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„Deutscher Sonderweg". Zur Geschichte und Problematik einer zentralen Kategorie des deutschen geschichtlichen Bewußtseins | APuZ 33/1981 | bpb.de

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APuZ 33/1981 Artikel 1 „Deutscher Sonderweg". Zur Geschichte und Problematik einer zentralen Kategorie des deutschen geschichtlichen Bewußtseins Die SED und der „Sozialdemokratismus" Die Acht-Stunden-Ideologie Habe ich den Fehler meines Lebens gemacht?

„Deutscher Sonderweg". Zur Geschichte und Problematik einer zentralen Kategorie des deutschen geschichtlichen Bewußtseins

Bernd Faulenbach

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Zusammenfassung

Gegenwärtig wird — z. T. stimuliert durch die Preußen-Welle —wieder über die Frage diskutiert, wie sehr und wodurch sich die deutsche historische Entwicklung von der der übrigen europäischen, insbesondere der westeuropäischen Länder unterscheide und wie dies zu bewerten sei. Die Debatte über diese Frage ist alt; ein Blick auf ihre Geschichte vermag zur Einordnung und Reflexion der gegenwärtigen Diskussion beitragen. Dieser Aufsatz untersucht die Wandlung und Funktion der These eines besonderen deutschen Weges, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Scheitern einer Nationalstaatsbildung unter Führung des liberalen Bürgertums und mit dem Erfolg der Reichs-gründung „von oben“ durch den preußischen Staat im deutschen Bildungsbürgertum herausgebildet hat. Nach 1871 wurde die These zum „Sinnzentrum" des bürgerlichen Geschichtsbewußtseins, mehr noch — zumal während des Ersten Weltkrieges — zur Rechtfertigungsideologie des Kaiserreichs. In der Weimarer Zeit stand die von Historikern ebenso wie von Staatsrechtlern und Publizisten vertretene Sonderwegsvorstellung im Gegensatz oder doch in Spannung zur Republik und war unverkennbar mit antidemokratischen, antiliberalen und antiparlamentarischen Interessen verbunden. Nach 1933 wurde sie mit als Legitimation des Dritten Reiches benutzt. Nach der Katastrophe, in der das zum Ziel der deutschen Entwicklung stilisierte Großdeutsche Reich unterging, konnte der deutsche Sonder-weg vielen nur noch als „Irrweg“ erscheinen. Seit einigen Jahren wird die These eines deutschen Sonderwegs wissenschaftlich und politisch angezweifelt. Von angelsächsischen wie deutschen Historikern und Publizisten wird gefordert, daß die deutsche Geschichte nicht ausschließlich „von 1933 her“ in den Blick genommen werden dürfe; auch sind Tendenzen, die deutsche Entwicklung wieder in ein positiveres Licht zu rücken und an Traditionen der besonderen deutschen Entwicklung anzuknüpfen, nicht zu übersehen. Die Diskussion scheint eine neue Wendung des deutschen Geschichtsbewußtseins anzudeuten. überblickt man die Entwicklung der Sonderwegsvorstellung, so ist ihre enge Verschränkung mit dem jeweiligen deutschen Selbstverständnis, auch ihre Verknüpfung mit politischen und gesellschaftlichen Interessen, augenfällig. Daß die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in wesentlichen Aspekten von der westeuropäischen Entwicklung abweicht und Deutschland das einzige hochentwickelte Land war, in dem der Faschismus sich durchzusetzen vermochte, ist nicht zu bestreiten. Dennoch läßt die Geschichte der Sonderwegsthese die Gefahr erkennen, daß sie zu einer national verengten, die Komplexität des historischen Prozesses stark reduzierenden Sichtweise tendiert, die sich im Extremfall zu nationaler Ideologie verdichten kann.

Einleitung

I. Zur Entstehung der Vorstellung einer besonderen deutschen Entwicklung Vormärzliche Interpretationen Zum geschichtlichen Bewußtsein der Reichsgründungsepoche II. III. IV. Einleitung INHALT Die Ideologisierung des deutschen Weges

Das Kaiserreich als Ziel des deutschen Weges Der „deutsche Weg" als Anti-Ideologie zur Weimarer Republik Die Auflösung der Ideologie des deutschen Weges Der „deutsche Sonderweg" als Fehlentwicklung Die neueste Diskussion Funktion und Begrenzung der Sonderwegskategorie Merkmale隣?

Gegenwärtig wird — z. T. stimuliert durch die Preußen-Welle und die Berliner Preußen-Ausstellung — wieder über die Frage diskutiert, wie sehr und wodurch sich die deutsche historische Entwicklung von der der übrigen europäischen, insbesondere der westeuropäischen, Länderunterscheide und wie dies zu bewerten sei. Die Debatte über diese Frage ist alt; ein Blick auf ihre Geschichte vermag zur Einordnung und Reflexion der gegenwärtigen Diskussion beitragen.

Der Begriff „deutscher Sonderweg" und die nahezu synonymen Begriffe „besondere deutsche Entwicklung" bzw. „deutsche Sonderentwicklung“, die ein Abweichen der deutschen politischen und gesellschaftlichen Entwicklung von der „normalen" Entwicklung der westlichen (weniger der östlichen) Nationen meinen, sind — wie etwa die aktuelle Preußen-Literatur zeigt — in der neueren historisch-politischen Diskussion verbreitet. Sie werden von Autoren unterschiedlicher politischer Orientierung — etwa Bracher, Dahrendorf und Wehler — verwandt und tauchen in recht verschiedenartigen Kontexten auf. Sie werden ebenso zur Kennzeichnung der historischen Voraussetzungen des Nationalsozialismus wie zur Charakterisierung eines Defizits an Liberalität in der deutschen Gesellschaft oder zur Beschreibung der Spezifika des kapitalistischen Systems in Deutschland gebraucht. Of-fensichtlich bildet der Begriff eine zentrale Kategorie der geschichtlichen Interpretation. Michael Stürmer nennt die These vom deutschen Sonderweg die „vieldeutigste und eta-blierteste aller Thesen zur neueren deutschen Vergangenheit" Der englische Historiker Geoff Eley hat kritisch von einem „tiefverwurzelten Glauben“ an den deutschen Sonderweg gesprochen In derTat hat die Vorstellung von einer besonderen deutschen Entwicklung eine lange Tradition Seit dem 19. Jahrhundert dient sie — bei keineswegs gleichbleibendem Inhalt — als Interpretationsschema der deutschen Geschichte: im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik, nicht nur bei deutschen, sondern auch bei ausländischen Interpreten. Angesichts der fortdauernden zentralen Bedeutung des Begriffs „deutscher Sonderweg" („deutscher Weg“ etc.) für die Interpretation der neuesten Geschichte erscheint es angebracht, seine Tragfähigkeit, Implikationen und Funktionen im Kontext der deutschen Geschichte zu diskutieren. Nicht die „besondere“ deutsche Geschichte ist Gegenstand dieser Skizze. Vielmehr sollen durch einen Blick auf die Geschichte der Sonderwegsvorstellung die Spezifika des modernen Sonderwegsbegriffs bestimmt und einer kritischen Reflexion unterzogen werden.

Die folgende Skizze der zum Teil komplexen Sonderwegsvorstellungen in Vergangenheit und Gegenwart beschränkt sich dabei auf zwei Aspekte:

a) Welche Epochen und Momente werden als konstitutiv für die deutsche Sonderentwicklung betrachtet? Gilt die Abweichung als eine transitorische oder unaufhebbare, als eine partielle oder totale? Was ist die Norm, an der die „Besonderheit“ der deutschen Entwicklung abgelesen wird; wo ist das Bezugssystem? b) Inwieweit wird der „deutsche Sonderweg" als eine notwendige und sinnvolle Entwicklung betrachtet, inwieweit erscheint er als Fehlentwicklung? überwiegt im Sonderwegsbild das Bewußtsein problematischer Aspekte der deutschen Geschichte oder die Betonung spezifisch deutscher politisch-kultureller Leistungen? Wie alle Allgemeinbegriffe des historischen Denkens bindet der Sonderwegsbegriff Interpretation der Vergangenheit und gegenwartsbezogene Orientierungen und Wünsche zusammen. Er ist deshalb unverkennbar auf die jeweilige „Gegenwart“ bezogen. Seine Untersuchung hat entsprechend die wechselnden historischen Kontexte einzubeziehen, bietet damit aber auch die Möglichkeit, Aufschlüsse über das deutsche geschichtliche Bewußtsein in den verschiedenen Epochen zu gewinnen. Es kann kein Zweifel bestehen, daß die „Idee“ eines besonderen „deutschen Weges" eine bedeutsame Komponente des Nationalbewußtseins breiter bürgerlicher Schichten seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war. Formuliert wurde diese „Idee" vor allem von Historikern, Staatsrechtlern, Philosophen und Publizisten, von denen hier freilich nur ganz wenige, nicht einmal die wichtigsten Vertreter, genannt werden können — wobei es ohne Vereinfachungen und Typisierungen nicht abgehen kann

I. Zur Entstehung der Vorstellung einer besonderen deutschen Entwicklung

Vormärzliche Interpretationen Die Vorstellung eines besonderen „deutschen Weges“ entwickelte sich im Zusammenhang mit dem modernen deutschen Nationalbewußtsein ein Produkt des historistischen als Zeitalters, in dem die Tendenz verbreitet war, nationale Identität, auch politische Forderungen, über die Geschichte zu begründen.

In Ansätzen läßt sich diese Vorstellung bereits in der Epoche der Befreiungskriege nachwei-.sen, in der einerseits die Errungenschaften der Französischen Revolution als Vorbild für das zurückgebliebene deutsche Leben staatliche wirkten, andererseits aber die deutsche Identität von zahlreichen Denkern und Publizisten in Abgrenzung oder Entgegensetzung zu Frankreich und zur Französischen Revolution definiert wurde. War hier bereits der deutsch-westeuropäische Gegensatz antizipiert, so überwog im Geschichtsbewußtsein des vormärzlichen Bildungsbürgertums doch noch eine Sichtweise, die den europäischen Zusammenhang betonte.

Die liberalen Historiker dieser Epoche — Droysen, Häusser, Gervinus, Dahlmann u. a. — suchten zwar vielfach die Notwendigkeit der deutschen Einigung aus der Vergangenheit zu beweisen, begriffen aber die deutsche Geschichte nicht zuletzt in Hinsicht auf den universalen Prozeß zur Freiheit, wobei Freiheit — konkreter als bei Heger— als geistige, bürgerliche und politische Freiheit aufgefaßt wurde. Vorangetrieben wurde dieser Prozeß — aus der Sicht der Historiker — durch Revolutionen, die untereinander verknüpft waren und gleichsam eine Kette bildeten: Reformation (gleichsam als „Ur-Revolution" gedacht), englische Revolution, amerikanische Revolution, französische Revolution — die späteren Revolutionen erschienen dabei als Weiterführung der Tendenz der ersteren Die deutsche Nation hatte schon mit der Reformation Teil an diesem Prozeß, der — obgleich universal gedacht — nach verbreiteter Anschauung eine germanisch-amerikanische und eine romanisch-französische Entwicklungslinie aufwies, wobei die deutsche Geschichte natürlich der ersteren zugerechnet wurde.

