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Zur Problematik eines Systemvergleichs | APuZ 31/1980 | bpb.de

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Zur Problematik eines Systemvergleichs

Hans Kremendahl

/ 11 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Vergleich politischer Systeme unter dem Aspekt der Demokratie ist ein klassischer Gegenstand von Politikwissenschaft und politischer Bildung. Ein sinnvoller Vergleich bedarf eines Maßstabs, der über die bloße Beschreibung hinaus die vergleichende Bewertung der untersuchten Systeme ermöglicht. Beim Vergleich Bundesrepublik Deutschland—DDR ist ein solcher Maßstab aufgrund der antithetischen Selbstverständnisse beider Systeme nicht von vornherein gegeben. Ansätze wie z, B. die Totalitarismus-Theorie, die das eine System an den Kriterien des anderen messen, erlauben keinen wirklichen Vergleich. Die in diesem Beitrag vorgeschlagenen Kategorien des Demokratievergleichs beanspruchen hingegen, auf beide deutsche Staaten anwendbar zu sein. Sie benennen Funktionserfordernisse der Demokratie, die institutionell unterschiedlich konkretisierbar sind. Die angestrebte wertende Feststellung, welches der beiden Systeme mehr Demokratie verwirklicht, ist daher Ergebnis, nicht aber Prämisse des Systemvergleichs.

Vorabdruck aus dem im Herbst 1980 erscheinenden Band: Eckhard Jesse (Hrsg.), Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik. Die beiden deutschen Staaten im Vergleich, Colloquium Verlag, Berlin.

Demokratie im Systemvergleich darzustellen ist ein ebenso altes wie schwieriges Problem der praktischen Politik, der Politikwissenschaft und der politischen Bildung. Demokratietheoretische Überlegungen und die Analyse eines konkreten politischen Systems unter dem Aspekt der Demokratie fordern den Vergleich geradezu heraus. Bereits die berühmte Staatsformenlehre in der „Politik" des Aristoteles basierte auf einem umfassenden Vergleich von politischen Systemen der Antike. Und noch in der heutigen Politikwissenschaft ist „Vergleichende Regierungslehre" eines der Standardfächer.

Die Schwierigkeiten des Demokratievergleichs in der Gegenwart resultieren nicht zuletzt aus dem inflationären Gebrauch des Begriffs „Demokratie" in der politischen Alltags-sprache. Der ursprüngliche Wortsinn — „Volksherrschaft" — ist vollends unscharf geworden. Seine präzise Bedeutung gewann er in der Neuzeit als Antithese zu einer transzendenten Legitimation der Staatsgewalt, wie sie im Gottesgnadentum des Absolutismus ihren Höhe-und Endpunkt fand. Heute dagegen nehmen nahezu alle Staaten der Welt für sich in Anspruch, ihre jeweilige Herrschaft vom Volkswillen abzuleiten und unter Berufung auf ihn auszuüben. Die westlichen Verfassungsstaaten und die kommunistisch regierten Länder, die neuen Nationen der Dritten Welt und die herkömmlichen Militärdiktaturen Lateinamerikas — sie alle behaupten von sich, Demokratien zu sein. Der Begriff Demokratie verschluckt von daher gleichsam alle Gegensätze und Unvereinbarkeiten der Wert-ordnung, des Gefüges der politischen Institutionen, der Wirtschafts-und Sozialordnungen und der kulturellen Überlieferung.

Dies spricht zum einen für den Siegeszug der demokratischen Idee als Legitimationsgrundlage der politischen Herrschaft, zum anderen macht es mangels eines verbindlichen Maßstabs den Vergleich unterschiedlicher politischer Systeme schwierig, wenn nicht unmöglich. Denn der Vergleich bedarf des Maßstabs, des Kategoriengerüsts, das nicht nur eine gegenüberstellende Beschreibung, sondern vielmehr eine vergleichende Bewertung der un-tersuchten Systeme auf ihren Demokratiegehalt hin ermöglicht. Gerade angesichts der diffusen und zutiefst kontroversen Situation des Demokratiegedankens in der Gegenwart ist die Auffindung und Anwendung eines solchen Maßstabes das entscheidende komparatistische Problem.

