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Orientierungsprobleme. Zur Bundestagswahl 1980 und ihren Konsequenzen | APuZ 18/1981 | bpb.de

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APuZ 18/1981 Über die Polarisierung der Politik. Die Bundestagswahl vom 5. Oktober 1980 Orientierungsprobleme. Zur Bundestagswahl 1980 und ihren Konsequenzen Wahlkampfstrategien '80 in den USA und der Bundesrepublik. Personalisierung - Angriffswahlkampf - Dramatisierung

Orientierungsprobleme. Zur Bundestagswahl 1980 und ihren Konsequenzen

Dieter Just

/ 29 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Beitrag beschreibt Bundestagswahlkampf und -entscheidung von 1980 auch im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Bundestagswahlen. Es wird festgestellt, daß 1980 die Zielvorstellungen und Argumente der Parteien relativ wenig durchgedrungen sind; entscheidend war vielmehr die Wahlkampfatmosphäre, wie sie durch die Heftigkeit der zum Teil sehr persönlich angelegten Kontroversen geprägt wurde. Eine zusätzliche Rolle spielte auch ein durch den Erfolg der Sozialdemokraten vom 11. Mai in Nordrhein-Westfalen ausgelöster wahltaktischer Faktor: die Befürchtung einer absoluten Mehrheit der SPD. So suchte ein Teil der flexiblen Wähler zwischen Strauß und der „Gefahr" einer SPD-Allein-regierung schließlich Kontinuität und Stabilität, d. h. die Stärkung der Koalition und des Bundeskanzlers, mit der Zweitstimme für die FDP zu bewirken. Die durch den Wahlkampf ausgelöste Unsicherheit bei großen Teilen der Bevölkerung kennzeichnet auch die politische Stimmung nach der Wahl: die Beunruhigung bei der Bewertung der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung und der Verlust des Vertrauens in das politische System werden meßbar größer. Sie stellen gerade bei enger gewordenen politischen Handlungsräumen für die Zukunft eine Belastung dar, die verstärkte Integrationsbemühungen von Seiten der Politik, der politischen Bildung und auch der Medien erforderlich macht, um dem Bürger die politische Orientierung zu erleichtern und der zunehmenden Neigung zur Partei-und Staatsverdrossenheit entgegenzuwirken.

I. Vorbemerkung

Bundestagswahlen 1980, 1976 und 1972Quellen: Statistisches Bundesamt; Bundeswahlleiter

Die Bundestagswahl 1980 ist — anders als die Wahlentscheidungen 1972 und 1976, bei denen die Fronten zwischen Koalition und Opposition für den Wähler klar erkennbar blieben — geprägt durch eine größer gewordene Unsicherheit der Wähler; diese hat über den 5. Oktober hinaus ihre Spuren hinterlassen.

Die politischen Argumente der Parteien drangen 1980 schwächer durch oder wurden einfach von den durch die Heftigkeit der Auseinandersetzung abgestoßenen Wählern nicht mehr wahrgenommen. Ereignisablauf und politische Entwicklung im Wahlkampf selbst boten nur geringe Chancen, die Zielvorstellungen der Parteien an der Praxis zu messen. Die SPD konnte das Ansehen ihres Spitzenkandidaten nicht voll nutzen, weil sie durch den politischen Gegner mit Erfolg verdächtigt wurde, nach Alleinregierung — mit in den Augen vieler Bürger als gefährlich angesehenen Konsequenzen — zu streben; das Bild der Union hingegen wurde durch die Persönlichkeit ihres Spitzenkandidaten belastet.

So orientierte sich ein Teil der flexiblen Wähler auf beiden Seiten schließlich an taktischen Und atmosphärischen Gesichtspunkten, suchte Kontinuität und Stabilität, votierte für Schmidt und gegen Strauß, bestrafte Konfrontation und honorierte Zurückhaltung, indem er via FDP die Koalition zu stärken versuchte. Die während des Wahlkampfes — durch mangelnde Orientierung und Verzerrung der politischen Realität — aufgetretene Unsicherheit kennzeichnet auch die politische Stimmung nach der Wahl: Beunruhigung und Vertrauensverluste in das politische System werden deutlich meßbar größer. Die Politik der 9. Legislaturperiode steht vor der schwierigen Aufgabe, die Basisdaten und Orientierungen neu zu vermitteln, die durch den Wahlkampf verwischt wurden, wenn verhindert werden soll, daß ein Teil der beunruhigten und staats-wie parteiverdrossenen Wahlbürger neben der politischen und gesellschaftlichen Realität her-lebt.

II. Ausgangspositionen der Parteien

Stimmensplitting 1980 in Bundesländern Quelle: infas-Wahlberichterstattung

Im Gegensatz zur vorgezogenen Bundestagswahl 1972, als die Sozialdemokraten noch im Frühjahr eine schwere Landtags-Niederlage in Baden-Württemberg zu verkraften hatten und ein Mißtrauensvotum im Deutschen Bundestag überstehen mußten, und im Gegensatz zu den Wahlen von 1976, als die weltwirtschaftliche Rezession sich zu Lasten der Regierungsparteien auswirkte und am 3. Oktober zu dem denkbar knappen Koalitionsvorsprung von 10 Mandaten führte, konnten Koalition und insbesondere die Sozialdemokraten die Bundestagswahl 1980 aus einer sehr guten Ausgangsposition angehen: nachdem die Rentendiskussion von 1976, die zum Verzicht des Bundesarbeitsministers Arendt auf ein Ministeramt in der neuen Koalitionsregierung führte, und die in Kreuth ausgelöste Auseinandersetzung zwischen CSU und CDU die öffentliche Stimmung nachhaltig geprägt und die Terroranschläge auf Ponto, Buback und schließlich Hanns Martin Schleyer das Vertrauen in die Regierung 1977 deutlich erschüttert hatten, verbesserte die geglückte Befreiung der entführten Lufthansa-Maschine „Landshut" Ende November 1977 die Position von Bundeskanzler, Regierungskoalition und SPD erstmals merklich. Die Koalition, im Jahresdurchschnitt 1977 auf ein Wählerpotential von 47% (gegenüber einem von 51% der Opposition) gesunken, erreichte bis 1979 (Jahresdurchschnittswert) 50%, während sich das Oppositionspotential von 51% 1977 auf 47% 1979 verringerte. Anders als in den vorhergehenden Legislaturperioden, in denen die SPD in den folgenden Landtagswahlen stets Einbußen hinnehmen mußte, gelang es den Sozialdemokraten in den Landtagswahlen 1978/79, bei neun von elf Landtagswahlen Stimmengewinne zu erzielen, während die Bonner Oppositionsparteien bei zehn Landtagswahlen (Ausnahme: Abgeordnetenhaus-Wahlen in Berlin 1979) Wähler verloren. Hatten die Sozialdemokraten in den Landtagswahlen 1974—'76 nur einen Stimmenanteil von 39, 9% (2, 7% unter ihrem Bundestagswahlergebnis 1 7% unter ihrem Bundestagswahlergebnis 1976) erreichen können, so erzielten sie 1978/80 einen durchschnittlichen Wähleranteil von 41, 5%. Gleichzeitig verloren CDU/CSU in den Jahren 1978/80 gegenüber der vorhergehenden Landtagswahl-Serie (von 51, 4% auf 48, 7%) wie auch die FDP (von 6, 9% auf 5, 9%) deutlich. Die FDP verpaßte 1978 bei den Bürgerschaftswahlen in Hamburg und den niedersächsischen Landtagswahlen sowie im Mai 1980 in Nordrhein-Westfalen den Einzug in die Landesparlamente.

