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Methodische Probleme der Sowjetunion-und Osteuropaforschung | APuZ 48/1981 | bpb.de

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APuZ 48/1981 Artikel 1 Methodische Probleme der Sowjetunion-und Osteuropaforschung Beharrung und Veränderung in der sowjetischen Innenpolitik Der erstarrte Koloß Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsreformpolitik der UdSSR in der Ära Breshnew Die sowjetische Außenpolitik der Breshnew-Ära

Methodische Probleme der Sowjetunion-und Osteuropaforschung

Arnold Buchholz

/ 18 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Seit Bestehen der Sowjetunion, vor allem aber seit dem Zweiten Weltkrieg, sind in allen größeren westlichen Ländern zahlreiche Forschungseinrichtungen zum Studium der Sowjetunion und der anderen Länder Osteuropas geschaffen worden, deren Aufgabe darin besteht, wissenschaftlich abgesichertes Wissen für Politik und Öffentlichkeit zu erarbeiten. Die Komplexität des „Forschungsgegenstandes“ sowie seine Verflochtenheit mit der Politik haben dazu geführt, daß in der Osteuropaforschung eine Reihe besonderer Verfahrensweisen entwickelt wurden, um den gestellten Anforderungen nach Möglichkeit zu entsprechen. Folgende Komponenten spielen dabei eine besondere Rolle: — Die Grundlagenforschung, die in fachspezifischen Disziplinen wie der osteuropäischen Geschichte, der politikwissenschaftlichen, rechtswissenschaftlichen oder wirtschaftswissenschaftlichen Osteuropaforschung betrieben wird und die als die Basis aller Arbeiten auf diesem Gebiet zu betrachten ist; — die interdisziplinäre Zusammenarbeit, die für die Erfassung größerer Zusammenhänge unerläßlich ist; — die Berücksichtigung oder Erarbeitung von Makrotheorien für die Interpretation wichtiger Phänomene oder Entwicklungen; — die Nutzung von Landeserfahrungen durch Reisen, Diskussionen mit Wissenschaftlern aus den osteuropäischen Ländern oder mit Neoemigranten sowie durch Auswertung der Samisdat-Literatur; — der Erfahrungsaustausch mit der operativen Politik, wofür besondere organisatorische Voraussetzungen geschaffen wurden. Indem diese Komponenten in einem „Wissensfeld Osteuropa“ zusammengeführt werden, lassen sich „Kernbereiche" der Vorgänge in Osteuropa erkennen, einseitige Urteile in differenziertere Sichtweisen einbinden und neue Entwicklungstendenzen in einem früheren Stadium diskutieren. Entscheidend für die Funktionsfähigkeit dieses „Wissensfeldes" sind kontinuierliche Arbeitsbedingungen und flexible Kommunikationsformen.

Es bedarf keiner näheren Begründung, daß ein hohes Maß an gesichertem Wissen über die Vorgänge in der Sowjetunion und ihrem Einflußbereich für uns in vieler Hinsicht von existenzieller Bedeutung ist. Dies gilt vor allem für die Sicherheitspolitik, aber auch für weite Bereiche der Ost-West-Kooperation, zum Beispiel auf wirtschaftlichem Gebiet, für die Publizistik, die täglich über die Sowjetunion zu berichten hat, und nicht zuletzt für jeden einzelnen, der sich um eine Standortbestimmung in der modernen Welt bemüht und dabei die Entwicklungen in den kommunistisch regierten Ländern in irgendeiner Weise in seine Überlegungen einbeziehen muß.

Die Tatsache, daß seit Bestehen der Sowjetunion, vor allem aber seit dem Zweiten Weltkrieg, in allen größeren Ländern der westlichen Welt zahlreiche Forschungseinrichtungen zum Studium der Sowjetunion und der anderen kommunistisch regierten Länder geschaffen worden sind, kann als konkreter Ausdruck dieses Wissensbedarfs angesehen werden. Man erwartet dabei von der Wissenschaft eine möglichst vollständige und sachadäquate Erfassung des zu einem großen Teil „verdeckten“ Wissens über die Länder Osteuropas, eine kritische Analyse der im ideologischen Gewand präsentierten Selbstdarstellungen sowie eine Beurteilung von Stärken und Schwächen die-sr Länder, wozu wiederum der Vergleich mit der Lage in anderen Teilen der Welt erforderlich ist.

Man sieht bereits aus diesem stichwortartig ^gedeuteten Themenkatalog, daß damit au-

