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Beharrung und Veränderung in der sowjetischen Innenpolitik | APuZ 48/1981 | bpb.de

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APuZ 48/1981 Artikel 1 Methodische Probleme der Sowjetunion-und Osteuropaforschung Beharrung und Veränderung in der sowjetischen Innenpolitik Der erstarrte Koloß Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsreformpolitik der UdSSR in der Ära Breshnew Die sowjetische Außenpolitik der Breshnew-Ära

Beharrung und Veränderung in der sowjetischen Innenpolitik

Heinz Brahm

/ 27 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Erst im nachhinein wird deutlich, welche großen Anstrengungen in der ChruschtschowÄra unternommen worden sind, um die politische und geistige Szene der UdSSR zu beleben. In den frühen sechziger Jahren setzte jedoch eine gewisse Restauration ein. Die Innenpolitik stand während der Breshnew-Zeit oft im Zeichen restriktiver Maßnahmen. Gleichzeitig vollzogen sich jedoch im Innern der Sowjetgesellschaft langsam und beständig Veränderungen, ohne daß die KPdSU ihnen entgegenwirken konnte. Im Westen herrscht die Meinung vor, daß nur mit immensem Druck von oben die Bevölkerung bei der Stange gehalten wird. In Wirklichkeit jedoch verhält sich die große Masse der Sowjetbürger staats-und systemkonform; die Dissidenten spielen im Grunde nur die Rolle von'Außenseitern. Es kann auch in Zukunft nicht damit gerechnet werden, daß die Bevölkerung Druck auf die politische Führung ausüben wird, es sei denn, die wirtschaftliche Situation verschlechterte sich dramatisch.

I. Die Problematjk von Theorien

Die Geschichte richtet sich weder nach unseren Wünschen noch nach den Theorien, die man glaubt, aus historischen Abläufen ableiten zu können. Man hat zwar immer wieder gehofft, von den Höhen der Wissenschaft einen Blick auf das gelobte Land der Zukunft werfen zu können, aber die Voraussagen trogen oder erwiesen sich zufällig als mehr oder weniger zutreffend. Die Geschichte läßt sich nicht wie ein Fünfjahresplan entwerfen.

Am Beispiel der Sowjetunion, die nach kommunistischem Selbstverständnis ihre Existenz auf die Voraussagen von Marx gründet, haben Wissenschaftler ihre prognostischen Fähigkeiten häufig erprobt. In den fünfziger Jahren wandte man meistens die Totalitarismustheorie auf die Sowjetunion an: Das gesamte Land wurde im Schraubstock einer Partei gesehen, die die totale Kontrolle und Planung für sich beanspruchte Nach diesem Erklärungsversuch erschien die UdSSR mehr als ein statisches Gebilde, wenn auch Wandlungsmöglichkeiten nicht grundsätzlich geleugnet wurden Später stellte man der Totalitarismustheorie, die die Sowjetunion im Prinzip pessimistisch beurteilte, Theorien entgegen, die mehr zum Optimismus Anlaß geben konnten. Die Konvergenztheorie beispielsweise ging davon aus, daß die Industrialisierung in der Sowjetunion zu einem Abbau des Terrors und der Repression und damit letzten Endes zu ei-ner Entwicklung führen würde, die der des " Westens" verwandt oder ähnlich sei Ande— ren schien die „Modernisierungstheorie" umfassend genug zu sein, um mit ihr auch das Werk der Russischen Revolution interpretieren zu können. Danach wäre die Entwicklung der UdSSR nur eine Variante eines umfassenden Prozesses, der mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und mit der Französischen Revolution in Gang gekommen wäre und dann von der gesamten Welt Besitz ergriffen hätte

Theorien haben natürlich ihren Platz in der Wissenschaft. Sie versuchen Ordnung in das Durcheinander der Daten und Fakten zu bringen. Sie bergen jedoch Gefahren in sich, zunächst schon dann, wenn sie in eine breitere Öffentlichkeit absinken. Die Autoren der Theorien sind sich in der Regel der Problematik ihrer Konstruktionen bewußt, aber für die passiven Konsumenten verkürzen sich Theorien nur zu leicht zu Formeln mit einer dogmatischen Aussage.

Aber auch wenn man die unzulässigen Vereinfachungen, die sich nie und nirgendwo vermeiden lassen, einmal beiseite läßt, ergibt sich für jeden Verfechter einer Theorie die Versuchung, daß er nur noch das sieht, was er sehen will oder sogar sehen muß, wenn er nicht seine Theorie revidieren oder verwerfen will. Wie man aber auch zu Theorien stehen mag, wichtig ist es eigentlich nur, daß man sich bei der Analyse der Fakten seine Unbefangenheit bewahrt und nicht seine Befürchtungen oder Hoffnungen in die Wertung einfließen läßt. Angesichts der oft doch sehr zur Selbstgerechtigkeit neigenden Wissenschaftler scheint der Appell zu einer vorurteilslosen Betrachtung immer wieder nötig zu sein. Es ist eigentlich beschämend, wenn ein Dichter wie Eugenio Montale in einem Gedicht mehr Nüchternheit aufbringt als manche Politikwissenschaftler, Soziologen oder Historiker:

„Die Geschichte wird nicht gemacht von dem, der sie überdenkt, und auch nicht von dem, der sie nicht kennt. Die Geschichte geht nicht voran, sie bockt, sie verabscheut das Nach-und-Nach, sie geht nicht vorwärts und nicht zurück, sie wechselt den Bahnsteig, und ihre Fahrtrichtung steht nicht im Fahrplan."

Die Lokomotive der Geschichte, die die Oktoberrevolution nach dem Selbstverständnis der Kommunisten sein sollte, änderte in der Folge mehrfach ihren Kurs und führte zu Stationen, die nicht vorgesehen waren, und es ist nicht einmal sicher, ob sie sich dem ursprünglich angegebenen Bestimmungsort überhaupt nähert. Im vorliegenden Aufsatz soll die letzte Strecke betrachtet werden, die die Sowjetunion unter Breshnew zurückgelegt hat. Seit Oktober 1964 steht Breshnew an der Spitze der KPdSU. Von seinen Anfängen als Erster Sekretär bis zu seiner heutigen Machtfülle sind 17 Jahre vergangen. Nur Stalin, der rund 24 Jahre die Geschicke des Landes lenkte (1929— 1953), konnte auf eine längere Herrschaft zurückblicken. Wenn es sich auch inzwischen eingebürgert hat, von der Breshnew-Periode zu reden, so ist damit noch nichts über die Gestaltungskraft ihres Namengebers gesagt. Als Innenpolitiker ist Breshnew im Vergleich zu seinen Vorgängern eher blaß. Er ist kein Revolutionär wie Lenin, kein Diktator wie Stalin und kein Reformer wie Chruschtschow. Als Persönlichkeit ist er im Vergleich zu den drei genannten auch nicht gerade stark ausgeprägt. Für einen Biographen ist sein Leben offensichtlich recht unergiebig — und das nicht nur, weil es kaum Hinter-grundmaterial über sein privates Leben gibt

