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ORT — „Hilfe zur Selbsthilfe" | APuZ 21/1982 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

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ORT — „Hilfe zur Selbsthilfe"

Norbert Jessen

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Als „Jüdische Vereinigung für Handwerk und Landwirtschaft“ (Obstschestwo Rasprostra-nenija Truda) wurde „ORT" 1880 im zaristischen Rußland gegründet Von Anfang an strebte die Organisation mit Erfolg eine Massenbasis beim Aufbau ihrer Mitgliederstruktur an. ORT sollte nicht ein weiterer Rahmen philanthropischen Mäzenatentums sein, sondern das Ziel war eine umfassende Veränderung und Verbesserung der Lebensmöglichkeiten für die russischen Juden. Nach den Revolutionswirren kam es 1921 in Berlin zur Gründung eines internationalen Hilfswerks und auch einer „ORT-Gesellschaft — Abtlg. Deutschland e. VAnderen Entwicklung — vom Finanzierungspartner für die „Hilfe an die ostjüdischen Bruder bis zum Hilfsempfänger in der Zeit des Nationalsozialismus und nach dem Zweiten Weltkrieg — lassen sich Anpassungs-und Aktionsfähigkeit des ORT-Programmes besonders deutlich aufzeigen. Heute ist ORT mit 800 Schulen und 120 000 Schülern in fast 30 Staaten die größte Berufsbildungsorganisation der Welt.

„Hilfe zur Selbsthilfe“ — dieses Lernziel aus der modernen Entwicklungspolitik war bereits vor mehr als hundert Jahren Leitmotiv für die Gründung der jüdischen Vereinigung für Handwerk und Landwirtschaft. Dem Versuch Alexanders fff. von Rußland, den jüdischen Bürgern ihre Existenzgrundlage zu nehmen, begegneten jüdische Organisatoren mit dem Plan, die Berufsstruktur der Juden von Grund aufzu ändern. Das Programm zur Verbreitung des Handwerks und der Landwirtschaft unter den Juden war eine Mischung aus philanthropischen Gedanken und Maßnahmen der Selbstwehr mit ethischer und sozialer Fundierung. Der Gründung von ORT (Obstschestwo Rasprostranenije Truda) im Jahre 1880 folgte 1921 in Berlin die Gründung eines Internationalen Hilfswerks, das eben-

ORT-Rußland

Von zahlreichen Berufen und aus der Landwirtschaft seit Jahrhunderten ausgeschlossen und auf bestimmte Siedlungsbereiche beschränkt, kam es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer wachsenden Verelendung unter den russischen Juden. Die Klein-handwerker und Kaufleute des jiddischen „Städtl" — das heute vielen romantisch verklärt als „Anatevka" -Idylle erscheint — waren mit die ersten Opfer der beginnenden Industrialisierung Osteuropas.

Beeinflußt durch ältere romantische Ideen, vor allem aber auch durch die immer mehr an Popularität gewinnende Lehre vom Sozialismus, war der Grundgedanke einer „Produktivierung" der jüdischen Massen schon seit Jahrhunderten bekannt. Aber erst 1880 fanden sich die Persönlichkeiten und die historische Gelegenheit zur Verwirklichung dieser Idee; die treibende Kraft war dabei der Petersburger Arzt Professor Dr. Nikolay Bakst. Als Angehöriger der zahlenmäßig noch schwachen jüdischen Intellektuellen-Elite erkannte er die Notwendigkeit einer organisierten Form moderner jüdischer Erziehung. Diese sollte die Grundlage des notwendigen sozialen Wandels für die verelendeten „jüdischen Massen" sein. Der populäre Arzt wußte seine Verbindungen zur Förderung seiner Idee zu nutzen. Unter dem vergleichsweise liberalen Regime des Zaren Alexander II. wurde — anläßlich seines 25. Krönungsjubiläums — die Gründung eines jüdischen Hilfsfonds gewährt. Ein Spenden-aufruf in einem Rundbrief an alle jüdischen falls unter der Akürzung ORT arbeitete und inzwischen zum größten Berufsbildungswerk der Welt herangewachsen ist. ORT ist auch heute noch eine jüdische Hilfsorganisation, deren Hilfe jedoch nicht mehr ausschließlich jüdischen Projekten zukommt. Die Erfahrung im beruflichen Bildungswesen wird verstärkt in der internationalen Entwicklungshilfe eingesetzt. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der stürmischen Entwicklung und der wechselvollen Geschichte dieser Organisation, die heute 800 Schulen mit 120000 Schülern in 30 Staaten in aller Welt besitzt. Bei der Gestaltungihres Programms für 90 Berufs-und Handwerks-zweige hält sich ORTnoch immer an die gleichen Grundsätze, die ihre russischen Gründer vor über 100 Jahren prägten.

