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Die alternative Kultur als politische Herausforderung | APuZ 39/1981 | bpb.de

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APuZ 39/1981 Zur alternativen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland Die alternative Kultur als politische Herausforderung Sozialdemokraten und Jugendprotest Statt großer Worte — Mut zum Risiko Verständnis zwischen den Generationen

Die alternative Kultur als politische Herausforderung

Generalsekretär der CDU Heiner Geißler

/ 14 Minuten zu lesen

Die alternative Kultur ist eine Herausforderung an die Politik. Die im Frühjahr im Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit ausgearbeitete Studie „Zur alternativen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland" macht dies — wenn auch nur in Ansätzen — deutlich. Sie beschreibt zwar anschaulich die verschiedenen Erscheinungsformen und Zielsetzungen der alternativen Bewegung, gibt einen Überblick über Größenordnung, Potentiale und Zusammensetzung der alternativen Kultur, aber sie krankt daran, daß sie auf die Ursachen zu wenig eingeht. Vor allem verschweigt sie, daß es politische Fehler und Fehlentwicklungen des letzten Jahrzehnts waren, die zu ihrer Bildung maßgeblich beigetragen haben.

Es ist wichtig zu wissen, daß die alternative Kultur in unserer Gesellschaft eine — wenn auch bedeutsame — Randerscheinung ist. Die Zahl ihrer Anhänger wird auf 10 bis 15 % der jungen Menschen geschätzt. Also: die überwiegende Mehrzahl junger Menschen lebt und arbeitet in dieser Gesellschaft. Aber dies darf uns nicht darüber hinwegsehen lassen, daß wesentliche Anliegen der alternativen Kultur — Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit der Politik, Abbau der um sich greifenden Anonymität in dieser Gesellschaft, menschliche Gestaltung der Arbeitswelt, mehr Raum für individuelles, persönliches Handeln, Verminderung von Angst vor der zunehmenden Technisierung — durchaus Ziele sind, die von weit mehr Jugendlichen angestrebt werden als denen, die in der alternativen Kultur leben.

Kurz umschrieben drückt sich in der alternativen Kultur die Sehnsucht nach einer besseren, menschlicheren Welt aus, die nicht nur von Jugendlichen, sondern auch von der Mehrzahl der Erwachsenen gewünscht wird. Das Aufkommen der Alternativkultur ist somit zumindest ein Zeichen, daß es der Politik zur Zeit nur ungenügend gelingt, die politischen Voraussetzungen zu schaffen, um diese Ziele zu erreichen. Die Politik sitzt auf der Anklagebank, denn — und da stimme ich der Studie ausdrücklich zu — die Kritik vieler Alternativer richtet sich nicht gegen abstrakte Grund-wertvorstellungen wie persönliche Freiheit, Solidarität und soziale Gerechtigkeit, sondern sie richtet sich dagegen, wie diese Grundwerte in Politik umgesetzt werden. Und auch das Gefühl der Machtlosigkeit, in politischen Fragen nicht mehr mitreden zu können, ist weit verbreitet und betrifft viele Menschen, die ihre Anliegen von der Politik nicht mehr vertreten sehen: beispielsweise auch viele Frauen, von denen laut einer Umfrage 38 % nicht glauben, daß Politik die Gleichberechtigung von Mann und Frau in unserer Gesellschaft herstellen wird.

