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Die Acht-Stunden-Ideologie | APuZ 33/1981 | bpb.de

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APuZ 33/1981 Artikel 1 „Deutscher Sonderweg". Zur Geschichte und Problematik einer zentralen Kategorie des deutschen geschichtlichen Bewußtseins Die SED und der „Sozialdemokratismus" Die Acht-Stunden-Ideologie Habe ich den Fehler meines Lebens gemacht?

Die Acht-Stunden-Ideologie

Matthias Bothe

/ 18 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Matthias Bothe: Die Acht-Stunden-Ideologie Aus Politik und Zeitgeschichte, B 33/81, S. 34— 40

Die Aufzeichnungen von Manuela Wenau und Matthias Bothe sind einem demnächst erscheinenden Band der Schriftenreihe der Bundeszentrale fürpolitische Bildung entnommen. Darin wird anläßlich des 20. Jahrestages des Baues der Mauer in Berlin hauptsächlich von Jugendlichen ihr Weg von Deutschland nach Deutschland beschrieben: Welche Erfahrungen machten sie in der DDR, welche in der Bundesrepublik?

Die Frage, was einen in der DDR geborenen Menschen dazu veranlassen kann, Heimat, Verwandte, Freunde, Arbeit und den gewohnten Lebensrhythmus zu verlassen sowie ein Abenteuer mit nicht immer kalkulierbaren Ausgang zu wagen und sein Leben in einem unzulänglich bekannten, nie gesehenen Staat neu zu beginnen, läßt sich nicht allgemeingültig beantworten. Diese Frage zwingt jeden einzelnen Menschen zu seiner eigenen, oft unter Schmerzen gegebenen Antwort Und dennoch gibt es sicher Übereinstimmungen in Wertungen und Beurteilungen, die in ähnlichen Verhaltens-und Reaktionsmechanismen begründet liegen. Das Verlassen eines Staates, in dem einem das Leben nicht mehr lebenswert erscheint, ist nur selten einer spontanen Idee zuzuschreiben. Viele haben um einen solchen Entschluß jahrelang mit sich selber gerungen und gekämpft, weil die Konsequenzen zu tief-greifend sind, als daß man sich leichten Herzens über Nacht zum Wechsel entschließen könnte.

Dabei sind zwei Dinge wichtig: zum einen, wie ist es zu schaffen, hier herauszukommen, ohne daß der Kampf zur Selbstzerstörung führt; und zum anderen, was erwartet mich „drüben"? Rechtfertigt das nicht genau vorhersehbare Ergebnis den möglicherweise sehr hohen Einsatz und das Risiko? Die positive oder negative Beantwortung dieser Fragen hängt hauptsächlich von den Motiven ab, die zu einem solchen Wechsel veranlassen. Diejenigen, die in der Übersiedlung eine Art Emigration vom unbedingt bejahten, wenn auch durch die SED entstellten Sozialismus in den ausbeutenden Kapitalismus mit seinem Demokratismus sehen, und diejenigen, die von der Bundesrepublik Deutschland Erwartungen hegen, die ihnen keine Gesellschaft der Welt erfüllen kann — wie: völlige Gerechtigkeit, lückenlose Sorge und Bemühung um jeden einzelnen bei gleichzeitiger totaler Freiheit und Demokratie, schneller und hoher materieller Wohlstand sowie dauerndes Glück und Zufriedenheit —, werden nicht recht zufrieden sein.

Die anderen aber, die eine freiheitliche Gesellschaft nur als Voraussetzung und Grundlage für ein auf persönlichem Fleiß und freier Entfaltung basierendes Leben betrachten, bei dem der Staat nur die Freiräume und Möglichkeiten für diese Entfaltung eröffnet, werden nicht enttäuscht sein — im Gegenteil.

Die massive Propaganda in der DDR bringt es mit sich, daß das überaus umfangreiche soziale Netz der Bundesrepublik in der DDR nur unzureichend bekannt ist. Ein junger Mensch in der DDR, der weder Faschismus noch Demokratie kennengelernt hat, erlebt den Sozialismus zunächst als seine natürliche Umwelt. Da ihn in jungen Jahren noch keine Zeitungen, weiterführende Literatur, große Reisen und diverse politische Betätigungsfelder interessieren, empfindet er kaum Einschränkungen, zumal das Bild der Gesellschaft, das durch die Schule vermittelt wird, eher einem Paradies-zustand entspricht. So lebt er eigentlich recht lange konfliktfrei.