Gemeinden des Zarenreiches kann als Gründungsdokument der ORT-Gesellschaft gelten. Darin heißt es: „Die Unterzeichnenden sind der Meinung, daß unter den zahlreichen Bedürfnissen der Masse unserer Glaubensbrüder den ersten Platz der Mangel an handwerklichen und landwirtschaftlichen Berufen einnimmt." Das Dokument hatten außer Samuel Poliakov, der russische Eisenbahnkönig, der persönlich die Gründung des Hilfsfonds beim Hof erbat, auch Baron Horatio von Gunzburg, Abram Sak, Leon Rosenthal und Mir Friedland unterzeichnet, alle reiche russische Bankiers bzw. Industrielle. Schon nach wenigen Wochen zeigte das Echo auf diesen Rundbrief, daß von einer üblichen Mäzenatenrolle der fünf Gründungsmitglieder nicht die Rede sein konnte. In zwei Monaten brachten 12 457 unbekannte Spender zusammen 204 000 Rubel auf, während die größte Einzelspende (von S. Poliakov) 25 000 Rubel betrug. Bei dieser ersten Sammelaktion kamen insgesamt 500 000 Rubel zusammen. In einer Zeit, in der Juden weitgehend vom staatlichen Erziehungswesen ausgeschlossen waren, zeigte sich zum ersten Mal deutlich das Verlangen der jüdischen Bevölkerung nach modernen Erziehungsmethoden und Entwicklungsmöglichkeiten.

Dabei ging es inzwischen weniger um ein Streben nach höheren geistigen Werten, sondern ums nackte überleben. Wenige Monate nach der Gründung des Fonds war Alexander II. durch ein Bombenattentat ums Leben gekomB men und sein Nachfolger beendete abrupt alle zaghaften Liberalisierungsversuche. Das Grundbesitzverbot für Juden wurde erneuert und Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung fanden erneut staatliche Duldung. In dieser Zeit begann die jüdische Massenauswanderung in die Vereinigten Staaten, aber auch — obwohl von den Zeitgenossen kaum beachtet — die Auswanderung nach Palästina.

So wurde gleich zu Beginn eine planmäßige Entwicklung der ORT-Aktivitäten behindert und — wie später noch so oft — die direkte Krisenhilfe zur vordringlichsten Aufgabe. Im Rahmen des Möglichen mußte versucht werden, tausenden Familien wieder eine Existenzmöglichkeit zu verschaffen. ORT spannte kurzfristig die bereits bestehenden Schulen, die zum Teil religiös ausgerichtet waren, in sein Hilfsprogramm ein. Umschulungskurse für jüdische Kleinhandwerker sowie Finanzierungshilfen und Geschäftsberatung bei der Errichtung neuer Handwerksbetriebe erwiesen sich als besonders wirkungsvoll. Trotz der Beschränkungen und des Improvisationszwanges führten die wachsenden Bedürfnisse der unterdrückten jüdischen Minderheit zu einem Anwachsen der ORT-Tätigkeit.

Die Krisenzwänge der ersten ORT-Jahre sorgten auch dafür, daß ORT von allen innerjüdischen Ideologiekonflikten unbeeinflußt blieb. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es keinen Mangel an solchen Konflikten unter den russischen Juden. Wie wenig dies die ORT-Be-mühungen behinderte, zeigt sich vor allem darin, daß sich traditionell ausgerichtete religiöse Schulen den von ORT getragenen Modernisierungsbestrebungen öffneten. Der russische Antisemitismus und seine Pogrome führten dazu, daß sich die ORT-Leitung niemals bewußt kämpferisch antireligiös gab, obwohl eine solche Haltung unter den jüdischen Intellektuellen weit verbreitet war. Ebensowenig kam es jedoch zu einer religiösen Verbrämung des ORT-Programms.

Die ORT-Gesellschaft wurde von den reichen jüdischen Finanziers unterstützt, ohne daß dies sozialistische jüdische Kreise davon abgehalten hätte, ORT gegenüber eine positive Haltung einzunehmen. Eine solche direkte Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Gruppen im Rahmen anderer jüdischer Bewegungen ist nicht bekannt.

Den Zeitgenossen mag ein anderer beginnender Konflikt kaum aufgefallen sein, doch überrascht aus heutiger Sicht ganz besonders die Zusammenarbeit zwischen Zionisten und Antizionisten, die unter dem ORT-Dach einträchtig nebeneinander saßen. Unter diesen Voraussetzungen entwickelte ORT bis zum

Jahre 1913 seinen erzieherischen Pioniergeist in dreizehn osteuropäischen Städten.

Nach der ersten russischen Revolution 1905 kam es zur Aufhebung der Niederlassungsbeschränkungen für die Juden in Rußland. Die verstärkte Flucht aus dem Städtl-Ghetto in die Metropolen führte zu einer zunehmenden Proletarisierung der jüdischen Minderheit. Für ORT boten sich verbesserte Arbeitsmöglichkeiten, aber auch neue Aufgaben. Der „Hilfsfonds" konnte sich als ein ordentlicher Verein organisieren. Zum ersten Male wurden Grundlagenforschungen über die eigentliche Lage in den verschiedenen Wirtschaftszweigen durchgeführt, d. h., es wurden Prognosen zur Marktsituation und Arbeitsmarktentwicklung angefertigt als Voraussetzung für eine modernisierte Ausrichtung der ORT-Aktivitäten.

Jetzt ging es nicht mehr um Krisenimprovisa»tion und Anschlußsuche an die umliegende Gesellschaft, sondern um die Errichtung von Berufsbildungsinstitutionen, die zu qualifizierten Abschlüssen verhalfen: In Wilna wurden Kurse zur Elektrikerausbildung durchgeführt und die ersten Automechaniker in St. Peters-burg ausgebildet. In traditionellen jüdischen Handwerkszweigen wie Schreiner, Kesselschmied und Schuhmacher wurden Fortbildungskurse eingerichtet, die das Produktionsniveau in diesen Bereichen durch gezielte Modernisierung anhoben.

ORT entwickelte ferner die Idee von Kooperativbetrieben jüdischer Handwerker weiter, in denen Ansätze zu einer modernen Massenproduktion mit den notwendigen Qualitätskontrollen enthalten sind.