Dieses Problem ist relativ einfach zu lösen, wenn die vergleichende Analyse auf politische Systeme verengt wird, die sich in zugrunde liegender Wertordnung und institutioneller Ausprägung stark ähneln. So ist der West-West-Vergleich ein klassischer Topos der modernen Politikwissenschaft: Die Grundprinzipien der westlichen Demokratie — Geltung der Menschenrechte, freie Wahl, Mehrparteiensystem, Pluralität der gesellschaftlichen Interessen, Recht auf Opposition, parlamentarische Kontrolle der Regierung, Unabhängigkeit der Dritten Gewalt etc. — bilden dann die Basis des Vergleichs, die unterschiedlichen institutionellen Ausprägungen etwa im präsidentiellen System der USA und im parlamentarischen System Großbritanniens das Vergleichsobjekt. In Frage steht die jeweilige Ausgestaltung der genannten Prinzipien, das Mehr oder Weniger ihres Funktionierens in einer bestimmten institutionellen Form. Die Ergebnisse der Analyse lassen sich unschwer in praktisch-politische Vorschläge, etwa zur Verfassungsreform eines der verglichenen Systeme, umsetzen.

Ähnliches ist beim Ost-Ost-Vergleich möglich: Stellt man sich auf den Boden der marxistisch-leninistischen Prinzipien der sozialistischen Demokratie — Vergesellschaftung der Hauptproduktionsmittel, politische Herrschaft der Arbeiterklasse, führende Rolle der marxistisch-leninistischen Partei, zunehmende Homogenität der sozialen Interessen und des politischen Willens, demokratische Leitung und Planung von Wirtschaft und Gesellschaft — und analysiert vergleichend z. B. UdSSR und DDR nach diesen Kriterien, so kann man ebenfalls ein Mehr oder Weniger und unterschiedliche institutioneile Ausprägungen feststellen. Auch hier ist eine vergleichende Bewertung und praktische Umsetzung möglich.

In beiden Beispielen ist es jedoch erforderlich, die Immanenz der theoretisch vorgegebenen Kategorien zu wahren. Für den West-Ost-Vergleich, wie er im Falle der vergleichenden Analyse von Bundesrepublik Deutschland und DDR unter dem Aspekt der Demokratie angezeigt ist, läßt sich aus den geschilderten Möglichkeiten so gut wie nichts entnehmen.

Dennoch ist gerade ein solcher Vergleich auf deutschem Boden unverzichtbar: Die Realität zweier deutscher Staaten, der Wettkampf der Systeme auf deutschem Boden, die gemeinsame Geschichte, Sprache, kulturelle Überlieferung fordern ihn geradezu heraus. Beide deutschen Staaten verstehen sich als Demokratien; beide sprechen dem jeweils anderen diese Qualität ab. Es ist gerade dieses Selbstverständnis in expliziter Antithese zum jeweils anderen, das den Vergleich ebenso erschwert wie unabweisbar macht. Zu einer rationalen politischen Orientierung in Deutschland, wie sie die politische Bildungsarbeit auf allen ihren Feldern vermitteln soll, gehört zwingend die Kenntnis der politischen Systeme beider deutscher Staaten und die Fähigkeit, zu einer informierten Entscheidung über die eigene normative Präferenz im Wettkampf der Systeme zu gelangen.

Auf den ersten Blick bietet sich dabei an, die Gegensätze der beiden Systeme zu nutzen, um ex negativo die Vorteile des eigenen Systems ins Bewußtsein zu heben: Für die offizielle Meinung in der DDR etwa ist dies die einzig zulässige Methode. Die „sozialistische Demokratie" wird permanent als die eigentliche, reale Demokratie hingestellt und gilt als historischer Fortschritt gegenüber der westlichen „bürgerlichen Demokratie", die nur auf den Oberbau beschränkt und Verhüllung der Klassenherrschaft des Großkapitals und der „Monopolbourgeoisie" sei. Umgekehrt hat in der Bundesrepublik bis zum Einsetzen der Entspannungspolitik eine Blickrichtung dominiert, die die DDR als Ausprägung des Totalitarismus brandmarkte und demgegenüber das System der Bundesrepublik als Ausdrucksform der freiheitlichen Demokratie hervorhob. Konsequent formuliert daher die Kultusministerkonferenz in ihrem am 23. November 1978 gefaßten Beschluß „Die deutsche Frage im Unterricht“: „Entscheidend kommt es auf den Vergleich unserer eigenen Gesellschaftsordnung mit dem System der DDR unter dem Wertmaßstab des Grundgesetzes an." Sicherlich ist „Wertmaßstab des Grundgesetzes" nicht notwendig gleich „Realität der Bundesrepublik". Gleichwohl steht bei einem solchen Verfahren die normative vergleichende Bewertung a priori fest: Die Bundesrepublik ist, zumindest nach ihrem Selbstverständnis, der Maßstab für Demokratie, die DDR wird an diesem (nicht: ihrem) Selbstverständnis gemessen und verworfen. Praktischer — und legitimer — Zweck ist dabei die Werbung für die Grundlagen des eigenen Systems, der Aufruf zur bewußten Parteinahme für seine Werte und seine institutioneile Ordnung.