Diese schulische Propaganda hatte bei mir weder großen Erfolg noch großen Mißerfolg, wie das bei vielen der Fall ist, die zu jung sind, das Gesagte kritisch zu verarbeiten und zu bewerten. Man wiederholt einfach die dargebotenen Phrasen — und der Lehrer ist zufrieden. Mein Interesse für Politik und Philosophie wurde aber dennoch durch die Schule geweckt. In der siebten Klasse nämlich begann der Staatsbür gerkundeunterricht, in dem man uns die „Tatsache" vermittelte, daß wir über die einzige wissenschaftliche Weltanschauung verfügten, die es überhaupt gibt. Die westlichen Philosophen seien alle dumm, so der Lehrer, da sie behaupten, es sei überhaupt nichts da, aber wir uns doch sehen und anfassen können — allgemeine überlegene Heiterkeit über die Einfalt der westlichen Philosophen einschließlich der Kirche. Man sagte uns, wenn wir an diese einzige wissenschaftliche Weltanschauung glaubten, verträten wir die Wissenschaft und seien die Pioniere des Fortschritts in der Welt.

Nun ist zwar jeder junge Mensch sicher überrascht, erfreut und stolz, in ein paar Stunden zur einzig wissenschaftlichen Weltanschauung gelangt zu sein, die ihn schlagartig allen anderen (auch Gelehrten) überlegen macht, aber ein ungutes Gefühl, das mit einer gewissen realistischen Selbsteinschätzung zu tun haben muß, bleibt.

Aber immerhin stand dahinter die gesamte Autorität des Lehrers und mit ihm die des Staates. Allein die Primitivität der Propaganda, die einem mit zunehmendem Alter immer fragwürdiger erscheint, ihre Eindringlichkeit und Penetranz erschöpfen sehr schnell die Aufnahmefähigkeit und vor allem den Aufnahmewillen des Jugendlichen. So kommt es, daß der Staatsbürgerkundeunterricht bald zum Horrorfach wird, das einem nur die Zeit stiehlt und tödlich nervt.

Dieser Anti-Effekt wurde bei mir noch verstärkt, als ich allmählich „erwachte" und meine Umwelt genauer wahrnahm. Ich hörte aufmerksamer den Gesprächen meiner Eltern zu, die sich keineswegs mit dem deckten, was der Lehrer in der Schule erzählte. Meine Mutter beklagte nicht enden wollende Versorgungsschwierigkeiten, mein Vater schimpfte auf die Innenpolitik. Dazu kam noch das Fernsehen, das buchstäblich jeden Tag den enormen Qualitätsunterschied in Information und Unterhaltung demonstrierte. So wurde ich, wie fast alle Kinder und Jugendlichen in diesem Land, zur DDR-spezifischen Schizophrenie erzogen, nämlich in der Schule so zu tun als ob und das u sagen, was der Lehrer hören will, und zu Hause unter seinen Freunden seine wahre Meinung zu sagen. Diese Anpassungsfähigkeit funktioniert erstaunlich reibungslos, wenngleich die Schäden, die die Persönlichkeit dabei nimmt, zwar nicht gleich offen zutage treten, aber dennoch unbestreitbar sind. In der DDR heißt das die Acht-Stunden-Ideologie. Dieser Begriff macht deutlich, daß sich die Persönlichkeitsspaltung von der Schule bis in das Berufsleben fortsetzt; es sei denn, der jeweils Betroffene durchbricht gewaltsam diese Spirale. Aber dies wird mit zunehmenden Alter immer schwieriger, da anerzogene und selbstangewöhnte Verhaltensmuster eine radikale Änderung erschweren.

Selbst für uns als Kinder war es eine ausgemachte Sache, daß wir vor fremden Personen nicht erzählten, was wir gestern im Westfernsehen gesehen hatten und wie wir über viele Dinge im Staat dachten. Wir sind so hineingewachsen in das Klima der Denunziation und der Vorsicht vor den Mitmenschen, insbesondere vor den Lehrern, daß auch ich an dieser untragbaren Situation zunächst nichts Ungewöhnliches fand. Es war eben halt so und ließ sich nicht ändern.