In einem coup de parti waren Breshnew, Kossygin, Suslow und Podgornyj an die Macht gekommen. Sie hatten Chruschtschow gestürzt, als sie befürchten mußten, daß das große, noch aus der Stalin-Zeit stammende Machtpotential durch die gewagten Transaktionen und Manipulationen ihres cholerischen Parteiführers nicht nur vermindert, sondern möglicherweise sogar nicht einmal mehr in ihre Hände gelangen würde. Die Männer der neuen Führungsmannschaft, die in Breshnew und Kosygin ihre Eckpfeiler und Symbolfiguren fanden, hatten allerdings wenig Grund, mit der gesamten Entwicklung seit Stalins Tod unzufrieden zu sein. Schließlich waren sie in dieser Zeit zu höchsten Ämtern und Ehren gekommen. Sie hatten auch den größten Teil der Reformen, die nach 1953 eingeleitet worden waren, unterstützt. Blicken wir zurück. Die Reformen nach Stalins Tod hatten die Sowjetunion merklich verändert: — Als erstes war die Einmanndiktatur von einer „kollektiven Führung" abgelöst worden.

Die Macht, die Stalin besessen hatte, wurde auf mehrere Schultern verteilt.

— Es fanden wieder, wenn auch nicht in aller Offenheit, Fraktions-und Machtkämpfe statt Da es keine ailesentscheidende Autorität mehr in der Parteiführung gab, konnten wieder Alternativen in der Politik vertreten werden. — Der Massenterror wurde schrittweise reduziert und die Macht der Geheimpolizei beschnitten. — Die Partei, die unter Stalin eine deutliche Zurücksetzung erfahren hatte, wurde zum entscheidenden Machtfaktor.

— Die von Chruschtschow forcierte Entstali-

nisierung setzte die Hoffnung auf einen um-fassenden Wandel frei.

Von allen diesen Erscheinungen war für die Sowjetgesellschaft der Abbau des Massenterrors die wichtigste, die Entstalinisierung jedoch die verheißungsvollste.

II. Die kollektive Führung und ihr Steuermann

Solange Stalin gelebt hatte, waren von seiner Privatkanzlei die Direktiven und Impulse ausgegangen In dieser Schaltzentrale wurde nicht nur die politische Richtung bestimmt, sondern auch über Auf-oder Abstieg der einzelnen Politiker befunden. In den letzten Monaten von Stalins Herrschaft war offensichtlich wieder eine gewaltsame Durchforstung des Parteiapparates geplant, die auch vor den engsten Mitstreitern Stalins nicht haltgemacht hätte. Es war verständlich, daß die Nachfolger Stalins ein Interesse daran hatten, dem Zustand der allgemeinen Gefährdung und Unsicherheit ein Ende zu bereiten. Die immense Macht, die Stalin nach seinem Tod hinterließ, wurde so unter die Erbengemeinschaft verteilt, daß niemand ein persönliches Übergewicht erhielt. Mit Berija, der als Innenminister und Chef der Sicherheitspolizei zu einer Gefahr für die kollektive Führung geworden war oder geworden zu sein schien, machte man noch 1953 kurzen Prozeß: Man ließ ihn erschießen

Auf der anderen Seite fanden sich die neuen Männer im Kreml damit ab, daß Chruschtschow mit der Zeit eine immer größere Macht in seinen Händen vereinigte. Wie man annehmen muß, trauten sie ihm keine besonderen Ambitionen zu und fanden außer ihm wohl kaum jemand, der so resolut die heißen Eisen anpackte. Da Chruschtschow bereit war, das Risiko der notwendigen Reformen zu tragen, mußte man ihm wohl oder übel auch mehr Macht zugestehen, als es sich mit den Prinzipien einer kollektiven Führung vereinbaren ließ. Unmittelbar nach Stalins Tod hatte Chruschtschow im Präsidium (so hieß das Politbüro offiziell von 1952 bis 1966) den fünften Platz eingenommen Erst im September 1953 erhielt er den Titel eines „Ersten ZK-Sekretärs". Damit wurde er zum stärksten Mann im Parteiapparat.

Als er 1958 auch Regierungschef wurde, verfügte er formal über dieselbe Ämterkombina-tion wie Stalin. Seine Durchsetzungskraft reichte jedoch bei weitem nicht an die seines Vorgängers heran. Die Mitglieder seiner Führungsmannschaft konnten ihn in vielen Fällen durchaus noch in die Schranken weisen. Chruschtschow versuchte zwar in seinem Ungestüm, sich aus den Fesseln der kollektiven Führung herauszuwinden, was ihm zwar hin und wieder gelang, aber seine Überrumpelungstaktik und seine personalpolitischen Winkelzüge schufen ihm zum Schluß so viele Feinde, daß er vom Präsidium (Politbüro) wie vom ZK zum Rücktritt gezwungen werden konnte Die obersten Organe der Partei diktierten dem obersten Repräsentanten der Partei ihren Willen auf.

Dasselbe ZK, das Chruschtschow den Gehorsam verweigerte, einigte sich darauf, die beiden höchsten Ämter in Partei und Regierung keinem einzelnen mehr anzuvertrauen Nach der doppelten Erfahrung mit Stalin und Chruschtschow mußte eine neue Personal-union geradezu als tödlich für die angestrebte Balance der Macht erscheinen. Dennoch wurde bis heute die Teilung der beiden Spitzenämter nicht in den Statuten der Partei oder in der Verfassung verankert, überhaupt sind die Statuten wie die Verfassung eher bereit, die Pflichten und Rechte der einfachen Parteimitglieder bzw.der Bürger zu deklarieren als die Grenzen der höchsten Machtorgane festzulegen. Als man sich 1964 für die Aufteilung von Chruschtschows Patrimonium entschied, dürfte weitgehend Einverständnis darüber geherrscht haben, daß Breshnew Parteichef (Erster Sekretär des ZK) und Kossygin Ministerpräsident werden sollten. Nach den manchmal hektischen Reformen der letzten Jahre sollte nun eine Phase der Konsolidierung folgen. Nur wenige Experimente Chruschtschows wurden völlig rückgängig gemacht, wie etwa die Aufspaltung der Partei in einen Landwirtschafts-und in einen Industrieflügel. Im allgemeinen begnügte man sich mit kleineren Kurskorrekturen. Zugleich muß aber sehr baldin der sowjetischen Bevölkerung spürbar geworden sein, daß die politische Führung nicht mehr bereit war, irgendwelche Tendenzen oder Neuerungen zuzulassen, die das Monopol der Partei untergraben könnten.

