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Ausweg — in die Sackgasse? Stellungnahme zum Beitrag von Hans-Jürgen Schilling | APuZ 8/1981 | bpb.de

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APuZ 8/1981 Artikel 1 Zum Flüchtlingsproblem in kriegerischen Konflikten Ausweg — in die Sackgasse? Stellungnahme zum Beitrag von Hans-Jürgen Schilling Weibliche Soldaten für die Bundeswehr? Zur öffentlichen Diskussion eines Personal-Problems

Ausweg — in die Sackgasse? Stellungnahme zum Beitrag von Hans-Jürgen Schilling

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Zusammenfassung

Hans-Jürgen Schilling zieht in seinem Beitrag in dieser Zeitschrift aus einer richtigen Analyse falsche Folgerungen. Er zweifelt mit Recht an der Möglichkeit, die Politik des „Zuhausebleibens" von der Theorie in die Praxis umzusetzen. Denn in der Tat fehlen dieser Konzeption, die für die Zivilverteidigung unseres Landes gleichsam die Basis abgibt, die nötigen Voraussetzungen. Mangels Schutzbauten würde es kaum gelingen, die Bevölkerung im Kriegsfälle zu hindern, aus ihren Wohngebieten zu fliehen. Mit Fluchtbewegungen erheblichen Umfangs müßte gerechnet werden, mit einer Entwicklung also, die sowohl zu beträchtlichen Verlusten führen als auch die Streitkräfte hemmen könnte, ihre Aufmarsch-, Verstärkungs-und Nachschub-Operationen zu vollziehen. Das aber dürfte die Verteidigung moralisch, politisch und militärisch wesentlich beeinträchtigen. Der Vorschlag von Hans-Jürgen Schilling jedoch bietet keine brauchbare Lösung des Problems. Denn aus operativen wie aus logistischen Gründen erweist sich der Gedanke, ein flächendeckendes Netz von unverteidigten und damit unangreifbaren Orten als „Fluchtburgen" für die Bevölkerung zu schaffen, als utopisches Projekt. Darin steckt zudem eine Über-schätzung dessen, was das Völkerrecht an Sicherheiten zu bewirken vermag. Mithin liefert seine Anregung keine Alternative für den Schutzbau, der — wenn er nicht auf die atomare, sondern auf konventionelle Waffenwirkung abgestellt wird — durchaus finanzierbar erscheint, wie es zum Beispiel die Schweiz und Schweden beweisen. Ein Programm dieser Art würde den Erfordernissen der NATO-Strategie mit dem Titel „flexible response" entsprechen.

Hans-Jürgen Schilling analysiert mit überzeugender Logik die Gründe, die an dem Funktionieren der „Stay Put Policy", die in der Bundesrepublik als Basis der Zivilverteidigung dient, weithin in unserem Lande zweifeln lassen. Daß er sich in seiner Argumentation ausschließlich auf Professor Carl-Friedrich von Weizsäcker und General Sir John Hackett stützt, obwohl gründlichere Studien zum Gegenstand der Untersuchung vorliegen, kann die fachliche Kritik vielleicht stören, muß jedoch im Interesse der publizistischen Wirksamkeit ohne Einwand akzeptiert werden. Denn Weizsäcker wird — wenn sicherheitspolitische Probleme zur Debatte stehen — die Rolle des Weisen, ja gleichsam der Rang einer moralischen Institution zugestanden, während es Hackett mit seinem Buch „Der Dritte Weltkrieg“ — ohne wesentlich vom Wege der Seriosität abzuweichen —-fertigbrachte, einer breiten Schicht eine lesbare, gar erregende Beurteilung der Lage zu liefern.