Die Eltern haben zum großen Teil mitzuverantworten, daß sie die Kinder frühzeitig zur Unaufrichtigkeit, zur Lüge und zum Duckmäusertum erziehen. Sich aus diesem Teufelskreis zu befreien, erfordert allerdings ein achtbares Maß an Courage. So versuchen viele Menschen, aus der Not eine Tugend zu machen, indem sie sich für sehr flexibel halten, weil sie im Betrieb um der Karriere willen gesellschaftspolitisch sehr aktiv sind und somit für hervorragende Mitstreiter beim Aufbau des Sozialismus gehalten werden, und dann zu Hause die gegenteilige Meinung vertreten und regelmäßig mit Hilfe des Fernsehens die „heimliche Emigration“ in den Westen antreten. Nur, sie übersehen dabei, daß ihnen ganz allmählich die menschliche Integrität, Festigkeit und der Halt verloren gehen. Denn, wo beginnen die Kompromisse und wo enden sie?

Sie beginnen im Kindesalter, in dem man, um sich selbst und seinen Eltern Schwierigkeiten zu ersparen, in der Schule nicht von der offiziellen Ideologie abweicht. Sie setzen sich fort in den höheren Schulklassen, wo man aus taktischen Gründen weiter lügt und das als seine Überzeugung ausgibt, was für den späteren Weg am dienlichsten ist, um nicht von der Schule gewiesen zu werden und sich eine möglichst gute Lehrstelle zu sichern oder einen Platz an der EOS (Erweiterte Oberschule), die zum Abitur führt. Es ist von Staats wegen schon so eingerichtet, daß die Leistung nur von sekundärer Bedeutung ist Entscheidend für die Zulassung an eine höhere Bildungsstätte ist in erster Linie die Entwicklung zur „sozialistischen Persönlichkeit" und das Elternhaus. Da dies hinreichend bekannt ist, wird jedem schon früh gesagt: „Reiß'dich zusammen; wenn du weiterkommen willst, mußt du eben auch einstecken können, der Lehrer hat immer recht."

Später, im Betrieb, setzt sich das fort, nur mit tiefgreifenderen Konsequenzen. Bis dahin sagte sich jeder: „Was soll's, ohne Kompromisse kommt man nun mal nicht vorwärts.

Wenn ich erst einmal dies oder das erreicht habe, trete ich etwas kürzer; außerdem kann mir diese Ideologie nichts anhaben, da meine Meinung sowieso gefestigt ist." Aber ich glaube, dies sind selbstbetrügerische Ersatzargumente, die zudecken sollen, daß man schon längst nicht mehr Herr seiner selbst ist. Alle edlen Einstellungen, Ziele und Überzeugungen, mit denen der Mensch wächst und reift — wie Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Gerechtigkeit, Toleranz, Achtung der Meinung des anderen und Selbstbestimmung —, muß man in einer solchen Gesellschaft verleugnen. Wohin geht dann das Streben des einzelnen, wenn er diesen Zielen äußerlich abschwören muß? Einer der wenigen noch möglichen Auswege ist der Konsum. Dies ist der Ersatz für alles andere nicht Erreichbare.

