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Sozialdemokraten und Jugendprotest | APuZ 39/1981 | bpb.de

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APuZ 39/1981 Zur alternativen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland Die alternative Kultur als politische Herausforderung Sozialdemokraten und Jugendprotest Statt großer Worte — Mut zum Risiko Verständnis zwischen den Generationen

Sozialdemokraten und Jugendprotest

Bundesgeschäftsführer der SPD Peter Glotz

/ 12 Minuten zu lesen

Alternativszene, Jugendprotest — all'dies ist für Presse, Rundfunk, Fernsehen, für die politischen Institutionen erst zu einem Thema geworden, nachdem viele junge Menschen nicht die „etablierten“ Parteien, sondern alternative Gruppierungen gewählt und nachdem viele nicht mehr nur Protestresolutionen verfaßt, sondern auf Demonstrationen auch Rabatz gemacht haben.

Es sagt etwas über die (fehlende) Sensibilität der etablierten politischen Szene in der Bundesrepublik aus, daß sie erst dann die von vielen Jungen empfundenen Probleme wahrzunehmen bereit ist, wenn Jugendliche in solchen Massen zu neuen Parteien abwandern, daß diese in die Nähe der magischen Fünfprozentgrenze zu gelangen drohen, oder wenn Schaufensterscheiben in die Brüche gehen und Straßenschlachten stattfinden. Nicht der Skandal, daß Tausende von Wohnungen leer-stehen bzw. verrotten und gleichzeitig zigtausend Menschen vergeblich eine Wohnung suchen— nicht dieser Skandal hat Politiker zum Handeln getrieben, sondern die Perspektive, daß ihnen bei der nächsten Wahl einige Prozent an Wählern weglaufen könnten. Die politische Öffentlichkeit und die politischen Parteien insbesondere nehmen Jugendliche erst dann zur Kenntnis, wenn diese sich in ihrer Rolle als „Jungwähler" oder als „friedliche Demonstranten“ nicht mehr an die Spielregeln halten. Diese Bemerkungen gelten für alle großen Parteien — auch für die meinige.

Wenn also schon nicht rechtzeitig auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen reagiert wird, dann ist es um so wichtiger, daß man richtig darauf reagiert. Dann ist es auch aufschlußreich, ob die politischen Institutionen aus dieser Entwicklung gelernt haben im Sinne einer Veränderung ihrer praktischen Politik, oder ob sie auch bei ihren Antworten nicht so sehr die Probleme der Jungen, sondern nur ihre Probleme mit den Jungwählern im Auge haben.

Die von den Unionsparteien angebotenen „Re-

zepte" machen deutlich, daß dort kein substantieller Lernprozeß stattgefunden hat. Schon der Jargon ist verräterisch: Wer in der Werbesprache eine emotionale Ansprache als mo-Schiene" bezeichnet oder von „weichen themen" spricht, der hat immer noch nicht begriffen, daß es zum Beispiel diese sprachlichen lubberblasen sind, die Jugendliche an der Politik der Parteien abstoßen. Wer zum Beispiel Bedürfnisse wie Geborgenheit oder Partizipation anspricht und darauf die alten institutioneilen Antworten gibt, der hat immer noch nicht verstanden, daß es gerade diese Institutionen sind, die in den Augen vieler Jugendlicher die Realisierung dieser Bedürfnisse verhindern. Offensichtlich geht es nicht um das überdenken mancher inhaltlicher Positionen, sondern um eine effektivere Methode des Einfangens junger Leute: Alte Positionen sollen besser, d. h. „marktgerechter" verkauft werden. Mit solchen Konzeptionen ist jedoch Glaubwürdigkeit bei der jungen Generation nicht zu gewinnen.

Von solchen Spekulationen hebt sich die vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit veröffentlichte Studie „Zur alternativen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland" vorteilhaft ab. Es ist der nüchterne Versuch einer Bestandsaufnahme dessen, was in einem Teil der jungen Generation abläuft, was an Verbitterung, an Wut, an Wünschen und Bedürfnissen bei einem Teil der Jungen vorherrscht. Gewiß: die . Alternativ-szene" ist nicht „die Jugend“, sie deckt noch nicht einmal das gesamte Spektrum der protestierenden Jugend ab; aber es spricht viel für die Vermutung, daß sie mit ihren Aktivitäten auch Ängste, Empörung und Wünsche eines Großteils der übrigen Jugend ausdrückt. Die Tatsache, daß „die schweigende Mehrheit“ solche Ängste und Wünsche nicht auslebt, ist vielleicht ein Indiz für die Schwierigkeit vieler Junger, ihre Ängste zu artikulieren und ihre Wünsche zu verwirklichen — sie ist aber kein Beleg für die Nichtexistenz solcher Ängste und Wünsche.