Wenn bestimmte Anliegen in der Politik nicht mehr vertreten werden, so liegt der Schritt, sich anderweitig Gehör zu verschaffen, nahe. Ein untaugliches Mittel ist die Gewalt. Obwohl die alternative Kultur in ihrer Zielsetzung nicht gewalttätig sein will, findet sich Gewalt doch in ihren Reihen. Zum einen wird Gewalt angewendet, um die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, zum anderen ist sie Ausdruck eines endgültigen Bruchs mit diesem Staat und dieser Gesellschaft. Es geht aber nicht an, daß mit dem Anspruch, mehr Gerechtigkeit verwirklichen zu wollen, Körperverletzungen, Sachbeschädigungen, Land-und Hausfriedensbruch als Mittel der politischen Auseinandersetzung propagiert und praktiziert werden. Gegenüber Gewaltanwendung kann der Staat nicht zur Tagesordnung übergehen, denn gesellschaftliches Leben und auch die Verwirklichung von Gerechtigkeit in dieser Gesellschaft sind auf die Achtung der Gesetze, sind auf einen funktionierenden Staat, auf eine gerechte Verwaltung angewiesen. Der Staat ist kein abstrakter Unhold, sondern er ist die äußere Organisationsform für eine Gesellschaft, die ihr Leben nicht mit den Mitteln des Faustrechts gestalten will. Ohne Frage aber muß die Politik auf die Herausforderungen der alternativen Kultur reagieren. Hierbei muß sie eine zu früheren Jahrzehnten gewandelte Lebensauffassung berücksichtigen: Der jungen Generation der fünfziger und sechziger Jahre ging es in erster Linie darum, die Grundlagen für eine wirtschaftlich ausreichende Existenz zu schaffen. Nach eigenem Erleben der Katastrophe war sie daran gegangen, durch wirtschaftliches Wachstum, durch den Ausbau der sozialen Sicherheit, durch eine gezielte Bündnis-un Verteidigungspolitik ihr Leben zu gestalten und den Frieden in Freiheit zu sichern. Gegenüber einer Bedrohung der Freiheitwar sie sensibler als die heutige Jugend. Jetzt erlebt die junge Generation die in den fünfziger un sechziger Jahren geschaffenen Sicherheiten als Selbstverständlichkeit Neue Themen, Interessen und Bedürfnisse werden sichtbar. Statt nach Wachstum und Wohlstand fragen viele junge Menschen heute nach dem Sinn einer auf den „homo oeconomicus" verkürzten Anthropologie; anstatt mehr Konsum suchen sie nach Formen der Askese, nach Geborgenheit, nach überschaubaren Lebensverhältnissen.

Die mehr pragmatische Jugendgeneration ist abgelöst worden durch die mehr idealistische Generation.

Diesem Idealismus muß die Politik der achtziger Jahre in weit größerem Umfang Rechnung tragen als zuvor. Sie muß überzeugende, AntWorten auf eine Reihe von Fragen geben:

— Was ist zu tun, damit Politik wieder glaubwürdig ist?

— Was ist zu tun, um die Angst vieler Menschen vor technischen Einrichtungen abzubauen? —Was ist zu tun, die Bürokratie auf ein für einen Bürger sinnvolles Maß zu reduzieren?

— Was ist zu tun, um überschaubare Lebensräume zu schaffen und zu sichern?

— Was ist zu tun, um wieder mehr Freiräume zur persönlichen Lebensgestaltung einzurichten? Mehr Glaubwürdigkeit — weniger Aussteiger Die Studie des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit stellt zu Recht fest, daß es grundsätzlich um die Frage geht, . ob eine klarere Orientierung der großen Politik wie der Kommunalpolitik an diesen Grundwerten (persönliche Freiheit, Solidarität, soziale Gerechtigkeit) möglich ist, ob diese Orientierung glaubhaft vermittelt werden kann und ob tatsächlich entgegenstehende Sachzwänge ihrerseits glaubhaft gemacht werden können“.

Es ist nicht zu leugnen: Immer mehr junge Menschen erfahren, daß die Politik im Hin-Wick auf ihre ethische Begründung sprachlos geworden ist. Sie erfahren, daß politische Entscheidungen des Alltags mehr mit materiellen Sachzwängen und weniger oder gar nicht mit ethischen Wertvorstellungen begründet werden. Deshalb wirkt Politik für viele junge Menschen kurzfristig, pragmatisch und auch widersprüchlich. Wenn Wertbezogenheit und Sinnhaftigkeit des Politischen ausfallen, führt dies bei vielen jungen Menschen zu Resigna-tion, Rückzug und Protest. Wenn von einer Menschlichen Schule geredet, jedoch unüberschaubare Mammutschulen gebaut werden, so ist dies für junge Menschen wenig glaubwürdig. Darum ist auch eine Politik notwendig, die in den Zusammenhang geistiger Perspektiven, ethischer Ansprüche und moralischer Glaubwürdigkeit gestellt ist.

Hierzu ein Beispiel: Die Diskussion um die notwendige Sanierung des Bundeshaushaltes 1982 hat gezeigt, wie Politik Kredit bei den jungen Menschen verspielen kann. Die Bundesregierung und die SPD haben noch 1980 die Notwendigkeit massiven Sparens geleugnet. Sie schlugen Warnungen und Vorschläge der Opposition, der wirtschaftswissenschaftlichen Institute, der Deutschen Bundesbank nicht nur in den Wind, sondern bagatellisierten die Staatsverschuldung und versprachen zusätzlich und gleichzeitig, das soziale Netz zu sichern und noch dichter zu knüpfen, die Steuern nicht zu erhöhen und den kleinen Mann zu entlasten. In diesem Jahr stehen wir vor einer für die Bundesrepublik Deutschland einmaligen Finanzkrise. Die Wahrheit kommt nach und nach ans Tageslicht. Das Ergebnis: das soziale Netz ist unsicher und wird für viele weitmaschiger, die Steuern werden erhöht und der kleine Mann belastet.