Viele sagen sich, Kompromisse nur insoweit, wie ich sie verantworten und vertreten kann. Aber es gibt keine abrupte Grenze zwischen vertretbaren und nicht vertretbaren Kompromissen, die Übergänge sind fließend. Natürlich kann ich sagen, in die Partei (SED) gehe ich niemals. Aber wenn es im Betrieb darum geht,'ein ausgezeichnetes Kollektiv zu werden, was mit Prämien verbunden ist, und mein Vorgesetzter sagt, hör’ mal, du müßtest dich gesellschaftlich aktiver zeigen, so sagt man sich oft, na gut, dann mache ich eben bei der Kampfgruppe mit oder bei der DSF (Deutsch-sowjetische Freundschaft) oder in der Gewerkschaft. Später wird eine Liste mit Unterschriften vorgelegt, auf der man mit seiner eigenen Unterschrift bekunden soll, daß man mit dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die CSSR oder der sowjetischen Truppen in Afghanistan voll einverstanden ist — zum Schutze der Freiheit und des Sozialismus. Was tun? Nicht unterschreiben kann als antisozialistische Haltung ausgelegt werden, die nicht nur berufliche Folgen hat. Also wird unterschrieben, meist entgegen der Überzeugung. Man sagt sich, schließlich habe ich so viele Zugeständnisse gemacht, soll das alles umsonst gewesen sein, nur wegen einer kleinen Unterschrift? Dann hätte ich die ganzen Jahre die Zugeständnisse gar nicht zu machen brauchen. Also sei kein Narr und versau'dir nicht alles. Des weiteren kann ich bei guterberuflicher Leistung auf der Karriereleiter nach oben klettern — mehr Privilegien, mehrWohlstand. Aber da ist ein Haken: Ab einer bestimmten Stufe ist die Mitgliedschaft in der SED unabdingbare Voraussetzung. Ohne Partei keine bessere Stellung. Wieder kämpfen zwei Seelen in meiner Brust. Die eine sagt, in die Partei zu gehen, heißt, dich völlig aufzugeben und auszuliefern entgegen deiner Über-zeugung; so weit darfst du dich nicht verkaufen. Die andere beschwichtigt und meint wenn du nicht gehst, geht ein anderer, es ändert sich also nichts. Außerdem: jetzt aufzuhören ist Unsinn, nachdem man alles vorher mitgemacht hat; sonst hätte man die Sache von vornherein nicht mitziehen dürfen. Des weiteren muß es ja nicht unbedingt nur dein Schaden sein.

So treten denn auch viele entgegen ihren früheren Beteuerungen doch in die Partei ein. In einer solchen Weise gibt der Mensch Punkt für Punkt seine Prinzipien und Positionen preis und büßt damit Persönlichkeit und seelisches Gleichgewicht ein. Ich bin überzeugt, daß eine solche Kette von nicht endenden Kompromissen den Mensch immer mehr schwächt und die Substanz angreift bis zur Selbstaufgabe, weil diese Verhaltensmuster mit der Zeit immer mehr verinnerlicht, also zum Bestandteil der jeweiligen Personen werden. Dagegen anzukämpfen und diesen Kreis zu durchbrechen, fällt von Jahr zu Jahr schwerer. Ich habe es an mit selber feststellen können Auch ich habe in der Schule jahrelang ge-schwiegen zu Unsinn, der uns erzählt wurde — wider besseres Wissen. Ich kannte es eben halt nicht anders. Es wurde nur hinter vorgehaltener Hand offen diskutiert. Nach der 10. Klasse — ich begann eine Lehre mit Abitur — bin ich etwas mehr in die Offensive gegangen, aber immer noch so vorsichtig, daß ein Rückzug ohne Schaden möglich war. Und dennoch war ich in kurzer Zeit als reaktionär verschrien. Im Unterricht bewegte ich mich zwar oft an der Grenze des für die Lehrer erträglichen, aber in den entscheidenden Phasen der Diskussion machte ich immer Rückzieher, um nicht vollends anzuecken.

Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Der Philosophiedozent der Musikhochschule „Hanns Eisler", Professor Ostberg, hatte eine seltsame Art der Argumentation: Auf die Frage eines Studenten, weshalb der Bohnenkaffee so teuer sei, meinte der Dozent, wenn der Kaffee billiger wäre, könnten sich die Reichen in Massen damit eindecken, während die Armen sich nicht so viel leisten könnten.. So ist der Kaffee eben teuer, damit sich die Reichen auch nicht soviel kaufen können. Keiner erhob gegen diese Unlogik Einspruch, weder der Fragende, noch ich, noch ein anderer. Es ging dann um die führende Rolle der Arbeiterklasse. Der Professor erklärte uns, die Arbeiterklasse sei in allen gesellschaftlichen Bereichen absolut führend. Das war mir zu viel. Bei allem Respekt für die Arbeiterklasse und ihren Leistungen erlaubte ich mir die Frage, weshalb wir dann überhaupt studierten, wenn die Arbeiterklasse sowieso führend sei. Ich vertrat die Meinung, daß wir ja doch Musik studierten, um uns so gründlich wie möglich damit zu befassen. Die besten von uns würden natürlich Führende werden wollen, und da schiene es mir unlogisch, daß jemand, der einen ganz anderen Beruf ausübte als ich, plötzlich auch in meinem Beruf führend sein müsse. Dafür erntete ich bei den Studenten gespannte Aufmerksamkeit, für das, was nun folgen würde; beim Dozenten allerdings nur höchstes Mißfallen. Die Arbeiterklasse sei die führende Klasse, das sei wissenschaftlich bewiesen worben und daran gäbe es nichts zu rütteln — duch von mir nicht. Im übrigen sei er sehr ent-