Zum Anspruch der Studie, einen Überblick über die Alternativszene in der Bundesrepublik zu verschaffen, einige kritische bzw. ergänzende Anmerkungen.

Erste Anmerkung:

In der Studie wird der Begriff „alternativ“ meiner Meinung nach zu umfassend bzw. zu unscharf verwendet, so daß er an Aussagekraft verliert.

Die Studie legt den Schluß nahe, daß Jugend-protest und alternative Bewegung identisch sind. Dem ist nicht so. Wenn man ihn auf all'die Bewegungen ausdehnt, die zu bestimmten Politikfeldern eine grundsätzlich andere Position als die etablierten Parteien einnehmen und durch Demonstrationen Druck auf diese auszuüben versuchen, wenn man Bürger-rechts-, Friedensbewegungen und Dritte Welt-Initiativen zur Alternativszene zählt, dann gerät ein wesentlicher Punkt aus dem Blickwinkel: Bei allen Unterschieden zu einzelnen Politikthemen und in bezug auf Organisationsformen haben diese Gruppen kein alternatives, sondern eher ein traditionelles Verständnis von Politik: sie engagieren sich für Themen der „großen Politik" und glauben, durch Druck von außen die politischen Institutionen zu einer Änderung ihrer Politik bewegen zu können. Diese Gruppen stehen eher in der Tradition der außerparlamentarischen Opposition der 60er Jahre, da sie bei aller Kritik an den Parteien sich dennoch auf diese beziehen — wenngleich sie ihre Aktivitäten im Unterschied zur APO nicht in erster Linie ideologisch ableiten, sondern vor allem aufgrund von moralischer Betroffenheit.

Sinnvoller ist es, den Begriff „alternativ" auf jene Gruppen zu beschränken, die sich in ihrer Lebensweise von der „Mehrheitskultür" distanzieren und deren persönliches Engagement sich auf ganz andere Felder richtet, als wir es gewohnt sind. Diese Gruppen können mit dem althergebrachten Verständnis von Politik nicht mehr viel anfangen. Die Parteien sind ihnen weitgehend gleichgültig, die „große Politik“ ist ihnen zu weit weg von ihrem unmittelbaren überschaubaren Lebensbereich und daher in ihren Augen auch nicht unmittelbar beeinflußbar. Im wesentlichen konzentrieren diese Jungen ihr Interesse und ihre Aktivitäten auf ihren unmittelbaren Erlebnisbereich, von dem sie glauben, daß sie ihn eher beeinflussen und gestalten können: z. B.den Wohnbereich und den Arbeits-und Freizeitbereich, deren herkömmliche Trennung man aufzuheben versucht. Dazu gehören sowohl die jugendlichen Landkommunen wie die zumeist großstädtischen Versuche des Aufbaus einer alternativen Gegenkultur und Gegenökonomie, wie sie in der Studie auch beschrieben werden. Hier sind die Jungen auch bereit, sich zu engagieren und eine Menge Mühen auf sich zu nehmen. Findet man Gleichgesinnte, tut mit ihnen Und will man sich zusammen.

die Gesellschaft nicht mitziehen, dann macht man es nicht gegen sie (wie das früher noch der Fall war), sondern ohne sie — man glaubt es zumindest. Hauptsache, die Gesellschaft behindert einen nicht.

Dies hat in den meisten Fällen nichts mit einem „Rückzug ins Private" oder mit „politischem Aussteigertum" zu tun. Solche vorschnellen Etikettierungen sind nur ein Beleg für die Neigung vieler Politiker, all das als unpolitisch abzuqualifizieren, was in Wirklichkeit nur anders ist als sie. Diese Gruppe von

Jungen ist nicht unpolitisch, sondern sie hat lediglich ein anderes Verständnis von Politik: weg von der Delegierung gesellschaftlicher und auch persönlicher Problemlösungen auf große Organisationen, deren Strukturen in ihren Augen zu erstarrt sind und eine Beteiligung eher verhindern — hin zur Selbstverantwortung und Eigeninitiative.