Sind die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen einer solchen Finanzkrise schon schwerwiegend, so ist noch schwerwiegender der moralische Schaden, der dadurch verursacht wird. Ein Bundeshaushalt kann relativ kurzfristig saniert werden — wenn der politische Wille da ist —, die schwelende, vor allem bei jungen Menschen immer weiter um sich greifende Vertrauenskrise gegenüber dem demokratischen Staat und seinen Repräsentanten lastet als schwere Hypothek auf der Zukunft unseres Gemeinwesens. Nicht zu Unrecht fühlen sich die Bürger, fühlen sich die jungen Menschen betrogen.

Doch ist dies nur der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die seit 1969 zu einem nachhaltigen Wandel der Einstellung junger Menschen zum Staat geführt hat. Die jetzt 18-bis 20jährigen wuchsen mit dem Versprechen auf, alles sei machbar, die wirtschaftliche Entwicklung sei unbegrenzt, Demokratie fange überhaupt erst an, die Vollbeschäftigung sei gesichert, der Friede für immer und ewig garantiert. Nun erleben sie als junge Erwachsene den Zusammenbruch dieser Vorstellung. Sie erleben Arbeitslosigkeit, Einschränkung der freien Berufswahl, Angst vor der Zukunft, Angst vor der Zerstörung der Umwelt, verbunden mit einer tiefen Enttäuschung über Reformvorstellungen und Reformversprechungen.

Eine solche zweideutige Politik ertragen junge Menschen nicht auf Dauer, ohne Schaden zu nehmen. Eine Politik, die genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie verspricht, provoziert geradezu das Aussteigen und die mitunter verzweifelten Versuche, zwischen den gesicherten Strukturen der Gesellschaft die zwar komfortlosen, aber noch nicht verplanten Alternativen zu besetzen.

Politik, die überzeugen will, muß glaubwürdig sein. Der Politiker muß das tun, was er sagt. Er darf nicht mit verschiedenen Zungen reden, sondern er muß klar und deutlich die Situation beschreiben und darf den Bürger nicht durch ein Sowohl-als-Auch in falscher Sicherheit wiegen. Obwohl dies manchem als Illusion erscheinen mag, so muß doch politische Wahrhaftigkeit in der Diskussion mit jungen Menschen mehr Gewicht haben als ein kurzfristiger politischer Vorteil. Erst wenn dies zur Maxime des politischen Handelns eines jeden Mandatsträgers wird, kann in der Diskussion mit der Alternativbewegung Politik wieder verlorengegangenen Kredit zurückgewinnen. Wichtiger aber noch ist, daß mehr Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit in der Politik viele davon abhalten wird, zu Aussteigern und zu Anhängern der alternativen Kultur zu werden. Technik im Dienst des Menschen Neue Technologien erzeugen beim Menschen oft Angst, sie treffen auf Mißtrauen. Viele Menschen sehen beispielsweise durch die Entwicklung der Mikroelektronik ihren Arbeitsplatz gefährdet. Kernenergie und Chemie treffen auf eine Abwehr, die nur auf ein irrationales Verhältnis dieser Menschen zur Technik schließen läßt. Die Politik hat sicherlich die Aufgabe, im Dialog mit den Menschen ihnen diese Angst zu nehmen und ihnen die Chancen neuer Technologien zu zeigen. Die Politik darf solche Angst nicht verstärken, sie darf nicht zulassen, daß der technische Fortschritt eine suggestive für durch Propaganda viele ein Alptraum und ein Schreckgespenst der Zukunft wird.