Die Konzeption des Zuhause-Bleibens ist seit eh und je nicht nur nationales Dispositiv der zivilen Verteidigung gewesen, sondern sie hat auch für die militärische Verteidigung, die sich an den multinationalen Planungen der NATO orientiert, das Fundament gebildet, obwohl die Praxis der Durchführung die Theorie der Überlegungen nie auszufüllen vermochte. Einer Alternative für den Gedanken, Bevölkerungsbewegungen in Krise und Krieg faktisch nicht vorzusehen, die Bürgerschaft also mehr oder minder an ihre Wohngebiete im Frieden zu binden, fehlen fürwahr die Voraussetzungen, da erstens eine weiträumige Evakuierung angesichts der Besiedlungsdichte des europäischen Kontinents und zumal des deutschen Terrains nicht möglich erscheint, die Zeit überdies nicht ausreichen würde, Millionen Menschen aus den wahrscheinlichen Gefahrenzonen durch geregelte Transporte in relativ sichere Aufnahmelager zu schaffen;

zweitens die Aufmarsch-, Verstärkungs-und Nachschuboperationen der Streitkräfte, die in West-Ost-Richtung geschähen, einen gleich-11 zeitigen Abmarsch der Einwohnerschaft in Ost-West-Richtung nicht gestatten, weil das — selbst bei optimaler Organisation — zu einem Verkehrs-Chaos und zu Konflikten bei der Festlegung der zivilen Aufnahmeräume und der militärischen Versammlungsräume führen würde.

Humanitäre und operative Aspekte decken sich daher in der gültigen Konzeption, die einerseits die Erfahrung berücksichtigt, daß ein überleben der Bevölkerung allenfalls daheim, nicht aber unterwegs gewährleistet werden kann, sowie andererseits die Notwendigkeit in Rechnung stellt, die Bedingungen für die Abwehr eines Angriffs zu bieten. Wenn die Konzeption den Erfordernissen somit theoretisch entspricht, bleibt sie praktisch doch so lange unbrauchbar, wie es die Staatsführung versäumt, für den Schutz der Menschen in den Kampfzonen materiell und für die Lenkung von Fluchtbewegungen personell vorzusorgen.

Dies wird mittlerweile in mannigfachen Expertisen schlüssig dargetan, von denen insbesondere einer Studie des „Forschungsinstituts für Internationale Politik und Sicherheit" Beachtung gebührt, da sie nachweist, daß die NATO-Streitkräfte schon die Bereitschaft zur militärischen Verteidigung im Krisenfalle nicht herstellen könnten, weil der Mangel an ziviler Verteidigung — vor allem an Schutzbauten — befürchten lasse, daß ein Einrücken der Truppe in die Räume der Abwehr durch spontane Fluchtbewegungen der Bevölkerung gehemmt würde. Die Untersuchung mit dem Titel „Probleme ziviler und militärischer Verteidigung beim Aufmarsch der NATO-Streitkräfte in Mitteleurpa und gleichzeitigen Bevölkerungsbewegungen auf deutschem Boden" stammt von Generalmajor a. D. von Kalkreuth, der als früherer Befehlshaber des Territorialkommandos Süd in Heidelberg auf dem Gebiet der zivil-militärischen Zusammenarbeit über fundierte Kenntnisse verfügt. Diese Studie, die sich auf operative Erwägungen konzentriert, aber auch die moralische Belastung der Truppe behandelt, wird durch eine Untersuchung von Dr. Kurt Klein von der „Schule der Bundeswehr für psychologische Verteidigung" ergänzt. Unter der Überschrift „Realität Krise" wird darin ein nuanciertes Bild mutmaßlicher Reaktionen und Aktionen der Bürgerschaft zu zeichnen versucht, die sich — zumal wenn sie zur Panik eskalieren — staatlicher Steuerung zu entziehen drohten. Offizielle Zahlen sowie Annahmen, die Kalkulationen und Spekulationen kombinieren, bestätigen die skeptischen Thesen dieser und anderer Gutachten, wobei es insbesondere gilt, folgende Faktoren in die Betrachtung aufzunehmen: — In der Bundesrepublik existieren insgesamt nur etwa 1, 8 Millionen Schutzplätze (für 2, 9 Prozent der Bevölkerung), von denen sich zudem 870 000 in Bauwerken ohne Belüftungseinrichtungen und 530 000 in Behördenbauten des Bundes befinden, so daß faktisch bloß rund 400 000 der Allgemeinheit in volltauglichem Zustand zur Verfügung stehen. — Nach einer internen Analyse „Probleme der Flüchtlingslenkung für Kommandobehörden und Truppen der NATO-Streitkräfte", die Ulrich Klink 1966 in der Führungsakademie der Bundeswehr ausarbeitete, muß im Verteidigungsfall mit einer Fluchtbewegung von etwa zwei Millionen Kraftfahrzeugen gerechnet werden, die weder gesteuert noch aufgenommen werden kann.