Eine solch schärfere Fassung des Begriffes „alternativ" ist schon deshalb sinnvoll, weil ansonsten die Unterschiede dieser Alternativbewegung zu der Protestbewegung der 60er Jahre nicht deutlich werden und die Politiker nur allzu leicht der Illusion erliegen könnten, sie bräuchten nur die Integrationsrezepte jener Zeit aus der Schublade zu kramen und dann würde sich das Problem erledigen. Auch mancher APO-Veteran hat in Verkennung dieser Unterschiede den Versuch unternommen, sich an die Spitze des Zuges zu setzen und dabei die Erfahrung machen müssen, daß man ihn noch nicht einmal hat aufspringen lassen.

Standen damals ideologisch abgeleitete Ziele im Vordergrund, so ist heute eher moralische Betroffenheit die Antriebsfeder. Spielten damals politische Kategorien wie „links“ oder „rechts" eine große Rolle, so sind heute „Glaubwürdigkeit" und „Moral" von Bedeutung. Erklärte man damals alles Mögliche und Unmögliche zur „Systemfrage" und redete sich die Köpfe über gesellschaftliche Strukturen heiß, so konzentriert man sich heute auf die Gestaltung der eigenen konkreten Lebensumstände. Dazu gehört der Versuch, neue Inhalte und Formen von Arbeit zu finden, die mehr Möglichkeiten zur Kreativität und Selbstverantwortung bieten. Dazu gehört der Versuch, die bisherige räumliche, zeitliche und personelle Trennung von Arbeit und Freizeit aufzuheben und diese Bereiche zu integrieren. Dazu gehört der Wunsch nach mehr persönlicher Autonomie, nach mehr Freiräumen für Eigen-initiativen und nach mehr Möglichkeiten zum Selbermachen. Dazu gehört der Versuch, neue Lebensformen zu praktizieren, Vermenschlichung und Wärme in sozialen Beziehungen herzustellen. Und schließlich gehört dazu der Versuch, für die Verwirklichung solcher Lebensformen entsprechende Umweltbedingungen zu schaffen.

Zweite Anmerkung:

Wenn man über alternative Lebensformen und -einstellungen etwas sagt, dann sagt man zugleich immer auch etwas über die Gesellschaft aus, die bestimmte Verhaltensweisen und -einstellungen zu Alternativen macht. Die Jungen stoßen mit ihren Wünschen und Be-B dürfnissen auf eine gesellschaftliche Wirklichkeit, die mit ihren durchorganisierten Strukturen wenig Möglichkeiten des Neugestaltens und der Eigeninitiative bietet. Zu Recht weist die Studie darauf hin, daß diese Jungen sich nicht gegen die Grundwertvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft — persönliche Freiheit, Solidarität und soziale Gerechtigkeit — wenden. Aber ist es nicht häufig so, daß derjenige, der an der Gestaltung seines eigenen Lebensbereiches mitwirken will, fast überall aneckt in dieser Gesellschaft und die politischen Institutionen vor allem als Verhinderer seiner Aktivitäten erfährt? Daß er, wenn er sich dagegen zur Wehr setzt, schon zu den Protestlern gehört und daß er, wenn er an der Verwirklichung solcher Vorstellungen festhält, dies oft nur „alternativ" kann? Die Tatsache, daß junge Menschen mit ihrem Wunsch nach mehr Selbstgestaltung in dieser Gesellschaft fast automatisch in die alternative Ecke abgedrängt werden, sagt weniger über diese Jugendlichen, dafür aber um so mehr über die Entwicklungsrichtung dieser Gesellschaft aus.

Dritte Anmerkung:

Wie so oft, wenn man sich inhaltlichen Auseinandersetzungen entziehen will, konzentrieren sich viele Ältere auf die Formen des Protestes und empören sich über gewaltsame Aktionen der Alternativszene. Die Studie hat schon deutlich gemacht, daß die Bereitschaft zur Gewaltanwendung bei Anhängern der Alternativkultur sich nicht signifikant unterscheidet von dem Durchschnitt der jungen Menschen. Und in bezug auf die in diesem Zusammenhang immer wieder angeführten Hausbesetzungen hat eine Repräsentativumfrage der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen vom Februar 1981 ergeben, daß die Mehrheit der Jungen bis 29 Jahre die Besetzung leerstehender Häuser billigt und daß In-Standbesetzungen sogar von einer Mehrheit der Bevölkerung unterstützt werden.

Was ich mit diesem Hinweis deutlich machen ist dies: Es besteht ein Zusammenhang will, zwischen der Unsensibilität, der Unbeweglich-keit politischer Institutionen und der Verzweiflung und der Wut vieler Junger darüber, nichts bewegen zu können — einer Wut, die sich dann zuweilen in Gewaltaktionen entlädt. Die Tendenz zu gewaltsamen Aktionen steigt in dem Maße, in dem die Politik auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen nicht oder zu sPät reagiert.