Dieser erste „Höhenflug" fand 1914 durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges ein jähes Ende. Die jüdische Bevölkerung Litauens, Galiziens und der Ukraine galt als „deutscher Kulturträger" und wurde der Kollaboration mit dem deutschen Feind verdächtigt. Die Folge war eine umfassende Zwangsevakuierung. Wieder mußte ORT seine langfristigen Entwicklungspläne beiseite legen, um sich im Kriseneinsatz zu betätigen. Doch auch noch im Rahmen der einsetzenden Flüchtlingshilfe bemühte man sich um die Einhaltung des Grundsatzes „Hilfe zur Selbsthilfe"; kurzfristige Arbeitsbeschaffungsprogramme wurden entwik-kelt.

Durch die gezielte Anwendung der gesammelten Erfahrungen, aber auch mit Hilfe von Improvisation wurde über die Einrichtung von 72 Registrierstellen für 60 000 Flüchtlinge ein Hilfssystem geschaffen, das Arbeitsvermittlung, Umschulungskurse und Schnellehrgänge in verschiedenen Berufszweigen umfaßte. Ebenso stand die Errichtung von Kooperativ-werkstätten, Armenküchen und die Einführung von Finanzierungshilfen und Waisenbetreuung auf dem Programm. Dabei stiegen die Ausgaben von 68 000 Rubel im Jahre 1914 auf 541 000 Rubel im Jahre 1916.

Schlimme Folgen brachte der russische Bürgerkrieg zwischen 1917 und 1921 für die jüdische Minderheit. Allein in der Ukraine fanden 150 000 Juden durch die Pogrome der Weißen Armee den Tod. Insgesamt fielen zehn Prozent der jüdischen Bevölkerung diesen Massenmorden zum Opfer; 28 Prozent wurden obdachlos. ,

Zudem beraubten die langanhaltenden Kriegsjahre ORT seiner Finanzgrundlage, da die Juden Rußlands die steigenden Ausgaben allein nicht mehr tragen konnten. Neben dem Spendenrückgang kam es nach dem kommunistischen Sieg auch zu finanziellen Beschränkungen für ORT. Doch im Gegensatz zur überwiegenden Mehrheit der vorrevolutionären Organisationen, die sofort verboten wurden, konnte ORT Weiterarbeiten. Der Nutzen der Organisation wurde auch von den Kommunisten zunächst anerkannt; sie erzwangen nur eine personelle Umbildung der Leitung, in die den Kommunisten genehme Persönlichkeiten gewählt werden mußten.

Gründung des Weltverbandes

Bereits während des Ersten Weltkrieges und dem nachfolgenden Bürgerkrieg wandte sich ORT angesichts der drastischen Ausgaben-steigerung um Hilfe an die Juden im Ausland. Vor allem unter den zahlreichen russisch-jüdischen Emigranten, die in Westeuropa und den USA eine neue Heimat gefunden hatten, stieß dieser Hilferuf auf ein positives Echo. In diesen Kreisen war man noch mit den Nöten der alten Heimat vertraut.

Die Gründung neuer Staaten in Osteuropa auf früherem russischen Gebiet und die Erweiterung Polens führten ebenfalls dazu, daß sich die ORT-Aktivitäten plötzlich über die russische Staatsgrenze hinweg erstreckten. Dieser unerwarteten „Internationalisierung“ der ORT-Aktivitäten folgten koordinierte Bemühungen um eine Verstärkung der Auslandsbeziehungen. Im Jahre 1919 unternahm eine Delegation des russischen ORT-Zentralkomitees eine Rund-reise durch Westeuropa. In Paris, London, Manchester, den skandinavischen Hauptstädten, Berlin, Leipzig und Danzig entstanden lokale ORT-Komitees.

Zunächst handelte es sich dabei nur um Unterstützungsvereine für die ORT-Arbeit in Osteuropa. Den ersten Anstößen früherer russisch-jüdischer Emigranten folgte bald auch ein verstärktes Interesse der westeuropäischen jüdischen Organisationen für die besondere Selbsthilfestruktur der ORT-Gesellschaft, weil die besonderen Erfahrungen und Erfolge dieser Organisation Eindruck gemacht hatten.

Im Sommer 1921 fand in Berlin die erste Konferenz aller ORT-Gesellschaften aus den verschiedensten Teilen Europas statt. Aus der Sowjetunion traf aus technischen Gründen nur ein Delegierter ein. Die meisten Vertreter entsandten die ORT-Gesellschaften aus Polen, Li-tauen, Lettland und Rumänien — den traditionellen ORT-Gebieten des früheren Zarenreiches. Der ORT-Weltverband, der auf dieser Berliner Konferenz gegründet wurde, sah immer noch in Osteuropa sein wichtigstes Tätigkeitsfeld. Die Juden Osteuropas lebten im Vergleich zu anderen jüdischen Gemeinden in aller Welt weiterhin in sehr beengten Verhältnissen. Von Anfang an dachte man jedoch auch an eine eventuelle geographische Ausweitung des Aktivitätenbereiches. So kam es schon bald zu ersten Kontakten mit südamerikanischen Gemeinden und zu Erkundigungen nach deren besonderen Bedürfnissen. Doch blieb zunächst Osteuropa das größte und zugleich problematischste Arbeitsfeld. In der Sowjetunion entwickelte sich dabei in den frühen zwanziger Jahren eine verstärkte Orientierung auf den Agrarbereich. Allein in der Ukraine wurden 112 161 Juden registriert, die in den Städten kein Auskommen fanden und sich in der Landwirtschaft eine neue Existenz aufbauen wollten. So bestand die erste Aktion des 1922 gegründeten ORT-Verbandes der USA in der Entsendung von 100 Eisenbahnwaggons mit Saatgut und landwirtschaftlichen Maschinen.