auscht von mir, da ich gar keinen so dummen Findruck gemacht hätte, und er müsse sich ernstlich fragen, ob ich überhaupt etwas ge-ernt hätte, denn es sähe so aus, als hätte ich überhaupt nichts begriffen. Aber auch hier fehlte mir noch der Mut, ihm offen ins Gesicht zu sagen, daß ich seinen Standpunkt schlichtweg für schwachsinnig hielte — Folgen der ständigen Zugeständnisse und des taktischen Zurückweichens.

Das Paradbxe an dieser Gesellschaft ist, daß die Mehrheit dagegen ist und dieses System heimlich verflucht, aber alle genau das tun, wodurch es erst bestehen kann. Das Potential für Demokratie und Freiheit ist vorhanden, wird aber von jedem einzelnen bei sich selbst unterdrückt, so daß nur diejenigen Handlungen in den gesellschaftlichen Prozeß einfließen, die zwar nicht unbedingt demokratie-feindlich sein müssen, aber in jedem einzelnen Fall der Diktatur dienlich sind. So hofft jeder auf ein Wunder, das von irgendwoher die Lösung bringt; aber es wird verdrängt, weil jeder mit seinem Beitrag genau dafür sorgt, daß diese Lösung nicht kommt, sondern die Diktatur gefestigt wird.

Wie sind nun meine Träume oder Wünsche vom selbst zu gestaltenden Leben in der DDR an der dortigen Wirklichkeit zerbrochen? Dazu einige Aspekte. Mitgerissen durch die Beat-Ära entwickelte ich ein großes Interesse für Musik. Auch hier wurde ich zeitig zur Stellungnahme gezwungen. So konnte ich nicht einsehen, weshalb fast jede populäre Band verboten wurde, nur weil ihr Habitus angeblich nicht der sozialistischen Kulturnorm entsprach oder weil die Kulturinstanzen beim Schlagzeuger einer Band ein vermeintlich westdeutsches Schlagzeugsolo herauszuhören glaubten. Diese Kulturinstanzen, die darüber zu wachen haben, daß sich ja nichts außerhalb der leninschen Ästhetik entwickeln kann, haben sich teilweise in ihre Gegenteil verkehrt. Ursprünglich sollten sie für die Verbreitung von Kultur sorgen, nun dienen sie mehr zur Verhinderung der Verbreitung von Kultur.

Eine unqualifizierte Propagandakampagne gegen den Beat, keine Schallplatten, keine Auftritte von bedeutenden Bands aus England, USA, Deutschland usw. vervollständigten mein Bild über diesen Gesellschaftsbereich. Bandaufnahmen von ausländischen Gruppen zeigten mir ohnehin deutlich, wo die Musik gemacht wurde und daß uns der Westen dabei weit voraus war — und nicht umgekehrt, wie es die Propaganda verkündete. Das Ergebnis war, daß ich einfach enttäuscht war vom Staat. Ich fragte mich, warum verbieten sie Musik, die uns, der Jugend gefällt — und wenn sie ihnen vielleicht nicht zusagt, na und? Das wäre noch lange kein Grund, sie uns vorzuenthalten. Im Westen darf sie auch gespielt werden — da gab es sogar schon zeitig eine eigene Fernsehsendung „Beatclub", die so gut wie jeder Jugendliche bei uns sah. Die Frage, die daraus resultierte, war: Wo haben die Jugendlichen mehr Möglichkeiten und Freiräume?