Wie 1924 und 1953 trat die neue Mannschaft als „kollektive Führung" an. Künftig sollte kein „starker Mann" mehr das Vorrecht haben, mit neuen Ideen vorzupreschen, sondern jeder Beschluß mußte nun im Politbüro und in den vor-geschalteten Gremien so sorgsam vorbereitet werden, daß er entweder allen Seiten als annehmbar erschien oder doch eine breite Mehrheit fand. Eine solche Politik der ständigen Kompromisse gestaltete den Entscheidungsprozeß schwerfällig und brachte eine gewisse Verschwommenheit mit sich.

Die politische Landnahme durch die Apparate bzw. durch deren oberste Repräsentanten wurde sanktioniert. Ja.den Mitgliedern der Breshnew-Kossygin-Mannschaft wurde darüber hinaus eigentlich sogar eine unbegrenzte Amtszeit zugestanden. Das ergab sich jedenfalls aus dem seit 1964 immer wieder bekräftigten Grundsatz der „Stabilität der Kader". Wer genügend Fortune besaß und nicht gerade gegen die Spielregeln verstieß, konnte manchmal sogar seinen Sitz im Politbüro bis an sein Lebensende behalten. 1966 wurde ein unter Chruschtschow eingefügter Passus aus den Parteistatuten herausoperiert, der eine regelmäßige Erneuerung des Politbüros und des ZK verlangte

Unübersehbar war jedoch auch, daß Breshnew mit der Zeit seine Macht ausbauen konnte. 1966 wurde er „Generalsekretär". Es ist anzunehmen, daß dies nicht nur ein Ehrentitel ist, sondern mit dieser Bezeichnung auch eine Rangerhöhung verbunden wurde. So ist behauptet worden, daß der „Erste Sekretär" nur Vorsitzender des ZK-Sekretariats sei, während der Generalsekretär an der Spitze der gesamten Partei stehe Wenn auch nichts Konkretes über den Machtumfang des neuen Generalsekretärs bekanntgegeben wurde, so zeigte der wachsende Einfluß Breshnews sehr bald, daß er tatsächlich die Schlüsselfigur in Partei und Staat wurde. Breshnew machte immer stärker Vorstöße auf das Feld der Außenpolitik. Er nahm schließlich sogar die Funktionen des Regierungschefs oder Staatspräsidenten wahr, wenn er Abkommen mit den USA oder der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnete, an der Schlußsitzung von Helsinki teilnahm oder bei Treffen auf höchster Ebene die sowjetische Seite repräsentierte Trotz der Vereinbarungen vom Oktober 1964 scheint es Versuche gegeben zu haben, Breshnew sogar die Verfügungsgewalt über die Regierungsgeschäfte zu geben Wenn dies auch mißlang, so erreichte es Beshnew 1977 immerhin, den Platz des Staatsoberhauptes zu übernehmen, den Podgornyj sicher nicht aus freien Stücken geräumt hatte. Vom Präsidium des Obersten Sowjet aus konnte Breshnew offensichtlich seinen Einfluß auf den Ministerrat, die Domäne Kossygins, stärker geltend machen als von seinem Amt als Generalsekretär Es kam ihm sicher gelegen, daß Kossygin 1980 aus Gesundheitsgründen zurücktrat. Tichonow, der neue Regierungschef, steht Breshnew persönlich nahe und folgt dessen Wünschen sicher eher als der eigenwillige und widerborstige Kossygin.

Breshnew hat Zug um Zug seinen Kompetenzbereich erweitern können. Inzwischen ist er nicht nur Generalsekretär und Staatsoberhaupt, sondern auch Vorsitzender des Verteidigungsrates, Oberkommandierender der Sowjetischen Streitkräfte und Marschall der Sowjetunion Der Kult um ihn ist bereits weiter gediehen als seinerzeit der Kult um Chruschtschow. Wie es scheint, rücken seine Protegös unaufhaltsam in freiwerdende Positionen. So sehr aber sein Einfluß gewachsen ist, so ist er dennoch kein Diktator oder absoluter Herrscher. Bis heute scheint er im Einvernehmen mit dem Parteiapparat, den Militärs, der Geheimpolizei und der Staatsbürokratie zu handeln.

Sicher versucht er nicht wie sein Vorgänger, der Führungsmannschaft seinen Willen mit allen Mitteln und Tricks aufzunötigen. Er scheint sich eher der vorherrschenden Mei-nung anzuschließen. Er schwimmt also nicht gegen den Strom, sondern mit ihm. Innerhalb der kollektiven Führung ist er jedoch nicht Gleicher unter Gleichen Seine Macht geht über die eines einfachen Politbüromitgliedes hinaus. Zum einen hat er als Generalsekretär den Parteiapparat hinter sich. Darüber hinaus erlaubt ihm seine Position, Diskussionen in eine bestimmte Richtung zu lenken, und ebenso wird er bei der Vermittlung gegensätzlicher Positionen seinen Einfluß auf vorsichtige Art geltend machen können. Nicht zuletzt aber erleichtert ihm die große Zahl seiner Anhänger, die inzwischen an den Schaltstellen stehen, eine Entscheidungsfindung in seinem Sinne.

III. Fehden im Politbüro

Zwischen 1953 und 1964 hat es im Politbüro (Präsidium des ZK) Macht-und Richtungskämpfe gegeben, die sich in groben Umrissen durchaus rekonstruieren lassen Die Auseinandersetzungen wurden jedoch nicht auf offenem Markt ausgetragen. Die Gruppe, die den Sieg davontrug, teilte nachträglich nur das mit, was ihr opportun erschien. Die Unterlegenen erhielten keine Chance, ihren Standpunkt vor der Bevölkerung darzulegen. Berija wurde von seinen Widersachern nach seiner Inhaftierung vorgeworfen, daß er die Regierung und die Partei seinem Innenministerium unterstellen wollte. Malenkow mußte, als er als Regierungschef zurücktrat, in einem Brief sein Versagen in der Verwaltung, in der Landwirtschafts-und Industriepolitik eingestehen.

1957 sah sich Chruschtschow im Politbüro unversehens in die Minderheit versetzt. Seiner drohenden Entmachtung kam das ZK zuvor, das in letzter Instanz darüber befand, ob jemand seinen Platz in den obersten Parteigremien gewann, behielt oder verlor.