Auch auf der Krim und in Biro-Bidjan entstanden neue landwirtschaftliche Siedlungen. Hier versuchte man, im Rahmen der neuen kommunistischen Minderheitenpolitik ein jüdisches Autonomie-Gebiet zu errichten. Stufenweise sollte es zu einer Umsiedlung der Juden nach Biro-Bidjan kommen, wo Jiddisch zur Amtssprache wurde. Diesem Versuch einer „territorialen Lösung" der Judenfrage in der Sowjetunion wurde von Stalin ein Ende gemacht. ORT kümmerte sich im Rahmen dieses Aufbauwerks nicht nur um die landwirtschaftliche Entwicklung, sondern um die gesamte Infra-B Struktur — vom Saatgut bis zu den Werkstätten für landwirtschaftliche Maschinen, vom Wohnungsbau bis zum Generator für die Stromversorgung. Als Stalin 1938 die ORT-Ge-Seilschaft verbot und ihre Führer nach Sibirien verschleppen ließ, verloren 4 000 jüdische Haushalte in der Sowjetunion ihre wichtigste Finanzhilfe.

Auch in den anderen osteuropäischen Staaten war die Lage der Juden von Krisen überschattet. In Polen gab es nur wenig jüdische Beamte oder Juden mit anerkanntem Berufsschulabschluß. Da nur Polnisch als Unterrichtssprache an den staatlichen Berufsschulen anerkannt war, wurde die jüdische Minderheit sprachlich benachteiligt. ORT machte sich daher an den Aufbau eines eigenen Berufsschulsystems mit Jiddisch als Lehrsprache (über das Jiddische haben sich technische Bezeichnungen aus dem Deutschen sogar in die hebräische Umgangssprache eingeschlichen. Im damals polnischen Wilna wurde 1921 überdies eine Technische Hochschule durch ORT eingerichtet.

Die Gründung der polnischen „Handwerkerinnung“ im Jahre 1925 war eine offen antisemitische Maßnahme. Da die Aufnahmeprüfungen ausschließlich in Polnisch erfolgten, waren etwa 100 000 jiddisch sprechende Kleinhandwerker plötzlich von einem Berufsverbot betroffen. ORT sorgte in Schnellkursen für eine fortbildende Berufsausbildung der Betroffenen zusammen mit einer sprachlichen Vorbereitung auf die polnische Prüfung. Dazu kamen Kredithilfen und die Einrichtung moderner Werkstätten im Kollektivrahmen.

Die fortschrittliche ORT-Berufsausbildung machte sich schon bald einen Namen. Technische Kurse wurden von jungen Leuten besucht, die bereits einen akademischen Ausbildungsabschluß hatten. Bis zum Kriegsausbruch 1939 erhielten 500 000 polnische Juden eine ORT-Ausbildung. Dann machte der gemeinsame Überfall der Nationalsozialisten und der Roten Armee diesem Abschnitt der ORT-Arbeit in Osteuropa ein Ende.

ORT-Gesellschaft — Abteilung Deutschland e, V.

Als im Sommer 1921 der ORT-Weltverband in Berlin gegründet wurde, kam es zugleich auch zur Gründung einer „ORT-Gesellschaft Abteilung Deutschland e. V.". Die deutsche Sprache, seit jeher die Verbindungssprache der Juden Ost-und Westeuropas, wurde neben Russisch und Jiddisch zur wichtigsten Sprache des ORT-Weltverbandes. In Berlin, dem Gründungsort des Weltverbandes, befand sich auch dessen Zentrale, zusammen mit dem Sitz der deutschen ORT-Gesellschaft, die sich sofort nach ihrer Gründung zum wichtigsten örtlichen ORT-Verband entwickelte.

Schon seit Jahrhunderten war die geographische Lage Deutschlands bestimmend für die engen Verbindungen zwischen den Juden in Deutschland und ihren Glaubensbrüdern in Osteuropa. Im Mittelalter waren es die „aschkenasischen" Juden Mitteleuropas, die blutig verfolgt nach Osteuropa flüchteten. In der Neuzeit kam es zu Fluchtbewegungen in die entgegengesetzte Richtung. Im 19. Jahrhundert war Deutschland die Zwischenstation auf der Emigration in die USA. Nicht wenigen dieser Flüchtlinge gelang es auch, in Deutschland Fuß zu fassen. So entwickelte sich eine traditionelle Hilfsbereitschaft der jüdischen Gemeinden Deutschlands gegenüber den verfolgten Juden Osteuropas, an die die ORT-Gesellschaft anknüpfen konnte. Das ORT-Pro-gramm stieß dabei auf ein besonders reges Interesse. Hier erwies sich das ökonomische Ziel produktiver Hilfe im Gegensatz zu den rein karitativen Absichten anderer Hilfsorganisationen als besonders attraktiv. Schon lange vor der ORT-Gründung mehrten sich die Stimmen innerhalb der jüdischen Gemeinden, die vor einer Überheblichkeit der deutschen Juden warnten, die in den „Ostjuden" oft nur noch verelendete Objekte der eigenen Hilfsfähigkeit sahen, über ORT hingegen wurde das Ziel einer umfassenden gesellschaftlichen Modernisierung dieser zahlenmäßig stärksten jüdischen Bevölkerungskonzentrationen in der Welt angestrebt. Kritische Beobachter waren sich schon damals darüber im klaren, daß nur eine Sicherung der Lebensgrundlagen des osteuropäischen Judentums letztlich auch das überleben der Juden in den westeuropäischen Industriestaaten sichern konnte. Darauf wies u. a. auch Albert Einstein hin: „Die Arbeit des ORT bedeutet ein für die Fortexistenz des jüdischen Volkes lebenswichtiges Unternehmen, dessen Stützung Pflicht eines jeden Juden ist. Jeder muß sich aufs Eindringlichste vor Augen halten, daß das Ansehen der Judenheit überhaupt von der sozialen und wirtschaftlichen Gesundung der jüdischen Massen in Osteuropa unmittelbar abhängig ist.“