erordentlich schwierige und komplexe Fragen an die Sowjetunion-bzw. Osteuropafor-schung gerichtet werden. (Die Begriffe „So" etunion-", „Osteuropa-“, „Kommunismusforsshung" u. a. sind miteinander verschränkt und werden unterschiedlich angewendet, so daß ur Begriffserklärungen eine gesonderte Darstellung erforderlich wäre.) Obwohl die seit Bestehen der Sowjetunion auf diesem Gebiet hervorgebrachten Arbeiten heute ganze Bibliotheken füllen, ist das Wissen in verschiedenen Bereichen nach wie vor äußerst unzulänglich, und auch die Urteilsbildungen sind, wie diePraxis zeigt, gerade in entscheidenden Fragen teilweise höchst kontrovers. Aus diesem Grunde ist es für das Selbstverständnis der auf diesem Gebiet Tätigen sowie für die Adressaten ihrer Arbeitsergebnisse von außerordentlicher Bedeutung, sich die Frage vorzulegen, über welche Möglichkeiten zur Erkenntnisgewinnung diese Forschungsrichtung verfügt, wo ihre Grenzen liegen und worin letztlich ihre Bedeutung zu sehen ist. Es hat seit den Anfängen einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Problemen der Sowjetunion zwar immer wieder Bemühungen gegeben, methodische Grundsätze der eigenen Arbeit zu reflektieren, jedoch kann generell festgestellt werden, daß die Darlegungen hierzu — verglichen mit der allgemeinen wissenschaftlichen Produktivität auf diesem Gebiet — recht spärlich sind. Abgesehen von den außerordentlich schwierigen Fragen, die dabei zum Beispiel im Zusammenwirken mit der allgemeinen Wissenschaftstheorie zu klären wären, hat vor allem der „Zwang der Praxis" dazu geführt, daß eine Reihe besonderer Arbeitsweisen und Verfahren in dieser Forschungsrichtung herausgebildet worden ist, die teilweise oder insgesamt zur Anwendung gebracht werden müssen, wenn man auf diesem Gebiet fachlich möglichst abgesicherte und in der Beurteilung hinreichend differenzierte Erkenntnisse gewinnen will. Inwieweit man diese miteinander verflochtenen Verfahrensweisen als eine „Methodologie“ der Osteuropaforschung bezeichnen kann, sei dahingestellt. In der konkreten Arbeit jedenfalls spielen sie eine wichtige Rolle oder dienen zumindest als Leitlinien.

Die fachwissenschaftliche Forschung

pie fachwissenschaftliche Arbeit kann als die asis der Osteuropaforschung angesehen wer-

en. Sie wird in einer großen Zahl von univer-sitären und selbständigen Instituten betrieben und ist nicht nur dem Umfang nach, sondern auch in ihrer Bedeutung der mit Abstand wichtigste Bereich der Osteuropaforschung. Zum Internationalen Osteuropakongreß, der im Jahre 1980 in Garmisch veranstaltet worden ist, wurde ein umfangreicher Sammelband über die Osteuropaforschung in der Bundesrepublik Deutschland vorgelegt, in dem die fach-bezogene Forschung und Lehre auf über 200 Seiten abgehandelt werden Zur Darstellung kommen dabei die osteuropäische und die südosteuropäische Geschichtswissenschaft, die auf Osteuropa bezogene Politikwissenschaft, die Ostrechtsforschung, die soziologische, wirtschaftswissenschaftliche und erziehungswissenschaftliche Osteuropaforschung, die Slawistik und das Studium der verschiedenen kommunistischen ideologischen Richtungen bis hin zu kleineren Arbeitsrichtungen, wie der geographischen, kunstwissenschaftlichen, kirchengeschichtlichen oder medizinischen Osteuropaforschung. In allen diesen Fachrichtungen wird ständig eine Fülle von Erkenntnissen über die Sowjetunion und die anderen Länder Osteuropas hervorgebracht, die in Fachzeitschriften und vielfältigen anderen Publikationsformen ihren Niederschlag finden. Zwar ist auch dieses Wissen unvollständig und in Einzelfragen umstritten, aber zugleich bewegt man sich hier auf den sichersten Grundlagen, über die die Osteuropaforschung verfügt.

Verschiedentlich hat man sich die Frage vorgelegt, inwieweit man im Hinblick auf die hier gekennzeichneten Fachrichtungen von einer „Osteuropawissenschaft" sprechen kann. Die ausführlichste Diskussion zu dieser Problematik ist in der Fachrichtung „Osteuropa-Recht“ über einen längeren Zeitraum geführt worden Dabei wurde hinreichend deutlich, daß sich die Ostrechtswissenschaft im „Schnittpunkt" von allgemeiner Rechtswissenschaft und Osteuropa-oder Kommunismusforschung angesiedelt sieht. Mit der „Mutterwissenschaft" ist diese Arbeitsrichtung vor allem durch ihr methodisches Rüstzeug verbunden und kann für sie zum Beispiel durch rechtsvergleichende Untersuchungen wichtige Erkenntnisse einbringen. Zugleich aber muß sich die Ostrechtsforschung mit einer ganz anderen Rechtswirklichkeit als der unseren befassen und dementsprechend auch andere methodische Ansätze entwickeln oder nachvollziehen, wobei die Arbeit durch mangelnde Möglichkeiten zur empirischen Überprüfung der gewonnenen Erkenntnisse in besonderer Weise erschwert wird.

Eine ähnliche Ambivalenz einer Gebundenheit an die unversitäre Fachdisziplin auf der einen Seite und den Erfordernissen eigenständiger Arbeitsweisen auf dar anderen Seite gilt in der einen oder anderen Weise auch für alle anderen Fachrichtungen, die auf Osteuropa bezogen sind. Verstärkt wird die relative Eigenständigkeit der „Osteuropawissenschaften" dadurch, daß ihre Ergebnisse jeweils Einzelkomponenten bei der Beurteilung der sowjetischen oder osteuropäischen Gesamtwirklichkeit darstellen, so daß der interdisziplinären Zusammenarbeit eine besondere Bedeutung zukommt.

Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Die Komplexität des Forschungsgegenstandes, mit dem sich die Osteuropaforschung zu befassen hat, wirft zahlreiche Fragen auf, die von einer einzelnen Fachrichtung nicht hinreichend beantwortet werden können, sondern eine interfakultative Zusammenarbeit erfordern. Insbesondere die großen und entscheidenden Probleme der Osteuropaforschung — also etwa Fragen der politischen Generallinie, der Entwicklungstrends oder der Stabilitäten und Instabilitäten des Systems — machen eine Zusammenfügung der aus verschiedenen Lebensbereichen zusammenwirkenden Faktoren unerläßlich, wenn man über punktuelle Erkenntnisse hinauskommen will.

Zusammenkünfte von Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtung in Arbeitskonferenzen und andere Formen des interdisziplinären Informationsaustausches begleiten deshalb die Osteuropaforschung seit ihren Anfängen.

Wegen der Unerläßlichkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit für die Erkenntnisgewinnung auf diesem Gebiet ist auch eine Reihe von Forschungseinrichtungen bereits bei ihrer Gründung interfakultativ konzipiert worden. Dabei ist es notwendig, daß wenigstens die wichtigsten Fachrichtungen der Geschichte, Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Soziologie, Philosophie und kulturbezogener Wissenschaft unter einem Dach vertreten sind, wenn die Voraussetzungen für eine auch nur näherungsweise wirklichkeitsadäquate Erfassung der komplexen Landesverhältnisse gegeben sein sollen. Dennoch zeigt die Praxis, daß auch unter günstigen Bedingungen die interdisziplinäre Zusammenarbeit nicht „von selbst 1’ zustande kommt Gewiß führt die tägliche Zusammenkunft mit Kollegen anderer Fachrichtungen, die Diskussion von Vorträgen und die Veranstaltung von Arbeitskonferenzen zu einem ständigen interdisziplinären Erkenntnisgewinn aller Beteiligten, aber da zugleich die Notwendigkeit einer fachbezogenen Grundlagenforschung besteht, ist natürlich auch stets eine starke Tendenz vorhanden, daß die fachwissenschaftlichen Arbeiten zu einem unverbundenen Enzyklopädismus führen. Wirklich effizient wird die interdisziplinäre Wechselwirkung für den Erkenntnis-gewinn erst dann, wenn zumindest ein Teil der Arbeiten bereits im Ansatz interfakultativ angelegt und als gemeinsames Programm durchgeführt wird. Es gibt gelungene Beispiele interdisziplinärer Arbeitsergebnisse, wenngleich jedem Kenner der Verhältnisse klar ist, daß in dieser Hinsicht mehr getan werden könnte und sollte.

Makrotheoretische Probleme

Es wäre wünschenswert und sicher von großem Nutzen, wenn es gelingen würde, eine Theorie zu entwickeln, in welcher die wesentlichen Bestimmungsfaktoren des Sowjetsystems in ihren Wechselwirkungen erfaßt werden und damit ein „Gerüst" für die Einordnung und Erklärung neuer Erscheinungen und vielleicht sogar für die Ableitung gewisser Zukunftsprognosen verfügbar wäre. Aus grundsätzlichen methodologischen Überlegungen aber wird man ein solches Ziel mit dem Anspruch auf theoretische Strenge schwerlich erreichen können. Die Probleme werden sofort deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß aus der unendlichen Fülle des „Gegenstandsbereiches" stets nur eine sehr begrenzte Zahl von Faktoren in äußerster Abstraktion heraus-gefiltert werden kann, so daß weite Bereiche der Wirklichkeit dabei notwendigerweise ausgeblendet" bleiben. Bereits in die Vorfrage, welche Fakten für die Theoriebildung berücksichtigt werden sollen und welche nicht, geben so viele normative Entscheidungen ein, daß die Möglichkeit zur Entwicklung einer wirklichkeitsadäquaten und allgemein akzeptierbaren Makrotheorie des Sowjetsystems in der Tat utopisch erscheint. Zugleich aber sei nachdrücklich darauf hingewiesen, daß auch lückenhafte" theoretische Konzeptionen auBerordentlich hilfreich sein können, da sie es erlauben, wesentliche Phänomene der Sowjet-