Stimmungsklima vor der Bundestagswahl ‘ 80

Gegenüber 1977 von der Bevölkerung deutlich positiver bewertet wurden auch die politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik und — bis Ende 1979 — die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Die Bewertung der Bundesregierung und des Bundeskanzlers blieben seit Beginn des Jahres 1978 bis zur Bundestagswahl 1980 auf hohem Niveau stabil, während der große Vorsprung des Bundeskanzlers vor dem Spitzenkandidaten der Opposition durch die Kandidatur von Franz Josef Strauß als Kanzlerkandidat der Union im Juni 1979 vorerst keine wesentliche Veränderung erfuhr; er vergrößerte sich erst zum Termin der nordrhein-westfälischen Landtagswahl am 11. Mai 1980 und wurde in der Polarisierung des Bundestagswahlkampfes schließlich knapper 1) -

Die außenpolitischen Konflikte 1979/80 — die Iran-Krise und insbesondere der Einmarsch der Sowjets in Afghanistan — wirkten sich, anders als von der Opposition erwartet, nicht zu Lasten der die Entspannungspolitik repräsentierenden Bundesregierung aus, sondern stärkten lediglich die Bedeutung des Aufgabenbereiches „Friedenssicherung", bei dem die Koalition einen deutlichen Kompetenzvorsprung vor der Opposition vorzuweisen hatte. Trotz der anhaltenden öffentlichen Diskussion über die sowjetische Invasion, die Verpflichtungen den USA gegenüber und insbesondere den Olympia-Boykott zeigten verschiedene demoskopische Umfragen 2), daß die bundesdeutsche Bevölkerung nach zehn Jahren Entspannungspolitik mit großer Stabilität zur politischen Linie der Bundesregierung stand. Das kam im Ergebnis der nordrhein-westfälischen Landtagswahlen vom 11. Mai 1980, die der Bundeskanzler und Ministerpräsident Rau vor allem mit für eine regionale Wahl ungewöhnlichen friedenspolitischen Schwerpunkt-aussagen bestritten hatten, überzeugend zum Ausdruck: Die Sozialdemokraten gewannen 48, 4% 3% mehr als 1975) und die absolute Mehrheit, die CDU erzielte 43, 2% (3, 8% weniger als 1975); die durch interne Querelen geschwächte FDP wurde zwischen den um die Macht ringenden großen Parteien buchstäblich zerrieben. Die wenige Wochen später zuerst von Elisabeth Noelle-Neumann in die Welt gesetzte These von einer auch bundesweit möglichen absoluten Mehrheit der Sozialdemokraten erhielt einen Anschein von Glaubwürdigkeit 3).

Unsicherheitsfaktoren 1980

Die bis in den Sommer 1980 insgesamt günstige Position der Sozialdemokraten und der Bonner Regierungskoalition wurde — immer wieder unberechenbar — beeinträchtigt durch das Phänomen der „Grünen"; diese erzielten als anfangs nur regional bedeutsames Sammelbecken ökologisch engagierter, vorwiegend jüngerer Bürger und einer Gruppierung von Protestwählern in Kommunalwahlen und Landtagswahlen 1978/79 ernst zu nehmende Erfolge und wurden bei der Europawahl 1079 bundesweit präsent. Sie konnten auf Anhieb einen Stimmenanteil von 3, 2% erzielen, im gleichen Jahr in die Bremer Bürgerschaft und 1980 in den baden-württembergischen Landtag einziehen, verloren jedoch nach öffentlich breit diskutierten inneren Konflikten in einer verstärkt außenpolitisch geprägten Wahl-auseinandersetzung in Nordrhein-Westfalen deutlich wieder an Terrain. Die Alternative, die sie insbesondere jüngeren Wählern anboten, bedeutete im Hinblick auf die Bundestagswähl 1980 für die Koalitionsparteien, aus deren potentieller Anhängerschaft sich die Grünen mehrheitlich rekrutierten, dennoch eine I latente Gefahr, zumal sie vor allem die SPD, aber auch die FDP, zu einer Zwei-Fronten-Ar-j gumentation — gegenüber der CDU/CSU als Konkurrenten um die Regierungsmacht und j gegenüber den „Grünen" als unberechenbarem Mitbewerber um wichtige Stimmenanteile — zwangen. Nur 2% sozialliberale Stimmen an die „Grünen" hätten die Koalition im Jahr 1976 bereits ihre knappe Mehrheit kosten können. Wesentlicher Unsicherheitsfaktor vor Beginn des Wahlkampfes 1980 aber war vor allem, daß I nach der Nordrhein-Westfalen-Wahl demoskopischen Ergebnissen zufolge eine überwälI tigende Mehrheit der Bevölkerung einen gro-ßen Wahlsieg der Koalition vor der CDU/CSU erwartete manche des Einzugs der Freien Demokraten in den Deutschen Bundestag aber nicht so sicher waren. Diese Erwartungshaltung implizierte für die Sozialdemokraten spätestens seit dem 11. Mai die Gefahr einer Demobilisierung durch Stimmenthaltung, Stützungsstimmen für die FDP und alternative Entscheidung für die „Grünen". Ein ungewollter Frühstart der Sozialdemokraten hatte deren bis dahin bereits guten Chancen derart verbessert, daß sie sich verschlechtern mußten. In ihrer Nachwahlanalyse hebt die SPD denn auch hervor:

„Nordrhein-Westfalen hat zwei schwierige Konsequenzen: Es begann eine Debatte über die Möglichkeit, die absolute Mehrheit auch im Oktober zu gewinnen. Alle Bemühungen, sie zu stoppen, fruchteten kaum. Das Wahlziel, stärkste Partei zu werden, wurde von einem Großteil der öffentlichen Meinung und der eigenen Partei als taktische Tiefstapelei empfunden oder bezeichnet. Die Abstimmungspannen der letzten Parlamentswochen konnten diese öffentliche Stimmungslage kaum beeinflussen, führten aber zusätzlich zu der Vollmobilisierung der FDP, die den Schock, die Landtagspräsenz in Düsseldorf nicht wieder erreicht zu haben, voll für sich ausnutzte."

III. Die Wahlauseinandersetzung

Quelle: Repräsentative Wahlstatistik

ßer Ergebnisablauf sowie die von den Parteien gesetzten Themen und Argumente verwischten im Bundestagswahlkampf 1980 die klaren Entwicklungslinien der Vorwahlzeit so sehr, daß bei einem großen Teil der Bevölkerung — wie spätere Untersuchungen erweisen — das Gefühl der Desinformation und Orientierungslosigkeit zur Suche nach möglichst einfachen Lösungen, Kontinuität und Stabilität der politischen Strukturen aufrechtzuerhalten, führte Zweitstimmen-Splitting zugunsten der FDP schien, wie sich frühzeitig andeutete und später zeigen sollte, für eine größere Zahl von Wählern der einfachste Weg zu sein, um aus der Verunsicherung herauszukommen.

Die in Nordrhein-Westfalen erfolgreich erprobte außenpolitische Trumpfkarte der Bundesregierung verlor nach dem Moskau-Besuch von Bundeskanzler und Bundesaußenmi17 nister Ende Juni, bei dem noch einmal die Kongruenz politischer Ankündigung und politischen Handelns (SPD-Wahlprogramm: „... in schwieriger Zeit muß man mehr miteinander sprechen und nicht weniger") verdeutlicht werden konnte, rasch an Gewicht. Die Streiks in Polen erzeugten ein derart belastetes Klima, daß zuerst der polnische Parteichef Gierek wenige Wochen vor seiner endgültigen Ablösung am 18. August sein für den 19. und 20. August in Hamburg geplantes Treffen mit Bundeskanzler Helmut Schmidt kurzfristig absagen mußte und sich Helmut Schmidt selbst am 22. August gezwungen sah, „wegen der Entwicklung der letzten Tage in Europa"

sein für den 28. und 29. August in der DDR geplantes Treffen mit dem Staatsratsvorsitzenden Honecker absagen zu müssen. Die Kombination von politischer Argumentation und kongruentem politischen Handeln, die der Regierungslinie ein so hohes Maß an Überzeugungskraft verliehen hatte und auf dem Höhepunkt des Wahlkampfes in den Medien breit diskutiert wurde, verlor ihr Gewicht. Der Opposition fielen bekräftigende Argumente ihrer These vom Ende der Entspannungspolitik nachgerade in den Schoß; diese wurden aber durch propagandistische Überdehnungen, wie etwa durch Bemerkungen des Unions-Kanzlerkandidaten Strauß von „Schmidts Freund” Gierek, schlecht genutzt. Nicht erhellen ließ sich nach der Bundestagswahl, ob insbesondere die Sozialdemokraten auch nach der Einengung der außenpolitischen Handlungsmöglichkeiten der Bundesregierung durch die Ereignisse in Polen das Thema „Friedens-und Entspannungspolitik''angesichts einer mehrheitlich für die Fortsetzung dieser Politik engagierten Bevölkerung im Wahlkampf weiter argumentativ hätten vertiefen und so die Thematik des Wahlkampfes offensiv steuern sollen. Symptomatisch erscheint, daß in den Wahlkampf-Reden des Bundeskanzlers das Thema Friedenssicherung zuerst breit am Beginn und später — reduziert — am Ende der Reden stand.