In Frage steht nur, ob in einer offenen pluralistischen Gesellschaft wie der unseren ein solches Verfahren seinen Zweck erreicht. Wo die Bewertung nicht Ergebnis, sondern Prämisse des Systemvergleichs ist, vermag leicht eine Glaubwürdigkeitslücke zu entstehen. Der Adressat politischer Bildung, etwa der Schüler, kann das Gefühl bekommen, ihm würden Informationen vorenthalten und Spielräume eigener Wertentscheidung unzulässig beschnitten. Ergebnis wäre dann gerade nicht eine begründete Entscheidung für die westliche Demokratie, sondern ein Unbehagen, das sich in Gleichgültigkeit, Zynismus oder Ablehnung gegenüber ihren Normen manifestieren könnte.

Der Verfasser schlägt daher eine andere Vorgehensweise vor. Es wird der Versuch unternommen, trotz des antithetischen Verhältnisses der Demokratieverständnisse beider deutschen Staaten Kategorien der Demokratie zu entwickeln, die auf beide gleichermaßen angewandt werden und somit als Vergleichsmaßstab dienen. Anhand dieser Kategorien wird die Demokratiewirklichkeit in der Bundesrepublik und der DDR analysiert und abschließend vergleichend bewertet. Die vergleichende Bewertung bemißt sich an dem Grad, in dem den in den Kategorien steckenden Funktionserfordernissen von Demokratie in der jeweiligen Realität Rechnung getragen wird. Der Vorteil dieser Verfahrensweise existiert darin, daß beide Systeme an einem gemeinsamen, weder ihrem Selbstverständnis entnommenen noch aus dem jeweils anderen System hergeleiteten Maßstab gemessen werden. Der mögliche Einwand gegen diese Methode besteht in der etwaigen Willkürlichkeitwnd Subjektivität des zu entwickelnden Maßstabs. Um diesen Einwand auszuschalten, sind daher folgende Prämissen zu beachten:

— Ein Maßstab, unter dem pluralistische (westliche) wie sozialistische (östliche) Demokratie gemeinsam vergleichbar ist, muß notwendig allgemein formuliert und von institutionellen Konkretionen entlastet sein. Er sollte Funktionserfordernissevon Demokratie enthalten, denen in unterschiedlicher verfassungs-und verfahrensmäßiger Ausprägung entsprochen werden kann.

— Ein solcher Maßstab muß mehrdimensional sein: Die Reduktion des Wesensgehalts von Demokratie auf einen einzigen Faktor (wie freie Wahl mit Alternativen, größtmögliche Partizipation oder sozioökonomische Egalität) wäre unzulässig und würde eine vergleichende Bewertung verzerren. Demokratie wird daher komplex, als Versuch der Optimierung verschiedener, oft spannungsreicher Funktionserfordernisse verstanden.

— Als Anwendungsbereich von Demokratie kann nicht nur die Staatswillensbildung gelten: Demokratie muß makro-und mikropolitisch, also auch als Prinzip zur Gestaltung gesellschaftlicher Teilbereiche begriffen werden. Damit würde den in der Bundesrepublik vorhandenen Demokratisierungsbestrebungen ebenso Rechnung getragen wie dem Anspruch der sozialistischen Demokratie in der DDR, reale Demokratie an der Basis der Gesellschaft, vor allem im Produktionsbereich, zu sein.