entwicklung verständlich zu machen und Zusammenhänge zu erkennen, die aus isolierten Einzelfakten nicht erschlossen werden können. m Hinblick auf eine makrotheoretische Interpretation der Sowjetunion haben zwei Grund-modelle eine besondere Rolle gespielt: die Totalitarismustheorie und die Industrialisierungs-oder Modernisierungskonzeption. Da auf beide Theorien auch in einem anderen Beitrag dieses Heftes eingegangen wird (vgl. Brahm, S. 11 ff.), sei hier nur stichwortartig darauf hingewiesen, daß in der Totalitarismustheorie die Betonung diktatorischer Herrschaftsstrukturen eine entscheidende Rolle spielt, während in der Industrialisierungskonzeption die Möglichkeit des Systemwandels im Gefolge von Modernisierungszwängen das zentrale Thema darstellt. Zugleich ist einsichtig, daß beide Konzeptionen weitreichende Implikationen haben, wenn man aus ihnen politische Folgerungen ableitet. Richtet man den Blich vor allem auf die diktatorischen Herrschaftsstrukturen und vertritt dabei die Auffassung, daß sich dieses Herrschaftssystem trotz aller Differenzierungsprozesse in seinem Wesen nicht wandelt, dann ist die Konsequenz naheliegend, daß auch ein unaufhebbarer Dauerkonflikt zwischen westlich-demokratischer Welt und Sowjetsystem solange weiterbesteht, bis eine der beiden Ordnungen „zusammenbricht" oder die eine die andere „überwunden" hat. Vertritt man dagegen die Auffassung, daß sich das Sowjetsystem im Gefolge von fortschreitender Industrialisierung, Rationalisierung und Modernisierung auch in seinem Wesen langsam wandelt, dann sind bei einer Umsetzung dieser Überlegungen in die Politik Strategien naheliegend, die auf eine Förderung dieses Wandlungsprozesses hinauslaufen. Setzt man die Modernisierungstheorie wiederum in Beziehung zu bestimmten gesellschaftspolitischen Veränderungen im Westen, kann man zu einer konvergenz-theoretischen Makrotheorie kommen. Bereits aus diesen Hinweisen dürfte deutlich geworden sein, daß die Makrotheorien weitreichende politische Implikationen in sich tragen, so daß viele politische Richtungskämpfe im Gewände solcher Theorien ausgetragen werden.

Auf der anderen Seite darf man sich nicht der Täuschung hingeben, daß man mit einem „Verzicht" auf Makrotheorien den mit ihnen verbundenen Implikationen entgehen kann. Dies gilt zumindest dann, wenn man sich über Grundfragen des Sowjetsystems, zum Beispiel seine Stabilitätsbedingungen, ein Urteil bilden will. Alle Auffassungen, die man in diesem Zusammenhang gewinnt oder vertritt, lassen sich — auch wenn man sich dagegen sperren würde — zu makrotheoretischen Konzeptionen ausbilden.

Für die Praxis kann es nicht darum gehen, die makrotheoretischen Hintergründe von Grundsatzüberlegungen zu verdrängen, sondern im Gegenteil darum, sie sich und anderen bewußt zu machen und zu verdeutlichen. Unerläßlich aber ist dann auch der zweite Schritt der in der Erkenntnis liegt, daß makrotheoretische Modelle des Sowjetsystems stets nur sehr begrenzte Aspekte der Wirklichkeit erfassen können und deshalb eine Annäherung an die Realität um so eher möglich sein wird, je mehr Makromodelle man in Betracht zieht und bei der Erkenntniserschließung berücksichtigt. Dies braucht keineswegs zu einem beziehungslosen Pluralismus von Makrotheorien zu führen, sondern kann tendenziell ein Weg zu ihrer Annäherung sein.

Ähnlich wie im Hinblick auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit sind auch auf dem Gebiet makrotheoretischer Überlegungen in der Osteuropaforschung wesentliche Arbeiten sicher noch nicht geleistet Zugleich ist jedoch festzustellen, daß ganz generell in der politischen und zeitgeschichtlichen Wissenschaft die methodologischen Voraussetzungen von Makrotheorien noch wenig Klärung gefunden haben, so daß darin kein spezifisches Problem der Osteuropaforschung liegt.

Nutzung von Landeserfahrungen

Osteuropaforschung besteht zum ganz überwiegenden Teil in einer systematischen Aufarbeitung der für bestimmte Fragestellungen verfügbaren Literaturquellen. Während der Stalinzeit waren sowjetische Selbstdarstellungen auch fast die einzige Quelle, aus denen man sich ein Bild von der Sowjetunion machen konnte (ähnlich wie dies für China bis vor etwa zehn Jahren der Fall war). In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre öffnete sich die Sowjetunion langsam für intensivere Kontakte mit dem Ausland, so daß die Zahl westlicher Touristen, Geschäftsleute, Künstler oder Wissenschaftler, die die Sowjetunion besucht haben, heute in die Millionen geht. Auch für Osteuropawissenschaftler ergab sich die Möglichkeit, am wissenschaftlichen Austausch mit der Sowjetunion teilzunehmen, so daß ein großer Teil der auf diesem Gebiet Tätigen einmal oder auch mehrfach zu Studienaufenthalten, in einigen Fällen bis zur Dauer eines Jahres, in der Sowjetunion war.