Seit dem Sturz Chruschtschows rückte die neue Führung völlig davon ab, irgend etwas über Fehden im Politbüro bekanntzugeben. Der Bevölkerung sollte das Bild einer einträchtig und sachlich arbeitenden Mannschaft vermittelt werden. Schon die wirklichen Gründe, die zum Rücktritt Chruschtschows geführt hatten, wurden nicht mehr direkt und ungeschminkt genannt. Daß es von 1964 bis heute keine ernsthaften Zusammenstöße im Politbüro gegeben haben sollte, ist kaum anzu-nehmen. Man darf vermuten, daß Woronow, Scheljest, Scheljepin, Poljanskij, Podgornyj und Mazurow das Politbüro verlassen mußten, weil sie in einen unversöhnlichen Gegensatz zur Mehrheit in der Parteiführung geraten waren. Was kremlologischer Scharfsinn aus Indizien oder Indiskretionen über die möglichen Hintergründe der jüngeren Personalveränderung in der Parteispitze zutage förderte, ist im Grunde sehr wenig, wenn es sicher auch hilfreich für die Erklärung mancher sonst völlig unverständlicher Ereignisse ist. Von Scheljest wird etwa angenommen, daß er ein Gegner der Entspannung war und dem ukrainischen Nationalismus nicht entschieden genug entgegengetreten ist Scheljepin wiederum soll in dieser oder jener Form Anspruch auf den Stuhl des Parteichefs erhoben haben

Die Reden und Artikel der heutigen Politbüro-mitglieder sind von erstaunlicher Uniformität. Dennoch lassen sie in Einzelfragen Akzentverschiebungen erkennen. Es ist sicher keine Überinterpretation, wenn man in Suslow oder Ponomarjow die wichtigsten Wortführer einer weltrevolutionären Strategie sieht. Da sie beide Mitglieder des ZK-Sekretariats sind, haben sie vermutlich an den Vorbereitungen der Politbürositzungen einen großen Anteil.

Weniger gesichert ist die Annahme, daß es im Parteiapparat eine Gruppe gibt, die die Interessen der Großrussen stärker gewahrt sehen möchte, die etwa in der Expansion des sowjetischen Imperiums eine mögliche Gefahr sieht und die auch einer stärkeren Integration der asiatischen Nationalitäten abwehrend gegen-übersteht. Zu den „Isolationisten" werden Kapitonow und Solomenzew gerechnet Von den Vollmitgliedern des Politbüros soll ledig-lieh Grischin, der Moskauer Parteichef, diese Gruppe unterstützten, allerdings auch nur halbherzig.

IV. Abbau des Terrors

Die politische Landschaft des nachstalinistischen Rußland ist durch nichts stärker verändert worden als durch die Beendigung des Massenterrors, die Freilassung von Häftlingen und die Rehabilitierung von Stalin-Opfern. Unter Stalin war die Sicherheitspolizei so stark und bedrohlich geworden, daß kaum jemand vor ihr sicher sein konnte. Als man Berija hinrichtete, wollte man nicht nur einen potentiellen Usurpator ausschalten, sondern zugleich das weitverzweigte politische und wirtschaftliche Imperium auflösen, das das Ministerium für Innere Angelegenheiten (MWD) darstellte Zunächst wurde der KGB (der Staatssicherheitsdienst) aus dem Ministerium ausgegliedert. Um auch diese beiden Teilorganisationen nicht zu einer Gefahr für die „kollektive Führung" werden zu lassen, berief man an die Spitze des MWD wie des KGB Männer, die vergleichsweise unbedeutend waren. Des weiteren wurde der Sicherheitspolizei die wirtschaftliche Basis entzogen. Die Verantwortung für das Straßenwesen, für Kanalbauten und Wasserwerke übertrug man anderen Ressorts. Das Justizministerium erhielt die Oberaufsicht über die Lager. Nicht zuletzt verlor das KGB das Recht, Häftlinge in eigener Regie zu verurteilen.

Außer Berija wurde ein Reihe höherer Geheimpolizeifunktionäre zum Tode verurteilt. Es konnte nicht ausbleiben, daß als Folge all dieser Eingriffe der KGB stark verunsichert wurde, zumal immer mehr Häftlinge ihre Freiheit erlangten. 1953 sollen es 4 000 Menschen gewesen sein, die die Lager verlassen konnten, in den beiden folgenden Jahren 12 000 und 1956/1957 dem Vernehmen nach sieben bis acht Millionen

Der Terror wurde zwar eingeschränkt, aber er blieb als ultima ratio stets in Reserve. Das zeigte sich, als nach 1964 der Druck auf die nonkonformistische Intelligenz, die für die Erhaltung und Ausweitung künstlerischer und politischer Freiheiten zu kämpfen begann, wieder stärker wurde. Allerdings kehrte man nicht zum Massenterror zurück. Diejenigen, die sich zu sehr von den Normen des Wohlverhaltens entfernten, wurden zunächst nur ermahnt oder zu einer Belehrung in die Behörden eingeladen. Dann drohte man den widerspenstigen Nonkonformisten mit dem Entzug gewisser Leistungen, belästigte sie mit Telefonanrufen und anonymen Schmähbriefen. Wenn das alles nicht fruchtete, konnte ein Regimekritiker oder eine aus irgendeinem Grund in Mißkredit geratene Person seinen Arbeitsplatz verlieren, von einem Gericht zu Lagerhaft verurteilt, von Spezialärzten in eine psychiatrische Anstalt gesteckt, ins Ausland abgeschoben oder ins Landesinnere verbannt werden.

Heute ist eine klare Trennungslinie zwischen der Masse der loyalen Staatsbürger und jenen Nonkomformisten gezogen, die aktiv für das Recht auf Ausreise kämpfen, die eine größere Freiheit für ihre Religion verlangen oder aber die Verletzung der Menschenrechte anprangern. Wer sich anpaßt und das Regime nicht öffentlich in Frage stellt, kann sich im Vergleich zur Stalin-Ära einer größeren Sicherheit erfreuen. Die Unbequemen dagegen, die sich nicht einordnen, unterliegen Willkürmaßnahmen. Die sowjetischen Behörden legen jedoch Wert darauf, daß selbst die Dissidenten und Nonkomformisten, die vor Gericht gestellt werden, ein Verfahren erhalten, das wenigstens formal den Anschein der Rechtmäßigkeit erwecken soll. Die Angeklagten haben einen Verteidiger zur Seite und können ihre Sache vortragen, ohne so massiv wie zu Stalins Zeit eingeschüchtert zu werden. Allerdings ist kein Fall bekannt, daß jemand, der aus religiösen oder politischen Gründen angeklagt wurB de, freigesprochen worden wäre Selbst wenn während der Gerichtsverhandlungen klar erkennbar wird, daß das Beweismaterial stümperhaft fabriziert wurde — wie etwa im Falle des jüdischen Arztes Stern —, ist dies für ein Gericht offensichtlich noch längst kein Grund, ein Verfahren einzustellen

Der Terror, der heute angewandt wird, ist selektiv. Er erreicht bei weitem nicht die Dimensionen der Stalinzeit. Anfang der siebziger Jahre schätzte man die Zahl der politischen Häftlinge in den Lagern auf etwa 10000 Wahrend der Zeit vom Juni 1975 bis Mai 1979 wurden im Westen mehr als 400 Fälle bekannt, in denen Personen wegen politischer oder religiöser Vergehen verurteilt, verbannt oder in psychiatrischen Anstalten interniert wurden Angesichts einer Bevölkerung von mehr als'260 Millionen Menschen muten diese Angaben erstaunlich gering an.