— Demokratie ist dynamisch zu verstehen. Die politischen Ordnungen von Bundesrepublik und DDR sind nicht als unverrückbare Gefüge, sondern als Etappen in einem historischen Prozeß mit unterschiedlichen Entwicklungsalternativen aufzufassen. So zeigen die vielfältigen sozialistischen Bestrebungen im Westen mögliche Veränderungen ebenso auf wie Versuche, in den kommunistisch regierten Ländern Elemente des westlichen Freiheitsverständnisses und des Pluralismus zur Geltung zu bringen (etwa CSSR 1968). Von daher ist es möglich, normative Kategorien für Demokratie zu formulieren, die in vergleichbar entwickelten, aber unterschiedlich verfaßten Gesellschaften nicht Realität sein müssen, aber Realität werden könnten.

— Schließlich kann ein solches Kategoriengerüst der Demokratie einer subjektiv-normativen Entscheidung dessen, der es formuliert, nicht ausweichen. Diese subjektive Entscheidung ist bei jedem Demokratievergleich unausweichlich, auch wenn sie sich nur auf die Auswahl zwischen vorhandenen, vorgegebenen Wertorientierungen bezieht. Die intersubjektive Verbindlichkeit von Kategorien der Demokratie ist daher begrenzt. Andererseits wird die notwendige Subjektivität eingeschränkt durch die These, daß die nachfolgend genannten Kategorien in historischen wie gegenwärtigen Diskussionen um Demokratie eine wichtige Rolle spielen, und zwar sowohl in westlich-liberalen wie in sozialistischen Positionen. Von der Fähigkeit, Demokratie als Prozeß der Verwirklichung von Wertvorstellungen zu denken, diese Wertvorstellungen explizit zu machen und auf zutiefst unterschiedliche, sich antithetisch zueinander definierende Systeme anzuwenden, hängt die Plausibilität der folgenden Kategorien des Demokratievergleichs ab.

Kategorie A:

Demokratie als Legitimation von Macht durch Machtadressaten Damit ist das Prinzip der Volkssouveränität umschrieben. In jeder Form der Demokratie muß als Mindestbedingung die Staatsgewalt vom Volke ausgehen. Institutionell ist dies durch formale Wahlakte, durch Formen der direkten Demokratie (z. B. Rätesystem) oder auch durch die reine Geltendmachung von Willenseinheit (nach Rousseau: „volont gn. rale") denkbar. Für die DDR stellt sich speziell die Frage, ob die Grundlegitimationsquelle der Parteiherrschaft — die Rolle der Partei als Träger der wissenschaftlichen Einsicht in die Bewegungsgesetze von Gesellschaft und Geschichte — das Kriterium hinreichend erfüllt Diese Kategorie ist notwendige, aber keinesfalls hinreichende Bedingung von Demokratie. Sie gewinnt an Trennschärfe, wenn sie auf gesellschaftliche Subsysteme angewandt wird, in denen durchaus andere Legitimationsquellen der Macht (wie Eigentum, Sachverstand o. ä.) neben oder gegen die Quelle „Zustimmung durch die Machtadressaten" treten.

Kategorie B:

Demokratie als Chance der Machtadressaten, bestellte Machtträger gewaltlos abzuberufen, wenn ein Dissens zwischen der Mehrheit der Machtadressaten und den Machtträgern auftritt Stichwortartig läßt sich diese Kategorie mit dem Begriff der „Kontrolle" treffend benennen. Sie ist die Konkretisierung von „Kategorie A" im Konfliktfalle. Notwendig sind also institutionelle Mechanismen, die eine einmal erteilte Legitimation zur Herrschaftsausübung überprüfbar und rücknehmbar machen. In der hier verwandten Formulierung ist dies als legitimer und legaler Bestandteil eines politischen Systems, nicht als Widerstandsmöglichkeit in einer Ausnahmesituation (z. B. revolutionäre Lage, gewaltsamer Regimewechsel) zu verstehen. Eine wichtige Rolle spielt das Mehrheitsprinzip als die am wenigsten unerträgliche Form der Durchsetzung eines Teils der Gesellschaft gegen einen anderen. Für die Bundesrepublik wäre bei der Anwendung dieser Kategorie vor allem das Funktionieren des politischen Richtungswechsels durch Parlamentswahlen, aber etwa auch der Prozeß der Kandidatenaufstellung in Parteien zu analysieren. In der DDR käme es darauf an, die im System vorgesehenen Abwahlmöglichkeiten einzelner Funktionsträger (nicht: die durch das Wahlsystem nach Einheitsliste unmöglich gemachte Richtungsablösung) auf ihre demokratische Kontrollwirkung hin zu untersuchen. Kategorie C:

Demokratie als Optimum an Partizipation der Bevölkerung an sie betreffenden Entscheidungen Partizipation als aktive Teilnahme wird hier als Eigenwert der Demokratie herausgestellt Im Gegensatz zur Reduktion von Demokratie auf reine Elitenkonkurrenz wird auf eine Kombination von direktdemokratischen und repräsentativdemokratischen Elementen abgehoben. Dabei ist Optimum allerdings nicht gleich Maximum: Aktive Beteiligung der Betroffenen muß mit anderen Funktionserfordernissen (wie Freiheitswahrung für den einzelnen, Leistungsfähigkeit, übergeordnete gesellschaftliche Ziele usw.) vereinbar sein und sich gegebenenfalls durch sie begrenzen lassen. Unter dieser Kategorie wäre für die Bundesrepublik zu prüfen, welche Beteiligungsspielräume das Verbände-und Parteiensystem bietet, wie sich Bürgerinitiativen in das politische System einfügen und welche Chancen es für die Demokratisierung von gesellschaftlichen Teilbereichen wie Schulen, Hochschulen, Industriebetrieben usw. gibt. Für die DDR wäre zu fragen, wie die zweifellos hohe formale Partizipation (Partei-und Gewerkschaftsaktivitäten, Volksaussprachen, Wählerkonferenzen u. ä.) in ihrer Wirkung und in den durch sie geschaffenen Mitentscheidungsmöglichkeiten zu gewichten ist.

Kategorie D:

Demokratie als System von Institutionen, die den Postulaten Wert-und Interessenberücksichtigung einerseits, Leistungsfähigkeit andererseits gleichermaßen unterworfen sein müssen Hier wird zunächst verdeutlicht, daß Demokratie als eine regel-und dauerhaft funktionierende politische Ordnung, nicht als Akklamation, Stimmungsdemokratie oder ähnliches gemeint ist. Vielmehr kommt es auf das institutionalisierte Gefüge und die in ihm liegenden Spielräume entscheidend an. Gesellschaftliche Werte und Interessen sind gleichermaßen das Material der Politik: Die Möglichkeit ihrer Artikulation und Durchsetzung im Entscheidungsprozeß ist fundamental wichtig. Gleichzeitig gilt es, Bereiche demokratischer Zielfindungsrationalität von Bereichen leistungsorientierter Zielverwirklichungsrationalität abzugrenzen und damit einen realistischen Spielraum der Demokratisierbarkeit von Entscheidungen zu ermitteln. Für die Bundesrepublik wäre nach der Durchsetzungsfähigkeit gesellschaftlicher Interessen, nach dem Funktionieren des Pluralismus und der eventuellen Existenz struktureller Ungleichheit der Machtchancen zu fragen. Für die DDR ist zu untersuchen, ob die behauptete Homogenität der gesellschaftlichen Interessen der Wirklichkeit entspricht und welche Spielräume es gegebenenfalls für die Artikulation heterogener Werte und Interessen gibt.

Kategorie E:

Demokratie als Sicherung eines Minimums an verbindlichen Grundwerten Hitlers Machtübernahme mit formaldemokratischer Mehrheit illustriert die Bedeutung dieser Kategorie: Demokratie ist nicht voraussetzungslos, sondern kann nur bei Sicherung bestimmter Wertentscheidungen sinnvoll praktiziert werden. Entgegen einem demokratischen Relativismus, der der jeweiligen Mehrheit alles, auch die Beseitigung der Demokratie, anheimstellt, besteht der hier vertretene Normativismus auf der Überprüfbarkeit und Revidierbarkeit auch von Mehrheitsentscheidungen, was die Sicherung demokratischer Verfahrensregeln bedingt. Solche Grundwert-sicherung existiert in beiden deutschen Staaten: Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes steht Art. 2 Abs. 2 der DDR-Verfassung von 1968/74 gegenüber, in dem die Verbindlichkeit der sozialistischen Gesellschaftsordnung fixiert wird. Kritisch zu prüfen ist in beiden Systemen sowohl der Inhalt der Festlegungen wie der Spielraum, den sie jeweils dem politischen Willensbildungsprozeß für Veränderungen und Alternativen lassen. In der Bundesrepublik ist dies etwa die Frage nach der Reichweite der abwehrbereiten Demokratie oder der gesellschaftspolitischen Offenheit des Grundgesetzes, in der DDR die Frage nach Veränderungschancen innerhalb der sozialistischen Prämissen und des Primats der Partei.