Dementsprechend wird man der Tendenz zur Gewalt am besten durch die Fähigkeit und Be-Teitschaft der politischen Institutionen begegnen können, Probleme rechtzeitig zu erkennen und auf dem Wege der Reform zu lösen. Dies wird auch den Klärungsprozeß innerhalb der Alternativszene über die Gewaltfrage beschleunigen. Verhindert wird er dagegen durch die Abstempelung der Hausbesetzer zum „Keim einer neuen Generation von Terroristen" (F. J. Strauß) oder durch Massenverhaftungen von Demonstranten ä la Nürnberg.

Was ist zu tun? Die Studie gibt einige allgemeine Anregungen dafür, welche politischen Konsequenzen zu ziehen sind. Sie bedürfen sicherlich noch der Konkretisierung. Aber wichtig ist schon, daß die Parteien von einigen Illusionen Abschied nehmen. Auf der Tagesordnung steht nicht die Überzeugung junger Leute von der Richtigkeit der jeweiligen Parteiposition — dieser Zug ist längst abgefahren. Auf der Tagesordnung steht vielmehr der bescheidenere Versuch, überhaupt erst einmal wieder eine Kommunikationsebene mit diesen Jungen zu finden. Dies ist schon schwer genug. Und dabei ist uns Sozialdemokraten bewußt: Auf eine verbal verkündete Dialogbereitschaft ohne Veränderungen der praktischen Politik werden sich diese Jungen nicht einlassen. Für viele von ihnen ist das Wort „Dialog" schon ein Reizwort, weil sie dahinter lediglich Einfangtaktik vermuten.

Die Studie weist zu Recht darauf hin, daß der Ansatzpunkt für Kommunikationsmöglichkeiten vor allem der kommunale Bereich ist, weil dort am ehesten auf den konkreten Erlebnis-bereich von Jungen eingegangen werden kann. Dieses Eingehen bedingt nicht in erster Linie staatliche Gesetzesmaßnahmen, sondern Veränderungen in der Verwaltungspraxis. Für Sozialdemokraten sollte dies heißen, den Jugendlichen mehr Partizipationsmöglichkeiten und Hilfestellungen bei Eigeninitiativen anzubieten. Wir müssen dafür sorgen, daß die Jungen bei ihren Wünschen nach mehr Autonomie und Selbstverwaltung die politischen Institutionen nicht nur als Verhinderer, sondern auch als Förderer erfahren. Man kann nicht nur ständig Mündigkeit und Eigeninitiative junger Menschen beschwören, sondern man muß Ernst machen damit — vor allem dort, wo Sozialdemokraten selbst kommunale Verantwortung tragen. Dies heißt z. B., daß Sozialdemokraten mehr selbstverwaltete Jugendzentren unterstützen und ermöglichen sollten. Wenn man weiß, welche Beklemmungen sich bei diesem Stichwort auch bei vielen sozialdemokratischen Kommunalpolitikern breitmachen, wie wenig auch bei ihnen die Bereitschaft besteht, Jugendlichen Experimente auch bei Gefahr möglicher Fehlschläge zuzugestehen — dann wird deutlich, welche Überzeugungsarbeit auch noch in den eigenen Rei23 hen zu leisten ist. Sozialdemokraten sollten der Kreativität und dem sozialen Engagement vieler Junger mehr Raum geben durch eine vielfältige Förderung sozialer Experimente selbstverwalteter Gruppen. Als Beispiele seien genannt soziale Projekte (Hilfe für andere), Selbsthilfegruppen z. B. für Drogen und Alkohol, Handwerker-, Produktions-und Dienstleistungs-Genossenschaften, kulturelle Projekte. Auch Sozialdemokraten muß nachdenklich machen, daß viele der Wünsche und Ziele von Jungen in der Alternativszene — aber nicht nur dort — eines gemeinsam haben: Es werden„Sinnfragen" von Strukturen angesprochen, sei es der Arbeit, des Wohnens, der Freizeit. Diese verstärkte Thematisierung von Sinnfragen ist ein Reflex auf die Tatsache, daß den Jungen von der Gesellschaft kaum überzeugende Sinnorientierungen angeboten werden. Auch Sozialdemokraten werden sich müssen, sich selbstkritisch prüfen ob ihre Politik nicht zu sehr darauf reduziert hat, immer neue Strukturen zu schaffen und die Frage nach den wertmäßigen Orientierungen zu vernachlässigen. Wir haben mit dafür gesorgt, daß der Sozialstaat ausgebaut wurde und die materielle Existenz der meisten Bürger gesichert wurde — aber haben wir auch dafür gesorgt, daß sich für die Menschen in diesem Sozialstaat und seinen Institutionen noch ein anderer Sinn erschließen kann als derjenige der materiellen Absicherung? Viele Politiker beklagen den Mißbrauch des sozialen Netzes durch manche Gruppen — aber ist dies ein Wunder, wenn das Netz sozialer Dienstleistungen außer der Perspektive materieller Absicherung keine andere Sinnorientierung anbietet? Wer die Sinnfrage, die Frage nach der inhaltlichen Ausgestaltung von Strukturen aus der Politik ausklammert, der darf sich nicht wundern, wenn vor allem Junge diese Strukturen als kalt empfinden und sich davon abwenden. Das Unbehagen vieler junger Menschen am Sozialstaat, der immer kontrollierender als mehr Staat empfunden wird, hat zum Teil hier seine Ursachen.