Der Apparat der Geheimpolizei ist in den letzten Jahren offensichtlich erstarkt. Andropow, der KGB-Chef, erhielt 1973 zusammen mit dem Verteidigungs-und Außenminister einen Sitz im Politbüro. Darin zeigte sich, wie sehr die Rolle des Staatssicherheitsdienstes inzwischen wieder in den Augen der Parteiführung an Bedeutung gewonnen hat.

V. Wiederbelebung der Partei

Die KPdSU hatte unter Stalins Herrschaft ihre Autonomie verloren. Sie war nicht nur von Stalins Privatkanzlei dirigiert worden, sondern hatte darüber hinaus unter der ständigen Drohung der Geheimpolizei gestanden. Der Chef der Sicherheitspolizei in einem Rayon oder einer Oblast hatte zum Schluß mehr Macht als die Parteisekretäre auf der gleichen Ebene. Der MGB (das Ministerium für Staatssicherheitsdienst) konnte sich sogar in den Abteilungen des ZK einnisten. Seine Vertreter hatten das Recht, die Schreibtische, Akten und Safes der ZK-Mitglieder zu inspizieren.

Chruschtschow ist es jedoch, nachdem der Staatssicherheitsdienst zurückgedrängt war, in kurzer Zeit gelungen, die KPdSU zu reaktivieren und zur dominanten Macht zu machen. Das Präsidium (Politbüro) und das ZK-Sekreta-riat dürften im Laufe der fünfziger Jahre die Macht zurückerlangt haben, die sie unmittelhar nach Lenins Tod einmal besessen hatten. Ebenso erwachte das ZK zu neuem Leben: War es von 1941 bis 1951 nur noch zweimal einberufen worden, so fanden von Dezember 1956 bis Dezember 1958 elf Plenen statt. Chruschtschow schuf sich mit seinen ständi-gen Reorganisationen der Partei, die vielen Funktionären den Arbeitsplatz kostete, allerdings sehr bald mehr Feinde als Freunde. Die engste Umgebung Chruschtschows muß es als einen ausgesprochen unfreundlichen Akt empfunden haben, daß in der Neufassung der Parteistatuten von 1961 der Austausch von ZK-und Präsidiumsmitgliedern nach einem Turnus von höchstens zwölf Jahren vorgesehen war

Charakteristisch für die Ära Breshnew ist eine gewisse Regelmäßigkeit, mit der Sitzungen des Politbüros, des ZK und Parteikongresse abgehalten werden. Nach 1964 wurden viele der organisatorischen Neuerungen, die Chruschtschow in der letzten Zeit durchgesetzt hatte, rückgängig gemacht. Die neue Mannschaft wollte von einem systematischen Wechsel in der Parteispitze nichts mehr wissen. 1966 wurde, wie bereits erwähnt, der entsprechende Passus aus den Statuten gestrichen. Die Erneuerung und damit die Verjüngung des Leitungspersonals trat damit eindeutig hinter einer Politik zurück, die darauf hinauslief, die alten Machtträger so lange wie möglich in ihren Ämtern zu belassen. Heute sind die Vollmitglieder des 14köpfigen Politbüros im Durchschnitt etwa 70 Jahre, die Voll-mitglieder des 319 Personen umfassenden ZK 62 Jahre alt. Man kann gegenwärtig annehmen, daß den Parteiorganisationen auf den verschiedensten Ebenen mehr Spielraum zugestanden wird als während der Stalin-Periode. Zugleich jedoch bietet die Parteispitze noch immer ein Bild größter Konformität Wenn, wie angenommen wurde, die Delegierten eines Kongresses nicht mehr so stark vom Parteiführer ausgewählt werden sollten wie früher ist eigentlich die Einmütigkeit auf den öffentlichen Sitzungen eines Parteikongresses verwunderlich. Nie hat man davon gehört, daß es zu einem Vorschlag des ZK eine Gegenstimme gegeben hat. Es ist natürlich möglich, daß wenigstens bei den Wahlen zum ZK, Politbüro und Sekretariat, die hinter verschlossenen Türen stattfinden, gegen den einen oder anderen Kandidaten votiert wird, aber es ist kaum vorstellbar, daß sich eine große Anzahl von Parteitagsdelegierten zur Ablehnung der von oben vorgeschlagenen Kandidaten bereitfindet.

VI. Entstalinisierung

Es war sicher nur zu einem geringen Teil das Verlangen nach historischer Wahrheit, das Chruschtschow bewogen hat, am Ende des XX. Parteikongresses (1956) auf einer eilig einberufenen, geschlossenen Nachtsitzung ein neues, in dunklen Farben gehaltenes Bild von Stalin zu entwerfen, das in krassem Gegensatz zu den früheren ikonographischen Darstellungen stand Was Chruschtschow zu den blutigen „Säuberungen" der dreißiger Jahre und den „Affairen" der Nachkriegszeit zu berichten wußte, dürfte sicher für die mehr oder weniger unvorbereiteten Zuhörer ein Schock gewesen sein, aber es war bei weitem nicht die volle Wahrheit. Zwar wurde die Periode zwischen 1934 und 1953 kritisch durchleuchtet, aber die Kollektivierung oder die Auseinandersetzung mit den oppositionellen Gruppen der zwanziger im wesentlichen von der Neubewertung blieb ausgenommen. Chruschtschow verschwieg sogar das Ausmaß von Stalins Terror während der Großen Säuberung, und er lenkte geflissentlich von der Frage ab, ob und inwieweit die Partei an den Verbrechen mitschuldig geworden war.

Was aber auch immer die Motive von Chruschtschow gewesen sein mögen, seine Anklagerede gegen den toten Stalin löste in der Sowjetunion, im sozialistischen Lager und im Weltkommunismus eine Kettenreaktion aus. Zwar verhinderte die damalige kollektive Führung die Auslieferung der gedruckten Fassung dieses Referats aber sie gestattete immerhin, daß ausgewählte Kreise mit dessen Inhalt vertraut gemacht wurden. Einzelheiten sickerten rasch durch, und von interessierter Seite wurde die Rede den USA zugespielt. Auf dem Parteikongreß von 1961 wurden schließlich die Auswüchse des Stalinismus öffentlich attackiert.