Allerdings entwickelte sich schon im Vormärz ein Bewußtsein für die nationalen geschichtlichen Unterschiede, das selbst bei einem natur-rechtlich argumentierenden, am Vorbild Frankreich orientierten Historiker wie Rotteck nicht völlig fehlte. Dahlmann, der England als Vorbild einer evolutionären Entwicklung zu einer gemischten Verfassung betrachtete, glaubte nicht an die Möglichkeit, daß sich das englische Modell auf ganz Europa übertragen lasse, und sprach sich dafür aus, die Politik auf das „Maß der gegebenen Umstände" zurückzuführen, d. h. nach den jeweiligen Verhältnissen zu orientieren Das so historisch begründete Ziel der Mehrzahl der liberalen Historiker war die konstitutionelle Monarchie im nationalen Rahmen, z. T. schon in der preußisch-deutschen, kleindeutschen Variante, und damit verknüpft die Realisierung eines staatsbezogenen Freiheitsideals, das sich deutlich von dem westeuropäischen Freiheitsbegriff unterschied, auch wenn es noch nicht im Gegensatz zu diesem definiert wurde

Anders als die liberalen Historiker betrachtete Ranke von einem gemäßigt konservativen Standpunkt aus das Verhältnis der deutschen zu den anderen europäischen Nationen. Zwar verwandte auch er allgemeine Begriffe wie „abendländische Christenheit" und ging von der Einheit der germanisch-romanischen Völker aus. Doch hob er, Staaten und Nationen als Kollektivindividualitäten auffassend, die Bedeutung der nationalen Individualitäten hervor und bekämpfte politisch den nach Allgemeingültigkeit strebenden französischen Liberalismus und Konstitutionalismus Indem er die Erforschung und Darstellung der individuellen Entwicklungen der verschiedenen Staaten und Nationen als Aufgabe der Historie begriff, erhielt diese die Funktion, die „Besonderheit“ der deutschen Entwicklung zu begründen. Zweifellos hat Rankes Geschichtsschreibung in der Folgezeit in diesem Sinne als Paradigma gewirkt.

Insgesamt herrschte jedoch im bürgerlichen Geschichtsbewußtsein des Vormärzes noch eine Anschauung vor, die trotz der wachsenden Bewußtheit der — meist als Rückständigkeit interpretierten — Spezifika der deutschen Geschichte die deutsche Entwicklung als Teil des europäischen Prozesses betrachtete, der eine einheitliche Entwicklungsrichtung zu besitzen schien. Erst nach dem Scheitern der 48er Revolution wurde dieses Interpretationsmuster zunehmend zurückgedrängt. Zum geschichtlichen Bewußtsein der Reichsgründungsepoche Die „Verarbeitung" des Verlaufs und des Ausgangs der 48er Revolution im bürgerlichen Bewußtsein verhalf einer Denkungsart zum Durchbruch, die die Unterschiedlichkeit der verschiedenen nationalen Entwicklungen stark betonte und die Wirkungsmächtigkeit realpolitischer Faktoren in Geschichte und Gegenwart hervorhob. Die vormärzlichen Auffassungen — die Vorstellung eines universalen Zusammenhangs der einzelnen Revolutionen, die idealistische Geschichtsphilosophie, auch die Annahme eines Vorbildcharakters fremder Verfassungen — wurden nun von den meinungsführenden liberalen Historikern kritisiert

An die Stelle einer Interpretation, die in der Reformation den Beginn des neuzeitlichen Emanzipationsprozesses sah, trat eine Sicht, nach der die einzelnen Reformationen die nationalen Charaktere und die individuellen nationalen Entwicklungen bestimmt hatten. Damit näherte sich die Position der liberalen Historiker der Rankes an, nach der die Nationen im Zeitalter der Reformation ihr spezifisches Verhältnis zueinander gewonnen hatten. Die Reformation Luthers rückte in eine nationale Entwicklungslinie und wurde zum Ereignis, das die deutsche nationale Identität dauerhaft geprägt hatte. Auf dem Boden des Protestantismus hatten sich demnach sowohl der preußische Staat, die intensivste deutsche Staats-bildung, als auch eine spezifische deutsch-protestantische Bildung entwickelt, die in eindeutigem Gegensatz zur französisch-rationalistischen beziehungsweise romanisch-katholischen Bildung stand

Als Kennzeichen der protestantischen (und damit deutschen) Entwicklung galt ihr evolutionärer Charakter; umgekehrt wurden Katholizismus, Absolutismus und Revolution in einen engen historischen Zusammenhang gebracht. Zweifellos war diese Geschichtsauffassung nicht unbeeinflußt von politischen Optionen. Eine antirevolutionäre Stoßrichtung prägte zunehmend das bürgerliche geschichtliche Bewußtsein.

Zumal mit den Siegen Bismarcks im Verfassungskonflikt und im Kriege mit Österreich verstärkte sich im liberalen Bürgertum — und damit auch in der Historiographie — eine realpolitisch-nationaletatistische Orientierung. Man betonte nun das „Recht" und die „Pflicht“ jeder Nation, „sich nach eigentümlicher Anlage zu selbständigem, anderen Völkern gleichberechtigtem Leben heraufzuarbeiten" Dies implizierte, daß das Ziel der „Einheit" nun deutlich vor dem Ziel der „Freiheit“ rangierte, eine Prioritätensetzung, die im Vor-märz zwar schon vorgenommen worden war, aber noch keineswegs vorgeherrscht hatte. Obgleich im Norddeutschen Bund und im neuen Reich die wesentlichen Entscheidungen den vom Parlament nicht abhängigen Regierungen Vorbehalten waren und sich die politische Führung weiterhin aus Bürokratie, Armee und Adel rekrutierte, wurde das monarchisch-konstitutionelle System von großen Teilen des Bürgertums als Preis für die Herstellung der nationalen Einheit akzeptiert, nicht zuletzt auch deshalb, weil bestimmte bürgerliche und liberale Errungenschaften gesichert und ein weiterer liberaler Ausbau des Reiches möglich zu sein schien.

Hatten die kleindeutschen Historiker die preußisch-deutsche Reichsgründung durch ihre Geschichtsschreibung vorbereitet, so tendierten sie nach 1871 dazu, den Weg zur Reichsgründung zu kanonisieren und das preußisch-deutsche Reich als die allein mögliche und der deutschen Geschichte gemäße Lösung der deutschen Frage zu rechtfertigen; sie schrieben — wie Jacob Burckhardt ironisch bemerkte — von nun an Geschichte „auf 1871 hin" Das Abweichen der deutschen Entwicklung von der westeuropäischen war nun offensichtlich: Die Rolle,. die das Bürgertum in Westeuropa spielte, füllten augenscheinlich in Deutschland der preußische Staat und die ihn tragenden Kräfte aus. Für den Wandel des bürgerlichen Geschichtsbewußtseins war bezeichnend, daß man begann, die Spezifika dieser Entwicklung in positivem Licht zu sehen.

Heinrich von Treitschke beispielsweise betrachtete das Ausbleiben einer bürgerlichen Revolution in Deutschland als Erscheinung, die einem „gesitteten Volke" wohl anstehe. „Die deutsche Revolution" — so meinte er 1870 unter dem Eindruck der ersten deutschen Waffenerfolge — „bleibt ihrem Charakter treu, sie vollbringt ihre entscheidenden Schläge durch kriegerische Kräfte unter der tatsächlichen Diktatur der Krone Preußens. Der öffentlichen Meinung verbleibt dabei nur eine bescheidene Mitwirkung" Unverkennbar bildete sich hier bereits ein Sonderbewußtsein heraus, das das Abweichen der deutschen von der westeuropäischen Entwicklung (bzw.dessen, was man dafür hielt) zum Vorzug stilisierte. Die Historiographie dieser Epoche zeigt, daß die Identifikation mit der besonderen deutschen Entwicklung unter dem Eindruck, der lange ersehnten Reichsgründung erfolgte und nicht unwesentlich durch die im Bildungsbürgertum verankerte etatistische Orientierung erleichtert wurde. Die spezifische politische und gesellschaftliche Konstellation der Reichsgründungsepoche führte mithin zur Ausbildung eines sich rasch verfestigenden deutschen Sonderwegsbewußtseins.

II. Die Ideologisierung des deutschen Weges

Das Kaiserreich als Ziel des deutschen Weges Ganz offensichtlich gab es für das Bildungsbürgertum in der späteren Bismarckzeit und der Wilhelminischen Zeit ein ausgesprochenes Bedürfnis, das Kaiserreich und seine spezifische Struktur — Plessner sprach später von der „Großmacht ohne Staatsidee“, die an der Mehrdeutigkeit einander ausschließender Traditionen litt — im historischen Zusammenhang und im Hinblick auf die andersartige westeuropäische Entwicklung zu rechtfertigen. Otto Hintze z. B. — ähnliche Interpretationen lieferten eine ganze Reihe von Historikern, Staatsrechtlern und Staatswissenschaftlern — stellte 1911 heraus, daß das monarchisch-konstitutionelle System sowohl dem für den deutschen Staat existentiellen Primat der Außenpolitik als auch der geschichtlich bedingten mangelnden Einheitlichkeit und Kohärenz der deutschen Gesellschaft und ihres Parteiensystems Rechnung trage Die Reichsverfassung in die Kontinuität der preußischen Staatsentwicklung einordnend, begriff er das monarchisch-konstitutionelle System als Metamorphose des aufgeklärten Absolutis-mus. Er bestritt, daß dieses System lediglich eine unvollkommene Entwicklungsstufe des Konstitutionalismus sei; vielmehr war es für ihn ein Typus sui generis. Die preußisch-deutsche Entwicklung durfte demnach nicht an der westeuropäischen gemessen werden.