Chancen der Opposition Die bis zur Wahl fortgesetzte Diskussion über die anläßlich des öffentlichen Gelöbnisses von Bundeswehrrekruten am 6. Mai in Bremen ausgebrochenen Krawalle — verstärkt durch die Konstituierung des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages als Untersuchungsausschuß und die parallel laufenden Untersuchungen in Bremen — bot der Opposition Chancen, außen-, sicherheits-und innenpolitische Aspekte argumentativ zu verknüpfen und die Sozialdemokraten der mangelnden Verteidigungsbereitschaft, der Unzuverlässigkeit im Bündnis sowie der Volksfront-Bildung durch die sogenannte „MoskauFraktion“ zu verdächtigen. Angebliche Fahndungspannen in Hamburg, für die Innenminister Baum verantwortlich gemacht wurde, und der Bombenanschlag eine Woche vor der Bundestagswahl auf dem Münchner Oktoberfest hielten das Thema „innere Sicherheit” aktuell, während es im wirtschafts-und finanzpolitischen Bereich der Opposition gelang, unterstützt durch einen in den Medien lebhaft und kontrovers diskutierten Hirtenbrief der katholischen Bischöfe, das Thema „Staatsverschuldung" so plastisch herauszuarbeiten, daß es für breite Teile der Bevölkerung zum Synonym für die Gesamtbelastung der öffentlichen Haushalte eingangs der achtziger Jahre wurde. Insofern begünstigte die Kette der Ereignisse, die zwischen dem Frühsommer und dem Wahlsonntag im Herbst Bedeutung erlangten, die Opposition deutlich.

Kandidatenproblematik der Union In der Kandidatenfrage blieb die CDU/CSU demgegenüber trotz aller seit dem Sommer des vorhergehenden Jahres erfolgten Bemühungen, das Image von Franz Josef Strauß aufzuhellen, eindeutig im Nachteil. Bei der Frage nach einer fiktiven Direktwahl zwischen Schmidt und Strauß entschieden sich Anfang 1980 rund 60% der Wähler, also auch ein beachtlicher Anteil von Unionswählern, für den Kanzler und nur rund ein Viertel für den bayerischen Ministerpräsidenten. Damit war der Vorsprung Schmidts 1980 vor Strauß weit größer als 1976 vor dem damaligen Kanzlerkandidaten Kohl (50 : 30). Die Union — insbesondere die CDU und ihr Generalsekretär Geißler — versuchte, dieser Belastung schon in einem recht frühen Stadium des Wahlkampfes zu begegnen, indem sie in einer breit angelegten Kampagne — von Überreaktionen auf die kleinste Satire zum Thema Strauß angefangen bis hin zu einer Bonner Ausstellung aller „Verunglimpfungen" des Unionskandidaten — Sozialdemokraten und ihren gewollten und unerwünschten Wahlhelfern eine persönliche Diffamierungskampagne des Unionskandidaten unterstellte. Diese vor der Wahlkampfschiedsstelle fortgesetzte Aktion hatte das Ziel, dem Kanzlerkandidaten der Union vorbeugend gegen spätere Angriffe zu immunisieren. Franz Josef Strauß, insbesondere vom Bundeskanzler als intelligent, aber unberechenbar und deshalb gefährlich herausgestellt, nahm dieser Entlastungskampagne einiges von ihrer Durchschlagskraft, weil er seinerseits in seinen Wahlkampfauftritten pole-B misch auf Schmidt zielte (.... reif für die Nervenheilanstalt“) und schließlich (in der ZDF-Sendung „Bürger fragen — Politiker antworten") sogar die „SPIEGEL" -Affäre aufgriff, obwohl ihn die Initiative der Union eigentlich davor hatte bewahren sollen.

Die programmatischen Vorstellungen der Parteien waren hinter den in den Medien erörterten politischen Entwicklungen, den Schlagworten und der Diskussion um den Stil, mit dem sich die konkurrierenden großen Parteien bekämpften, kaum zu erkennen. Am schwersten tat sich noch die SPD, die auf ihrem Essener Wahlparteitag im Juni unter dem eher statischen Titel „Sicherheit für Deutschland" ein voluminöses Wahlprogramm verabschiedete und ihren Wahlaussagen tatsächlich unterlegte. CDU und CSU verabschiedeten — die CDU auf einem Bundesparteitag und die CSU lediglich durch ihren Parteiausschuß — im Mai unter den Titel „Für Frieden und Freiheit in der Bundesrepublik Deutschland und der Welt" ein Wahlprogramm, in dem die Negativ-Positionen die programmatischen Vorstellungen bei weitem überwogen, der politische Gegner eine größere Rolle spielte als die eigenen Zielvorstellungen. Die FDP beschloß im Juli 1980 in Freiburg unter dem Titel „Unser Land soll auch morgen liberal sein" zwar ein Wahlprogramm, argumentierte mit den Slogans „Diesmal geht's ums Ganze ... Für die Regierung Schmidt/Genscher, gegen Alleinherrschaft einer Partei, gegen Strauß" und „Faustregel '80: Zweitstimme FDP" im Wahlkampf aber weitgehend taktisch.

Die heiße Phase des Wahlkampfs Während die SPD in ihrem Wahlkampf die positive Alternative („Das will die SPD — Das will die SPD auf keinen Fall") in Anzeigen, auf Plakaten und in dem bundesweit erstmalig eingesetzten Boulevard-Blatt „Zeitung am Sonntag" in den Vordergrund stellte und den Unionskandidaten eher am Rande angriff (Anzeigentext: „Helmut Schmidt statt Strauß: Den Frieden Wählen"), stützten sich CDU und stärker noch CSU in allen Wahlkampfmedien auf eine Negativ-Argumentation. So heißt es in Anzeigen der CSU unter dem Motto „Den Sozialismus verhindern" u. a.: „über 10 Jahre Linksregierung Schmidt/Genscher in Bonn haben die Bundesrepublik in eine fatale Situation gebracht ... über 10 Jahre Linksregierung Schmidt/Genscher haben dem Sozialismus den Weg bereitet, die Moskau-Fraktion im Bundestag ermöglicht." Und bei der CDU heißt es dementsprechend: „Mit beiden Stimmen den Sozialismus stoppen". Mit der innen-und außenpolitischen Verknüpfung tief verwurzelter Ängste der deutschen Bevölkerung vermochte es die Union in semantisch ausgeklügelten Verdächtigungen (Beispiele: Volksfront und Moskau-Fraktion, Planung einer Währungsreform), das Konfrontationsklima extrem zu verschärfen.