Chruschtschow hatte in seiner Anti-Stalin-Rede mitgeteilt, daß 7679 Personen rehabilitiert worden seien, eine Reihe davon jedoch nur posthum Fünf Jahre später ließ man die Bevölkerung wissen, daß 15000 Menschen wieder in die Partei aufgenommen worden seien Roj Medwedjew schätzt die Zahl derer, die posthum rehabilitiert worden seien, sogar auf fünf bis sechs Millionen was ja wohl nur bedeuten kann, daß die seinerzeit erhobenen Vorwürfe gegen den Teil der überwiegenden Stalin-Opfer stillschweigend als ungerechtfertigt angesehen wurden. Es ist jedenfalls nicht vorstellbar, daß in allen diesen Fällen ein neues Gerichtsverfahren eingeleitet worden wäre. Verfemt, aber nicht mehr dämonisiert blieben dagegen die meisten Prominenten, die unter Stalin liquidiert worden sind Aus dieser Gruppe der Hochrangigen wurden lediglich die Kommandeure der Roten Armee wie beispielsweise Tuchatschewskij und Jakir und eine Handvoll von Funktionären (Antonow-Owsejenko, Postyschew) formal rehabilitiert. Offensichtlich hatte man die kritische Grenze erreicht, als man Krestinskij und Ikramow rehabilitierte, die beide im Schauprozeß gegen Bucharin (1938) verurteilt worden waren.

Die Rehabilitierung von hohen Parteifunktionären, die noch vor dem Sturz Chruschtschows gestoppt worden war, wurde auch in der Ägide Breshnew nicht wieder aufgenommen. Nach 1964 zeigte die sowjetische Führung eigentlich überhaupt keine Neigung mehr, in der stalinistischen Vergangenheit herumzurühren und immer neue Schichten des Bodensatzes aufzuwirbeln. Die Entstalinisierung wurde allerdings nicht rückgängig gemacht, aber man verzichtete auf alles, was Emotionen wecken konnte. Wenn man jetzt auf die Massenrepressionen einging, geschah dies in knappen Wendungen, die den Anschein der Sachlichkeit vermitteln sollten. Man schrieb über die Geschehnisse von 1934 bis 1953 so, als ob sie schon so weit der Gegenwart entrückt wären, daß sie keiner detaillierten Darstellung mehr bedürften.

Seit 1964 tauchte der Name Stalins, der nach der Bilderstürmerei Chruschtschows tabuisiert worden war, wieder in der Memoirenliteratur und in historischen Werken auf. Daraus kann jedoch nicht ohne weiteres auf eine Re-Stalinisierung geschlossen werden. Da Stalin ungefähr ein Vierteljahrhundert die Partei geführt hat, war es nur ein Akt histori-scher Gerechtigkeit, wenn man seinen Namen nicht mehr unterschlug. Es mag auch Kräfte gegeben haben, denen die „Rehabilitierung" Stalins als Persönlichkeit der Geschichte nicht ausreichend erschien. Aber selbst Scheljepin oder Trapesnikow, die man zu Recht oder zu Unrecht als Neostalinisten bezeichnet hat, dürften kaum die Absicht gehabt haben, den Stalinismus mit allen seinen terroristischen Exzessen wiederzubeleben. Es gibt auch keine Anzeichen dafür, daß die stalinistischen Alt-gläubigen eine starke Basis in der Partei hätten. Wenn auch gegenwärtig für alle Parteihistoriker, die über die kritischen Jahre von 1934 bis 1953 schreiben, eine Art Fraktionszwang besteht, der ein Abweichen von einer bestimmten Linie nicht erlaubt, so zeigen sich bei anderen Historikern der jüngeren Geschichte, die nicht gerade bestimmte neuralgische Zonen berühren, Ansätze zu einem unabhängigen Denken. Von der aufgeklärten Intelligenz werden die Mythen der Parteigeschichte ohnehin nicht mehr geglaubt. Inzwischen haben sogar zwei Russen, beide Dissidenten, Bücher vorgelegt, die auf beeindruckende Weise die stalinistische Vergangenheit aufrollen: Roj Medwedjew, der marxistisch-leninistische Historiker, schrieb eine umfassende Studie über den Stalinismus und Solshenizyn setzte den Häftlingen des Gulag mit einem dreibändigen Werk ein Denkmal

VII. Die Schwerkraft des Konservatismus

Stalin hat heute seine Grabstätte an der Kremlmauer, Chruschtschow dagegen auf dem Nowodewitschi-Friedhof. Daraus könnte man folgern, daß Stalin der Breshnew-Mannschäft wesentlich näher steht als Chruschtschow, zumal dieser derzeit nur noch in den seltensten Fällen erwähnt wird. Die soeben unterbreiteten Fakten lassen jedoch keineswegs den Schluß zu, daß die gegenwärtige Führung die Chruschtschow-Periode annullieren will, um den fugenlosen Anschluß an den Stalinismus zu finden. Dies dürfte den Politikern um Breshnew weder als realistisch noch als wünschenswert erscheinen. Daß man Chruschtschow nicht einmal an der Kreml-mauer beisetzte, zeugt weniger von einer neostalinistischen Tendenz als vielmehr von den persönlichen Enttäuschungen der heutigen Führer mit ihm.

Sieht man von diesen Empfindlichkeiten einmal ab, gibt es zwischen der gegenwärtigen und der früheren Führung durchaus Unterschiede in Stil und Inhalt ihrer Politik. Chruschtschow und sein Reformeifer sind sei-nen Nachfolgern fremd, suspekt, wahrscheinlich sogar degoutant. Die neuen Männer versuchten zwar noch die eine oder andere Reform, gaben sie aber schnell wieder auf, wenn sie auf zu große Schwierigkeiten stießen. Sie zogen es vor, am Bewährten oder einfach am Althergebrachten festzuhalten. Sie glichen vorsichtigen Geldanlegern, die nicht bereit sind, ungewisser Gewinne wegen irgendein Risiko einzugehen, und die sich statt dessen mit bescheidensten Renditen, notfalls sogar mit Verlusten abfinden, wenn nur die Sicherheit ihres Kapitals gewährleistet wird oder gewährleistet zu sein scheint.