über die wissenschaftliche Ergiebigkeit solcher Studienreisen oder längerfristiger Aufenthalte ist oft diskutiert worden. Allgemein ist festzustellen, daß man bei solchen Aufenthalten kaum irgendwelche Fakten in Erfahrung bringen wird, die man nicht auch aus dem Literaturstudium entnehmen könnte, wenngleich natürlich oft die Begegnung mit den alltäglichen Lebensverhältnissen zu unerwarteten Erkenntnissen führt. Es versteht sich auch von selbst, daß man in der Sowjetunion keine Möglichkeiten zu empirischen „Feldstudien im Sinne von Befragungen oder einer systematischen Auswertung empirischer Daten erhalten wird. Dennoch hat die Landeserfahrung einen wichtigen Stellenwert in der Forschungsarbeit des einzelnen. Sie liegt vor allem dann, daß die theoretisch gewonnenen Erkenntnisse bei der Konfrontation mit der „Wirklichkeit oft in anderen Proportionierungen und Zusammenhängen gesehen werden, als dies ohne eine konkrete Anschauung der Fall ist. Allein die Konfrontation mit der gewaltigen Ausdehnung des Landes und den dadurch bedingten Möglichkeiten und Schwierigkeiten sowie die Gelegenheiten zu vielen spontanen Gesprächen schaffen erlebnishafte Voraussetzungen für die Beurteilung der dortigen Verhältnisse. Wichtig ist es natürlich auch, die eigenen Erkenntnisse und Urteile über Fragen der Sowjetentwicklung mit sowjetischen Fachleuten zu diskutieren. Auch hierzu hat es vor allem in den siebziger Jahren vielfältige Möglichkeiten gegeben — und zwar nicht nur in der Sowjetunion selbst, sondern auch an den westlichen Osteuropa-Instituten. Als Beispiel sei darauf hingewiesen, daß am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln während des Jahres 1980 elf Wissenschaftler aus osteuropäischen Ländern Vorträge gehalten haben. Umgekehrt hatten mehrere Wissenschaftler des Instituts Gelegenheit, in sowjetischen Instituten ihre Einschätzungen politischer Probleme darzulegen. Eine wichtige Quelle für realistische Urteile über die Landesverhältnisse sind auch die Berichte der zahlreichen, oft über Jahre in der Sowjetunion tätigen Korrespondenten westlicher Zeitungen oder Rundfunkanstalten. Gerade im Zusammenhang mit der Politikberatung, auf die noch einzugehen sein wird, spielen ihre Erfahrungen stets eine wichtige Rolle.

Eine ganz andersartige Erkenntnisquelle im Sinne von „Landeserfahrung" ist natürlich durch die in den siebziger Jahren in großer Zahl in den Westen emigrierten Sowjetbürger gegeben. Unter ihnen befinden sich zahlreiche Wissenschaftler oder Schriftsteller, deren Lebenserfahrungen als ein wesentliches Korrektiv sowohl für „westliche" Urteilsbildungen über die Sowjetunion als auch für die sowjetischen Selbstdarstellungen anzusehen sind.

Dabei kommt es darauf an, emotional getragene Erkenntnis in ihrer Bedeutung für die Urteilsbildung nicht abzuwerten, sie zugleich aber auch kritisch zu reflektieren.

Im Prinzip besteht ferner die Möglichkeit, Neoemigranten empirisch zu befragen. Ende des Zweiten Weltkrieges ist bei der „zweiten" sowjetischen Emigration zum Beispiel ein groß angelegtes Befragungsprogramm der Harvard-Universität, das sich auf etwa 3 000 im Westen gebliebene Sowjetbürger erstreckte, ausgewertet worden Im Hinblick auf die „dritte" Emigration der siebziger Jahre wurden zwar einige thematisch eng begrenzte Befragungen durchgeführt, eine der Harvard-Studie vergleichbare Untersuchung liegt aber einstweilen nicht vor.

Schließlich sei auch auf die „Samisdat-Literatur“ hingewiesen, durch welche seit Anfang der sechziger Jahre unzensierte sowjetische Selbstzeugnisse in großer Zahl in den Westen gelangt sind. Die Informationen und Überlegungen, die auf diese Weise als „empirisches“ Material zur Verfügung stehen, stellen natürlich eine weitere wichtige Erkenntnisquelle für die Osteuropaforschung dar.

Im Zusammenhang mit der großen Welle des sogenannten Wissenschaftstourismus ist verschiedentlich die Frage aufgeworfen worden, ob unter diesen neuen Voraussetzungen eine Osteuropaforschung überhaupt noch notwendig sei, nachdem sich jeder daran Interessierte durch Reisen selbst ein Urteil über die dortigen Verhältnisse bilden könne. Nach den vorangegangenen Ausführungen dürfte aber bereits deutlich geworden sein, daß die durch Reisen gewonnenen Landeserfahrungen nur eng begrenzte Ausschnitte in einem hochkomplexen Wissensfeld vermitteln und daß sie deshalb eine systematische und kontinuierliche Osteuropaforschung sicher nicht ersetzen können.