Die 1980 erstmals eingerichtete „Gemeinsame Schiedsstelle der im Bundestag vertretenen Parteien", zuerst von der Union und dann auch von der vorher zögernden SPD mit scheinbaren und echten Vorwürfen über Verstöße gegen das Wahlkampfabkommen geradezu überschüttet, bewirkte letztlich nur, daß mit der Berichterstattung über die ihr vorliegenden Verstöße und Entscheidungen die Konfrontationen und Entgleisungen im Bundestagswahlkampf 1980 in den Medien verstärkt dargestellt wurden. Die SPD resümierte in ihrer Wahlanalyse bitter: „Die Schiedskommission ließ sich durch Geißler und Stoiber zu einem Instrument der politischen Öffentlichkeitsarbeit der CDU/CSU umfunktionieren (vom Rentenbetrüger zum Rentenbetrug). Die Neigung für ausgewogene Schiedssprüche ließ bei allem Bemühen unseres Vertreters um Klarheit und Verhältnismäßigkeit den Eindruck aufkommen: die SPD ist nicht besser als die CDU/CSU, und gestattete der FDP, die Position des feinen Mannes zu übernehmen." Insbesondere die audiovisuellen Medien bemühten sich — intensiver als je zuvor —, den Bundestagswahlkampf (Parteien, Wahlkämpfe und Argumente) in Hearings, Diskussionen der Spitzenkandidaten und Sonderbeiträgen umfassend darzustellen. Allein im September wurden den Wahlbürgern mehr als zwanzig, sich oft über mehrere Stunden erstreckende Sendungen zur Bundestagswahl angeboten. Diese zwar gut gemeinte, aber für den weniger politisch interessierten Normalbürger doch stark belastende intensive Integration in den Wahlkampf dürfte weniger Argumente vermittelt als vielmehr dazu beigetragen haben, daß der Bundestagswahlkampf 1980 — wie spätere Umfragen aus-wiesen — als übertriebene und unangemessene Auseinandersetzung bewertet wurde. Die von der CDU/CSU in die Wahlauseinandersetzung eingebrachte Polemik trübte bis in die letzte Fernsehdiskussion hinein, in der am 2. Oktober 1980 Schmidt, Genscher, Kohl und Strauß gemeinsam vor den Bildschirm traten, das Bild ihres Hauptgegners; dieser sah sich gezwungen, die psychologisch geschickt angelegten Unterstellungen zurückzuweisen und sich damit selbst auf die gleiche Argumentationsebene zu begeben. Deutlich wurde schon einige Wochen vor dem Wahltermin, daß die FDP — vom Generalangriff der Union auf den „Sozialismus" unberührt und entsprechend maßvoll — aus der Konfrontation der beiden Großen ihren Nutzen würde ziehen können.

IV. Das Wahlergebnis

Quelle: Infratest. Okt/Nov, 1980

Die Wählerentscheidung vom 5. Oktober brachte den erwarteten Wahlsieg der Koalition — allerdings mit höheren Zweitstimmengewinnen für die FDP als erwartet: die SPD erreichte mit 42, 9 % ihr zweitbestes Stimmenergebnis seit 1949, gewann gegenüber der Bundestagswahl 1976 aber nur 0, 3 % an Stimmen hinzu; die FDP verzeichnete mit 10, 6 % Stimmenanteil ihr drittbestes Ergebnis seit 1949 und gegenüber 1976 ein Stimmenplus von 2, 7 %; die CDU/CSU erreichte 44, 5 % — ihr schlechtestes Ergebnis seit 1953 — und verlor gegenüber 1976 einen Stimmenanteil von 4, 1 % (CDU 3, 8, CSU — sehr viel stabiler — nur 0, 3 %).

Der Zweitstimmenanteil der Grünen lag mit 1, 5 % unter der Hälfte ihres Europawahlergebnisses von 1979.

Regionale Entwicklungen Regional mußte die CDU in den Ländern Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg und Hamburg erheblich über ihrem Durchschnittsverlust (— 3, 8 %) liegende Stimmeneinbußen (zwischen 4, 7 und 5, 9 %) hinnehmen, während die CSU in Bayern lediglich Verluste von 2, 5% verzeichnete. Deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegende Zweitstimmenergebnisse erhielt die SPD im Saarland — vor allem auf Kosten der FDP, die hier ihren geringsten Zuwachs erzielte —, in Niedersachsen und Rheinland-Pfalz, während die FDP in Schleswig-Holstein, Hamburg — hier auch deutlich auf Kosten der SPD — und Niedersachsen ihre höchsten Zuwächse verzeichnete. Die Grünen erzielten ihre besten Ergebnisse in den Stadtstaaten Hamburg (2, 3 %) und Bremen (2, %), während sie im Saarland und in Nordrhein-Westfalen, wo sie bis 1980 bereits in den Landtagswahlen gescheitert waren, mit etwas über 1 % ihre geringsten Anteile erreichten.

Insgesamt zeigten die Stimmenverluste der Union und die Werte der FDP ein deutliches Nord-Süd-Gefälle zu Lasten der Union im Norden, während die SPD ihre höchsten Zuwachsraten unabhängig davon in einem Gürtel erzielte, der sich von Niedersachsen über Hessen und Rheinland-Pfalz bis ins Saarland erstreckte.

Anders als in den bisherigen Bundestags-und Landtagswahlen scheinen die regionalen Entwicklungen in den einzelnen Bundesländern 1980 eine größere Bedeutung als die soziologischen Strukturen — sozioökonomisch wie konfessionell — gehabt zu haben. Die Besitzstandverhältnisse insbesondere der beiden großen Parteiengruppierungen haben sich in ihren Hochburgen und Stadtgebieten nicht mehr so stark abgeflacht wie in früheren Jahren, wenngleich der „bisher schon beobachtete säkulare Trend der Angleichung an die Unionsparteien" 7) sich zugunsten der SPD im ländlich-katholischen Raum weiterhin fortsetzte: die Sozialdemokraten verzeichneten in ländlichen und katholischen Gebieten ihre höchsten Zugewinne gegenüber der Vorwahl, während die FDP zu Lasten der Union ihre Position im Dienstleistungsbereich und in Gebieten mit einer überwiegend evangelischen Bevölkerung verbessern konnte. Doch scheinen die Veränderungen in den einzelnen Bundesländern, bedingt durch unterschiedliche politische Entwicklungen in den jeweiligen Ländern, wie etwa die FDP-Position im Saarland oder das Verschwinden der FDP aus dem nordrhein-westfälischen Landtag 1980, in der Dimension größere Bedeutung gehabt zu haben als die soziostrukturellen. Feist/Liepelt vermuten deshalb, daß das länderspezifische Bewußtsein der Wähler über Klassen und Konfessionsgrenzen hinweg soweit aufgewertet worden sei, „daß im Ergebnis heute auch Bundestagswahlen von der politischen Sonderentwicklung in den Ländern mitbestimmt werden". Damit habe sich ein voluntaristisches Element in der deutschen Wahllandschaft durchgesetzt, das durch den Prozeß der Angleichung der beiden Wählerblöcke längerfristig vorauszusehen gewesen sei

Bei der Differenzierung des Wahlverhaltens nach Geschlecht und Alter hat sich die SPD bei den Frauen (um knapp ein Prozent) und bei den Jungwählern (18 bis 25 Jahre) ebenfalls um knapp ein Prozent gegenüber 1976 verbessern können, während die CDU/CSU gegenüber der vorhergehenden Bundestagswahl rund 5 % ihrer weiblichen Wähler und rund 2 % ihrer Wähler zwischen 25 und 35 Jahren einbüßte. Die FDP verzeichnete Zugewinne bei den Frauen und in allen Altersgruppen. Für die Grünen zeigte sich: ihr Jungwähleranteil (43, 3 %) ist drei-(SPD und FDP) bis viermal (CDU/CSU) so hoch wie der Anteil der 18-bis 25jährigen bei den übrigen Parteien

Stimmensplitting Mit einem Zweitstimmenüberhang von 3, 4 Prozentpunkten gegenüber ihrem Erststimmenanteil (7, 2 %) profitierte die FDP bei der Bundestagswahl 1980 vom Stimmensplitting nahezu so intensiv wie 1972 (Zweitstimmenüberhang: + 3, 6 Prozentpunkte). Dem entsprach aber nicht wie 1972 ein schwerpunktmäßiges Zweitstimmendefizit der SPD (1972: — 3, 1), sondern diesmal verzeichneten SPD wie CDU/CSU ein gleich hohes Zweitstimmendefizit (— 1, 6); für den „naiveren" Interpreten ist dies ein Hinweis auf ein scheinbar ausgewogenes Stimmensplitting zugunsten der FDP aus beiden großen Parteilagern.