In der in der Wilhelminischen Zeit verbreiteten Betonung der besonderen deutschen Entwicklung zu einer Großmacht mit spezifischem politisch-kulturellem Profil drückte sich zweifellos Vertrauen in das politische System des Kaiserreiches aus, das den Erweis erbracht zu haben schien, daß es zu einer Lösung der administrativen und sozialen Probleme einer Großmacht ebenso oder besser geeignet sei als die Systeme der Staaten Westeuropas. Dennoch war diese historische Legitimierung des politisch-gesellschaftlichen Status quo vor allem durch ihre defensive Komponente geprägt. In der Sozialdemokratie und ansatzweise auch im Linksliberalismus galt die deutsche Entwicklung als Fehlentwicklung oder schien doch durch Stagnation gekennzeichnet zu sein. Man war hier bestrebt, die deutsche Entwicklung in Richtung auf die westeuropäischen Verhältnisse, die die verhinderte Entwicklungsmöglichkeit der deutschen Gesellschaft zu verkörpern schienen, voranzutreiben. Wie sehr die deutschen Zustände unter Rechtfertigungsdruck standen, läßt sich auch daran ablesen, daß selbst bei den Apologeten des Sonderwegs immer noch die Vorstellung nachwirkte, die westeuropäische Entwicklung sei die „normale" Form der „Modernisierung". Die Ambivalenz der Haltung zu Westeuropa läßt sich außerdem daran ablesen, daß das deutsche Ausgreifen in die Weltpolitik u. a. mit dem Vorsprung der Imperien der westeuropäischen Völker begründet wurde; die deutsche Entwicklung galt insofern als historisch „verspätet”. Sogar die Proklamierung einer „deutschen Sendung“ — für die Selbstverwirklichung der individuellen Nationen — erfolgte nicht ohne Blick auf die westeuropäischen Nationen, ihre Weltreiche und die Ausstrahlung ihrer Ideen

Die forcierte Betonung des deutschen Weges spiegelt in gewisser Weise die außenpolitische Konstellation, in die das Reich seit den 90er Jahren geraten war. Bedeutsamer ist, daß die Idealisierung, Harmonisierung und historische Überhöhung des deutschen Weges nicht zuletzt im Hinblick auf die Integrationsprobleme des Reiches erfolgte. Die Strukturprobleme, Spannungen und Konflikte des Kaiser-reiches, das anachronistische mit modernen Komponenten unorganisch verband, wurden durch die zur Ideologie gesteigerte Vorstellung eines besonderen deutschen Weges überdeckt. Sie hatte ihre Basis zunehmend in einem Nationalismus, der, anders als der französische oder amerikanische Nationalismus, nicht mit zukunftweisenden Menschheitsforderungen amalgamiert war, sondern — von der kulturellen und historischen Besonderheit der deutschen Nation ausgehend — gerade durch die ideologische Konfrontation mit Westeuropa der Legitimierung der Vorherrschaft der alten Eliten, überhaupt der Absicherung der damaligen gesellschaftlichen Machtverhältnisse diente; dies kam am handgreiflichsten in seiner Wendung gegen die „Reichsfeinde", vor allem die Sozialdemokratie, zum Ausdruck

Eine weitere Zuspitzung und Popularisierung erfuhr die Ideologie des deutschen Weges im Ersten Weltkrieg, der in der deutschen öffentlichen Meinung, zumal von zahlreichen deutschen Professoren, nicht nur als Kampf gegensätzlicher Interessen, sondern auch konträrer politischer Ideologien, Verfassungssysteme und politischer Kulturen aufgefaßt wurde. In den sogenannten „Ideen von 1914“ wurden die „deutsche Freiheit“ dem englischen Parlamentarismus, der preußisch-deutsche Beamten-staat und sein „sozialer Grundzug" der westeuropäischen Plutokratie, das preußische Dienst-ethos dem westeuropäischen Eudämonismus, der Idealismus, die Romantik und der Historismus der Naturrechtslehre und dem Rationalismus gegenübergestellt: Der deutsch-westeuropäische Gegensatz umfaßte damit alle Lebensbereiche Die Unterschiede wurden als historisch tief verwurzelt erwiesen, indem sie auf die differierenden Schicksale des Westens und der Mitte seit dem beginnenden 16. Jahrhundert zurückgeführt wurden. Nach Ansicht des — zu den Gemäßigten zählenden — Ernst Troeltsch z. B. hatten die deutschen historischen Sonderbedingungen der Ausbildung demokratischer Verfassungsformen in Deutschland Grenzen gesetzt und die Entwicklung zum Großstaat in eigene — wenn auch vom westlichen Vorbild nicht unbeeinflußte — Bahnen gelenkt, die in der sozialen Gesetzgebung eine „großartige, die ganze Welt zur Nachfolge zwingende deutsche Sonderform der Volksfreiheit und ihrer Sicherung" hervorgebracht hatte Andere sahen die Unterschiede unmittelbar in den verschiedenen Nationalcharakteren („Händler und Helden") begründet, wodurch sie die Ideologie des deutschen Weges in der Übersteigerung ad absurdum führten.

Die deutsche Ideologie im Ersten Weltkrieg war evidenterweise weit weniger Resultat wissenschaftlicher Reflexion als politischen Wollens: sie hatte ihren Bezugspunkt in der komplizierten Struktur des Kaiserreichs und war von den Emotionen der Weltkriegskonstellation stimuliert; in ihr ging der Blick für den gemeineuropäischen politisch-kulturellen Zusammenhang fast völlig verloren. Der „deutsche Weg" als Anti-Ideologie zu Weimar Der Zusammenbruch des Kaiserreiches, das als Sinnzentrum der Sonderwegsideologie fungiert hatte, mußte die Vorstellung eines besonderen deutschen Weges als einer Interpretation der deutschen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eine Krise führen -Mit der Novemberrevolution und der Installierung des „westlich'-demokratischen Systems der Republik von Weimar schien die besondere deutsche Entwicklung an ihrem Endpunkt angelangt zu sein; von einem „Sonderweg" ließ sich offenbar nur noch bezogen auf die Vergangenheit sprechen, setzte sich doch augenscheinlich die „westeuropäische" Verfassungsform auch in Deutschland durch. Daß die für den bisherigen Sonderweg konstitutiven vor-demokratischen Strukturen nicht endgültig ausgeschaltet waren, war demgegenüber weniger bewußt.

Symptomatisch für das veränderte geschichtliche Bewußtsein war die Tatsache, daß die problematischen Züge der neueren deutschen Geschichte, die im Sonderwegsbild nie völlig gefehlt hatten, nun verstärkt in den Vordergrund traten. So hat etwa Hermann Oncken das Zusammenfallen der deutschen Nationalstaatsbildung und der — mit der Industrialisierung entstehenden — sozialen Frage zu einem „Doppelproblem" als die wichtigste Tatsache der deutschen Geschichte bezeichnet: ... daß diese beiden Probleme zur gleichen Zeit, unlösbar ineinander verflochten, vor dem politischen Willen der Deutschen des 19. Jahrhunderts gestanden haben, daran liegt die Besonderheit gerade unserer Entwicklung, mit der sich in dieser Hinsicht keine andere vergleichen läßt" Vielfältig wurden die Probleme der deutschen Nationalstaatsbildung und ihrer Behauptung dargestellt, insbesondere die — im Kriege erneut erfahrenen — Gefährdungen des deutschen Staates durch seine „Mittellage", die ihn offensichtlich in besonderer Weise dem Primat der Außenpolitik unterwarfen.

Auch wenn sich schon früh Stimmen erhoben, die die deutsche Katastrophe im Weltkrieg als Chance und Verheißung eines neuen Aufstiegs und Auftrags für die deutsche Nation interpretierten, so war ihre Folge doch zunächst eine nationale Identitätskrise, die nicht ohne Auswirkung auf die Beschäftigung mit der deutschen Geschichte blieb. Sie fand ihren Niederschlag in der geistesgeschichtlich ausgerichteten Suche nach dem „deutschen Wesen", die vorrangig um Luther und den Protestantismus und die „deutsche Bewegung", um Idealismus, Romantik und Historismus, kreiste., Vor allem aber führte sie zu einer historisch-politischen Auseinandersetzung über die besondere deutsche Verfassungsgeschichte, in der sich Interpretation der Vergangenheit und politische Zielsetzungen amalgamierten.

Schon im Prozeß der Verfassungsgebung stand — bei den Parteien der Weimarer Koalition — neben dem von Hugo Preuß repräsentierten Versuch, die neue Republik als Bruch mit dem Kaiserreich und als Fortführung der freiheitlichen Traditionen der deutschen Geschichte zu begreifen, das Bemühen einflußreicher Persönlichkeiten aus dem linksbürgerlich-intellektuellen Bereich, die neue Verfassung mit der besonderen deutschen Verfassungsentwicklung zu verknüpfen. Mit dem Versailler Vertrag und den schweren inneren Krisen, die die Republik von Anfang an belasteten, erhielten zudem diejenigen Kräfte Auftrieb, die die Weimarer Republik als westeuropäischen „Import" betrachteten und den deutschen Weg der Vergangenheit gegen die Republik ausspielten. Idealtypisch lassen sich mithin drei Sonderwegsinterpretationen, die ihren Bezugspunkt in differierenden politischen Optionen hatten, unterscheiden: 1. Die besondere deutsche Entwicklung war eine Fehlentwicklung; mit der Parlamentarisierung, der Revolution und der Weimarer Verfassungsgebung wurde verspätet eine Anpassung an die gesamteuropäische Verfassungsentwicklung vollzogen. 2. Die besondere deutsche Entwicklung der Vergangenheit war notwendig und sinnvoll. Die deutsche Republik kann und muß die deutsche Staaststradition — modifiziert — fortführen. 3. Die besondere deutsche Vergangenheit ist gegenüber der Gegenwart im Hinblick auf die Zukunft zu verteidigen. Es gilt die Weimarer Republik, die‘eine Abweichung von der Entwicklungslinie des deutschen Staates darstellt, durch Anküpfung an die Traditionen der deutschen Geschichte zu überwinden.

Von zentraler Bedeutung für die Auseinandersetzung um den „deutschen Weg" war zwangsläufig die Beurteilung des Kaiserreiches, auf das die Ideologie des deutschen Weges bis dahin vorrangig bezogen gewesen war. Der linksliberale Historiker Johannes Ziekursch vertrat in seiner — den ersten Interpretationstyp verkörpernden — Geschichte des Kaiser-reichs die These, daß Bismarck das Reich gegen den „Geist der Zeit" und gegen die tragenden Kräfte der modernen Staats-und Gesellschaftsentwicklung gegründet und dieses deshalb von Anfang an den Todeskeim in sich getragen habe — eine These, die'auf den nahezu geschlossenen Widerstand der Historiker-zunft stieß. Ziekursch betrachtete die preußisch-deutsche Entwicklung auf dem Hintergrund der westeuropäischen Enwicklung bzw. einer von dieser abgezogenen hypothetischen Ideallinie, die vornehmlich den rechtzeitigen Übergang zur parlamentarischen Regierungsweise, die schrittweise Einführung des allgemeinen Wahlrechts und die Übernahme der politischen Herrschaft durch das Bürgertum vorsah. Wenn damit die westeuropäische, vor allem die englische Entwicklung zur Norm erhoben wurde, so stieß dies nicht nur auf politische, sondern auch auf wissenschaftliche Bedenken, die in der traditionellen historistischen Axiomatik, nach der die Nationen und Staaten als Kollektivindividualitäten jeweils besondere — prinzipiell sinnvolle — Entwicklungen durchlaufen, ihre Basis hatten. Ihren Bezugspunkt hatte Ziekurschs Interpretation in der rückhaltlos bejahten Weimarer Republik als dem normgebenden Horizont historischer Betrachtung

Eine stärker zwischen der Tradition des deutschen Sonderwegs und den Ansprüchen der Gegenwart vermittelnde Position nahmen die „Vernunftrepublikaner" ein, zu denen so prominente Historiker wie Friedrich Meinecke, Hermann Oncken und Hans Delbrück zu rech, nen sind. Zwar sahen diese nicht generell an den Schattenseiten der Bismarckschen Reichsgründung und der Bismarckschen Politik, überhaupt der preußisch-deutschen Staatsentwicklung vorbei. Doch galt ihnen die Reichsgründung nach wie vor als alternativlos, und mehr noch waren aus ihrer Sicht die Errungenschaften der besonderen deutschen Entwicklung in der Gegenwart zu bewahren, Meinecke setzte sich schon in der Verfassungsdiskussion 1918/19 für ein Höchstmaß an Kontinuität zum alten Staat ein, insonderheit für die Erhaltung des parteiunabhängigen Beamtenstaates und eines parlamentsunabhä-

gigen Reichspräsidenten, der diesen repräsentieren und garantieren sollte. Und Hermann Oncken, Hans Delbrück u. a. schien die deutsche sozialstaatliche Tradition ungleich bessere Voraussetzungen für die Lösung der sozialen Probleme der Gegenwart zu bieten als die westeuropäische Tradition; es ließ sich mithin an jene anknüpfen