In deutschen Städten entstanden über 75 lokale ORT-Gesellschaften. Alfred Döblin und Albert Einstein gehörten ebenso wie der Sozialist Eduard Bernstein zu den ORT-Förde-rern, ferner zionistische Aktivisten, Reichs-27 tagsabgeordnete, Bankiers, Industrielle und Rabbiner aller Richtungen — vom orthodoxen bis zum liberalen Judentum.

Während man in Osteuropa jedoch bestrebt war, eine Massenbewegung mit fest umrissenen sozio-ökonomischen Zielen zu errichten, verstand sich ORT in Deutschland nicht als „Bewegung", sondern als „Gesellschaft", nicht als „Organisation der Massen", sondern als „Organisation für die Massen" — wie es der polnische ORT-Präsident Silberfarb in einer Ideologiediskussion kritisch betonte.

Zu einer solchen Debatte um den ideologischen Rahmen der ORT-Arbeit kam es erst gegen Ende der zwanziger Jahre, nach fast fünfzig Jahren praktischer Arbeit. Verursacht wurde sie durch die wachsende Internationalisierung, die die Homogenität innerhalb des ORT-Rahmens gefährdete. Gegen die Position Silberfarbs bezog der spätere langjährige Präsident des Weltverbandes, Dr. Aron Synga-lowski, Stellung, damals einer der russischen Juden im internationalen ORT-Direktorium. Zwischen den beiden Weltkriegen lebte Syngalowski lange Jahre in Deutschland. Er betonte als allgemeines Ziel die „Erlösung" des jüdischen Volkes durch eine Vermehrung seiner handwerklich und landwirtschaftlich ausgebildeten Individuen. Durch dieses Programm sollte sich ORTvon den zahlreichen jüdischen Hilfsorganisationen abheben, die in den verschiedensten Bereichen „Dienstleistungen“ als „Lösung" von Einzelproblemen ohne Plan für die Erlösung anboten.

Dieser pragmatischere ideologische Entwurf Syngalowskis war es, der in den „Spendenländern" auf starke Sympathien stieß. Auch in Deutschland erkannte man, daß ORT den üblichen philantropischen Rahmen sprengte — dachte dabei jedoch an Osteuropa. Kaum jemand unter den Förderern von ORT ahnte damals, daß die Juden in Deutschland selbst schon bald ORT als Empfangende gegenüber stehen würden.

Nach 1933 — in Deutschland

Der Aufstieg Hitlers zur Macht überraschte ORT in Deutschland wie alle anderen jüdischen Organisationen (mit Ausnahme begrenzter Kreise innerhalb der zahlenmäßig nicht besonders starken zionistischen Organisationen). Es war jedoch bezeichnend, daß sich ORT schon früh auf die veränderten Lebensbedingungen einstellte. Unter der Leitung von Dr. Wilhelm Graetz und David Klemento-nowsky rückten jetzt die eigenen Sorgen in den Mittelpunkt der ORT-Arbeit in Deutschland. Sieben Kurse zur beruflichen Umschulung wurden noch im Jahre 1933 eingerichtet, darunter Kurse für Schreinerarbeiten und Kfz-Mechanik. Kursteilnehmer waren etwa 200 Ärzte, Rechtsanwälte und Beamte, die aus ihren Ämtern vertrieben worden waren.

ORT arbeitete pragmatisch mit allen anderen jüdischen Organisationen zusammen. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie sich wie der „Zentralausschuß für Hilfe und Aufbau" durch Selbsthilfe um eine Lösung bemühten oder, wie der „Hilfsverein" bzw. das „Palästina-Amt“, für die Emigration eintraten.