Die Masse der sowjetischen Bevölkerung ist offensichtlich über diese Politik des Bewahrens und der vorsichtigen Zurückhaltung nicht sonderlich unglücklich, denn sie selbst scheint angepaßt, konformistisch und im wesentlichen konservativ zu sein Die weltverbreitete Ansicht im Westen, wonach die Bürger der UdSSR einzig und allein vom Unterdrückungsapparat des KGB daran gehindert werden, die Kommunisten davonzujagen, ist kaum aufrechtzuerhalten. Ohne die aktive Unterstützung der kommunistischen Herrschaft durch einen großen Teil der Bevölkerung ist die Sowjetunion von heute nicht vorstellbar. Allen Unzulänglichkeiten zum Trotz steht mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Mehrheit hinter der KPdSU. Die Errungenschaften ihres Landes erfüllen die Sowjetbürger im allgemeinen mit Stolz. Ob dies nun berechtigt ist oder nicht, für sie stellt es sich so dar, daß der Aufstieg Rußlands aus tiefster Armut und nationaler Erniedrigung zu Wohlstand und Größe nur der Führung der KPdSU zu verdanken ist. Immerhin hat die Sowjetunion während der jüngsten Vergangenheit eine machtpolitische Position erreicht, die nur noch von den USA angefochten werden kann. Sie hat Deutschland, Frankreich und England hinter sich gelassen. Ihr Territorium ist heute größer als das des zaristischen Rußland. Mehr noch: Zum ersten Mal gebietet Moskau über ein Imperium von Staaten. Kommunistische Parteien gibt es fast in allen Ländern der Welt.

In den Augen des sowjetischen Durchschnittsbürgers befindet sich die UdSSR auch weiterhin auf der Straße des Siegers. Die Propaganda sorgt dafür, daß Rückschläge und Niederlagen schnell vergessen werden. Nach allem, was sich erkennen läßt, ist die Bevölkerung offensichtlich auch bereit, neue Opfer zu bringen, wenn es um die Interessen ihres Landes geht Seit Jahrzehnten hat sie sich an die Unterordnung gewöhnt. Ein Aufbegehren gegen die Obrigkeit erscheint der großen Mehrheit entweder als sinnlos oder sogar als widernatürlich. Als Chruschtschow abgesetzt und das Rad der Reformen allmählich zurückgedreht wurde, blieb die große Masse der Bevölkerung stumm.

Die Dissidenten, die als einzige aufstanden, um für die Weiterführung der Erneuerungspolitik zu kämpfen waren Außenseiter in der sowjetischen Gesellschaft. Es dürften kaum mehr als 10000 Männer und Frauen gewesen sein, die sich in dieser oder jener Form für die strikte Einhaltung der Menschenrechte engagierten. Stärker waren und sind zwar die nonkonformistischen Gruppen in einigen Nationalitäten und religiösen Gemeinschaften, aber sie zogen und ziehen kaum mit den Dissidenten an einem Strang.

Das Potential kritischen und unabhängigen Denkens war viel zu schwach, um auf die politische Führung Druck ausüben zu können, zumal sich die Dissidenten nicht einmal untereinander einig werden konnten. Der KGB tat ein übriges, um die Sympathisanten der „Andersdenkenden" rechtzeitig vor den Folgen eines offenen Übergangs ins Lager der Kritiker zu warnen.

Sinjawskij, ein Dissident der ersten Stunde, der heute in Frankreich lebt, urteilte im Rückblick: „Im Grunde hat sich die Dissidentenbewegung in Rußland seit den sechziger Jahren nicht verstärkt. Ja, und sie hat überhaupt nicht auf die Arbeiter, auch nicht auf die Wissenschaftler übergegriffen, was einmal unsere Hoffnung war. Sie ist im Bereich von Künstlern geblieben, und da war in Rußland immer ein Stück Anarchismus dabei." Daß die sowjetische Bevölkerung von sich aus die Bevormundung durch die Partei abschütteln werde, bestreitet Sinjawskij: „Als gesellschaftlicher Mensch bleibt der Russe freilich für alle Zeit Sklave." Nicht anders sieht A. Sinowjew, der wie Sinjawskij inzwischen im Westen lebt, die Lage: „Zwar ist die kommunistische Gesellschaft auch eine Gesellschaft von Menschen, die mit ihren Lebensbedingungen unzufrieden sind, aber die überwältigende Mehrheit ihrer Mitglieder ist ungeeignet, unter anderen Bedingungen zu leben, und empfindet ihre Lebensbedingungen als natürliches Lebensmilieu.“

VIII. Widersprüchliche Tendenzen

Im Vergleich zur Periode des Stalinismus hat sich die Sowjetunion stark gewandelt Es macht dagegen größere Mühe, den Weg und die Richtung zu bestimmen, den die UdSSR seit dem Sturz Chruschtschows eingeschlagen hat. Die oft geringfügigen Kurskorrekturen, das Nebeneinander von anscheinend Fortschrittlichem und anscheinend Rückschrittlichem sowie die zeitliche Nähe zu den Ereignissen der Breshnew-Jahre lassen kein eindeutiges Urteil zu.

Auf einigen Feldern wurde ein Vergleich der Sowjetunion, wie sie sich heute darstellt, mit der Zeit Chruschtschows versucht. Es scheint, daß sich Breshnew besser in die kollektive Führung einordnet als sein Vorgänger und daß er nicht versucht, seine Partner zu überrollen. Pluralismus auf höchster Ebene, Der der gegenüber der Einmanndiktatur ein Fortschritt ist, hat sich dennoch nicht generell positiv bemerkbar gemacht. Er hat beispielsweise nicht, wie die Interventionen in der SSR und in Afghanistan zeigen, zu einer friedlicheren Außenpolitik geführt.

Noch schwieriger als in den Jahren Chruschtschows ist es heute, etwas über die Konstellation der Kräfte im Politbüro zu sagen. Die sowjetische Seite ist peinlich darauf bedacht, keinerlei Informationen mehr aus dem engsten Führungskreis nach draußen dringen zu lassen. Eine solche Geheimniskrämerei hat das Mißtrauen, das der Sowjetunion entgegengebracht wird, nicht schwinden lassen. Da die Politik des Kreml nicht berechenbar ist, stellt man sich im Ausland vielfach auf alle Eventualitäten ein, also auch auf den Fall einer Verhärtung. Der Staatssicherheitsdienst, der unter Chruschtschow desorganisiert wurde, ist inzwischen konsolidiert worden und hat wieder einen Platz im sowjetischen Herrschaftssystem gefunden. Seine Macht wird allerdings von der Partei gezügelt.

Die KPdSU hat die Schreckstarre aus der Zeit des Stalinismus überwunden. Ihre höchsten Körperschaften dürften einen klarer umrissenen Kompetenzbereich besitzen als jemals zuvor. Die Mitsprache auf den unteren Ebenen der Hierarchie scheint zugenommen zu haben. * Wenn auch die Eindämmung der Entstalinisierung mit allen ihren unerwünschten Nebenwirkungen schon unter Chruschtschow begonnen hatte, lasten Dissidenten und Kritiker im Westen der Breshnew-Führung die Verantwortung für das Zurückdrängen vieler Reformen Akte „Stalin" an. Die wurde gewissermaßen geschlossen, bevor man auch nur einen Bruchteil des Anklagematerials geprüft hatte.