Eine wahrhaftige Politik muß auch sagen: Die Erfindung des Motors, des Flugzeuges, der Rakete und der Elektronik belastet die Menschen nicht nur, sondern hat sie auch freier gemacht, ihnen mehr Unabhängigkeit gegeben, den Arbeitern mehr Gerechtigkeit und Würde. Technik schafft auch sozialen Fortschritt, denn es ist ein sozialer Fortschritt, wenn durch die Mikroelektronik ermöglicht wird, die Wirtschaft wieder stärker zu dezentralisieren, die Konzentration von großen Produktionseinheiten umzukehren und z. B. prozeßgesteuerte Drehbänke und andere Werkzeugmaschinen auch für kleinere Unternehmen finanzierbar und rentabel zu machen. Und es ist auch der technische Fortschritt, der Millionen Menschen in der Dritten Welt ein überleben garantiert. Wir haben nicht nur die Wahl zwischen einer Robotergesellschaft und der Rückkehr zur Natur. Die Aufgabe, den technologischen Fortschritt in den Dienst aller Menschen zu stellen, steht uns noch bevor. Hierbei muß die Politik helfen, die „menschliche Lük. ke" zu schließen, die Fähigkeiten zu entwik. kein, mit dieser Technik menschlich und sinnvoll umzugehen. Dabei sollten die Probleme des technischen Fortschritts nicht verschwiegen werden. „In sich selbst kreisender Fortschritt macht die Menschen permanent unzufrieden, ohne daß ihnen ein Ziel gezeigt wird, von dem her sich die Hetze dauernder Veränderung lohnt," so sagt es der Club of Rome. Das Problem liegt also nicht im Fortschritt an sich, sondern an dem fehlenden Ziel für den Menschen. Es ist auch Aufgabe der Politik, dieses Ziel mit zu formulieren. Sie muß die Rahmen-daten setzen, damit dieser Fortschritt zielbewußt und menschengerecht eingesetzt wird.

Weniger Bürokratie — mehr persönliche Freiheit Die Entfremdung vieler junger Menschen vom Staat, der Eintritt in alternative Szene wird die nicht zuletzt durch die staatlichen Bürokratie beschleunigt, die junge Menschen Ohnmacht erfahren läßt. Auch die Studie des Bundesfamilienministeriums sieht hier eine der Ursachen für die zunehmende Entfremdung. Immer weniger Menschen sind in der Lage, ihre eigene Steuererklärung zu machen. Es entwikkein sich Berufe, die einzig und allein dazu da sind, den Bürgern zu helfen, sich in den Gesetzen und Verordnungen zurecht zu finden. Mit Ausnahme der Spezialisten sind nur noch wenige in der Lage, Gesetzestexte zu lesen und zu verstehen. Für einen einzigen Bauantrag sind beispielsweise 234 Prüfungsvorgänge nötig. Um einen Lebensmittelladen — und sei er auch noch so klein — zu betreiben, muß der Inhaber etwa 220 Gesetze im Kopf haben. Während sich größere Unternehmen Experten leisten können, um sich in dem Dschungel dei Gesetze und Verordnungen zurecht zu finden steht der Bürger diesen Dingen oftmals sprachlos gegenüber. In dem Bestreben, alles gesetzlich regeln zu wollen und zu müssen, um mehr Gerechtigkeit zu schaffen, hat die SPD. FDP-Koalition die Gesetzesflut in den letzter Jahren erheblich anschwellen lassen. Die Fol ge: Immer mehr Menschen ergreift das Unbe hagen, daß durch staatliche Maßnahmen ode Gesetze die persönliche oder berufliche Frei heit eingeschränkt wird. Immer neue Gesetz« Erlasse, Verfügungen, Verordnungen und Ausführungsbestimmungen hindern den Bürger, sich frei zu entfalten und engen seinen Entscheidungsspielraum immer mehr ein. In Schule und Betrieb, in Verbänden und im sozialen Bereich: die Bürokratisierung bedroht die Freiheit der Menschen und lähmt Initiative und Dynamik der Gesellschaft.

Nicht nur, daß es immer schwieriger wird, eine Steuererklärung abzufassen, Formulare für Wohngeld und andere Sozialleistungen auszufüllen, den Stand der Alterssicherung zu erfahren oder einen Platz im Altenheim zu beantragen — die Formulierungen der Gesetze, Verordnungen, Anleitungen und Abrechnungen werden auch noch immer bürgerfeindlicher. Es wird immer schwieriger, sie zu entschlüsseln. Da ist es kein Wunder, daß ein bürokratisches Labyrinth zunehmend Unsicherheit, Unzufriedenheit und Angst erzeugt.