Beziehungen zur Politik

Da fachlich abgesichertes Wissen über die kommunistisch regierten Länder eine beson-dere Bedeutung für die Politik hat, wird ein großer Teil der Osteuropaforschung unmittelbar vom Bund gefördert. Hieraus leitet sich für die bundesgeförderten Institutionen die Aufgabe ab, den politischen Bezügen der Entwick-ungen in Osteuropa besondere Aufmerksam-seit zu widmen und der operativen Politik inormativ und beratend zur Verfügung zu stehen. Die schwierigen, zugleich aber entscheiden-

en Probleme einer aktiven und effizienten Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik liegen in der Anlage und Gestaltung der Forschungsarbeiten in einer Weise, durch die bei voller Wahrung der wissenschaftlichen Basis ein hohes Maß an Politikrelevanz erzielt werden kann. Eine entscheidende Voraussetzung für die Annäherung an dieses Ziel liegt darin, die Besonderheiten von politischer und wissenschaftlicher Arbeit beim Aufbau einer wechselseitigen Kommunikation voll in Rechnung zu stellen, da sich die Nichtbeachtung dieser Differenz — modisch ausgedrückt — „kontraproduktiv" auswirkt. Nur stichwortartig sei auf folgende strukturellen Unterschiede beider Bereiche hingewiesen:

— Wissenschaft ist auf Erkennen gerichtet und muß sich bemühen, Erkenntnisse nach allen Richtungen methodisch abzusichern und möglichst differenziert darzustellen. Politik ist auf Handeln gerichtet und muß zwischen vielen „Sichtweisen" entscheiden.

— Der Zeithorizont wissenschaftlicher und politischer Arbeit ist wesentlich verschieden. Wissenschaft bedarf der Spezialisierung und vor allem der Kontinuität, wenn fundierte Ergebnisse erzielt werden sollen. Die Arbeitsweise in einem Ministerium kann durch „Aktenvorgänge" veranschaulicht werden, die meist kurzfristig bearbeitet und entschieden werden müssen. Zusatzinformationen sind erwünscht, aber sie müssen zeitgerecht und sachadäquat zur Verfügung stehen, wenn sie Berücksichtigung finden sollen.

— Politik hat einen „Erkenntnisvorsprung" vor der Wissenschaft in aktuellen Fragen durch operative Verhandlungen oder Informationen, die der Wissenschaft nicht oder nur teilweise zur Kenntnis gebracht werden können. Die Wissenschaft hat „Erkenntnisvorsprünge" anderer Art, indem sie auf Probleme oder Entwicklungstendenzen hinweisen kann, die in aktualitätsbezogener Arbeit schwerlich erkennbar werden.

— Die Adressaten wissenschaftlicher Arbeit sind, zumindest in der Grundlagenforschung, primär die Fachkollegen. Die Adressaten der Ressortarbeiten befinden sich in der Hierarchie der politischen Instanzen.

Um diese mit der unterschiedlichen Struktur von Lebens-oder Wirklichkeitsbereichen zusammenhängenden Differenzen zu überbrükken, ist zwischen bundesgeförderter Osteuropaforschung und Politik eine Reihe besonderer Verfahrensweisen entwickelt worden. Dazu gehören Besprechungen über die Forschungsplanungen, gezielte Informationen der mit Osteuropafragen befaßten Ressortreferate über neu aufgenommene oder abgeschlossene wissenschaftliche Arbeiten, Zusammenkünfte im Koordinationsausschuß für Osteuropaforschung oder in der Interministeriellen Arbeitsgemeinschaft Osteuropaforschung. Der Außenstehende wird sich in Anbetracht dieses organisatorischen Netzwerkes fragen, ob unter diesen Umständen eine von politischen Vorgaben unabhängige Forschung überhaupt noch möglich ist. Die Praxis zeigt aber, daß auch in den bundesgeförderten Osteuropa-Instituten die von den Wissenschaftlern selbst entwickelten Arbeitsprogramme gegenüber einer unmittelbaren Auftragsforschung oder der Beantwortung spezifischer Anfragen weit überwiegen. Es besteht auch voller Konsens darüber, daß eine von vorherrschenden politischen Auffassungen unabhängige Erarbeitung und Präsentation der Forschungsergebnisse gewährleistet sein müssen, da nur auf diese Weise nützliche Beiträge in die Politik — auch wenn sie vordergründig unbequem erscheinen — eingebracht werden können.

Als weitaus effizientester Weg des Informationsaustausches zwischen Wissenschaft und Politik haben sich aber gemeinsame Arbeitskonferenzen und eine möglichst weitgehende Personalisierung der Kommunikation erwiesen. Dabei kommt dem Ost-West-Arbeitskreis, der im Jahre 1958 beim Auswärtigen Amt eingerichtet wurde, eine besondere Bedeutung zu. Er wird in wechselnder Zusammensetzung zwei-bis dreimal im Jahr für anderthalb Tage zusammengerufen, wobei Grundsatzfragen der Ost-West-Politik mit jeweils aktuellen Bezügen in Kurzreferaten und Diskussionen behandelt werden. Hinzu kommen weitere Fach-konferenzen, die unter Beteiligung von Ressortvertretern in verschiedenen Osteuropa-Instituten, bei der Osteuropa-und Südosteuropa-Gesellschaft, von der Redaktion „Osteuropa" und ihren Tochterzeitschriften oder auch vom Koordinationssekretariat veranstaltet werden. Der besondere Vorzug der Konferenzen besteht darin, daß Informationen und Beurteilungen dichtgedrängt, interdisziplinär, gezielt und kurzfristig vermittelt werden können.