Ziel dieser Kategorien der Demokratie ist, politische Systeme, die in ihrem Selbstverständnis und in ihren Institutionen unterschiedlich sind, vergleichbar zu machen, ohne in die Gefahr der a-priori-Höherbewertung eines der beiden Systeme bzw.der reinen systemimmanenten Deskription beider Systeme zu verfallen.

Die Kategorien sind — wie die wenigen hier angedeuteten Anwendungsbeispiele zeigen — so formuliert, daß sie gegenüber beiden deutschen Staaten gleichermaßen kritische Analysen und Aussagen ermöglichen. Sie können also auch dem bei einem Systemvergleich naheliegenden Erkenntnisinteresse dienen, Schwächen des eigenen Systems aufzudecken und Perspektiven seiner Veränderung zu gewinnen. Auf der anderen Seite erlauben sie durchaus die deutliche Herausarbeitung des gegensätzlichen Selbstverständnisses und der fundamentalen Unterschiede der politischen Ordnungen in beiden deutschen Staaten. Sie begründen weder eine Theorie der Konvergenz noch verfallen sie in das Extrem, die problematisch gewordene Totalitarismus-Theorie durch de-facto-DDR-Apologetik zu ersetzen. Es kann daher nicht als Widerlegung der Anwendbarkeit der hier genannten Kategorien auf beide deutsche Staaten akzeptiert werden, wenn sich in einer Reihe von Anwendungsfeldern (wie z. B. Parlamentarismus, Parteiensystem, Rolle der Gewerkschaften o. ä.) eine deutliche Überlegenheit an demokratischer Qualität für die Bundesrepublik zeigt. Wichtig ist lediglich, daß dies dann eben Ergebnis, nicht — wie bei Totalitarismus-Ansätzen — Prämisse des Vergleichs ist.

In vielen Bereichen wird zudem bei der Anwendung nicht ein klares Plus oder Minus, sondern eine kritisch-differenzierte Beurteilung der Demokratiewirklichkeit in beiden deutschen Staaten herauskommen. Gerade diese Differenzierung, die Möglichkeit, starres Freund-Feind-Denken abzubauen und durch die kritische Prüfung anhand ausgewiesener normativer Kriterien zu ersetzen, ist ein Ziel des Systemvergleichs, das auch für die politische Praxis im geteilten Deutschland große Bedeutung besitzt.

Literatur:

Wolfgang Behr, Bundesrepublik Deutschland — Deutsche Demokratische Republik. Systemvergleich Politik-Wirtschaft-Gesellschaft, Stuttgart u. a. 1979.

Klaus Böger/Hans Kremendahl, Bundesrepublik Deutschland — Deutsche Demokratische Republik. Vergleich der politischen Systeme, 2 Bände, Stuttgart 1979.

Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokraten, Stuttgart u. a. 1974 6. Gerhard Haney, Die Demokratie. Wahrheit, Illusionen und Verfälschungen, Frankfurt/M. 1971.

Peter Christian Ludz, Parteielite im Wandel, Köln/Opladen 1970 3.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Hans Kremendahl, Diplom-Politologe, Dr. rer. pol. habil., geb. 1948, Privatdozent am Fachbereich Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Pluralismus in Deutschland. Entstehung, Kritik, Perspektiven, Leverkusen 1977; Sozialismus und Grundgesetz (hrsg. zus. mit Thomas Meyer), Kronberg 1974; Bundesrepublik Deutschland — Deutsche Demokratische Republik. Vergleich der politischen Systeme (zus. mit Klaus Böger), Stuttgart 1979.