So wie die Bürokratisierung politische Ursachen hat, so kann auch eine stärkere Entbürokratisierung nur politisch eingeleitet werden. Der Glaube, daß Mängel der Gesellschaft allein durch Maßnahmen des Staates behebbar seien, ist der Vater vieler überflüssiger Regelungen und Bürokratie. Hierin drückt sich zugleich ein tiefes Mißtrauen gegenüber den Privatinitiativen aus. Und die ausufernde Bürokratie ist durchaus auch ein Kennzeichen sozialistischer Politik, die alle gesellschaftlichen Vorgänge regeln will. Der Sozialismus versteht die Gesellschaft als eine große Maschine, die in den Dienst politischer Zielsetzung gestellt werden soll. Die zunehmende Kompliziertheit der Gesellschaft führt denjenigen, der sie kontrollieren will, zu Regelungen, die selbst immer komplizierter werden müssen, ohne daß sie ihr Ziel deswegen auch erreichen.

Notwendig ist eine ernsthafte Strategie der Entbürokratisierung. Sie muß den Freiheitsspielraum der Bürger erweitern und so ihrer Initiative, Leistungs-und Hilfsbereitschaft durch eine klare Abgrenzung staatlicher und privater Verantwortung eine Chance geben. Sie muß der Tendenz einer totalen Verplanung aller Lebensbereiche durch den Staat entgegenwirken und die Gesetzes-, Verordnungs-und Erlaßflut eindämmen. Sie muß dazu führen, daß öffentliche Aufgaben bürger-freundlicher und bürgernah ausgeführt werden.

Eine Strategie der Entbürokratisierung ist zugleich auch eine Strategie, um diejenigen, die sich von diesem Staat entfernt haben, wieder näher an ihn heranzubringen. Die Politik darf nicht ihren Ehrgeiz darin sehen, den Bürger mehr zu kontrollieren, sondern sie muß ihm mehr vertrauen. Denn Vertrauen in den Bürger ist eine wichtige Grundlage zum Abbau der Bürokratie. Vertrauen bedeutet: Nur soviel Kontrolle wie unerläßlich, denn Vertrauen ist Voraussetzung und Ausdruck der Eigenverantwortung; Mißtrauen dagegen erzeugt Bürokratie. Nur eine Politik, die Vertrauen in den Bürger setzt, kann selbst auf Vertrauen durch den Bürger hoffen.

Mehr überschaubare Lebensräume — weniger Großorganisationen Ohne Frage werden in verschiedenen Versuchen alternativer Lebensweisen Bedürfnisse sichtbar, die sehr ernst genommen werden müssen. Es werden ja nicht nur ideologische, theoretische Ziele verfolgt, sondern auch ganz pragmatische Projekte und Wünsche: menschliche Wohnformen, kinderfreundliche Schulen, eine menschlichere Arbeitswelt, durchschaubare Prozesse in Politik und Verwaltung.

Dies sind beileibe keine Forderungen für eine Umwälzung unserer Gesellschaft, sondern Forderungen, die den unmittelbaren Lebens-kreis betreffen. Sie erwachsen aus tagtäglich erlebten Mißständen und spiegeln eine veränderte Lebenseinstellung wider. Der Glaube an die Leistungsüberlegenheit größerer Einheiten ist ein Irrglaube: Mammutkrankenhäuser, gigantische Gesamtschulen und eine fehlgeleitete Gebietsreform haben nicht die Chancengerechtigkeit für die Bürger erhöht, sondern sie vermindert.

Ein Beispiel: Bei der Diskussion um Gesamtschulen, Gesamthochschulen, Gruppenuniversität, Oberstufenreform, Abbau des dualen Systems der beruflichen Bildung ging es in den letzten Jahren zu viel um Organisations-und Strukturfragen und damit zu wenig um Inhalte und Erziehungsziele. Die Folgen dieser Entwicklung: Es entstanden oft anonyme Großsysteme, Klassengemeinschaften wurden aufgelöst, zwischen Schule und Elternschaft und zwischen Lehrern und Schülern wuchs die Distanz. Die Schule verlor nicht nur an Leistungsfähigkeit bei der Wissensvermittlung, sie verlor vor allem auch an Wert als Ort menschlicher Begegnung und Geborgenheit.