Jedoch liegen die Dinge beim Stimmensplitting wesentlich verwickelter; dies zeigt die regionale Analyse der Erst-/Zweitstimmendifferenzen ebenso wie die repräsentative Wahl-statistik: So ist ein deutliches Nord-Süd-Muster des Stimmensplittings festzustellen; im Süden hauptsächlich zu Lasten der Zweitstimmenanteile der Union und im Norden zu Lasten der Zweitstimmenanteile der SPD, jeweils mit der Folge eines überdurchschnittlichen Zweitstimmenüberhangs für die FDP: mit unter-durchschnittlichen Netto-Effekten des Stimmensplittings schert allein Bayern aus diesem Nord-Süd-Muster aus.

Das infas-Institut ermittelte jedoch außerdem, daß das Ausmaß von Zweitstimmendefiziten der großen Parteien auch von Gewicht und Chancen der Wahlkreiskandidaten abhängt: In stark umkämpften Gebieten, wo sich die Wähler eine Wirkung ihrer Erststimme auf die Kandidatenauswahl ausrechnen konnten, ergeben sich die größten Erststimmenüberhänge ebenso wie dort, wo prominente Politiker kandidierten, wie etwa im Wahlkreis 165 Esslingen (Volker Hauff), München-Nord (Hans-Jochen Vogel) und Hamburg-Bergedorf (Helmut Schmidt).

Einen weiteren, wenn auch immer noch unvollständigen Einblick in das Phänomen des Stimmensplitting gestattet die repräsentative Wahlstatistik. Nach ihr, die auf der Analyse von ausgewählten Stimmbezirken beruht, war der Anteil differierender Erst-und Zweitstimmenabgabe 1980 mit 10, 2% höher als 1976 (6 %), aber auch als 1972 und 1969 (je 8, 8 %). Der Vergleich von Erst-und Zweitstimmenübereinstimmung, den die repräsentative Wahlstatistik ermöglicht, zeigt überraschenderweise für die 1980 der Union verbliebenen Wähler kein wesentlich anderes Muster als in den Wahlen 1976 und 1972; auch bei der SPD-Wählerschaft sind die Verschiebungen, zumindest gegenüber 1972, gering:

Merklich verändert hat sich lediglich die Zusammensetzung der FDP-Stimmen. Wie die Transformation der Daten unter Berücksichtigung des FDP-Zweistimmenanteils in den letzten drei Bundestagswahlen in der Tabelle unten ausweist, — ist der Anteil übereinstimmender Erst-und Zweitstimmen — schon 1976 für die FDP beträchtlich (ca. 4, 8 %) — weiter gestiegen (auf ca. 5, 1 %, 1972: ca. 3, 2 %), — stammen 1980 deutlich mehr FDP-Zweit-stimmen (ca. 3, 8 %) als 1976 (ca. 2, 4 %), wenn auch weniger als im Leihstimmenjahr 1972 (ca. 4, 4 %), von Erststimmenwählern der SPD, — hat sich der Anteil von Erststimmenwählern der Union stammenden FDP-Zweitstimmen, der auch 1980 (ca. 1, 4 %) wesentlich niedriger liegt als der von SPD-Erststimmenwählern (ca. 3, 8 %), gegenüber 1976 (0, 6 %) und 1972 (ca. 0, 7 %) verdoppelt.

Damit stammen auch 1980 FDP-Zweitstimmen wesentlich häufiger von SPD-als von CDU/CSU-Wählern.

Relativ sicheren Aufschluß über die Partei-loyalität der „Stimmensplitter''liefern erst — wenn auch wegen kleiner Fällezahlen mit geringerer Sicherheit — Repräsentativumfragen anhand der Pauschalangabe der bei der Bundestagswahl gewählten Partei, die mit den differenzierten Angaben zum Erst-und Zweitstimmenverhalten verglichen werden können:

Zwar tritt das Stimmensplitting unter SPD-Wählern dreimal häufiger (12%) als unter CDU/CSU-Wählern (4 %) auf, jedoch ähneln sich die „Stimmensplitter''der beiden großen Parteien stark: Zu zwei Dritteln haben sie ihrer Partei ihre Erststimme gegeben und etwa zur Hälfte der FDP ihre Zweitstimme. Auch die FDP-und Grünen-Wähler mit Stimmensplitting zeigen große Gemeinsamkeiten: Sie gaben ihre Zweitstimme fast ausschließlich ihrer Partei, ihre Erststimme dagegen zu mehr als 50 % der SPD; mit 64 % übten Grünen-Wähler das Stimmensplitting jedoch nahezu doppelt so häufig aus wie FDP-Wähler (37 %).

Obwohl erst eine Analyse früheren Wahlverhaltens der „Stimmensplitter" vollkommenen Aufschluß über die inhaltliche Bedeutung des Stimmensplittings geben würde, machen die verschiedenen, hier dargestellten Zugangs-weisen zum Problem des Stimmensplittings wahrscheinlich, daß das gute Zweistimmenergebnis der FDP auf drei Faktoren zurückgeht: — es erhöhte sich — sicher auch zu Lasten der CDU/CSU — der Anteil „konsequenter" FDP-Wähler, die der FDP Erst-wie Zweitstimmen gaben, — deutlicher noch nahm der Anteil von Wählern zu, die der FDP ihre Zweit-und der SPD ihre Erststimme gaben, wobei sich — trotz ähnlichen Umfangs des Leihstimmen-Phäno23 mens — weniger eindeutig als 1972 bestimmen läßt, welcher Partei die Wähler ihre Stimmen „geliehen" haben.

— abweichend von früheren Bundestagswahlen wuchs auch der Anteil der Leihstimmen aus dem Unionslager, von Wählern, die im Konflikt mit ihrer alten Parteiloyalität zwar ihre Zweitstimme der FDP, wenigstens aber ihre Erststimme der CDU/CSU gaben und sich dabei auch weiter als Unionswähler betrachteten.

Dabei gab es im Süden, in Baden-Württemberg, mehr „Leistimmen" für die FDP aus dem Unionslager, im Norden hingegen — bei stärkeren Unionsverlusten — mehr Wähler, die sich von der CDU lösten und Erst-und Zweit-stimmen zwischen den Koalitionsparteien aufteilten oder allein der FDP gaben. Erstmals 1980 ergab sich auch in Bayern ein deutlicherer Erststimmenüberhang der CSU: sicheres Anzeichen für Vorbehalte gegen den Unionskanzlerkandidaten sogar in seinem Stamm-land.

V. Motive der Wählerentscheidung

Abbildung 9

Das für die SPD unangenehme und für die FDP überraschend günstige Wahlergebnis verschafft der Frage, was einen beträchtlichen Teil der Wähler denn dazu gebracht hat, die Anfang des Jahres umstrittenen Freien Demokraten derart zu begünstigen und die Sozialdemokraten eher zu vernachlässigen, größere Bedeutung als bei den vorhergehenden Bundestagswahlen, bei denen die Entscheidung leichter interpretierbar war. Die von den konkurrierenden Parteien gegebenen Antworten verdecken das Konglomerat unterschiedlicher Verunsicherungen einer relativ großen Zahl von Wählern, das zu ihrer Entscheidung führte.