Der Gedanke, lediglich einige „mutmaßliche Abwehrschwerpunkte" zu evakuieren und allein deren Räumung im voraus zu planen, würde sich kaum durchsetzen lassen. Weitere Evakuierungen im Rahmen von „Ausweichbewegungen", für die es keine Vorbereitungen gibt, würden demnach nötig — wahrscheinlich unter beträchtlichen Verlusten der Bevölkerung. Den Streitkräften würde daher mit der Pflicht, sich auf eine Verteidigung inmitten einer ungeschützten Bevölkerung einzurichten, eine — womöglich — unerträgliche Bürde auferlegt. In der Konsequenz daraus geriete die Konzeption der NATO in Gefahr. Denn die Truppe könnte ihren Aufmarsch nicht zeitgerecht vollziehen, wenn er auf Straßen, die Flüchtlingsströme verstopfen, rücksichtlos gegen fliehende Menschen geschehen müßte. Würde der Gegner sodann hinter der Dekkung von Flüchtlingen in den Aufmarsch hin-einschießen, so käme die militärische Organisation ebenso wie die zivile Verwaltung vollends in eine Situation, in der es dem Angreifer gelingen dürfte, den Verteidiger zur Tatenlosigkeit zu zwingen — wofür der Feldzug in Frankreich anno 1940 historische Beispiele offeriert. Wenn Ortschaften gar zu Schlüsselstellungen würden, stünden die Streitkräfte vor der Alternative, sie entweder kampflos zu räumen oder sie unter Opferung der Einwohner zu halten. Da schon Stromausfälle sowie Behinderungen der Versorgung und des Verkehrs im Frieden als Katastrophen gelten, eig. net sich eine Kombination aus Propaganda und Sabotage im Kriege zur Produktion einer Stimmung, in der sich die Bürgerschaft gegen die eigene Truppe wendet, so daß eine Lage entsteht, die dem Motto „Lieber rot als tot!" zum Zuge verhilft.

Läßt sich aber eine Lösung des Problems, daß die militärische Rechnung ohne den zivilen Wirt gemacht wird, mit den Anregungen finden, die Hans-Jürgen Schilling unterbreitet?

Läßt sich somit ein Wandel der „Stay Put Policy" durch eine operative Nutzung des Völker-rechts suchen, wie es sich der Autor mit seinen Vorschlägen vorstellt, also mit der Planung eines flächendeckenden Netzes von un-verteidigten Orten, die — jeweils nicht weiter als 50 Kilometer von einander entfernt — als Fluchtburgen die Bürgerschaft ihres Umlandes aufnehmen sollten? Läßt sich wirklich denken, daß die großen Städte auf solche Weise vom Inferno der Vernichtung verschont werden könnten, so daß nur die kleinen Gemeinden sowie Wälder und Felder den Kampf ertragen müßten?