So brauchen wir wieder eine Bildungspolitik, die sich an den konkreten Sorgen und Erwartungen der Betroffenen orientiert. Eine Schule, die für jeden erreichbar ist, trägt oft mehr zur Chancengerechtigkeit bei als eine riesige Gesamtschule, in der Schüler vereinsamen und unter Beziehungslosigkeit leiden. Mehr Freiräume für den Bürger — weniger Einflußmöglichkeiten für den Staat Der Bürger, vor allem der junge Bürger, muß wieder verstärkt in die Lage versetzt werden, sein Leben eigenverantwortlich und mitverantwortlich zu gestalten. Die Politik muß sich wieder stärker an der Subsidiarität ausrichten. Das bedeutet, daß der Staat auf die Übernahme von Aufgaben verzichtet, die der einzelne ebenso gut selbst erfüllen kann.

Beim einzelnen Bürger setzt dies die Bereitschaft voraus, eigene Verantwortung zu tragen. Der Staat soll Hilfe zur Selbsthilfe gewähren, nicht jedoch den Menschen verwalten und versorgen wollen. Daher ist nicht alles, was einmal mit guten Gründen geregelt worden ist, auch noch heute regelungsbedürftig. Alle staatlichen Aufgaben, Ausgaben, Maßnahmen und Gesetze müssen ständig auf ihre Notwendigkeit, Vertretbarkeit und rationelle Durchführung überprüft werden.

Daneben brauchen wir vor allem eine Renaissance der Kommunalpolitik. Dies ist der Bereich, wo politische Entscheidungen im engsten Kontakt mit den Bürgern getroffen werden können und wo Politik für den einzelnen am ehesten erfahrbar wird. Betroffenheit entsteht nicht nur durch das, was an den grünen Tischen in Bonn ausgedacht wird, entscheidend ist darüber hinaus, wie in der Stadt oder dem Dorf hautnah erfahrene Politik gestaltet wird. Die Frage ist, ob es dort gelingt, mit dem Bürger die Prioritäten des politischen Handelns zu formulieren, die dem einzelnen das Bewußtsein wiedergeben, daß Politik die Verwirklichung auch seiner Interessen ist. Die Kommunalpolitik wird dabei wesentlich intensiver nach der Qualität ihrer Maßnahmen fragen müssen und weniger den beeindrukkenden Quantitäten hinterherjagen dürfen.

Bereitschaft zum Dialog Die alternative Kultur in der Bundesrepublik Deutschland kann der Politik wichtige Impulse vermitteln. Die Kluft zu jungen Menschen verkleinert man aber nicht, in dem sich Politik eine Haltung des totalen Gewährenlassens, des ständigen Nachgebens, des unbese. henen Eingehens auf jugendliche Forderungen aneignet. Politik muß bereit sein, die hier zugrunde liegenden Werte auch zu verteidigen. Junge Menschen haben auch einen Anspruch auf die Weitergabe geschichtlich gewachsener Leistungen, Errungenschaften und Einsichten. So muß Politik jungen Menschen auch deutlich machen, daß es ohne die innere Bereitschäft, das freiheitliche Gemeinwesen nach innen und nach außen zu schützen, ohne das solidarische Mithelfen, nicht geht. Sie haben geradezu ein Anrecht darauf, die gewachsene Tradition und die daraus zu folgernden Einsichten für die heutige Politik kennenzulernen. Die entstandene Kluft zwischen jungen Menschen, die sich in der alternativen Szene bewegen, und der Politik muß wieder geschlossen werden. Eine Voraussetzung ist: Junge Menschen müssen die Bereitschaft zum Dialog haben. Die Politik muß also auch jenen zuhören, die selbst noch nicht bereit sind, zuzuhören. Wer allerdings nicht zuhören kann oder will, der macht sich selbst unfähig zum Dialog. Dialog erfordert Zuhören und Gesprächsbereitschaft auf beiden Seiten. Dialogfähig ist nur, wer einen eigenen Standpunkt, aber auch Verständnis für die Meinung des anderen hat. Autoritäres Verhalten hilft auf beiden Seiten nicht weiter. Die Jugend hat aber auch einen Anspruch auf Widerspruch und auf eine durch Erfahrung begründete Autorität der Erwachsenen. Nur wenn ein Dialog offen und ehrlich geführt wird, kann das Ergebnis zum Nutzen der gesellschaftlichen Weiterentwicklung sein.

Politik darf nicht ins Abseits geraten, sie darf nicht am Bürger vorbei formuliert werden. Dies ist die wichtigste Botschaft, die uns die alternative Kultur geben kann. Sie ist für die Politik insgesamt eine Aufforderung, verstärkt eine Politik des menschlichen Maßes zu entwickeln.

Fussnoten

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