Diesem Unbehagen, dieser Angst, daß mehr soziale Sicherheit identisch sei mit einem immer dichter werdenden Netz staatlicher Kontrollen, muß dadurch entgegengewirkt werden, daß man sich verstärkt Gedanken macht über die Art und Weise, wie soziale Dienstleistungen organisiert und gestaltet werden sollen. Das Unbehagen vieler an den Strukturen des Sozialstaates rührt ja nicht daher, daß der Staat zu viele soziale Dienstleistungen anbietet — dagegen richtet sich eher die konservative Kritik—, sondern, wie er sie anbietet. Die Konservativen versuchen, mit dem Stichwort „Subsidiaritfif das Unbehagen vieler Jungen an manchen Strukturen des Sozialstaates und den Wunsch nach mehr Möglichkeiten zur Eigeninitiative für ihre politischen Zwecke zu vereinnahmen. Die Reprivatisierung — und dies ist die zutreffende Bezeichnung jedenfalls für die Ziele der Konservativen — staatlicher Leistungen ist keine Antwort auf das Bedürfnis nach mehr Sinnorientierungen und nach mehr Freiräumen: Der einzige Sinngehalt solcher Reprivatisierungstendenzen ist die Optimierung privater Gewinnmöglichkeiten; der Freiraum bezieht sich auf die Freiheit, dieses Prinzip ohne Behinderungen durch Verpflichtungen gegenüber der Allgemeinheit durchsetzen zu können. Dies kann nicht die Antwort von Sozialdemokraten sein. Wir den wollen Sozialstaat nicht aus der Verantwortung entlassen, die Sicherung der materiellen Grundlagen zu gewährleisten. Aber wir dürfen nicht nur Strukturen schaffen und sie den Betroffenen aufpfropfen, sondern wir müssen diese bei der Gestaltung solcher Strukturen beteiligen. Dazu gehört, daß man sich Gedanken macht, wie man manche Großbürokratie des Staates ersetzen kann — nicht durch private Großbürokratien, sondern durch dezentrale und mitbestimmte Strukturen. Nur so wird man verhindern können, daß das Unbehagen an manchen Erscheinungsformen unseres Sozialstaates umkippt in eine Ablehnung des Sozialstaates überhaupt, Eine letzte Bemerkung: Die Wiedergewinnung von Glaubwürdigkeit als Voraussetzung von Kontaktmöglichkeiten mit Jugendlichen der Alternativszene bedingt nicht nur Veränderungen in der praktischen Politik, sondern auch Veränderungen in den Verhaltensweisen der Politiker. Gerade Jugendliche beobachten sehr genau, inwiefern das persönliche Verhalten von Politikern in Einklang steht mit deren theoretisch vertretenen Positionen. Die Glaubwürdigkeit der Politik hängt für sie in erster Linie von der Glaubwürdigkeit der Personen ab. Und wer kann bestreiten, daß es damit in allen Parteien Probleme gibt. Um so wichtiger ist, daß die Parteien bereit und in der Lage sind, dort einen Prozeß der Selbstreinigung in Gang zu setzen, wo Verfilzung, prinzipienloser Karrierismus und Arroganz gegenüber den Bürgern um sich gegriffen haben. Denn eines ist auch klar: Junge Menschen glauben den Politikern und den Parteien nicht mehr das, was diese sagen, sondern nur noch das, was diese tun.

Fussnoten

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