Die Idee besticht durch ihre Originalität, weist jedoch nach einer Darstellung des Problems, die den Realitäten korrekt entspricht, zu einer Lösung in Richtung auf eine Utopie, die — wenn sie sich ausbreiten, gar zur Ideologie festigen sollte — überaus gefährlich erscheint. Denn sie verspricht nicht allein ein faszinierend einfaches, sondern auch ein imponierend wohlfeiles Konzept, das in Wahrheit — polemisch formuliert — auf den Wechsel von einer Planung nach dem Motto „Ich bitte Dich heilger St. Florian, verschon’ mein Haus, zünd'andre an!" in ein Dispositiv nach der Formel „Wasch'mir den Pelz, doch mach mich nicht naß!" hinauslaufen würde.

Der Plan verrät zunächst eine bedenkliche Überschätzung dessen, was das Völkerrecht, das ja auch — offenbar ziemlich vergeblich — die Aggression verbietet, an Sicherheit zu bewirken vermag. Das schließt es eigentlich von vornherein aus, die Zusatzprotokolle zu den Genfer Rot-Kreuz-Konventionen für den Zweck nutzbar zu machen, die Verteidigung gegen einen Angriff — wie es dem Autor offenbar vorschwebt — durch prophylaktische Vereinbarungen mit dem Gegner, die Spielregeln und Spielfelder des Kampfes festlegen, in Bereichen zu ergänzen, wo Löcher und Lücken klaffen. Wäre eine operative Verwendung des Völkerrechts möglich, so hätte unser Erdteil die Chance, sich ganz und gar als „unverteidigt" zu erklären, um dadurch unangreifbar zu werden, so daß ein Risiko durch einen schlichten Verzicht auf jegliche Rüstung ausgeschaltet würde. Natürlich wird die Konzeption, die Hans-Jürgen Schilling skizziert, so mit dem Stilmittel der Übertreibung vollends ins Absurde erweitert, womit der Anschaulichkeit halber dargelegt werden soll, daß mit dem Völkerrecht keine Gelegenheit eröffnet wird, sich auf eine Insel der Seligen zu retten; die Rot-Kreuz-Konventionen ergeben daher nur dann einen Sinn, wenn sie als Instrumentarium verstanden werden, das von Fall zu Fall ad hoc gebraucht wird, den kämpfenden Parteien im Ablauf eines Konflikts sinnlose Opfer zu ersparen. Unabhängig davon muß geprüft werden, ob ein derartiges System von „Fluchtburgen" mit den Erfordernissen und Fähigkeiten der militärischen und zivilen Verteidigung synchronisiert werden kann. Gesetzt den Fall, dieses Netz un-verteidigter und damit angeblich unangreifbarer Orte würde zunächst für den Streifen zwischen der östlichen Grenze unseres Landes und einer Linie etwa 100 Kilometer westlich davon eingerichtet, das heißt: in einem Gebiet, das in groben Umrissen den Raum der Vorne-Verteidigung umfaßt, so würden davon 40 Prozent der Fläche mit 25 Prozent des Industriepotentials betroffen, ein Territorium, in dem 30 Prozent der Bürger unseres Staates wohnen. Etwa 20 Millionen Menschen müßten in den größeren Städten zusammengepfercht werden, damit die kleineren Gemeinden frei werden könnten. Ihre Versorgung wäre wohl überaus schwierig, weil die Führung natürlich die Pflicht hätte, auf engem Raum Nahrungsmittel zu stapeln, Wasser zu speichern, Krankenhäuser zu schaffen, den Zufluß von Strom, Gas, Heizmaterial zu gewährleisten. Für all das würden zusätzliche Kapazitäten benötigt. Wegen des Investitions-und Betriebsaufwands würde das kein billiges, sondern ein teures Programm bedingen, was — im Gegensatz zum Schutzbau, für den immerhin private Initiative mobilisiert werden könnte — allein zu Lasten der öffentlichen Hände gehen müßte.

Dennoch bliebe es zweifelhaft, ob sich damit die ungelenkte Massenflucht vermeiden ließe.