Hierbei konnte es nicht bei ersten Sofortreaktionen auf die sich zusehens verschlechternden Bedingungen bleiben. Schon bald waren auch die Heranwachsenden von antijüdischen Willküraktionen betroffen. Seit 1934 wurden Gruppen jüdischer Jugendlicher, die in Deutschland vom weiterbildenden Schulbesuch ausgeschlossen waren, nach Osteuropa evakuiert. Der ORT-Weltverband, der seinen Sitz mittlerweile von Berlin nach Paris verlegt hatte, half so über seine osteuropäischen Einrichtungen. Die traditionellen „Nehmer" wurden den früheren Spendern gegenüber zu „Gebern“. 150 jüdische Jungen aus Deutschland fanden in der Internatsschule Kaunas Aufnahme, andere Gruppen wurden in den litauischen ORT-Schulen von Ongarina und Kalinovo untergebracht. Auch im lettischen Liebau wurden deutsche Jugendgruppen untergebracht. Für die steigende Zahl jüdischer Emigranten aus Deutschland, später auch aus Österreich und der Tschechoslowakei in die baltischen Staaten mußten ebenfalls Hilfsprogramme entwickelt werden. Ganze Familien wurden in Litauen nach landwirtschaftlichen Schnellkursen in Bauernkooperativen angesiedelt. Aber nicht alle konnten — oder wollten — emigrieren. Die Zahl der jüdischen Schüler, die vom Schulbesuch ausgeschlossen wurden, nahm immer mehr zu. Auch der Bedarf an Umschulungskursen für Erwachsene stieg beständig. Deshalb wurde 1937 in Berlin eine ORT-Schule gegründet, die tagsüber jugendlichen Schülern offenstand und in den Abendstunden zur Erwachsenenfortbildung und -Umschulung benutzt werden konnte. Der britische ORT-Verband übernahm die finanzielle Förderung. Diese internationale Patenschaft schützte sie vor den Ausschreitungen der Reichspogromnacht von 1938, in der andere jüdische Einrichtungen und Institutionen fast ausnahmslos vernichtet wurden. Nur wenige Tage vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges konnten 1939 die 100 jugendlichen Schüler dieser Schule mit einem Teil des Lehrpersonals nach England evakuiert werden. Die Nazis untersagten die Mitnahme der technischen Einrichtungen entgegen einer ersten Abmachung, was die Evakuierung beinah noch im letzten Moment hätte scheitern lassen. Schüler und Lehrer fanden in Leeds ein neues Zuhause, wo sie den Kern einer neuen ORT-Schule bildeten.

Die Berliner Schule schaffte es erstaunlicherweise auch noch in den ersten Kriegsjahren, die Umschulungskurse für Erwachsene weiterzuführen. 1941 kam es zur „Eingliederung der ORT-Gesellschaft in die . Reichsvereinigung der Juden in Deutschland"', die von Adolf Eichmann persönlich verfügt wurde.

Dies war die beschönigende Umschreibung für die Auflösung des eigenständigen ORT-Rah-mens als eingetragener Verein. Doch blieb die praktische Tätigkeit der ORT-Schule in Berlin dadurch unbeeinflußt. Erst 1943 hörte die Berliner Schule endgültig auf zu existieren. Dazu war jedoch mehr als eine schriftliche Verfügung aus dem Reichsinnenministerium notwendig. Ein Augenzeuge: „Am 10. Juni 1943 besetzte um 10. 00 Uhr morgens eine SS-Mannschaft in voller Kampfausrüstung das Schulgebäude. Alle Anwesenden, etwa 100 Personen, mußten im großen Saal antreten. Jedem wurden die Ausweispapiere abgenommen. Nur sehr wenige von uns wurden freigelassen. Der Rest wurde sofort nach Auschwitz deportiert. Drei wurden nach Theresienstadt gebracht."

ORT-Flüchtlingshilfe in aller Welt

1939 mußte der ORT-Weltverband seinen Sitz von Paris nach Vichy und kurze Zeit später dann nach Marseille verlegen. Von dort aus zog er nach Genf um, wo er bis heute ansässig ist. Im gleichen Jahr bildete sich in New York ein Krisenkomitee, das sich vor allem mit der Finanzierung der sprunghaft steigenden Ausgaben befaßte. Die eigentliche Planung und Durchführung der Hilfsmaßnahmen wurden vom Direktorium in Europa organisiert.

Wo immer jüdische Flüchtlinge in aller Welt Aufnahme fanden — ORT zog mit ihnen. Mitte der dreißiger Jahre war es zur schrittweisen Internationalisierung der ursprünglich russischen Organisation gekommen. Ende der dreißiger Jahre, als in Europa die Arbeit nur noch unter schwersten Bedingungen möglich war, konnte man ORT bereits in allen Erdteilen der Welt antreffen.

ORT-Schulen entstanden in Genf, New York, Rio de Janeiro, Buenos Aires, Montevideo, Havanna und sogar in Schanghai, wo etwa 20 000 jüdische Flüchtlinge aus Mitteleuropa Aufnahme gefunden hatten. Das ORT-Hilfspro-gramm umspannte jetzt die ganze Welt; der Unterschied zwischen Geber-und Nehmer-ländern verwischte sich. Sogar in den USA mußten Umschulungskurse für jüdische Neu-einwanderer eingerichtet werden. Allein in New York konnten 22 000 Emigranten auf eine neue Existenz vorbereitet werden.

Im Ghetto In den osteuropäischen Ghettos blieb ORT bis zu deren Zerstörung aktiv, teilweise von den Nazis geduldet, die sich von einer Berufsausbildung wirksamere Ausbeutungsmöglichkeiten der jüdischen Zwangsarbeiter verspra-chen. Im Untergrund konnten die eng gesetzten Beschränkungen sogar durchbrochen werden. In Warschau, Kaunas, Lodz und den kleineren Ghettos erhielten Tausende jüdischer Jugendliche eine Berufsausbildung und damit eine größere Chance, als „verwendbare Arbeitskraft" zu überleben.

Ein sprechenderes Beispiel für die ORT-Tätig-keit als dieses Ausbildungsprogramm in den Ghettos gibt es nicht: Selbsthilfe zur Besserung der unmenschlichsten Lebensbedingungen, moralische und geistige Hilfe an Tausende von Heranwachsenden ohne Zukunft — bis hin zum heldenhaften gewaltsamen Widerstand der letzten Ghetto-Tage in Warschau.