Das Wissensfeld Osteuropa

In den vorangegangenen Ausführungen wurde versucht zu zeigen, daß vielfältige Ansätze, Erkenntnisquellen und Wechselbeziehungen berücksichtigt werden müssen, wenn man zu differenzierten Erkenntnissen über die Sowjetentwicklung kommen will. Der Erfahrungsaustausch ist dabei auch nicht auf die „scientific community" beschränkt, sondern muß sich auch auf jene erstrecken, die mit den Problemen Osteuropas durch Lebenserfahrung verbunden oder mit ihnen in politischer Verantwortung befaßt sind. Das, was im Ergebnis einer solchen Kommunikation herausgebildet wird, sei bildhaft als „Wissensfeld“ gekennzeichnet. Es ist nicht „greifbar", sondern wird erst in der Kommunikation „lebendig", indem perspektivistisches und in vieler Hinsicht widersprüchliches Wissen miteinander in Beziehung gesetzt wird. Stets präsent sind dabei auch jene in den Köpfen und Herzen der Beteiligten verwurzelten Überzeugungen, die gar nicht ausgesprochen zu werden brauchen, aber durch frühere Begegnungen oder literarische Zeugnisse mitgedacht werden und damit einbezogen sind. Trivial kann man diese Kommunikation als Diskussionsrunde oder Gedankenaustausch bezeichnen. Es bleibt von einer solchen Zusammenkunft aber nicht viel mehr als ein anregendes oder interessantes Gespräch, wenn man sich nicht dessen bewußt ist, daß das kommunikativ entstehende oder getragene Wissensfeld eine gewisse Struktur hat, daß darin besondere Möglichkeiten liegen und verantwortungsvolle Aufgaben wahrgenommen werden können. Für das „Wissensfeld Osteuropa" sei dabei auf folgende Aspekte hingewiesen:

— Bei hinreichend langer Erfahrung lassen sich Kernbereiche des Sowjetsystems erkennen, deren Probleme weitgehend ausdiskutiert sind, so daß sie als ein „Grundwissen" angesehen werden können. Dies bedeutet natürlich nicht, daß man darüber zu einer gemeinsamen Auffassung gekommen ist, wohl aber, daß man die wesentlichen Probleme der sowjetischen Entwicklung, die bei ihrer Interpretation vertretenen Standpunkte und die daraus resultierenden Konsequenzen einigermaßen überblickt. Auch in terminologischen Fragen, die eine Quelle tiefgreifender Mißverständnisse sein können, wird man im Laufe der Zeit einen gewissen Konsens erzielen. -Ist ein solches kollektives „Grundwissen“ verfügbar, können neu auftretende Ereignisse oder Phänomene in Ad-hoc-Konferenzen sehr rasch „verortet“ werden. Auch hierbei geht es nicht um eine definitive und einheitliche Urteilsfindung, sondern um eine Untersuchung der Phänomene in vielfältigen Perspektiven und Differenzierungen, um damit vereinseitigten Urteilsbildungen entgegenzuwirken oder ei notwendigen „einseitigen" Entscheidungen das Problembewußtsein für das weite Umfeld der Konsequenzen und Alternativen zu erhöhen. — Nicht weniger wichtig als die differenzierende Analyse aktueller Ereignisse ist das rechtzeitige Durchdenken mittel-oder langfristiger Entwicklungstendenzen. Auch hier kann es nicht um konkrete „Prognosen" gehen, sondern um das Aufzeigen von Problemfeldern und Gestaltungsfaktoren, mit deren wachsender oder abnehmender Bedeutung auf längere Sicht zu rechnen ist. Da Zukunftsprojektionen in der Politik bewußt oder unterschwellig eine außerordentliche Rolle spielen, ist ihre Einbindung in das große Beziehungsgeflecht eines Wissensfeldes von besonderer Bedeutung.

Es dürfte deutlich geworden sein, daß eine entscheidende Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit des hier umrissenen „Wissensfeldes" in einer hinreichenden Kontinuität liegt. Für die Osteuropaforschung sind durch eine in die Anfänge unseres Jahrhunderts zurückreichende Tradition und die relative Überschaubarkeit der auf diesem Gebiet aktiv Tätigen einigermaßen günstige Bedingungen dafür gegeben. Natürlich ist in der Praxis die Kommunikation nicht so umgreifend und flexibel, wie dies nach dieser mehr idealtypischen Darstellung erscheinen mag. Trotz aller Einschränkungen aber sollte man sich dessen bewußt sein, daß bei einem „Schwinden" dieses Wissensfeldes Politik und Öffentlichkeit in relativ kurzer Zeit mit äußerst widersprüchlichen Urteilen über die Sowjetentwicklung konfrontiert sein würden, für deren Korrektur oder Einbindung in größere Zusammenhänge dann kein „Instrumentarium“ mehr vorhanden wäre.

Wegen der Bedeutung dieses Wissensfeldes ist freilich auch eine ständige selbstkritische Reflexion über die damit verbundenen personellen und geistigen Voraussetzungen erforderlich. Die Wissenschaftstheorie der letzten zwanzig Jahre hat in eindrucksvoller Weise deutlich gemacht, daß in wissenschaftlichen Kollektiven Paradigmen, also stabile Denkmuster, vorherrschend werden können und damit ganze Wissens-oder Lebensbereiche für lange Zeit prägen. Zwar unterliegen auch diese Paradigmen gewissen Wandlungen, aber ihre Begrenztheit oder Lückenhaftigkeit erkennt man im ganzen Ausmaß erst dann, wenn im Gefolge großer geistiger Umbrüche ganz andersartige Denkmuster zum Tragen kommen. Das institutionalisierte Offenhalten eines solchen Kommunikationsfeldesfür personelle und geistige Innovationen ist deshalb eine entscheidende Voraussetzung dafür, daß man bei allen Prüfungen und Differenzierungen im „Innen9 raum" des Arbeitsgebietes nicht in einem „Grundirrtum" befangen bleibt.