Eine derartige Konzentration von Menschen minderte nicht, sondern steigerte die Neigung zur Panik, was für den Gegner einen Anreiz gäbe, durch drohende Propaganda oder begrenzte Bombardements die Flut der Rückwärtsbewegung auszulösen, sie gegen die Vorwärtsbewegung der Truppe und der Nachschubtransporte für die Verteidigung einzusetzen, Flüchtlingskolonnen im Angriff wie einen Schild vor sich herzuschieben. Ein unverteidigter Ort wäre tatsächlich ja nicht unangreifbar, weil die gegnerische Streitmacht — wenn sie eine Initialzündung für panisches Verhalten der Bevölkerung brauchte — gewiß stets einen Vorwand hätte, ihre Waffen wirken zu lassen.

Natürlich würde der Angreifer nicht die Absicht haben, seine Streitmacht vornehmlich für die Eroberung von Wohnzentren und Wirtschaftsrevieren einzusetzen, sich somit auf einen zeitraubenden Häuserkampf einzulassen; er würde im Maße des Möglichen bestrebt sein, an solchen Hindernissen vorbeizustoßen. Der Verteidiger aber könnte die Städte nicht einfach als zivile Sanktuarien behandeln, sie sozusagen samt und sonders vom militärischen Gebrauch freihalten, mit seiner Truppe daher nur ins Gelände und auf die Dörfer gehen; er müßte Straßen, Schienen, Brücken, Fernmeldeverbindungen und Reparatureinrichtungen nutzen, die sich ja nicht auf Forsten und Fluren verteilen, sondern auf die Ballungsgebiete konzentrieren. Eine frühere Untersuchung bewies bereits, daß sich aus gleichen Gründen allenfalls einige Inseln im Meer, nicht jedoch etwa Kurorte auf dem Land zu Sanitätszonen eignen, für die ähnliche Beschränkungen nach den Regeln des Völker-rechts gelten.

Der Plan stellt sich mithin als Wunschdenken heraus, das mit den Erfordernissen der Wirklichkeit im zivilen wie im militärischen Bereich kollidiert. Der Vorschlag von Hans-Jürgen Schilling bedient sich zudem eines ungemein bedenklichen Arguments, indem er als Begründung für die Ablehnung des Schutz-baus von der These ausgeht, daß es die Strategie verlange, die Bevölkerung in einer Geisel-funktion zu lassen. Der Autor unterstützt damit einige Schulen der Friedensforschung, die behaupten, daß es — um der Kriegsverhinderung willen — darauf ankomme, die Bürgerschaft in einem solchen Status zu halten, um der eigenen Streitmacht in den Augen des Gegners den bedrohlichen Charakter zu nehmen. Diese Idee resultiert ja nur dann aus einer durchaus logischen Überlegung, wenn sie auf das Verhältnis zwischen den USA und der UdSSR bezogen wird, also allein auf die Tatsache, daß sich die beiden Supermächte wohl mit Kernwaffen, nicht aber mit Streitkräften klassischen Charakters umzubringen vermögen. Nicht folglich aus Furcht vor dem konventionellen Kampf, der ihre Länder nicht berühren, sondern aus Angst vor dem atomaren Schlag, der ihre Völker vernichten würde, bildeten Washington und Moskau ihre Potentiale zu einem „Gleichgewicht des Schreckens" aus, so daß als zweiter stürbe, wer als erster schösse. Das fordert von den Vereinigten Staaten wie von der Sowjetunion gleichermaßen die Fähigkeit, noch im Sterben zu töten, wie den Verzicht auf das Vermögen, töten zu können, ohne hernach sterben zu müssen. Die Amerikaner wie die Sowjets brauchen demgemäß unverwundbare Vergeltungswaffen, damit sowohl die eine als auch die andere Seite in der Lage ist, den ersten Schlag, der ihr Gebiet getroffen hat, durch einen zweiten Schlag auf das Terrain des Gegners zu vergelten. Darüber hinaus sind die zwei Supermächte gezwungen, ihre Wohnzentren verwundbar zu lassen, weil sonst der zweite Schlag nicht befürchtet werden müßte, der erste Schlag demgemäß gewagt werden könnte. Beide Seiten haben ihre Nationen folglich als Geiseln zu stellen, die als Garanten gegen den Krieg den Frieden verbürgen. In der Sprache der Verhaltensforschung beschrieben, geht es dabei um eine Verbindung aus Drohgeste und Demutsgebärde, anders ausgedrückt: um ein Ritual, das darin besteht, daß sich die zwei Kontrahenten gegenseitig Verteidigungsfähigkeit und Angriffsunfähigkeit signalisieren.