So heißt es in der von Egon Bahr vorgelegten Wahl-Analyse der SPD: „Die schärfere Gangart, von der Opposition durch persönliche Diffamierung des Kanzlers und von Strauß mit seinem Einstieg in die . Spiegel-Affäre'forciert, zeigte auf unserer Seite die Verknüpfung von Frieden und Strauß. Sie wurde bis zum letzten Tag gegen erhebliche Widerstände, vor allem im Presse-und Verlegerbereich, durchgehalten. Die damit verbundene Polarisierung, auch im Stil, nützte der FDP, zumal die politische Profilierung ihr gegenüber kaum erfolgte." In der Wahl-Analyse der FDP heißt es: „Zugute kam der FDP diesmal, daß eine klare Mehrheit der Wähler, auch unter den Wählern beider Koalitionsparteien, die absolute Mehrheit einer Partei, auch die der SPD, ablehnte, einer Kanzlerschaft Strauß reserviert bis ablehnend gegenüberstand und — beson-ders in Nordrhein-Westfalen — den Erhalt eines Drei-Parteien-Systems mit der FDP als dritter Kraft wünschte."

Die CDU begründete ihre Verluste damit, daß „die CDU/CSU 1980 das Meinungsklima in einem bislang nicht gekannten Maße gegen sich“ hatte

Auch von anderer Seite wird das Meinungsklima „strapaziert". So schreiben Feist/Liepelt in einer Nachwahlanalyse: „Trotz ihrer aussichtslosen Position gelang es der CDU/CSU unter Ausnutzung der Schiedsstelle, von der Polarisierung zwischen Schmidt und Strauß zeitweise abzulenken und ein Klima zu erzeugen, das sich auf die Mobilisierung konservätiver Grundwerte stützte. Von der Konfrontation CDU/CSU und SPD profitierte die Zweitstimmenkampagne der FDP."

Das Meinungsklima zu Lasten der beiden großen Gegner heranzuziehen, ist gar nicht so abwegig. Zumindest haben sich, wie demoskopische Untersuchungen nach der Wahl ausweisen, Bemühungen von SPD einerseits und CDU/CSU andererseits, für sie günstige Themen und Argumente durchzubringen, quasi gegeneinander aufgehoben. Die politischen Themen des Wahlkampfes Demoskopische Erhebungen nach der Wahl ergaben, daß nur drei politische Themen in den Augen der Wähler im Bundestagswahlkampf 1980 Bedeutung hatten:

— Die Friedenspolitik, von 20 % der Bevölkerung genannt und mehrheitlich als Thema der SPD angesehen.

— Die Staatsverschuldung, von 26 % genannt und von noch mehr Wählern als Thema der CDU/CSU angesehen.

— Die Rentenfrage, von 21 % der Bevölkerung genannt und der SPD und CDU/CSU in gleich hohem Maße zugeordnet.

Aufschlußreich ist, daß als Schwerpunkt der FDP — noch vor der Außenpolitik — das nicht unter den zentralen politischen Themen des Bundestagswahlkampfes 1980 eingeordnete Thema „Koalition mit der SPD" angesehen wurde.

Auswirkungen auf die Wahlentscheidung haben in den Augen der Bevölkerung nur wenige politische Ereignisse gehabt:

— Der Hirtenbrief der katholischen Bischöfe, von 63 % der Bevölkerung als wirksam und mehrheitlich als positiv für die CDU/CSU angesehen. — Demonstrationen und Ausschreitungen in Bremen und Hamburg, von 56 % genannt und mit sehr deutlicher Mehrheit der CDU/CSU gutgeschrieben.

— Die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, von 53 % genannt und als positiv für die SPD/FDP-Koalition verbucht.

— Die Moskau-Reise von Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher, von ebenfalls 53 % genannt und der Koalition gutgeschrieben. Die Absage des Treffens Schmidt/Honecker (stärker als Belastung der SPD angesehen), der Bombenanschlag auf dem Oktoberfest in München (eher zu Lasten der Opposition eingeordnet), die Absage des Treffens Schmidt/Gierek (zu Lasten der Koalition) und die Streiks in Polen (bei etwa gleicher Verteilung ihrer Wirkung) hatten in den Augen einer großen Mehrheit der Wähler auf die Wahlentscheidung keine Auswirkungen.

Anders als 1972, wo Themen und Ereignisse — Friedenspolitik und Grundlagenvertrag mit der DDR — sehr deutlich die SPD begünstigten und für sie neue Wählerschichten mobilisiert hatten, reichten 1980 die Themen und Ereignisse, denen für die Wahlentscheidung Gewicht beigemessen wurde, bei etwa gleicher Wirkung über die jeweils eigenen Parteienpotentiale kaum hinaus.

Bewertung des Wahlkampfes der Parteien Während die Medien Fernsehen — deutlich an der Spitze —, Hörfunk und Presse zur Unterrichtung über Parteien und ihre Politiker etwa in gleich hohem Maße genutzt wurden wie in den vorhergehenden Bundestagswahlen, ist 1980 im Vergleich mit früheren Wahlen die Bedeutung des politischen Gesprächs mit Kollegen, Freunden und Verwandten merklich zurückgegangen. Gleichzeitig ist es den Parteien 1980 in viel geringerem Maße als früher gelungen, über die eigenen Wahlkampf-medien — Wahlsendungen in Fernsehen und Radio, Anzeigen, Plakate und Informationsmaterial — Informationen und Argumente an die Wähler zu vermitteln. So erklärten 1972 zwei Drittel der Wähler, sie hätten aus den Fernsehsendungen „Parteien zur Wahl" wichtige Informationen entnommen; 1980 sind es nur noch 43 %, die über dieses Medium Informationen für ihre Wahlentscheidung gezogen haben. Ob diese geringere Beachtung der Wahlkampf-Aussagen der politischen Parteien nun als gesunkenes politisches Interesse oder zunehmende Abneigung gegenüber der Wahl-werbung interpretiert wird — der Anteil der Informationen, die von den Parteien direkt an die Wähler vermittelt werden konnten, ist 1980 geringer geworden.

Bei einem Vergleich der Wahlkampfaktivitäten von CDU/CSU und SPD kommt die Union deutlich besser weg: 40 % der Wähler sahen sie als aktivste Partei, nur 15 % die SPD, die noch 1972 mit deutlichem Vorsprung vor der Union als aktiver angesehen wurde. Auch bei einem Vergleich des Wahlkampfstils aller drei im Bundestag vertretenen Parteien wird die Union mit deutlichem Vorsprung als die kämpferischste Partei angesehen. Dieser Eindruck wird aber voll dadurch kompensiert, daß sie in allen anderen wichtigen Positionen eines Polaritätenprofils ihres Wahlkampfstils — fair, sachlich, glaubwürdig, ansprechend und informativ — von der Bevölkerung insgesamt und noch sehr viel deutlicher von den FDP-Wählern schlechter als die SPD bewertet werde. Die FDP erhielt — mit großem Abstand und auch von den Wählern der anderen Parteien — positive Noten: Sie hat in den Augen der Bevölkerung den fairsten, den sachlichsten, den glaubwürdigsten und — mit geringerem Vorsprung vor den übrigen Parteien — den informativsten Wahlkampf geführt.

Haupteinflußfaktoren der Wahlentscheidung Als für sie wichtigste Faktoren der Wahlentscheidung nannten nach der Wahl:

Die Wähler der SPD — mit Abstand Helmut Schmidt (Skalenwert 3. 8)

— die bisherige Regierungspolitik (3. 1)

— die Außenpolitik und die außenpolitischen Ziele der Partei (2. 8).

Die CDU/CSU-Wähler — die Vorstellungen und Ziele der Union zur inneren Sicherheit und Verbrechensbekämpfung (3. 3)

— die Wirtschaftspolitik der Union (3. 1)

— die Familienpolitik der Union (2. 7) — weit vor dem Kanzler-Kandidaten Strauß (nur 1. 7) die Spitzenpolitiker (Mannschaft) der Union (2. 7).

Die Wähler der FDP — die Außenpolitik bzw. die außenpolitischen Ziele der FDP (2. 9)

— die Spitzenpolitiker der FDP (2. 7)

— die wirtschaftspolitischen Ziele und die Wirtschaftspolitik der Partei (2. 5), aber auch — in weit höherem Maße als die Wähler von SPD und Union — die Art und Weise, wie die Partei ihren Wahlkampf führte (2. 5).