Ein weiterer Schritt auf dem Weg der Entfremdung vom Staat war die Frage der Informationen. Ich war wißbegierig und wollte lernen, warum dies so und anderes so ist. In den naturwissenschaftlichen Fächern wurde diese Neugierde zum Teil befriedigt, aber in der Gesellschaftspolitik ganz und gar nicht. Nur dumme, hohle Phrasen — angefangen von der Schule über Rundfunk, Fernsehen, Zeitungen bis zu den Transparenten an den Häuserwänden. überall die gleichen abgedroschenen •Sprüche, die uns suggerieren sollten, daß wir in einem Paradies leben würden oder zumindest dieses uns in Kürze erreiche, obwohl die Realität keinerlei Anzeichen dafür bot. Die Propaganda erdrückte mich förmlich; wo ich aych hinkam, immer das Gleiche. Irgendwann begriff ich, daß diese Lehrformeln keine Inhalte mehr besitzen. Also suchte ich mir andere Informationsquellen.

Da ich wenig Beziehungen hatte, blieb nur das Fernsehen. Und das nutzte ich so gut es ging.

Regelmäßig sah ich mir Bundestagsdebatten, Unterhaltungssendungen, Nachrichten und vor allem die politischen Magazine an. Bei den Debatten beeindruckten mich die Rhetorik und die offene Auseinandersetzung.

Bei den Nachrichten gefiel mir die Objektivität und bei den Magazinen die kritische Einstellung. Spätestens da wußte ich eigentlich schon, wo ich hingehörte und wo ich mich wohler zu fühlen glaubte. Alles, was ich am DDR-Fernsehen vermißte, bot mir das West-Fernsehen. Ich begann den enormen qualitativen Unterschied zwischen einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft und einer Diktatur zu erahnen. Die Informationen aus dem Fernsehen waren für meinen Meinungsbildungsprozeß von großer Bedeutung.

Die Literatur war ebenfalls sehr eng begrenzt und keinesfalls ausreichend; ich vermißte alles das, was an den Brennpunkten der Systeme und der politischen Entwicklung orientiert war. Die Marx/Engels-und Lenin-Werke und -Interpretationen stapelten sich dafür tonnenweise in den Buchläden. Das, was ich jeden Tag aufs Butterbrot bekam, reichte mir nicht mehr. Ich wollte Dahinterliegendes sehen und erkennen, wollte u. a. wissen, warum die Realität und deren Beschreibung durch die Massenmedien in der DDR nichts miteinander zu tun hatten. Statt ernster Antworten auf ernste Fragen erhielt ich nur stereotype, inhaltslose Phrasen, die einen jungen, kritischen Menschen nicht mehr befriedigten. Lange war ich mir nicht im klaren, ob dies alles Hauptmerkmale des Systems sind oder nur ein paar negative Randerscheinungen. Die Beantwortung dieser Frage wurde mir immer leichter gemacht. Im Sommer trampte ich mit ein paar Freunden nach Bulgarien. Das war schon eine tolle Reise für uns. Dort trafen wir Jugendliche aus der Bundesrepublik, die uns erzählten, wo sie schon überall gewesen waren: England, Frankreich, Holland, Belgien, Skandinavien und einige schon in Asien oder Ubersee. Nun hängt davon sicher nicht das Leben ab, aber es interessiert einen doch, wie Paris aussieht, wie London, wie Rom. Für mich war das eben kein Feindesland, wie die DDR-Propaganda behauptete, sondern ein Stück Europa, Abendland, geistige Heimat aller Europäer.

Ich wollte und konnte mich nicht damit abfinden, daß ich dies alles erst mit Beginn meines Rentenalters sehen würde. Selbst Goethe reiste schon vor 150 Jahren durch ganz Europa und war der Meinung, Reisen bildet.