Die Dissidenten, die sich dagegen wehrten, daß die Partei zur Tagesordnung überging, bevor wenigstens die wichtigsten Reformen Wirklichkeit geworden waren, fanden nur eine geringe Resonanz. Die Mehrzahl der Bevölkerung und die politische Führung sahen offensichtlich keine Notwendigkeit oder Möglichkeit für tiefgreifende Veränderungen.

Im Augenblick dominiert in der Sowjetunion ein konservativer Grundzug, der auch die Breshnew-Ära überdauern könnte, falls sich die innenpolitische Situation nicht plötzich zuspitzt. Wir wissen allerdings nicht, ob nicht schon heute in der Gesellschaft oder in der Führung Kräfte am Werk sind, die über kurz oder lang ein Übergewicht nach dieser oder jener Seite erhalten. Die Zukunft ist offen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zur Auseinandersetzung mit der Totalitarismus-

  2. M. Falnod, Wie Rußland regiert wird, Köln 1965,

  3. Hierzu W. Rostow, Stadien wirtschaftlichen yachstums, Göttingen 1961. Zur Kritik z. B. Brze-inski/S. Huntington, Politische Macht. USA/-dSSR, Köln 1966 S. 449 ff.

  4. C. E. Black (Hrsg.), The Transformation of Russian Society, Cambridge, Mass. 1960. Einen Überblick über die verschiedenen Interpretationen bei H. -U. Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975. Hierzu A. von Borcke/G. Simon, Neue Wege der Sowjetunion-Forschung, S. 36 ff.

  5. E. Montale, Satura/Diario, München 1976, S. 55.

  6. Vgl. M. Morozow, Leonid Breshnew, Stuttgart 1973; J. Dornberg, Breshnew, München 1973; P. J.

  7. Hierzu die detaillierte Untersuchung von N. E. Rosenfeldt, Knowledge and Power, Kopenhagen

  8. W. Leonhard, Kreml ohne Stalin, Köln 1960, $. 55ff.

  9. H. Brahm, Das Nachfolgeproblem im sowjetischen Herrschaftssystem, in: Berichte des BfOst 34/1980, S. 25 ff.

  10. M. Tatu, Macht und Ohnmacht im Kreml, Berlin 1968, S. 402 ff.

  11. P. A Rodionow, Kollektivnost'-vysäij princip partijnogo rukovodstva, Moskau 1967, S. 219.

  12. SpravoCnik partijnogo rabotnika, vyp. 6, Moskau 1976, S. 2511.

  13. R. Medvedev/Zh. Medvedev, Khrushchev. The Years in Power, New York 19762.

  14. Hierzu B. Meissner, in: B. Meissner/G. Brunner (Hrsg.), Gruppeninteressen und Entscheidungsprozeß in der Sowjetunion, Köln 1975, S. 46.

  15. B. Meissner, a. a. O., S. 44.

  16. Sowjetunion 1978/79, München 1979, S. 18.

  17. Sowjetunion 1975/76, München 1976, S. 28. Sowjetunion 1978/79, S. 17.

  18. J. Hough/M. Fainsod, How the Soviet Union is Governed, S. 478.

  19. Zu diesen Auseinandersetzungen W. Leonhard, Kreml ohne Stalin; B. Meissner, Rußland unter Chruschtschow, München 1960; M. Tatu, Macht und Ohnmacht im Kreml.

  20. Sowjetunion 1973, München 1974, S. 30

  21. M. Voslensky, Nomenklatura, Wien 1980, S. 376 f.

  22. M. Agurskij, Klokouij vulkan, in: Russkaja mysl, 18. 9. 1980.

  23. M. Fainsod, Wie Rußland regiert wird, S. 497 ff. J. Hough hat in seiner Neufassung dieses Standardwerkes das Terrorsystem viel zu stiefmütterlich behandelt.

  24. R. Medvedev/Zh. Medvedev, Khrushchev, S. 19 f.

  25. amnesty international (Hrsg.), Politische Gefangene in der UdSSR, Frankfurt a. M. 1980, S. 116.

  26. Ein ganz „gewöhnlicher" Prozeß. Dr. Michail 195 vor seinen sowjetischen Richtern, Berlin

  27. Sowjetunion 1973, S. 25.

  28. amnesty international (Hrsg.), Politische Gefangene in der UdSSR, S. 7.

  29. G. Brunner, Das Parteistatut der KPdSU 1903- 1961, Köln 1965, S. 190.

  30. J. Hough/M. Fainsod, How the Soviet Union is Governed, S. 474 f.

  31. Die Rede in: Chruschtschow erinnert sich, Reinbek 1971, S. 529 ff.

  32. R. Medvedev/Zh. Medvedev, Khrushchev, S. 70.

  33. Chruschtschow erinnert sich, S. 553.

  34. XXII s-ezd KPSS, Bd. II, Moskau 1961, S. 2185,

  35. R. Medvedev/Zh. Medvedev, Khrushchev, S. 20.

  36. Zum Problem der Rehabilitierung L. Labedz, Resurrection and Perdition in: Problems of Commu. nism 1963, Nr. 2, S. 48— 59-, H. Brahm. Liquidieren und Rehabilitieren. Chruschtschows ungelöstes Problem, in: Die politische Meinung, 1964, Nr. 971 S. 23— 24.

  37. H. Hecker, 3 x Stalin, in: Osteuropa 1/1978, S. 50— 55.

  38. R. Medvedev, K sudu istorii, New York 1974. Eine deutsche Fassung erschien unter dem Titel: Die Wahrheit ist unsere Stärke, Frankfurt a. M. 1973.

  39. A. Solschenizyn, Der Archipel Gulag, Bd. 1- 3, Reinbek 1978.

  40. Hierzu H. Brahm, Die konservative Grundhaltung in der UdSSR, in: Berichte des BlOst 19/1981.

  41. Zur Rolle der Dissidenten P. Hübner, in: Sowjetunion 1978/79, S. 105- 117.

  42. Vgl. das Interview von H. Bienek mit A Sinjawskij, in: Die Zeit, 6. 2. 1981.

  43. A Sinowjew, Ohne Illusionen, Zürich 1979, S. 86.

Weitere Inhalte

Heinz Brahm, Dr. phil., geb. 1935 in Viersen; Wissenschaftlicher Direktor im Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln. Veröffentlichungen u. a.: Trotzkijs Kampf um die Nachfolge Lenins, Köln 1964; Pekings Griff nach der Vormacht, Köln 1966; Der Kreml und die CSSR 1968— 1969, Stuttgart 1970; (Hrsg.) Opposition in der Sowjetunion, Düsseldorf 1972; Der sowjetisch-chinesische Konflikt, in: Osteuropa-Handbuch, Sowjetunion. Außenpolitik, Bd. 2, Köln—Wien 1976.