In diesem Zusammenhang ist ein Problem wichtig, über das zwar oft diskutiert worden ist, für das aber keine befriedigende Lösung gefunden werden konnte. Es geht darum, die Ergebnisse der Osteuropaforschung mit neuen Erkenntnissen in den „Nachbarwissenschaften" in Beziehung zu setzen Gewisse Kommunikationsschwierigkeiten bestehen in dieser Hinsicht bereits zwischen der bundes-geförderten und Teilen der universitären Osteuropaforschung. Wichtiger für eine Klärung grundlegender Fragen aber wäre eine engere Wechselbeziehung zu anderen großen Fachrichtungen, in denen Gegenwartsinterpretationen eine wichtige Rolle spielen, wie der allgemeinen Politikwissenschaft, der Zeit-geschichte oder auch der Philosophie. Es gibt natürlich vielfältige Kommunikationen und Bemühungen in dieser Richtung, zugleich aber ist generell festzustellen, daß fachliche Isolierung und Mangel an interdisziplinärer Zusammenarbeit ein allgemein beklagtes Grundproblem unserer Zeit sind. Die Erfahrungen der Osteuropaforschung laufen dabei darauf hinaus, daß Interdisziplinarität nur bei subtilen organisatorischen Voraussetzungen und entsprechenden forschungsstrategischen Motivationen wirksam wird.

Dazu muß man sich vergegenwärtigen, daß eine Fülle individuell erarbeiteten und oft außerordentlich wertvollen Wissens verloren-geht, wenn es nicht in Kommunikation mit anderen Wissensbereichen gebracht wird. Nachdem das quantitative Wachstum der Wissenschaften längst überdimensionale Ausmaße angenommen hat und die Zweifel an dieser Art des Fortschritts immer größer werden, gewinnt die Herausbildung von Strukturen, auf denen Kommunikation und Integration sich entwickeln können, eine immer größere Bedeutung. In diesem Sinne kann Organisation als ein „Instrumentarium" zu integrativem und damit neuem Erkenntnisgewinn angesehen werden.

Beim Blick auf die gewaltigen Wissensfelder, die die moderne Entwicklung begleiten und gestalten, darf man natürlich zugleich nicht vergessen, daß alle Erkenntnis letztlich eine Leistung des einzelnen ist. Dabei besteht eine enge Beziehung zwischen den existenziellen Strukturen des einen und jenen Strukturen, die aus der Wirklichkeit erkennend herausgehoben werden. Zwar kann diesen Wechselbeziehungen hier nicht nachgegangen werden, aber in ihnen finden auch Sinn und Verantwortung der Arbeiten ihre Begründung. Für die Osteuropaforschung und ihre wissenschaftlichen Nachbargebiete geht es dabei letztlich um Fragen der Lebensordnung und — in einer offenbar gefährlicher werdenden Zeit — vielleicht auch um Fragen des Überlebens.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Osteuropaforschung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Osteuropa, 1980, H. 8/9 (Sonderheft), S. 653— 1077.

  2. Eine Bilanz dieser seit 1965 erschienenen Diskussionsbeiträge findet sich bei Otto Luchterhandt, Gegenstand, Ziele und Methoden der Ostrechtswissenschaft, in: Osteuropa-Recht, 1976, H. 2/3, S. 8. 107; ferner sei verwiesen auf B. Meissner, H. Rogge mann, F. -C. Schroeder, K. Westen, Grundsatzfragen der Ostrechtsforschung, Studien des Instituts tür Ostrecht (München), Tübingen 1980.

  3. Ein wichtiger neuer Vorstoß zur Methoden-und Theoriediskussion findet sich bei Astrid von Bore u. Gerhard Simon, Neue Wege der Sowjetunion-Forschung, Baden-Baden 1980.

  4. Alex Inkeies and Raymond A. Bauer, The Soviet Citizen, Cambridge, Mass. 1967.

  5. Vgl. hierzu Arnold Buchholz, Koordination und Ressortbezug in der bundesgeförderten Osteuropa-forschung, in: Osteuropa, 1980, H. 8/9, S. 688— 704.

Weitere Inhalte

Arnold Buchholz, Dr. rer. nat., geb. 1921, Wissenschaftlicher Direktor am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln und Leiter des Ständigen Sekretariats für die Koordinierung der bundesgeförderten Osteuropaforschung, Köln. Neuere Veröffentlichungen: Die große Transformation, Stuttgart 1968; The Role of the Scientific-Technological Revolution in Marxism-Leninism, in: Studies in Soviet Thought 2/1979; Koordination und Ressortbezug in der bundesgeförderten Osteuropaforschung, in: Osteuropa 8/9, 1980; 20 Jahre Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, in: Das Parlament, 4. 4. 1981.