Es läßt sich nicht übersehen, daß diese Haltung, für die ein starkes Kontinuitätsbedürfnis kennzeichnend war, von Anfang an dazu tendierte, nicht nur die preußisch-deutsche Entwicklung der Vergangenheit gegenüber den Anfeindungen der Gegenwart zu verteidigen, sondern auch die politische Ordnung der Gegenwart dieser Entwicklung anzupassen. Dies gipfelte in der Ära der Präsidialkabinette in dem Bestreben, eine „konstitutionelle Demokratie", die die Regierungsgewalt vom Parlamentarismus ablöste und die „Überparteilichkeit" des Staates wiederherstellte, dauerhaft zu etablieren. Damit aber wurde versucht, die deutsche Sonderentwicklung fortzusetzen, wobei vor allem bestimmte Züge der verfassungspolitischen Struktur der Bismarckzeit als Leitbild fungierten. Daß im übrigen in der Diskussion der Geisteswissenschaften der 20er Jahre die Autonomie und auch Überlegenheit der deutschen idealistisch-romantisch-historistischen Geisteswelt gegenüber dem „westeuropäischen“ naturrechtlich-rationalistischen Denken verteidigt wurde, sei nur am Rande vermerkt. Ernst Troeltsch stand mit seinem Plädoyer für eine Annäherung zwischen „deutschem Geist“ und „Westeuropa“ ziemlich allein 24a).

Von einer diametralen Gegensätzlichkeit von Weimarer Republik und besonderer deutscher Staatsentwicklung gingen nationalistisch orientierte Historiker, Staatsrechtler und Publizisten aus. Nicht selten wurde der Republik die Legitimation abgesprochen, sich in die Kontinuität der deutschen Geschichte einzuordnen. Die preußisch-deutsche Vergangenheit wurde zum Gegenbild gegenüber der unbefriedigenden Gegenwart erhoben, wobei erstere idealisiert und harmonisiert, letztere aber mit ihren spezifischen Bedingungen und Möglichkeiten verkannt wurde. Die Einführung der westlichen Demokratie in Deutschland galt als Aufpfropfung einer unter anderen historischen Bedingungen erwachsenen Verfassungsform auf die deutschen Verhältnisse — mit der Folge einer Zersetzung des deutschen Staates. Zugleich widersprach sie aus dieser Sicht dem historischen Moment nach dem Ersten Weltkrieg, der durch das Ende des Zeitalters des Liberalismus und des Parlamentarismus, auch des Kapitalismus und des Bürgertums gekennzeichnet zu sein schien.

Die zunehmende Aktualisierung der deutschen Staatstradition zielte überwiegend nicht auf eine einfache Restauration der Hohenzol-lernmonarchie, wurde der Wilheiminismus doch auch im Lager der Rechten — trotz mancher Apologie des alten Systems — kritisiert. Eher schon strebte man eine Rückkehr zu Bismarck bzw, zu Bismarcks virtuellen späteren '‘erfassungszielen (berufsständischen Vertretungen und Staatssozialismus) oder eine AnKnüpfung an die „Ideen von 1813" oder ein neues hündisches „Mitteleuropa“ an. Eine gewisse Unsicherheit darüber, was als Leitbild einer Weiterführung des „deutschen Weges“ gelten sollte, ist nicht zu übersehen. Als der deutschen Entwicklung entsprechend wurde Vorrangig eine nicht-liberale, nicht-kapitalisti-sche, nicht-demokratische Ordnung betrach-tet, nicht zuletzt ein starker, die Gesellschaft integrierender und formender Staat, der vom Ethos des Dienstes durchdrungen sein und unter dem Primat der Außenpolitik stehen sollte. Man tendierte dazu, bestimmte, aus der Vergangenheit abgezogene Ordnungsbilder als politisches Programm in die Zukunft zu projizieren. Die durch tiefgreifende politische, ökonomische und soziale Spannungen und Krisen geförderte nationalistische Atmosphäre der Weimarer Zeit, die sich aus der Frustration über die Niederlage und ihre Folgen ebenso wie aus dem Widerstand gegen die demokratische Ordnung speiste, trug wesentlich dazu bei, daß die auf das Kaiserreich bezogene Ideologie des deutschen Weges nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Anti-Ideologie zur Weimarer Republik umgeformt wurde. Hinzu kam, daß die besondere deutsche Entwicklung der Vergangenheit keineswegs völlig diskreditiert war und die historische Konstellation innen-wie außenpolitisch eine Weiterführung des besonderen deutschen Weges für die Zukunft nicht auszuschließen schien. Helmuth Plessner hat pointiert festgestellt: Deutschland habe nach 1918 seine Unterlegenheit im Weltkrieg durch den Zweifel am Wertsystem der Sieger wettzumachen versucht und sei dabei „in seiner Linie des Kampfes gegen den politischen Humanismus der westlichen Welt [geblieben], deren Entfaltung und Konsolidierung ins 17. Jahrhundert, d. h. in die Zeiten des Verfalls des alten Deutschen Reiches fiel" Gewiß gab es Gegenstimmen zu einer Sicht, die deutsche und westeuropäische Kultur nur als Gegensatz begreifen konnte. Doch wurde die deutsche Entwicklung des 19. Jahrhunderts je länger desto weniger als Fehlentwicklung gesehen.

Wie die Interpretation des deutschen Sonder-wegs in der Weimarer Republik zu der des Kaiserreichs in Kontinuität stand, so die der NS-Zeit zu der der Weimarer Zeit. Auch im Dritten Reich wurden die besonderen Probleme der deutschen Geschichte — etwa. die geopolitische Lage und die Schwierigkeiten nationaler Einheitsbildung — stark betont. Und als wesentliche Stationen der besonderen deutschen Entwicklung galten nach wie vor die — nun ausgesprochen völkisch interpretierten — Befreiungskriege und die Reichs-gründung; als „Essenz" der besonderen Entwicklung wurde immer noch das Preußentum gesehen. Als Folie der besonderen deutschen Entwicklung fungierte nach wie vor ein Klischee der westeuropäischen Entwicklung; allerdings trat neben die Unterscheidung von Westeuropa nun auch verstärkt die von Osteuropa. Das traditionelle Bild der besonderen deutschen Entwicklung konnte — obgleich es mit seiner historischen und national-staatlichen Prägung in Spannung zur a-historischen, den Nationalstaat transzendierenden, rassistischen NS-Ideologie stand — offenbar ohne große Schwierigkeit mit der Gegenwart des Dritten Reiches vermittelt werden. Der Tag von Potsdam symbolisierte die Kontinuität von „altem“ und „neuem“ Deutschland. Das Hitler-Reich wurde als Konsequenz der besonderen deutschen Geschichte begriffen, auch als Lösung alter deutscher Probleme gesehen — so des Gegensatzes kleindeutschgroßdeutsch, der mit dem Anschluß Deutschösterreichs überwunden schien, allerdings noch einmal die Frage nach dem Sinn des kleindeutschen Kaiserreiches aufwarf. Ähnlich wie im Kaiserreich, jedoch anders als in der Weimarer Republik, wurde die Gegenwart zum Ziel der deutschen Entwicklung erklärt Wurden auch die Momente der Besonderheit, der Einmaligkeit des deutschen Weges akzentuiert, so wurde doch andererseits auch die Vorstellung weitergeführt, daß die besondere deutsche Entwicklung in spezifischer Weise modern sei, gleichsam Zukunft antizipiere, Karl Alexander von Müller etwa schrieb 1939: „Heute ist ein Zeitalter des Sozialismus und einer neuen autoritären Staatsform angebrochen, und wir gehören zu ihren ersten Trägern."

III. Die Auflösung der Ideologie des deutschen Weges

Der „deutsche Sonderweg"

als Fehlentwicklung Die beispiellose politische und moralische Katastrophe, in der das zur Erfüllung deutscher Geschichte stilisierte Dritte Reich unterging, hat das deutsche geschichtliche Bewußtsein schwer erschüttert. Die deutsche Geschichte, aus der der Nationalsozialismus erwachsen war, mußte nun in problematischem Licht erscheinen. Zugleich ließ der Verlust der deutschen Souveränität erkennen, daß eine besondere deutsche Entwicklung und eine eigenständige deutsche Rolle in der europäischen und internationalen Politik auf unabsehbare Zeit nicht mehr möglich sein würde, abgesehen davon, daß auch die gesellschaftlichen Voraussetzungen — die alten vor-demokrati-schen Kräfte, ostelbischer Großgrundbesitz und Militär, waren zerschlagen — für eine Fortsetzung des deutschen Weges offensichtlich nicht mehr gegeben waren.

Nicht nur in der alliierten Öffentlichkeit, sondern auch in der deutschen Publizistik wurde das in der NS-Zeit dominante Bild der besonderen deutschen Geschichte, in dem alle Phänomene der neueren Geschichte auf das Dritte Reich als der Aufhebung der Probleme der deutschen Geschichte bezogen waren, geradezu umgestülpt, d. h. in seiner Grundstruktur beibehalten, aber negativ gewertet. Die vorher positiv gesehenen Abweichungen von der westeuropäischen Entwicklung erschienen nun als Aspekte einer verhängnisvollen Fehlentwicklung, die ihr Ziel im Dritten Reich gefunden hatte: die preußische Staatsentwicklung und ihre spezifische politische Kultur mit der besonderen Rolle des Militärischen; das Ausbleiben einer erfolgreichen bürgerlichen Revolution; die deutsche Verfassungsentwicklung mit ihrer Dominanz des Beamtenstaates und dem verspäteten Übergang zum Parlamentarismus; auch die deutsche Geistesgeschichte, die durch eine Verherrlichung des Staates auf der einen Seite und eine subli-mierte Kultur der Innerlichkeit auf der anderen Seite charakterisiert schien.