Nach dem Krieg Das Ausmaß der industriell organisierten Massenvernichtung wurde erst nach dem Sieg über Nazi-Deutschland deutlich. ORT stand vor der gänzlichen Vernichtung des bisher Geschaffenen in Europa. Neue Aufgaben stellten sich ohne jeden Übergang: In den Todeslagern hausten die „wandelnden Toten“ — bis aufs Skelett abgemagerte überlebende der Todes-maschinerie. Bald stellte sich heraus, daß ihre Rückkehr in die früheren Wohnorte unmöglich war. überlebende Juden, die es nach Kriegsende wagten, ihre früheren Häuser in polnischen Ortschaften aufzusuchen, wurden von den neuen Insassen brutal ermordet oder vertrieben. Die große Mehrheit der Juden zeigte auch keine Bereitschaft, wieder an die alten Wohnsitze im „Massengrab Europa" zurückzukehren. Man war nicht bereit, den Nazi-Terror als historisches Zwischenspiel zu betrachten. Der neue Lebenswille war auch der Wille für ein neues Leben. Wenige Monate nach Kriegsende kam ein Untersuchungsausschuß zu dem Schluß, daß die große Mehrheit der europäischen Juden, die überlebt hatten, nur ein Ziel kannte: die Auswanderung nach Israel.

270 000 „displaced persons" — heimatlose Juden aus allen Teilen Europas — befanden sich 1947 noch immer in den alten Konzentrationslagern Deutschlands, Österreichs und Italiens. Das Problem in diesen „DP-Camps" war nun nicht mehr der Kampf ums nackte überleben, die Jagd nach einem Stück Brot, sondern das Warten auf ein Visum — oder auf eine Gelegenheit, illegal die Reise in das britische Mandatsgebiet Palästina wagen zu können. Auch in dieser Situation konnte ORT helfen. ORT schaffte es, der Wartezeit eine sinnvolle Bedeutung zu geben — durch die gezielte Vorbe-

Israel

Nach der Gründung des Staates Israel erfolgte die schrittweise Auflösung der ORT-Arbeit in den DP-Lagern. Der letzte Kurs auf deutschem Boden endete 1956 in Föhrenwald bei München. Nachdem ORT jahrzehntelang nur indirekt am zionistischen Aufbauwerk beteiligt war — unter den Einwanderern waren zahlreiche ORT-Absolventen —, kam es 1949 zur Gründung der ersten ORT-Schule in Israel.

Den Kern dieser ersten ORT-Schule in Jaffo bildete der Lehrstab der früheren ORT-Schule in Sofia, der nach dem ORT-Verbot in Bulgarien geschlossen nach Israel auswanderte.

ORT änderte nicht seine unzionistische Grundausrichtung, die jedoch niemals antizionistisch war. Der Sitz des Weltverbandes blieb weiter in Genf, doch erkannte man, daß der Judenstaat eine zentrale Bedeutung für das ORT-Programm erhalten hatte. In den ersten Jahren nach der Gründung Israels, als sich die Bevölkerung dort durch die Masseneinwanderung aus aller Welt vervielfachte, war diese ORT-Hilfe (über-) lebensnotwendig.

In Israel bestand bereits ein gewerkschaftliches Berufsbildungsnetz. ORT konzentrierte sich daher auf den neuen Bereich der Ausbil-

ORT in aller Welt

Das ORT-Hilfsprogramm für jüdische Flüchtlinge in aller Welt aus den Jahren des Zweiten Weltkrieges bildete die Grundlage für das heutige ORT-Weltprogramm. Israel entwikkelte sich dabei zu einem Schwerpunkt, ist jedoch bei weitem nicht der einzige Empfänger-staat. Es gibt ORT-Schulen in Frankreich, Italien und Südamerika bis zum heutigen Tag. In den Schulen von ORT werden heute Schüler aller Konfessionen aufgenommen. reitung für die Einwanderung nach Palästina. So wurde Deutschland in diesen ersten Nachkriegsjahren erneut Zentrum der ORT-Aktivi-täten. Bereits 1945 organisierten ORT-Lehrer aus Litauen im Lager Landsberg den ersten Berufsbildungskurs. Im Dezember 1945 folgte ein ähnlicher Kurs in Bergen-Belsen. ORT wurde die behördlich anerkannte Berufsbildungsorganisation in den DP-Lagern. Maschinen und Lehrmaterial wurden angeschafft. Die Zahl der Kursteilnehmer auf deutschem Boden stieg von 1895 im Jahre 1945 auf 10 624 im Jahre 1947. Das Ausbildungsprogramm konnte schon nach wenigen Monaten auch auf die anderen Lager in Österreich, Italien und Südfrankreich ausgeweitet werden. Insgesamt nahmen 1947 über 22 000 Personen an 700 Kursen überall in Europa teil. düng von Einwanderern aus technologisch unterentwickelten Staaten Asiens und Afrikas. Bis heute steht Israel vor zahlreichen ungelösten Problemen als Folge der Masseneinwanderung aus den moslemischen Ländern. Viele dieser Probleme konnten gelöst werden, ohne daß es bis heute möglich war, vermeintliche und tatsächliche Benachteiligungen gegenüber dem sephardischen Bevölkerungsteil Israels aus der Welt zu schaffen. ORT erkannte die gesellschaftliche Brisanz dieser Entwicklung schon früh und setzte sich mit diesem wohl wichtigsten gesellschaftlichen Problem des jungen Staates auseinander. Die größten und modernsten ORT-Schulen stehen heute in Tel Aviv, Natania und Jerusalem.