Ein weiteres Beispiel dazu: Nach der Bulgarienreise wollten wir ein Jahr darauf in die Mongolei reisen. Trotz der guten Vorbereitungen wurde uns von Seiten der DDR ein Strich durch die Rechnung gemacht. So war selbst dieses „Bruderland''tabu, obwohl ironischer-weise unser Staatsbürgerkundelehrer in einem seltsamen Anfall von Internationalismus ausrief: Jeder mongolische Bruder ist uns naher als die Verwandten der BRD! — Wie soll ein junger Mensch so etwas werten? Langsam glaubte ich überhaupt nichts mehr und wandte mich immer mehr vom System ab. Auf allen Ebenen wurde für jeden mitbestimmt, ohne daß man die geringste Möglichkeit hatte, sich dagegen zu wehren. Man wird völlig entmündigt und stößt überall an die engen Grenzen, die das System den Menschen zieht.

An der Hochschule für Musik bekamen wir z. B. für das Fach Philosophie eine Hausarbeit auf, irgendeine Äußerung eines sozialdemokratischen Politikers als falsch und unwissenschaftlich zu „entlarven", dazu Lenin, Bd. 5, S. 73— 89. Und dann haben dreißig Studenten, die völlig verschiedene Charaktere besaßen, völlig verschiedener Herkunft und in den verschiedensten Gegenden der DDR zu Hause waren, fast wortwörtlich das gleiche geschrieben — ohne auch nur das Geringste an Denkarbeit zu investieren. Derjenige war der beste, der das meiste direkt aus dem Buch abschrieb. Aber ich wollte denken! Langsam begriff ich, daß das, was in der DDR „Philosophie“ genannt wird, nichts weiter als eine Politreligion war, an die man gefälligst, ohne viel zu fragen, zu glauben hatte. In dieser Zeit reifte mein Wunsch, einmal richtig Philosophie studieren zu können, zu studieren, was die unterschiedlichsten Personen in den unterschiedlichsten Epochen über das Wesen der Welt und des Menschen gedacht haben.

Mich begann schließlich selbst die Versor-

gungslage zu nerven: Es fehlte das einfachste Obst und Gemüse. Auch ganz normale Artikel des täglichen Bedarfs waren immer schwerer zu bekommen. Dazu immer wieder der himmelschreiende Gegensatz zwischen Realität und Propaganda. Das konnte ich nicht mehr länger ertragen: Die Grenze der Belastbarkeit meines Gewissens war erreicht. Ich bin Humanist und würde nie versuchen, mit Gewalt etwas verändern zu wollen. Aber wer in der DDR geistig etwas verändern will, hat keine Chance. So entschied ich mich nach langem Zögern doch für das Gewissen; denn ich konnte dieses System nicht durch ein Augenschließen und Mitschwimmen im großen Strom noch stützen. Mein Wunsch und mein Traum war es, Philosophie zu studieren, die eit mit eigenen Augen zu sehen und zu erkunden, wie sie wirklich ist, mich mit Musik zu heschäftigen, wie ich es wollte, mich politisch ur die Kraft zu engagieren, die ich für die be-ste hielt, und die Regierung zu wählen, die mich am meisten überzeugte. Und schließlich wollte ich das lesen, was mich schon immer brennend interessierte und endlich dem unerträglichen Druck entfliehen.

Der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die ÖSSR, der für mich ein wichtiges Schlüsselerlebnis war (und nicht nur für mich),, bestätigte mir mit letzter Klarheit, daß der Traum vom selbst zu gestaltenden Leben im Staatssozialismus ein Traum bleiben mußte. Den hoffte ich, in der Bundesrepublik verwirklichen zu können. Der Kommunismus ist eine Gesellschaft, die ständig versucht, die Realität der Ideologie anzupassen und nicht umgekehrt, wie es logisch und natürlich wäre. Er zwingt die Menschen zu Verhaltensweisen, die man unter demokratischen Bedingungen als unwürdig ablehnen würde, und er verzichtet auf das überaus wichtige und vorwärtsstrebende Gedankengut der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung. Eine Verarmung auf allen Ebenen ist unausbleiblich. Deshalb ist der Kommunismus für mich als unwissenschaftlich, unnatürlich und inhuman abzulehnen. Das Bild, das ich von der Bundesrepublik gewann, entwickelte sich mehr und mehr zum genauen Gegenbild dieser DDR-Realität. Alle Freiheiten, nach denen ich mich sehnte, schienen dort verwirklicht zu sein. Selbst die schärfsten Kritiker konnten dies nicht bestreiten. Ich war sicher, daß ein anderes System — wie das in der Bundesrepublik — mit den gleichen Menschen in der DDR viel mehr erreichen würde. Ich war begierig, mit eigenen Augen zu sehen, wie so eine Marktwirtschaft die Versorgung der Bevölkerung in den Griff bekommt und wie so ein System der parlamentarischen Demokratie in der Realität funktioniert. Natürlich war mir auch etwas flau zumute, denn ein solcher Schritt hat irreparable Konsequenzen. Aber ich schraubte meine Erwartungen bewußt herunter und sagte mir: Auf dich wartet dort niemand, du mußt also zusehen, daß du klar kommst; wichtig ist erst einmal, satt zu essen, ein Dach über dem Kopf zu haben und frei zu sein. Alles andere findet sich und hängt von dir selbst ab. Mit der DDR hatte ich schon so abgeschlossen, daß ich mein Ziel, die Bundesrepublik, um jeden Preis erreichen wollte — selbst wenn ich ins Gefängnis müßte. Als ich 1978 nach einjähriger Haftstrafe wegen „staatsfeindlicher Hetze“ (VorbeB reitung einer Plakatdemonstration) durch die besonderen Bemühungen der Bundesrepublik frei kam, gelangte ich in das Land meiner Träume und Hoffnungen.