Der Weg der deutschen Geschichte seit 1848 wurde in der frühen Nachkriegszeit vielfach global als „Irrweg" gedeutet; die lange unterlegenen oder doch an den Rand gedrängten liberalen und demokratischen Kräfte wurden umgekehrt entschieden aufgewertet. Selbst professionelle Historiker wie Ulrich Noack und Franz Schnabel bezweifelten — die groß-deutsch-föderalistische bzw. süddeutsch-liberale Kritik des 19. Jahrhundert aufgreifend — die Notwendigkeit und den Sinn der Bis-

marckschen kleindeutschen, mit militärischen Mitteln erzwungenen Reichsgründung angesichts ihrer langfristigen Folgen. Sie warfen die Frage auf, ob nicht eine föderalistische Lösung eher der deutschen Geschichte und der mitteleuropäischen Lage entsprochen hätte

Die gesamte neuere deutsche Geschichte geriet in den Schatten der nationalsozialistischen Katastrophe. Unter ihrem Eindruck wurden Kontinuitätslinien zurück in die deutsche Geschichte gezogen — etwa von Hitler über Bismarck zu Friedrich dem Großen. Ursachen des Dritten Reiches erblickte man in weit zurückliegenden Phänomenen der deutschen Geschichte. Besonders wurde auch die deutsche Geistesgeschichte nach Wegbereitern oder Vorläufern des Dritten Reiches und der NS-Ideologie durchforscht. So rückten etwa Luther und Hegel als Vertreter einer im Dritten Reich kulminierenden deutschen Staats-ideologie in den Vordergrund des Interesses. Georg Lukäcs stellte in seinem Werk „Die Zerstörung der Vernunft" „den Weg Deutschlands auf dem Gebiet der Philosophie" seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert als Entwicklung des Irrationalismus dar Zweifellos blieb diese kritische Literatur der zuvor dominierenden Sonderwegsvorstellung noch in der Verneinung dialektisch verbunden.

Wurde hier eine Kontinuität Hitlers oder des Dritten Reiches zur neueren deutschen Gei-

stesgeschichte oder zur preußisch-deutschen Staatsentwicklung mehr oder weniger eindeu-tig unterstellt, so wurde gerade dies von den meinungsführenden westdeutschen Historikern in der Nachkriegszeit bestritten. Diese stellten die fundamentalen Unterschiede zwischen dem Dritten Reich und den politischen Etappen des deutschen Nationalstaats seit der Revolution 1848 heraus und waren bestrebt, die deutschen historisch-politischen Traditionen, nicht zuletzt die preußische, von der pauschalen Verdächtigung, der eigentliche Urheber des Dritten Reiches zu sein, zu reinigen Gerhard Ritter etwa bezweifelte, daß die besondere deutsche Entwicklung notwendigerweise zum Nationalsozialismus habe führen müssen und hob gerade die Spannungen und Gegensätze zwischen Luthertum'-Preußentunr und Bismarck auf der einen Seite und dem Nationalsozialismus auf der anderen Seite hervor. Ritter sah im Nationalsozialismus eine Erscheinung des Massenzeitalters, eine Folge der Modernisierung und führte damit den Sieg Hitlers auf europäische, jedenfalls nicht spezifisch deutsche Faktoren zurück. Auch im Militarismus wollte er keine genuin preußische Erscheinung sehen. Und wesentliche Elemente der preußischen Kultur — auch des lutherischen Protestantismus — waren aus seiner Sicht ein Erbe, das es über die Katastrophe hinwegzuretten galt

Die Akzentuierung der Diskontinuität zwischen Drittem Reich und der vorhergehenden preußisch-deutschen Geschichte gab die Möglichkeit, das bisherige nationale Geschichtsbild in modifizierter Form zu erhalten. Siegfried Kaehler, der ähnliche Anschauungen wie Ritter vertrat, sprach von der „sittlichen Ver-pflichtung der Enterbten", über dem schlechten letzten Verwalter nicht die wahre Größe und den wahren Geist deutscher Geschichte zu vergessen Und Friedrich Meinecke, der in seinem vielgelesenen Buch „Die deutsche Katastrophe" den Nationalsozialismus sowohl durch allgemein europäische als auch durch spezifisch deutsche Momente verursacht sah, forderte eine Rückkehr zu den Traditionen des deutschen Idealismus . Selbstbesinnung'wurde allenthalben als Motto ausgegeben, was durchaus auch das Bemühen einschloß, die neue demokratische Ordnung im Hinblick auf die eigene Nationalgeschichte zu legitimieren.

Auch Interpretationen, in denen die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts weiterhin als sinnvolle Entwicklung galt und wichtige Elemente der preußisch-deutschen Tradition als unverzichtbar bezeichnet wurden, enthielten nicht mehr jene offen antidemokratische Stoß-richtung, die für die Sonderwegsideologie kennzeichnend gewesen war. Zwar blieb die Frage nach der Entstehung des deutsch-westeuropäischen Gegensatzes ein wichtiges Thema der deutschen — wie übrigens auch der internationalen, zumal der amerikanischen — Forschung; doch wurde angesichts der drohenden stalinistischen Diktatur die Demokratie mehr „undeutsch“, westliche kaum als den Verhältnissen als deutschen und der deutschen Geschichte unangemessen, abgelehnt. Auch wurde im Zeichen des Ost-West-Konfliktes und einer vor allem in der jüngeren Generation verbreiteten Hinwendung zur Europaidee die — im Hinblick auf die „Bewältigung" der Vergangenheit entlastende — Auffassung vorherrschend, daß die Zeit der Nationalstaaten vorbei sei. Zugleich betonte man die Zugehörigkeit der deutschen zur abendländischen Geschichte und Kultur. Während in der älteren Generation diese Haltung nicht ohne Skepsis gesehen wurde — Gerhard Ritter sprach von einer Haltung „falsch verstandenen Europäertums" —, verlor die besondere deutsche nationalgeschichl-liehe Entwicklung für die mittlere und jüngere Generation jene positive normgebende Funktion, die sie in der Vergangenheit ausgeübt hatte. Es kann kein Zweifel bestehen, daß die politischen Kulturen Englands und zum Teil auch der USA zu Leitbildern wurden und die politische Philosophie des Westens, zumal der angelsächsische Pragmatismus, zahlreiche Anhänger fand. Bei nicht wenigen Historikern und Publizisten diente ein harmonisiertes Bild der westlichen Entwicklung fortan als Folie, auf der sich die deutsche Fehlentwicklung klar abhob.

Auch wenn in den 50er Jahren die „Besonderheit" der deutschen Geschichte und die historische Einordnung des Nationalsozialismus wichtige Fragen des historisch-politischen Interesses blieben — zu nennen sind etwa Ernst Fraenkels und Karl Dietrich Brachers Analysen der Schwäche der parlamentarisch-demokratischen Tradition in Deutschland 34a)so gerieten diese Fragen doch in den Schatten der Totalitarismustheorie, die — obgleich ursprünglich am Nationalsozialismus orientiert — im Zeichen des Kalten Krieges eine neue Prägung durch das Bild der stalinistischen Sowjetunion erhielt, so daß das NS-System als deutsche Form der europäischen Erscheinung Einparteienstaates des interpretiert werden konnte. Erst in den 60er Jahren trat die Diskussion über die deutsche Sonderentwicklung wieder in den Vordergrund.

Die nun neu einsetzende Auseinandersetzung mit der besonderen deutschen Geschichte resultierte aus der moralisch’begründeten Absicht, die in der Nachkriegszeit — wie man meinte — entweder verdrängte oder doch inkonsequente Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Vergangenheit, mit dem Nationalsozialismus und seinen tieferen politisch-gesellschaftlichen Ursachen, nachzuholen und den restaurativen Tendenzen der bundesdeutschen Gesellschaft, ihrer Konflikt-scheu und Reformfeindlichkeit entgegenzuwirken. Sie war insofern eine Funktion des veränderten Klimas und entwickelte sich nicht zufällig zu einem Zeitpunkt, als sich eine neue Generation an den deutschen Universitäten zu artikulieren begann

Als Wendemarke der deutschen Geschichtsschreibung, vielleicht sogar des Geschichtsbewußtseins der Nachkriegszeit, läßt sich Fritz Fischers Buch „Der Griff nach der Weltmacht“ auffassen, das die deutschen Kriegsziele im Ersten Weltkrieg beleuchtete und die deutsche Schuld am Ausbruch des Krieges auslotete Es löste nicht nur eine neue Diskussion zur Kriegsschuldfrage, sondern auch eine intensivere Beschäftigung zum einen mit der Kontinuität der deutschen Politik zwischen Kaiserreich und Drittem Reich, zum anderen mit den deutschen politisch-gesellschaftlichen Interessenstrukturen vor dem Ersten Weltkrieg aus. Diese neuere Diskussion kreiste und kreist wie die ältere vorrangig um das deutsche Kaiserreich und seinen Ort in der deutschen Geschichte — um seine Vorgeschichte und seine Folgen, um seinen Bedingungscharakter für den Nationalsozialismus und seine hemmende Funktion für die Ausbildung einer demokratischen Gesellschaftsstruktur in Deutschland.

So beantwortete Ralf Dahrendorf 1965 die Frage nach den Ursachen der im Nationalsozialismus kulminierenden Schwäche des Prinzips der liberalen Demokratie vor allem mit dem Hinweis auf die spezifischen Formen, in denen im Kaiserreich die technisch-ökonomische Modernisierung mit den traditional überkommenen politischen und soziokulturellen Strukturen verbunden, „der vorhandenen Gesellschaft gewissermaßen [nur] angeklebt“ worden war Die hier anklingende Theorie der „partiellen Modernisierung" wurde vor allemvon Hans-Ulrich Wehler, teilweise im Anschluß an den von ihm wiederentdeckten Ek-kart Kehr, und einer Reihe jüngerer Historiker auf die Geschichte des Kaiserreiches angewendet, wobei auch diese Historiker die Absicht leitete, zur Erklärung von „ 1933“ beizutragen Die relativ spät einsetzende, dann, aber dynamische, wenn auch keineswegs störungsfreie industrielle Entwicklung und die erfolgreiche Reichsgründung durch die alten vor--industriellen Führungsgruppen bei anhaltender politischer Schwäche des Bürgertums und gleichzeitiger Formierung der Arbeiterbewegung ließen — so läßt sich diese Interpretation grob vereinfacht charakterisieren — eine Konstellation entstehen, in der die alten Führungsgruppen durch effiziente innen-und außenpolitische Strategien ihre Herrschaftspositionen zu behaupten und die gesellschaftliche Modernisierung aufzuhalten vermochten, was zur Katastrophe des Weltkriegs und der Revolution führte und sich noch im Scheitern der Weimarer Republik und in der NS-Machter-greifung auswirkte.

Auf der Suche nach den ökonomisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen des Nationalsozialismus berührte sich die Diskussion über das Kaiserreich mit der — zeitlich etwa parallel laufenden — über einige Jahre recht intensiven Faschismus-Diskussion, die den Nationalsozialismus und das Dritte Reich mit dem italienischen Faschismus (z. T. auch mit einer Reihe anderer Bewegungen und Systeme) ’ theoretisch zusammenfaßte — damit scheinbar die nationalgeschichtlich zentrierte Sonderwegsdiskussion überwand. De facto war freilfch die deutsche Diskussion über den Faschismus über weite Strecken eine Diskussion über den Nationalsozialismus und das Dritte Reich, bei der die Sonderwegsthese in nicht wenigen Faschismustheorien zumindest eine subsidiäre Funktion hatte Und ähnlich wie bei der Diskussion über das Kaiserreich bildete meist die „westliche“ Entwicklung die nicht thematisierte Folie.