Für die Wähler der Grünen hatten das Programm der Partei (2. 7) und die Bereitschaft, gesellschaftspolitische Reformen in der Bundesrepublik durchzuführen (2. 4), gravierende Bedeutung.

Zusätzliche Aufschlüsse über die Momente, die den Zustrom zur FDP bewirkten, geben die Meinungen der FDP-Wähler zum Wahlergebnis: In höherem Maße als die Wähler der beiden anderen Parteien (mit jeweils über 90 %) stimmen sie den Statements zu: — Die FDP hat deswegen so viele Stimmen erhalten, weil die Wähler gegen die Alleinherrschaft einer Partei sind. — Die FDP hat wegen ihres sachlichen Wahlkampfes ein so gutes Ergebnis erreicht.

Aufschlußreich erscheint auch, daß das Statement „Im Wahlkampf sind die politischen Gegensätze zwischen Regierung und Opposition maßlos übertrieben dargestellt worden" bei Gesamtbevölkerung und insbesondere FDP-Wählern an der Spitze der nachträglich abgegebenen Meinungen zum Wahlergebnis rangiert. Das belegt, daß eine konfliktreiche und polemische Wahlauseinandersetzung mehrheitlich ungern gesehen wird und einen Teil der Wähler motivierte, sich zwischen den Fronten, aber ohne Gefährdung der bisherigen Mehrheitsverhältnisse, einen Ausweg zu suchen. Daß das Moment, die Alleinherrschaft einer Partei zu verhindern, für alle Wähler — insbesondere aber die der FDP — so große Bedeutung gehabt hat, deutet auf eine Über-schätzung des Negativ-Faktors Strauß zu Lasten der CDU/CSU und zugunsten der SPD hin.

Insgesamt scheint 1980 auch aufgrund der Tatsache, daß zahlreiche politische Themen und Argumente der konkurrierenden Parteien nicht intensiv genug vermittelt werden konnten, die Wählerentscheidung stärker durch reale und atmosphärische Faktoren (Koalition sichern, Alleinherrschaft verhindern, Wahlkampfstil honorieren) als durch politische Zielvorstellungen beeinflußt zu sein. Eine Hypothek für die kommende Zeit: Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung dürfte, verunsichert durch den Bundestagswahlkampf 1980, die politische Auseinanderset-zung verstärkt als negativ empfinden und diejenigen Gruppierungen begünstigen, die ihre Probleme scheinbar konfliktfrei bewältigen.

VI. Entwicklungen nach der Wahl

Das Bundestagswahlergebnis wurde in der ersten Nachwahlphase von allen Parteien akzeptiert: Die CDU/CSU, die Schlimmeres erwartet hatte, sah sich — verbunden mit der „unblutigen" Erledigung der Kandidatur von F. J. Strauß — auf noch erträglichem Stimmen-niveau; die SPD konnte ihren geringen Zuwachs mit der neuen Konkurrenz der Grünen und den an die FDP ausgeliehenen Stimmen recht gut rechtfertigen; die FDP schließlich hatte Anlaß, ihre letztlich unverhoffte Stärkung vorbehaltlos zu feiern. „Business as usual", nunmehr seit 11 Jahren von der Koalition praktiziert, schien die naheliegende Konsequenz.

Belastungen und Gegenwind Während noch im Oktober eine Reihe von äußeren Ereignissen wie — die Erhöhung der Zwangsumtauschsätze für West-Besucher durch die DDR am 9. Oktober,

— die in Gera gehaltene Grundsatzrede des DDR-Staatsratsvorsitzenden Honecker mit der Forderung nach Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft durch Bonn vom 12. Oktober,

— neue Spannungen in Polen durch die Streiks im Zusammenhang mit den Statuten der Gewerkschaft „Solidarität"

die Regierungslinie in der Öffentlichkeit in Frage stellten, erbrachten die Koalitionsverhandlungen später als erwartet Ergebnisse, die teilweise — wie die Prioritäten der zukünftigen Haushaltseinsparungen und die Sicherung der Montan-Mitbestimmung — in der SPD wie in den Gewerkschaften als Mißerfolge des größeren Koalitionspartners angesehen wurden. Vor der Abgabe der Regierungserklärung am 24. November ist — durch die zunehmend kritische Medienberichterstattung angeheizt — der Eindruck entstanden, die Sozialdemokraten hätten sich durch den kleineren Koalitionspartner Übervorteilen lassen. Die unter dem Tenor „Mut zur Zukunft" gestellte moderate und in ihren Festlegungen für die Zukunft eher zurückhaltende Regierungserklärung des Bundeskanzlers wurde aus oppositioneller Sicht als perspektivlos attackiert, von sozialdemokratischer Seite vielfach als Manifestation der als unzureichend empfundenen Koalitionsvereinbarungen angesehen. Die Aufforderungen des Bundeskanzlers zur Einsicht in die vielfältigen Zusammenhänge unserer Welt, zum entschlossenen gemeinschaftlichen Handeln in Konzentration auf die wichtigen Aufgaben, zu neuen Gedanken, gerechten Lösungen und solidarischem Handeln werden hinter der Enttäuschung, daß weit'ausgreifende politische Schritte nur noch sehr begrenzt möglich sind, kaum wahrgenommen.

Einbruch des politischen Stimmungsklimas Für die Bevölkerung scheint die Bundestagswahl eine Zäsur dargestellt zu haben. Was vorher keine oder nur wenig Beunruhigung auslöste, wurde kurz nach der Wahl eskalierend in schwärzeren Farben gesehen:

— die politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik, zum Wahltermin noch relativ optimistisch gesehen, bieten der Bevölkerung heute mehr Anlaß zur Beunruhigung als je zuvor in den vergangenen fünf Jahren

— die Hoffnungen gegenüber der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wie auch gegenüber der längerfristigen Entwicklung des Arbeitsmarktes sind seit Spätherbst 1980 stetig gesunken' die „Angstlücke" zwischen allgemeiner und persönlicher Wirtschaftserwartung klafft wieder weit auseinander;

— im Gefolge dieser verstärkten politischen und wirtschaftlichen Beunruhigung werden vor allem die SPD, aber auch die Vertrauens-werte von Bundesregierung und Bundeskanzler merklich belastet. Die Wähleranteile der SPD sind einigen Instituten zufolge um bis zu 5 % unter das Bundestagswahlergebnis vom 5. Oktober 1980 gesunken, während die CDU/CSU-Werte sich nach der Wahl deutlich verbessert haben und die FDP ihren Wähleranteil auf dem erreichten Niveau zu halten vermochte. Eine ähnliche Entwicklung zu Lasten der SPD ist auch nach der Bundestagswahl vom 3. Oktober 1976 bis tief in den Herbst 1977 (verstärkt und verlängert durch terroristische Belastungen) zu verzeichnen gewesen. Noch niedriger hatten die SPD-Werte mit 31 bis 34% Stimmenanteil Anfang 1974 — im Gefolge der ersten Ölkrise — gelegen.

Daß sich die Indikatoren der politischen Stimmung 1980/81 so drastisch verschlechtert haben, dürfte vor allem zwei Gründe haben:

— Einerseits hatte die Wahlauseinandersetzung — Strauß verhindern, Schmidt sichern — die Aufmerksamkeit für die übrigen Probleme (Wirtschaftserwartungen, außenpolitische Entwicklungen) im öffentlichen Bewußtsein offenbar stärker absorbiert, so daß die Signale einer schwieriger werdenden Zukunft erst nach dem 5. Oktober voll wahrgenommen und überproportional registriert wurden. Im März 1981 stellt Erhard Eppler für den Zeitpunkt nach der Bundestagswahl 1980 fest: „Man hatte den Eindruck, eine ganze Gesellschaft sei nach der emotionalen Scheinpolarisierung des Wahlkampfes jäh in den Sog des politischen Nichts geraten. 1'18)

— Zum anderen hatte die Wahlauseinandersetzung selbst, wie demoskopisch nachmeßbar, Informationsdefizite und Verunsicherungen geschaffen, die sich erst nach der Wahl als Besorgnisse und Ängste voll auswirkten. So ergab eine demoskopische Erhebung, daß die im Wahlkampf vermittelten Informationen zur Staatsverschuldung, zur Rentensicherung und zur Energieversorgung der Bevölkerung besonders widersprüchlich und unverständlich erschienen sind Es ist zu vermuten, daß die kontroversen Diskussionen während des Bundestagswahlkampfes den Eindruck der Widersprüchlichkeit problematischer Themen verstärkt hat.