Gewiß, ich hatte Glück, daß meine Schwester ein Jahr zuvor ausgereist war und ich erst einmal jemanden hatte, zu dem ich gehen konnte und der mir bei den umfangreichen Behörden-gängen mit Rat und Tat zur Seite stehen konnte. Aber dessen ungeachtet wurden meine Erwartungen eher übertroffen als enttäuscht.

Am meisten beeindruckt war ich von dem Überfluß, der hier auf allen Ebenen herrschte: materiell, geistig/kulturell und in den nicht zu überschauenden politischen Betätigungsfeldern. Mir wurde von vielen staatlichen Stellen großzügige Hilfe zuteil, die meine Integration sehr erleichterte.

Inzwischen fühle ich mich längt richtig zu Hause und habe auch schon aus der früher nie gekannten Fülle von Möglichkeiten und Angeboten einiges nutzen können. Ich fühle mich frei — wirklich frei —, bewohne eine kleine Wohnung, studiere Philosophie, bekomme Bafög und eine Ausbildungsbeihilfe von der Otto-Benecke-Stiftung, komme damit gut aus, kann tatsächlich lesen, was ich immer wollte, reisen wohin ich immer wollte (bis jetzt Frankreich, England, Holland, Belgien, Luxemburg und Monaco), konnte auch schon ein paar ma wählen und mich Vereinen und Organisatio nen nach meiner Interessenlage anschließen, Ich sage es ohne Übertreibung, daß ich miet hier wohl und glücklich fühle und um keiner Preis der Welt zurück möchte. Das Leben ist hier farbig, pulsierend und sehr dynamisch Der Unterschied zwischen beiden Systemer ist enorm. So stecke ich also in der Selbstge staltung meines Lebens mittendrin. Mehr gehl kaum noch, wie sollte ich da nicht zufrieder sein? Nach einer solchen Gesellschaft habe ich instinktiv immer gestrebt. Ich glaube, daf für die Kombination Soziale Marktwirtschafl mit parlamentarischer Demokratie auf abseh'bare Zeit keine Alternative in Sicht ist.

Natürlich bin ich politisch nicht blind gewor den und sehe sehr wohl die Mängel und nega tiven Begleiterscheinungen, aber ich würde deshalb nie auf die Idee kommen, das ganze System zu ändern, sondern diese Mängel müs sen wir in gemeinsamer konstruktiver Arbeit zu überwinden versuchen. Die Demokratie isl ein zu kostbares Gut, als daß man es leichtfer tig aufs Spiel setzen darf; vielleicht kann ei nur derjenige richtig schätzen und achten der selbst erlebt hat, daß es auch ganz ander: geht...

Fussnoten

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Matthias Bothe, 28 Jahre alt, 1972 Baufacharbeiterlehre mit Abitur abgeschlossen; bis 1976 Studium an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler", Berlin (Ost). 1978 Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland, seitdem Student an der Universität Köln (Philosophie und Politikwissenschaft).