Die Unterschiede der Sonderwegsinterpretationen, die sich seit Mitte der 60er Jahre herausgebildet haben, zu denen der 50er Jahre sind offensichtlich. Hatten letztere ihren Fluchtpunkt meist in „konstitutioneller Demokratie" und gesellschaftlichem Status quo, so diese im Prozeß einer umfassenden Demokratisierung der deutschen Gesellschaft.

Die neueste Diskussion Seit einigen Jahren wird die These vom deutschen Sonderweg verstärkt kritisiert — in der deutschen wie in der internationalen wissenschaftlichen und publizistischen Diskussion. Fraglich erscheint sowohl die Vorstellung des „Sonder" -als auch des „Fehlcharakters" der deutschen Entwicklung.

Die ältere sozialwissenschaftliche Modernisierungsdiskussion, in der die englisch-amerikanische Entwicklung als Paradigma der Modernisierung betrachtet wurde, konnte die deutsche Entwicklung nur als anormal sehen. Mit der Beobachtung und Untersuchung von Modernisierungsprozessen in der Dritten Welt ist die Vorstellung der westeuropäischen bzw.der amerikanischen Modernisierung als der normalen und beispielhaften Entwicklung unhaltbar geworden. Die Einsicht, daß Industrialisierung und Demokratisierung keineswegs synchron verlaufen müssen, relativierte nicht nur die westeuropäisch-amerikanische Entwicklung, sondern nahm auch der deutschen Entwicklung ihren anormalen Charakter. Barrington Moores Arbeit „Social Origins of Dictatorship and Democracy" beispielsweise unterscheidet verschiedene Idealtypen der Modernisierung: den kapitalistisch-demokratischen Weg der „bürgerlichen" Revolurtion, den England, Frankreich und die USA zurückgelegt haben, den japanischen und den deutschen Weg autoritärer und später faschistischer Revolution „von oben“ und den Weg der Bauernrevolution, der zu kommunistischen Regimen führte (typische Fälle: Rußland und China) Danach war die deutsche Entwick-lung ebensowenig singulär wie die englische typisch war. In der neueren Diskussion erscheint vielmehr gerade der westliche Entwicklungstypus als ungewöhnlich, geradezu anormal. Formal nähert sich damit die Beurteilung der Verschiedenartigkeit der Entwicklungen der früheren „deutschen" Einschätzung an, daß „Demokratie" nur unter ganz besonderen, günstigen Umständen möglich sei. Standen aus dieser Sicht vorrangig machtpolitische Faktoren einer demokratischen Entwicklung entgegen, so wirken aus jener vorrangig sozioökonomische Faktoren als Hemmnisse — gesellschaftliche Rückständigkeit, das Fehlen von für die Modernisierung erforderlichen soziokulturellen Voraussetzungen, etwa von Trägerschichten der Industrialisierung, die damit gegebene Notwendigkeit, diese „von oben'zu initiieren und zu steuern etc.

Diese Einsichten auf der wissenschaftlichen Ebene fallen zusammen mit einem Verblassen des Vorbildes der USA und Englands in der deutschen politischen Öffentlichkeit; die Rassenproblematik in den USA, Watergate bzw. die „englische Krankheit" spielen in diesem Zusammenhang eine Rolle. An den Universitäten ist gegenwärtig ein Bild der politischen Kultur der USA verbreitet, das als Umkehrung der Idealisierung der 50er Jahre gelten kann. Zweifel am westlich-industriellen System sind geradezu vorherrschend.

Ist einerseits die englisch-amerikanische Entwicklung sowohl als Paradigma der Modernisierung in der wissenschaftlichen Diskussion als auch als politisches Leitbild fragwürdig geworden, so wird andererseits auch das Bild der deutschen Entwicklung als Fehlentwicklung auf der wissenschaftlichen wie auf der politischen Ebene verstärkt diskutiert. Bereits in der Diskussion um das Kaiserreich ist die Ansicht vertreten worden, dessen Geschichte dürfe nicht einseitig von seinem Untergang her oder gar von den folgenden Epochen aus — dem Scheitern der Weimarer Republik und der NS-Machtergreifung her — betrachtet werden, sondern habe die Fülle der politischen Tendenzen der Epoche vor 1914, auch die im Endeffekt nicht erfolgreichen, zu berücksichtigen. So wandte sich Thomas Nipperdey gegen jenen „umgekehrten Nationalismus, der befangen im Eigenen" nur nachweise, wie schlecht alles immer gewesen sei, und kritiB sierte „einlinige Kontinuitätskonstruktionen", die im Jahre 1933 ihren Angelpunkt haben und die vorhergehenden Epochen nur als Vorgeschichte der NS-Diktatur betrachten. Mit dem Argument, es gelte der Tatsache wieder Rechnung zu tragen, daß jede Epoche mehr und etwas anderes ist als Vor-und Nachgeschichte, griff Nipperdey den Rankeanischen Grundsatz auf, daß jede Epoche „unmittelbar zu Gott“ sei

Hinter dieser methodologischen Argumentation wird eine Position sichtbar, die die deutsche Geschichte nicht mehr von der Katastrophe des Dritten Reiches her sehen will. Ganz offen ist diese Position von Helmut Diwald vertreten worden, der behauptet hat, daß den Deutschen im Zuge der reeducation und re-orientation ihre Geschichte „in bewußter Gründlichkeit" weggenommen worden sei und diese nun ihre eigene Identität wiederzufinden hätten Hier wird das Bemühen deutlich, über die Geschichte ein neu-altes Nationalbewußtsein zu restituieren. Parallel dazu ist im politischen Raum die Forderung erhoben worden, daß der Geschichtsunterricht die . tausend Jahre heiler deutscher Geschichte“ gegenüber den zwölf Jahren des Nationalsozialismus wieder zur Geltung zu bringen und ein nationales Geschichtsbild zu vermitteln habe Daß in einer solchen Geschichtsauffassung das Dritte Reich lediglich als ein „Unfall" erscheint, ist offensichtlich.

In jüngster Zeit ist die Vorstellung des deutschen Sonderwegs besonders durch einige angelsächsische Autoren kritisiert worden. Der amerikanische Historiker David Calleo hat bestritten, daß die deutsche politisch-soziale und politisch-kulturelle Entwicklung prinzipiell von der der anderen europäischen Nationen abweiche Die deutsche Geschichte bis 1914 bilde eine Variante europäischer Normalität. Zumal von einem Mangel an Modernität, an sozialer Gerechtigkeit oder Pluralismus könne gegenüber den anderen Nationen für das Kaiserreich nicht gesprochen werden. Allerdings gebe es — und hier argumentiert Calleo wie die deutsche Historiographie der Weimarer Zeit — einen zentralen Unterschied: die besondere geographische Lage. Sie sei die Voraussetzung der „deutschen Tragödie", des deutschen politischen Schicksals im 20. Jahrhundert. Den Deutschen habe in der Mitte Europas jener „Ellenbogenraum''gefehlt, den Russen, Briten, Amerikaner und auch Franzosen an der Peripherie reichlich fanden. Calleo beurteilt die deutsche Geschichte — in seinem Ansatz an die Rankeaner vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg erinnernd — aus der Perspektive des internationalen Systems: Aufstieg und Fall des deutschen Nationalstaats waren europäisch bedingt; seine Geschichte war von Anfang an dadurch belastet, daß er sich spät in das europäische Mächtesystem hineindrängte. Ob von hierher Nationalsozialismus und Drittes Reich erklärt werden können, erscheint fraglich, überspitzt läßt sich sagen, daß’ Calleo mit den Argumenten der älteren deutschen Historiographie gegen die Interpretation der jüngeren politischen Sozial-geschichte zu Felde zieht. Auch ihn leitet dabei ein gegenwartsbezogenes Interesse: Am Ende der Nachkriegzeit werde es Zeit, über die Rolle nachzudenken, die die Deutschen in der internationalen Politik nach dem möglichen Ende der pax Americana spielen könnten. Konkreter als Calleo haben sich die beiden englischen Historiker Blackbourn und Eley mit der modernen deutschen sozialhistorischen Forschung auseinandergesetzt Sie versuchen nachzuweisen, daß diese die deutsche Wirklichkeit an einem Idealbild der britischen Entwicklung messe, das historisch unhaltbar und wissenschaftlich längst überholt sei. Insbesondere wenden sie sich gegen den — auf einer spezifischen normativen Vorstellung über die Rolle der Bourgeoisie basierenden — Vorwurf an das deutsche Bürgertum, keine richtige Revolution gemacht zu haben, sowie gegen die damit zusammenhängende These einer Feudalisierung des Bürgertums im Kaiserreich. Aus ihrer Sicht hat das deutsche Bürgertum seine eigentlichen Interessen, die freilich nicht mit den Ideen des Liberalismus verwechselt werden dürften, im Kaiserreich durchsetzen können und auch die vorherrschenden Lebensformen bestimmt. Sie können darauf hinweisen, daß auch andernorts in Europa — etwa in England — das Bürgertum nicht allein die politische Herrschaft übernommen hat. Die beiden Historiker warnen von einer differenzierten marxistischen Position aus davor, die Einzigartigkeit der deutschen Ereignisse zu überschätzen, von 1933 her in die deutsche Geschichte zurückzublicken und eine Finalität der Entwicklung anzunehmen. Es bleibt abzuwarten, inwieweit und in welcher Form diese angelsächsische Kritik im geschichtlichen deutschen Bewußtsein rezipiert werden wird. Beifall hat sie zunächst vorrangig bei konservativen Historikern und Publizisten gefunden, die in der jüngeren Geschichtsschreibung Schattenseiten deutscher Geschichte zu stark betont und die Selbstkritik überzogen sehen. Möglicherweise gerät das durch das Sonderwegstheorem geprägte Paradigma der jüngeren Sozialhistorie, das vor allem die besondere Struktur und Problematik des Kaiserreiches herausgearbeitet hat, in die Defensive. In die gleiche Richtung wie diese ausländische Kritik zielt nämlich ein Teil der deutschen Geschichtsschreibung. In Lothar Galls großer Bismarck-Biographie beispielsweise wird die Reichsgründung nicht als Bollwerk gegen die modernen gesellschaftlichen Kräfte, gegen den „Geist der Zeit" gesehen, sondern als durchaus angemessene Lösung, die eine notwendige Entwicklung beschleunigte, während für eine Entwicklung nach englischem Vorbild alle Voraussetzungen fehlten Eine gewisse Nähe dieser Interpretation zur älteren nationalliberalen ist nicht zu leugnen.

Die Ambivalenz des gegenwärtigen deutschen geschichtlichen Bewußtseins zeigt sich in der aktuellen Preußen-Diskussion, in der das „politische Erbe Preußens" erörtert wird. Zwar setzt sich einerseits — wenn auch auf höherem Niveau — die Preußen-Kritik der Nachkriegszeit noch fort, in der Preußen als Inkarnation der deutschen Untugenden gegolten hatte. Andererseits aber wird auch für eine unbefangene Sicht seiner Geschichte und seiner politischen Kultur, der „Dialektik von Last und Leistung" Preußens für die deutsche Geschichte plädiert und sogar eine Rückbesinnung auf bestimmte preußische Tugenden gefordert Der Anteil konservativer ordnungspolitischer Vorstellungen an der derzeitigen Preußen-Welle ist nicht zu übersehen.