Der Bundestagswahlkampf 1980 und die unübersichtlichen Sachzwänge danach haben somit ein durch Ängste und Sorgen bestimmtes Stimmungsklima geschaffen, das die Realität — wie die im internationalen Vergleich guten politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungschancen bei allerdings längeren und komplizierteren Entscheidungsprozessen — deutlich unterbietet. Verlangsamungen der Entwicklung werden als Zäsur, Güterabwägungen als Handlungsverzicht, Zielkonflikte als Versagen wahrgenommen. Nur so erscheint es verständlich, daß die Einschätzung der allgemeinen Wirtschaftslage extrem negativer ist als die der persönlichen, die jeder Bürger erlebt, daß die politische Beunruhigung heute sehr viel größer ist als beispielsweise nach dem Einmarsch der Sowjets in Afghanistan.

Erste Perspektiven Der Bundestagswahlkampf 1980 hat in großen Teilen der Bevölkerung offenbar Mißverständnisse, Verdrossenheit und Unsicherheiten ausgelöst, die für ein demokratisches System — das gerade in durch äußere Sachzwänge beengterem Handlungsrahmen des Verständnisses und Vertrauens, der Mitwirkung und Solidarität der Bürger bedarf — auf Dauer eine schwere Belastung darstellen. Integrationsbemühungen etwa ausländischen Arbeitnehmern oder der Jugend gegenüber sind ohne Solidarität nicht realisierbar, schwierige Güterabwägungen etwa auf dem Sektor der Energieversorgung sind ohne das Vertrauen der Bürger in Kompetenz und Sorgsamkeit der Verantwortlichen nicht ohne Reibungsverluste durchsetzbar. Die zur Zeit zumindest für den Bundesbereich durch das pessimistische Stimmungsklima stärker betroffenen Koalitionsparteien wie auch die Bundesregierung müßten deshalb durch schrittweises Handeln und dessen offene Erläuterung verstärkt kenntlich machen, wie in begrenzterem Rahmen politische Gestaltung möglich bleibt, geduldig helfen, enttäuschte Erwartungshorizonte und politische Realität zusammenzuführen. Dazu gehört, die Entscheidungsfindung in Parteien und Fraktionen wie auch in der Bundesregierung transparenter zu machen und operational zu zeigen, welches Maß an Sach-B diskussion erforderlich ist, um tragfähige und möglichst breit akzeptierbare Lösungen zu entwickeln. Das erfordert auf Seiten der Parteien wie der Regierenden, ihre Diskussionen wie ihr Erscheinungsbild nicht nur strikt auf den jeweiligen internen Willensbildungsprozeß hin zu orientieren, sondern angesichts einer großen Zahl verunsicherter Bürger auch politisch-didaktisch einzusetzen: als Integration des Außenstehenden in diesem Willensbildungsprozeß. Die politischen Institutionen müssen sich verstärkt als Dolmetscher ihrer Zielvorstellungen begreifen, um sicherzustellen, daß Entscheidungsablauf und politisches Handeln von einer bedrückter gewordenen Wählerschaft noch verstanden und akzeptiert werden können.

Diese Aufgabe wird nicht leicht und schnell zu lösen sein, denn — der vielfach gespenstische Wahlkampf 1980 mit seinen anachronistischen Anwürfen — wie etwa dem Doppel-Tiefschlag von „Volksfront" und „Moskau-Fraktion" — hat erheblich dazu beigetragen, Teile der Bevölkerung der politischen Realität zu entfremden, und — die permanente Dramatisierung von Konflikten und Streit in der SPD, wie sie seit Januar in fast allen Medien festzustellen ist, verschafft dem Bürger ebenfalls wenig Chancen, zu den zentralen politischen Fragen der achtziger Jahre durchzustoßen.

Wie politisches Handeln muß innerparteiliche Diskussion in einer großen Partei, die über Sachfragen ernsthaft um den richtigen Weg ringt und ihre Kontroversen nicht aus taktischen Gründen unter den Teppich kehrt, ein Stück politischer Bildung sein: Der durch die Medienberichterstattung stets einbezogenen Bevölkerung vorführen, wie in der Demokratie Argumente ausdiskutiert und Lösungen erarbeitet werden.

Die Neigung zu Partei-und Staatsverdrossenheit ist nicht nur in der jüngeren Generation größer geworden als eingangs der siebziger Jahre. Es wird angesichts der unübersichtlichen und vielfach belastenden außen-und innenpolitischen Entwicklungen Anstrengungen kosten, dieser Neigung gegenzusteuern und eine Gesellschaft zu verhindern, in der engagierte und verdrossene Bürger immer weniger Verständnis für einander aufbringen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Allensbach/infas Februar/März 1980.

  2. „Bild" -Interview vom 22. Juli 1980.

  3. Vgl. STERN Nr. 39 vom 18. 9. 1980, SPIEGEL Nr. 39 vom 22. 9. 1980.

  4. Die Wende nach dem Sommerloch, in: Vorwärts vom 26. 2. 1981, Nr. 10, S. 19.

  5. Infratest-Studie Oktober/November 1978.

  6. Bericht der Forschungsgruppe Wahlen, Mannheim, 9. Oktober 1980, S. 44.

  7. Ursula Feist, Klaus Liepelt, Stärkung und Gefährdung der Sozial-liberalen Koalition — Das Ergebnis der Bundestagswahl vom 5. Oktober 1980, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 1/1981.

  8. Wählerverhalten bei der Bundestagswahl 1980 nach Geschlecht und Alter, in: Wirtschaft und Statistik. 1/1981, S. 14— 26.

  9. Vorwärts, 26. 2. 1981, Nr. 10, S. 19.

  10. Analyse der Bundestagswahl 1980, FDP-Partei-vorstand, November 1980, S. 3.

  11. Bundestagswahl 1980: Ergebnisse der Nachwahlanalyse, CDU-Bundesgeschäftsstelle, Bonn 23. 2. 1981, S. 2.

  12. Ursula Feist, Klaus Liepelt, Stärkung und Gefährdung der sozialliberalen Koalition — Das Ergebnis der Bundestagswahl vom 5. Oktober 1980, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 2/81.

  13. Infratest-Untersuchung Oktober/November 1980. Sofern im folgenden demoskopische Daten angeführt werden, beziehen sie sich auf diese Erhebung.

  14. Gemessen anhand eines Skalen-Thermometers von + 5 (den Wahlentscheid sehr beeinflussend) bis — 5 (hat den Wahlentscheid überhaupt nicht beeinflußt).

  15. infas-Erhebungen Oktober 1980 bis März 1981.

  16. Ebd.

  17. Infratest-Untersuchung zur Informationsnutzung Oktober/November 1980.

Weitere Inhalte

Dieter Just, Dr. phil., geb. 1937, Studium der Publizistik, Soziologie und Geschichte in Berlin; Referent für Grundsatzfragen, Planung und Meinungsforschung in der Inlandsabteilung des Presse-und Informationsamtes der Bundesregierung. Veröffentlichungen: Der Spiegel — Arbeitsweise, Inhalt, Wirkung, Hannover 1967; Entwicklungspolitik heute, Bonn 1971; Auf der Suche nach dem mündigen Wähler — Die Wahlentscheidung 1972 und ihre Konsequenzen (Mitherausgeber), Bonn 1974; Entscheidung ohne Klarheit — Anmerkungen und Materialien zur Bundestagswahl 1976 (Mitherausgeber), Bonn 1978.