtsein und ihren Programmentwürfen einer Politik verpflichtet waren, die — abgesehen von der militärischen und organisatorischen Zerschlagung des Nationalsozialismus — in wesentlichen Punkten den damaligen Konzeptionen der Siegermächte zuwiderlief. Mehr noch: Die Begleiterscheinungen des Kalten Krieges und das verfrühte Ende der engagierten Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich trugen dazu bei, daß das Exil in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung und sogar aus den Reihen demokratischer Parteien mit landesverräterischem Verhalten oder zumindest mit der feigen Distanzierung von den Geschicken des eigenen Volks in Verbindung gebracht wurde. Daß zahlreiche Remigranten trotz solcher Wiederbelebung nationalsozialistischer Propagandainhalte in hohe Wahlämter aufsteigen konnten, spricht andererseits für eine erfolgreiche Integration in das politische Leben der Bundesrepublik: Abgesehen von dem beträchtlichen Anteil im Pressewesen, von führenden Funktionen in Verwaltung, Diplomatie, Rechtsprechung und Bildung und einer vermutlich starken Präsenz in Partei-und Gewerkschaftsapparaten entfielen nach 1945 zeitweise über 50 Prozent der Sitze im Partei-vorstand der SPD auf Heimkehrer aus dem Exil, 28 haben in den Westzonen und in der Bundesrepublik Ministerämter innegehabt, über 360mal sind ehemalige Emigranten in die westdeutschen Parlamente gewählt worden. Obwohl viele Anhaltspunkte für einen unmittelbaren Zusammenhang spezifischer Exilerfahrungen mit neuen Parteistrukturen, politischen Grundwerten, Wirtschaftstheorien, außenpolitischen Orientierungen oder den Strategien der Deutschlandpolitik sprechen, kann die Frage nach einem kollektiven Einfluß der Remigranten als informelle Gruppe auf die politischen und geistigen Entwicklungen der Nachkriegszeit noch nicht verläßlich beantwortet werden. Ihre gewiß bedeutsame Teilnahme am Aufbau der Bundesrepublik Deutschland stellt jedoch ebenso wie die ähnlich gelagerte Remigration nach Österreich und die prominente Mitwirkung kommunistischer Emigranten an der Errichtung des SED-Staats zumindest die personelle Kontinuität zwischen der politischen Kultur der vornationalsozialistischen Zeit, dem Widerstand im Exil und der Nachkriegsgeschichte her.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zu Konzeption und Methodik im einzelnen: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Band 1, S. XII-LV III. - Zur Geschichte der jüdischen Emigration gibt der dort abgedruckte Beitrag von Herbert A Strauss im einzelnen Auskunft (S. XIV-XXXIII) Vgl.des weiteren vom selben Verfasser: Jewish Emigration from Germany. Nazi Policies and Jewish Responses, in: Yearbook, Leo Baeck Institute, XXV und XXVI, 1980, 1981.

  2. Der in dieser Einleitung gegebene Überblick beschränkt sich auf allgemeine Entwicklungslinien. Im übrigen wird auf die in den biographischen Beiträgen des Handbuchs genannte Literatur und die in der Form von individuellen Lebens-und Tätigkeitsbeschreibungen dargebotenen neuen Forschungsergebnisse verwiesen.

Weitere Inhalte

Werner Röder, Dr. phil., geb. 1938 in Pilsen; Studium der Geschichte, Amerikanistik und Politikwissenschaft in Deutschland und den Vereinigten Staaten; Leiter des Archivs des Instituts für Zeitgeschichte. Veröffentlichungen u. a.: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien 1940— 1945. Ein Beitrag zur Geschichte des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus, 1968, 1973; Sonderfahndungsliste UdSSR, 1976; (Mitverf.) Einheit der Nation. Diskussion und Konzeptionen zur Deutschlandpolitik der großen Parteien seit 1945, 1978; (Mithg. und Mitverf.) Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Band I, 1980.