Gegenwärtig stehen sich mithin in der westdeutschen Öffentlichkeit drei Tendenzen gegenüber: Erstens die Betrachtung der neueren Geschichte unter dem Aspekt der Fehlentwicklung, partiell auch der Suche nach den alternativen Kräften und ihrer Kontinuität in der deutschen Geschichte; zweitens die Tendenz einer Aufwertung der besonderen preußisch-deutschen Geschichte mit der Absicht ihrer Aneignung als Tradition; drittens eine Sichtweise, die den nationalen Rahmen und den Bezug zur nationalen Identität zugunsten anderer Identitäten zu überwinden sucht. Die weitere Entwicklung wird nicht zuletzt davon abhängen, inwieweit die Bundesrepublik Deutschland als „Sinnzentrum" des geschichtlichen Bewußtseins anerkannt werden wird. Momentan läßt sich eine ausgesprochene Attraktivität der Vergangenheit — siehe Preußen — gegenüber der Gegenwart registrieren, die zu einer verstärkten Wiederbelebung der deutschen Sonderwegsvorstellung unter positiven Vorzeichen führen könnte.

IV. Funktion und Begrenzung der Sonderwegskategorie

Merkmale der Sonderwegsvorstellung Die vorstehende grobe Skizze der Entwicklung der Kategorie des „Sonderwegs" läßt einige allgemeine Beobachtungen zu:

1. Die Vorstellung eines deutschen Sonder-wegs ist in ihren unterschiedlichen Ausformungen unverkennbar eine Funktion des deutschen Selbstverständnisses, im weiteren Sinne der „besonderen" deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Die Sonderwegsinterpretationen reflektieren die jeweilige historische Phase, die ebenso durch die gesellschaftlichen Strukturen und Konflikte in Deutschland wie durch das Verhältnis der deutschen zu anderen europäischen, insbesondere westeuropäischen, Nationen geprägt erscheint. Sie enthalten stets Interpretationen über Vergangenheit und Gegenwart zugleich, häufig werden sie durch Momente „retrospektiver" und „prospektiver Politik" bestimmt, vielfach dienen sie mittelbar oder unmittelbar politischen und gesellschaftlichen Interessen.

2. Die Vorstellung einer besonderen deutschen Entwicklung basiert auf der Grundannahme, daß politische Entwicklungen im nationalen Rahmen ablaufen. Sie war fast immer durch eine „deutsche" Perspektivik bestimmt und stärker durch eine Sicht nach „Innen" als nach „Außen" charakterisiert. Im übrigen war sie kaum das Ergebnis einer eingehenden vergleichenden Betrachtung; die „Besonderheit" schien offensichtlich zu sein und fand theoretisch im Individualitätsaxiom des Historismus ihre Absicherung. In den Sonderwegsvorstellungen wurde vielfach — wenn auch inhaltlich variierend — ein nationales Identitätsbewußtsein manifest, das seine Widersprüchlichkeit und Schwäche in der forcierten Betonung der deutschen Einzigartigkeit und der Herausgehobenheit des deutschen Schicksals kompensierte. 3. Der Sonderwegsbegriff oszilliert zwischen prinzipieller und teilweiser Gegenüberstellung der deutschen und der westeuropäischen Entwicklung, zwischen der Vorstellung einer deutschen Rückund einer deutschen Fortschrittlichkeit. Die Vorstellung einer deutschen Fort-oder Rückschrittlichkeit implizierte die Annahme einer prinzipiellen Gleichgerichtetheit der europäischen politisch-sozialen Prozesse. Sie herrschte im liberalen vormärzlichen Denken, bei den entschiedenen Republikanern der Weimarer Zeit und nach dem Zweiten Weltkrieg vor; in der Reichsgründungsepoche und im Kaiserreich, bei den Gegnern der Weimarer Republik und im Dritten Reich dominierte die Vorstellung, daß die deutsche Entwicklung eigenständig ablaufe (und ablaufen solle). Es ist nicht zu übersehen, daß die Vorstellung einer Autonomie der deutschen Entwicklung vorrangig von konservativen, liberalkonservativen oder reaktionären Positionen aus, die einer prinzipiellen Gleichgerichtetheit von linksliberalen, demokratischen oder sozialistischen Positionen her formuliert worden ist.

4. Die Vorstellung des Sonderwegs wurde auf verschiedene Positionen bezogen. Lange Zeit, seit der Mitte des 19. Jahrhundert, war der Sonderwegsbegriff vornehmlich mit konservativen, regredierenden oder integrationistisehen Absichten verbunden. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg hatte er seinen Bezugspunkt meist in der „Demokratie" — wobei diese überwiegend mit der Bundesrepublik Deutschland gleichgesetzt, seltener als Postulat aufgefaßt wurde. Entsprechend erschien der Sonderweg aus letztgenannter Sicht meist in negativem Licht und kulminierte in der NS-Zeit.

5. Bildete sich das Sonderwegsbewußtsein in der Reichsgründungsphase aus, so war die Beurteilung des Kaiserreichs von dieser Zeit an ein zentraler Aspekt der Sonderwegsvorstellung — er ist dies im Grunde bis heute. Der zweite Punkt, auf den die Kontinuitätskonstruktion eines „Sonderwegs" ausgerichtet worden ist, ist seit der NS-Machtergreifung das Jahr 1933, im weiteren Sinne das Dritte Reich, und diese Perspektivik blieb auch nach dem Zusammenbruch dieses Reiches vorherrschend. Insbesondere in der Nachkriegszeit wurde von 1933 aus in die Geschichte zurückgelragt, auf das Kaiserreich, darüber hinaus aber auf die gesamte vorhergehendeGe-schichte bis ins Mittelalter hinein. Zweifellos besaß und besitzt die Sonderwegskategorie die Funktion, das Bild der deutschen Geschichte in spezifischer Weise zu organisieren, indem über die Relevanz von Faktoren entschieden wird, Zusammenhänge hergestellt werden, Ereignisse und Ereignisreihen überbelichtet, andere ausgeblendet werden.

Zur Kritik der Sonderwegskategorie sich Es läßt gewiß nicht bestreiten, daß die neuere deutsche Geschichte in wesentlichen Zügen anders verlaufen ist als die englische, amerikanische oder französische: Die späte Nationalstaatsbildung, die besondere Rolle des Staates gegenüber der Gesellschaft oder der Sieg des Faschismus markieren die augenfälligsten Unterschiede. Und gegenüber allen Versuchen, den Nationalsozialismus aus dem Kontext der deutschen Geschichte herauszulesen und die Problematik der preußisch-deutschen Traditionen zu verharmlosen, ist die Sonderwegsthese in ihrer kritischen Funktion zu verteidigen.

Gleichwohl läßt die Entwicklung der Sonderwegsvorstellung bestimmte problematische Züge der Sonderwegsthese in ihrer verabsolutierten Form als einer Leitidee des Geschichtsbewußtseins deutlich werden.

1. Sie tendiert offensichtlich dazu, die deutsche Geschichte zu isolieren, das zwischenstaatliche Beziehungsgeflecht und den gesamteuropäischen Kommunikationszusammenhang sowie die transnationalen Prozesse zu vernachlässigen, die Frage nach den Gemeinsamkeiten der deutschen und der anderen Nationalgeschichten in Europa auszublenden und die Einzigartigkeit der Ereignisse der deutschen Geschichte zu überschätzen. „Ab einem bestimmten Punkt ist jede nationale Geschichte letztlich einzigartig." 48) Die deutsche politische und soziale Entwicklung ist etwa gegenüber der englischen nicht prinzipiell unvergleichlich. Die axiomatische Setzung einer besonderen Entwicklung birgt die Gefahr, auch Phänomene, die keineswegs „besondere" sind, für solche zu halten.

2. Das Bild einer besonderen d Die deutsche politische und soziale Entwicklung ist etwa gegenüber der englischen nicht prinzipiell unvergleichlich. Die axiomatische Setzung einer besonderen Entwicklung birgt die Gefahr, auch Phänomene, die keineswegs „besondere" sind, für solche zu halten.

2. Das Bild einer besonderen deutschen Entwicklung hat ihren Angelpunkt stets in bestimmten Epochen und Ereignissen, von denen aus die übrige Geschichte in den Blick kommt. Die in sich vielschichtige und widersprüchliche Vergangenheit wird damit leicht auf eine Kontinuitätslinie verengt, die auf die — als konstitutiv betrachteten — Ereignisse bzw. Phänomene gleichsam teleologisch zu-läuft. Die Gefahr rückwärtsgewandter Prophetie liegt damit — insbesondere wenn die Kontinuitätslinie bis in weit zurückliegende Zeiten gezogen wird — auf der Hand, ebenso die Tendenz, daß die relative Offenheit der vergangenen Gegenwarten zu deren jeweiliger Zukunft unzulässig eingeschränkt und die Tatsache außer acht gelassen wird, daß in der Geschichte „immer mehr oder weniger (geschieht), als in den Vorgegebenheiten enthalten ist" 49). Der Notwendigskeitscharakter der Entwicklung wird über-, die Chancen einer anderen Entwicklung unterschätzt.

Die Erklärung der historischen Bedingungen dafür, daß die Krise der 20er und 30er Jahre in Deutschland mit dem Sieg des Nationalsozialismus endete, bleibt eine eminent wichtige Aufgabe der deutschen Geschichtsschreibung. Dennoch erscheint heute die Einengung aller historischen Betrachtung auf diese Frage hin als Verkürzung der Geschichte 50).

3. Die Verschränkung von Vergangenheitsinterpretation, Gegenwartsorientierung und Zukunftserwartung bzw. -hoffnung, die prinzipiell nicht aufhebbar ist, ist in vielen Sonderwegsthesen insofern problematisch, als diese Verschränkung unreflektiert bleibt und teils die Beurteilung der Vergangenheit’ kurz-schlüssig unter Gegenwartsabsichten erfolgt, teils die Gegenwart einseitig von einem bestimmten Bild der Vergangenheit her begriffen und gestaltet wird. Letzteres gilt für die mit den meisten Sonderwegsinterpretationen vor 1945 verknüpfte Erwartung einer Fortsetzung der besonderen deutschen Entwicklung in Gegenwart und Zukunft, bedingt auch für manche Interpretationen seitdem, die in der Negation den älteren Interpretationen verbunden sind. Generell besteht die Gefahr, daß die gegenwärtige Zukunft gleichsam mit der realen oder irrealen — als Alternative gemachten — vergangenen verwechselt wird. Die Vieldeutigkeit der deutschen Vergangenheit läßt Wegweisung durch die Geschichte in Deutschland als besonders schwierig erscheinen. Gegenwartsorientierung vermag nur ein geschichtliches Bewußtsein zu leisten, das der Komplexität der Vergangenheit als eines vielschichtigen Prozesses gerecht wird, in dem immer neue Kontinuitäten entstehen und in dem Zukunft mehr als ein Weiterlaufen der Vergangenheit ist. Dies bedeutet keineswegs, auf Parteilichkeit und auf eine kritische Interpretation der neuesten deutschen Geschichte zu verzichten.