Es mag nach dem derzeitigen Stand der SALT bezweifelt werden, ob die Sowjets diese Doktrin der Amerikaner überhaupt akzeptieren. Indessen: Die multinationale Strategie der NATO, die unseren Kontinent sichern soll, bleibt im Positiven wie im Negativen zwar abhängig von der nationalen Strategie der USA gegenüber der UdSSR, ist jedoch nicht mit ihr identisch, sondern sie hat eigene Bedingungen. Im Gegensatz zu Amerika wird Europa nicht bloß atomar, sondern auch konventionell bedroht, ohne das Vermögen zu besitzen, die Drohung mit einer Gegendrohung gleicher Art zu neutralisieren. Das Bündnis kann auf die atomare Deckung des transatlantischen Bundesgenossen nicht verzichten, muß im Rahmen des Konzepts der „flexible response" freilich darüber hinaus in hinlänglichem Maße mit konventioneller Kraft aufwarten. Während die Angriffsunfähigkeit des Nordatlantikpaktes auf europäischem Terrain durch die Disparität der Kapazitäten in Ost und West außer Zweifel steht, bedarf seine Verteidi. gungsfähigkeit stets des Beweises.

Die westliche Abschreckung, die gegen den östlichen Versuch der Einschüchterung ge.setzt wird, verlangt die Glaubwürdigkeit eines unkalkulierten Risikos der atomaren Eskalation ebenso wie die Glaubwürdigkeit einer kalkulierbaren Chance des konventionellen Kampfes. Nach einer treffenden Bemerkung von Helmut Schmidt soll der Soldat kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen. Kann er aber kämpfen, wenn ihn zwar seine materielle Ausstattung dazu tauglich macht, seine moralische Bereitschaft hingegen beeinträchtigt wird, weil die Frage nach dem Schutz seiner Familie in der momentanen Situation ohne Antwort bleiben muß? Der Mangel an ziviler Verteidigung — insbesondere an Schutzbauten — bedeutet ebenso wie ein Defizit an militärischen Mitteln eine Einladung zum Angriff. Das gilt vor allem für die Bundesrepublik, da sie geographisch am östlichen Rand des westlichen Territoriums liegt, politisch den Schwerpunkt des Konfliktfeldes bildet, wirtschaftlich die Kernregion des Erdteils ausmacht, militärisch durch ihre Position und durch ihren Beitrag die Verteidigung überhaupt erst ermöglicht.

Die amerikanische Theorie, die den Bürgern die Funktion von Geiseln zuteilt, erweist sich daher als ein Irrtum, wenn sie auf die europäische Praxis übertragen wird. Hans-Jürgen Schilling ist vielleicht nicht zu ihren fanatischen Verfechtern zu zählen, hat sie aber mit seiner Anregung um eine weitere Variante bereichert. Sein Vorschlag führt in eine Sackgasse, zeigt keinen Weg aus der Notwendigkeit, den Schutzbau als wesentliches Element der zivilen wie der militärischen Verteidigung zu begreifen und zu betreiben, einen Schutzbau, der gegen die Wirkung konventioneller Kampfmittel beschirmt, nicht etwa den vergeblichen Versuch unternimmt, gegen atomare Waffen Sicherheit zu bieten. Ein Programm, das derart bescheidene Ziele setzt, ist — wenn auch nicht von heute auf morgen — finanzierbar, wenn die Führung den Mut hat, dem Volk reinen Wein einzuschenken.

Fussnoten

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