4. Der „deutsche Sonderweg" als Interpretationsschema der deutschen Geschichte ist heute auch insofern anfechtbar, als ein „Normalweg", d. h. eine Stufenfolge, die jedes Volk durchlaufen muß, nicht mehr auszumachen ist. Es gibt keinen Normalweg, deshalb eigentlich auch keine Sonderfälle, oder besser: alle Fälle sind Sonderfälle. Es stellt sich mithin heute mehr denn je die Frage nach der Norm, an der die deutsche geschichtliche Entwicklung gemessen werden kann. Man wird sie schwerlich in einer anderen Nationalgeschichte finden. 5. Unbestreitbar ist die Kategorie des „Sonderwegs“ nationaletatistischem Denken verhaftet. Gewiß sind Nation und Staat für die Interpretation der Vergangenheit, zumal des Zeitalters des Nationalstaats, aber auch noch für die Gegenwart wichtige Kategorien, beweisen doch die Nationalstaaten immer noch eine beachtliche Kraft. Dennoch läßt sich fragen, ob Geschichtsschreibung und geschichtliches Bewußtsein wirklich, wie bislang, weitgehend um diese Größen kreisen kann und soll oder ob die Beschäftigung mit Geschichte nicht zugleich auch auf andere soziale Identitäten — oberhalb, unterhalb und jenseits von Staat und Nation — bezogen sein kann und soll.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Karl Dietrich Bracher, Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des NationalsozialismUs, Köln, Berlin 1969, S. 16 ff.; Ralf Dahrendorf, Ge-

  2. Michael Stürmer, Wie es eigentlich nicht gewesen. Angelsächsische Revisionsversuche an der These vom deutschen Sonderweg, in: Die Zeit, Nr. 9, 20. 2. 1981, S. 13.

  3. David Blackbourn u. Geoff Eley, Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848, Frankfurt 1980, S. 7.

  4. Rudolf Vierhaus, Die Ideologie eines deutschen Wegs der politischen und sozialen Entwicklung, in: Rudolf von Thadden (Hrsg.), Die Krise des Liberalismus zwischen den Weltkriegen, Göttingen 1978, S. 96— 114.

  5. Wir beschränken uns hier auf Stellungnahmen von professionellen Historikern, wobei selbstverständlich keine Geschichte der Historiographie angestrebt wird. Es geht um das deutsche geschichtliche Bewußtsein in der Artikulation von Historikern.

  6. Siehe Michael Neumüller, Liberalismus und Revolution. Das Problem der Revolution in der deut-schen liberalen Geschichtsschreibung des 19. Jahr-

  7. Friedrich Christoph Dahlmann, Die Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt, Göttingen 1835; Leipzig 184712.

  8. Vgl. Leonard Krieger, The German Idea of Freedom, Boston 1957.

  9. Vgl. Aira Kemiläinen, Die historische Sendung der Deutschen in Leopold von Rankes Geschichtsdenken, Helsinki 1968.

  10. Vgl. auch zum folgenden: Franzjörg Baumgart, Die verdrängte Revolution, Düsseldorf 1976.

  11. Vgl. Neumüller, Liberalismus und Revolution, a. a. O., S. 66 ff.

  12. Gustav Freytag, Karl Mathy. Geschichte seines Lebens, Leipzig 1870, S. 110.

  13. Vgl. Hans-Heinz Krill, Die Rankerenaissance, Berlin 1962, S. 104.

  14. Heinrich von Treitschke, Friedenshoffnungen, niehn Jahre Deutsche Kämpfe, Berlin 19792, 8329; vgl. Baumgart, Die verdrängte Revolution,

  15. Helmuth Plessner, Die verspätete Nation, über le politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, suttgart 1959, S. 39 ff.

  16. Otto Hintze, Das monarchische Prinzip und die institutionelle Verfassung, in: Preußische Jahrbü-cher 144, 1911, S. 381— 412.

  17. Vgl. Ludwig Dehio, Gedanken über die deutsche Sendung 1900— 1918, in: ders., Deutschland und die Weltpolitik im 20. Jahrhundert, Frankfurt 1961, S. 63— 96.

  18. Vgl. Christian Graf von Krockow, Nationalismus als deutsches Problem, München 1970.

  19. Siehe Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, Basel und Stuttgart 1963, S. 1731 Klaus Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges, Göttingen 1969.

  20. Ernst Troeltsch, Der Ansturm der westlichen Demokratie, in: Die deutsche Freiheit. Fünf Vorträge, hrsg. v. Bund deutscher Gelehrter und Künstler, Gotha 1917, S. 79— 114; vgl. auch Troeltsch, Deutscher Geist und Westeuropa. Gesammelte kulturpolitische Aufsätze und Reden, hrsg. von Hans Baron, Tübingen 1925.

  21. Siehe zum folgenden: Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und „ationalsozialismus, München 1980.

  22. Hermann Oncken, Lassalle. Eine politische Biographie, Stuttgart und Berlin 1920, S. Iff.

  23. Johannes Ziekursch, Politische Geschichte des neuen deutschen Kaiserreiches, 3 Bde., Frankfurt 1925— 1930; vgl. auch Hans Schleier, Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik, Köln 1975, S. 399— 451.

  24. Vgl. Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges, a. a. O., S. 279ff. Zur Gruppe der Vernunftrepublikaper siehe Herbert Döring, Der Weimarer Kreis. Studien zum politischen Bewußtsein verfassungstreuer Hochschullehrer in der Weimarer Republik Meisenheim 1975.

  25. Plessner, Die verspätete Nation, a. a. O., S. 29 ff.

  26. Siehe z. B. Ernst Anrich, War Stein Romantiker?, in: Histor. Zeitschr. 153, 1926, S. 290— 305; Erich Botzenhart, Deutsche Revolution 1806/1813, Hamburg 1940.

  27. Karl Alexander von Müller, Deutschland und England. Ein weltgeschichtliches Bild, Berlin 1939, S. 42.

  28. Siehe Lothar Gall (Hrsg.), Das Bismarck-Problem 197er Geschichtsschreibung nach 1945, Köln, Berlin

  29. Georg Lukäcs, Die Zerstörung der Vernunft, Neuwied und Berlin 1962.

  30. Hans Mommsen, Haupttendenzen (der deutschen Geschichtswissenschaft) nach 1945 und in der Ära des Kalten Krieges, in: Bernd Faulenbach, Geschichtswissenschaft in Deutschland, München 1974, S. 113— 120. Zur deutschen Geschichtsschreibung nach 1945 siehe: Ernst Schulin, Zur Restauration und langsamen Weiterentwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, in: ders., Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch, Göttingen 1979, S. 133— 143; Werner Conze, Die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945. Bedingungen und Ergebnisse, in: Histor. Zeitschr. 225, 1977, S. 1— 28.

  31. Gerhard Ritter, Europa und die deutsche Frage. Betrachtungen über die geschichtliche Eigenart des deutschen Staatsdenkens, München 1948; ders., Geschichte als Bildungsmacht. Ein Beitrag zur historisch-politischen Neubesinnung, Stuttgart 1946; ders., Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des Militarismus in Deutschland, 4 Bde., München 1954— 1968.

  32. Siegfried A. Kaehler, Vom dunklen Rätsel deutscher Geschichte, in: ders., Studien zur deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1961, S. 374 f.

  33. Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946.

  34. Siehe Gerhard Ritter, Das deutsche Problem. Grundlagen deutschen Staatslebens gestern und heute, München 1962, S. 7f.

  35. Zu den Entwicklungstendenzen der westeuropäischen Geschichtswissenschaft seit den 60er Jahren siehe: Georg G. Iggers, Neue Geschichtswissenschaft Vom Historismus zur Historischen Sozialwissenschaft, München 197-8; Hans-Ulrich Wehler, Heschichtswissenschaft heute, in: Jürgen Habermas Hrsg.), Stichworte zur . geistigen Situation der Zeit’, Bd U, Frankfurt 1979, S. 709— 753; Bernd Faulen-. cb. Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, 5hiTijdschrift voor Geschiedenis 1981, H. 1, S. 29—

  36. Fritz Fischer, Der Griff nach der Weltmacht, Düsseldorf 1961.

  37. Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 19695.

  38. Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871- 1918, Göttingen 1973; vgl. auch Iggers, Neue Geschichtswissenschaft, a. a. O., S. 114ff.

  39. Vgl. Helga Grebing, Aktuelle Theorien über Faschismus und Konservativismus. Eine Kritik, Stuttgart 1974, S. 49 ff.

  40. Barrington Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie, Frankfurt 1969. Zur Korrektur der Vorstellung, daß die weniger entwickelten Länder den Stufen und Phasen des Wandels folgen würden bzw. müßten, die die entwickelten Länder bereits durchlaufen hätten, vgl. Helga Grebing, Aktuelle Theorien über Faschismus und Konservativismus, Göttingen 1974; M. Rainer Lepsius, Demokratie in Deutschland als historisch-soziologisches Problem, in: Spätkapitalismus und Industriegesellschaft, hrsg. v. Th. A. Adorno, Stuttgart 1968, S. 197—

  41. Thomas Nipperdey, Wehlers „Kaiserreich". Eine knitische Auseinandersetzung, in: Geschichte und Gesellschaft 1, 1975, S. 539— 560; ders., 1933 und Kontinuität der deutschen Geschichte, in: Histor.

  42. Helmut Diwald, Geschichtsbild und Geschichts-Bewußtsein im gegenwärtigen Deutschland, in: Saeculum 28, 1977, S. 22— 30 ders., Propyläen Ge-Shichte, der Deutschen, Berlin 1978, Zitat S. 16.

  43. Vgl. Hans Mommsen, Geschichtsunterricht und Identitätsfindung in der Bundesrepublik, in: Ge-Schichtsdidaktik 3, 1978, H. 4, S. 291 ff.

  44. David P. Calleo, Legende und Wirklichkeit der deutschen Gefahr. Neue Aspekte zur Rolle Deutschlands in der Weltgeschichte von Bismarck ms heute, Bonn 1980.

  45. David Blackbourn und Geoff Eley, Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848, Frankfurt/M. — Berlin — Wien 1980.

  46. Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt/M. — Berlin — Wien 1980.

  47. Dirk Blasius (Hrsg.), Preußen in der deutschen Geschichte, Königstein 1980, S. 9— 46, Zitat S. 29; Martin Greiffenhagen, Die Aktualität Preußens. Fragen an die Bundesrepublik, Frankfurt 1981; Christian Graf von Krockow, Warnung vor Preußen, Berlin 1981; Rudolf von Thadden, Fragen an Preußen. Zur Geschichte eines aufgehobenen Staates, München 1981. Mit verherrlichender Tendenz: Berthold Maack, Preußen. Jedem das Seine, Tübingen 1981.

  48. Blackbourn u. Eley, Mythen deutscher Geschichtsschreibung, a. a. O„ S. 77.

Weitere Inhalte

Bernd Faulenbach, Dr. phil., geb. 1943, Studium der Geschichtswissenschaft, Germanistik und Politikwissenschaft in Bonn und Bochum; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut für Arbeiterbildung in Recklinghausen. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Geschichtswissenschaft in Deutschland. Traditionelle Positionen und gegenwärtige Aufgaben, München 1974; Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980.