Von nicht geringerem Gewicht ist das zweite Problem, mit dem sich ORT in Israel auseinandersetzt — dem Verhältnis zur arabischen Minderheit. So wurden ORT-Fachschulen in arabischen Ortschaften wie Nazareth und Abu Gosh errichtet. Eine intensive Berufsausbildung ist in Jerusalem zu beobachten, wo im Osten der Stadt die Schulen mit Geldern des Deutschen Roten Kreuzes 1972 aufgebaut wurden.

ORT richtete in Nordafrika seine ersten Schulen ein, bevor dies in Israel geschah. Bereits während des Zweiten Weltkrieges kam es in Algerien zur Zusammenarbeit mit der französischen jüdischen Schulorganisation „Alliance Israelite Universelle", die im Bereich der Allgemeinerziehung tätig ist. In Algerien wurde 1961 nach der Unabhängigkeit die ORT-Arbeit verboten. Zur Einrichtung von ORT-Schulen in Tunesien und Marokko kam es 1950. Noch lange nach der Unabhängigkeit Tunesiens konnte ORT weiter als Schulträger fungieren, bis es im Jahre 1972 zur Schließung der letzten ORT-Schule in Tunis kam, die auch nicht-jüdischen Schülern offengestanden hatte. Die ORT-Schulen in Iran erfuhren in den letzten Jahrzehnten einen beispiellosen Aufstieg.

Zu neuen Ansätzen der ORT-Arbeit kam es zu Beginn der sechziger Jahre, als man die Arbeit auch in Staaten der Dritten Welt ohne jede jüdische Bevölkerung aufnahm. Im ORT-eige-nen Ausbildungszentrum für Berufschullehrer bei Genf wurden zunächst Entwicklungshelfer des amerikanischen Peace-Corps ausgebildet. Diese Zusammenarbeit mit der „American Agency for International Development" weitete sich zusehens aus. In ihrem Auftrag führte ORT 1961 eine Forschungsstudie über die Voraussetzungen eines Berufsbildungssystems mit acht afrikanischen Staaten durch. Anschließend leitete ORT auch selbst den Aufbau eines solchen Berufsschulnetzes in Conakry (Guinea), Bamako (Mali), Elfenbeinküste, Dahomey, Kamerun, Nigeria, Sierra Leone und Äthiopien. Erneut konnte ORT seine große Anpassungsfähigkeit beweisen. Das Lehrpro-In der Bundesrepublik Deutschland wurde 1958 die deutsche ORT-Gesellschaft mit Sitz in Frankfurt neu gegründet. Die Bundesrepublik gehört zu den Staaten, die ORT-Aktivitäten — vor allem in der Dritten Welt — finanzieren können. Vor allem die Zusammenarbeit mit den kirchlichen Hilfswerken „Brot für die Welt" und „Misereor" und dem „Deutschen Roten Kreuz" ist für ORT von Bedeutung. In den letzten Jahren verstärkten sich auch die Beziehungen zum Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit.

ORT ist dabei seinen alten Grundsätzen treu geblieben: als wichtigste Aufgabe gilt auch bei der Arbeit in über vierzig Staaten der Dritten Welt die Schaffung eines umfassenden Ausbildungssystems, das dann mit eigenen Lehrern die weitere Arbeit selbst tragen kann. Wie vor hundert Jahren gilt es „Hilfe zur Selbsthilfe" zu leisten.

Die Arbeit in den Entwicklungsländern, in denen ORT bereits mehr als 20 Jahre tätig ist, basiert auf einem tiefen Verständnis für die Menschen, mit denen man jetzt arbeitet, und auf den gesammelten Erfahrungen der vorausgegangenen 80 Jahre. Die damals gesetzten Ziele der Berufsausbildung, ein Ausbildungssystem in einem Land aufzubauen, in dem Eine der modernsten ORT-Schulen in Teheran führte sogar Kurse zur EDV-Ausbildung in Zusammenarbeit mit IBM durch. Aber die politische Entwicklung in diesem Land bereitete der ORT-Tätigkeit in Iran ebenfalls ein plötzliches Ende.

In Marokko kann ORT bis heute ungehindert arbeiten. Das größte Schulzentrum steht in Casablanca.

ORT und die Dritte Welt

gramm in diesen Ländern erforderte die Umstellung auf neue Bedingungen, die sich auch noch jeweils von Staat zu Staat unterschieden. So war man etwa in Guinea besonders an der Ausbildung von Minenexperten nach der Verstaatlichung des Bauxit-Abbaus interessiert. In Indien nahm ORT mit norwegischer Finanzierung an der Ausarbeitung eines Eingliederungsprogramms tibetanischer Flüchtlinge teil. Einundzwanzig afrikanische Staaten bildeten bis heute ihre Berufsschullehrer mit ORT-Hilfe aus. In Kenia wurde ein „Nationaler Jugenddienst" nach israelischem Vorbild unter ORT-Beratung errichtet. ORT nimmt an der Ausarbeitung von Lehrplänen im Rahmen des UN-Kinderfonds teil. ORT-Lehrwerkstätten gibt es heute im Tschad, in Gabun, der Zentralafrikanischen Republik und in der Republik Elfenbeinküste.

ORT-Deutschland heute

Menschen gut ausgebildete Handwerker werden, die später als Techniker verantwortungsvolle Positionen übernehmen können und aus deren Kreis wieder Administratoren hervorgehen sollen, sind auch heute noch gültig.

Technische Zusammenarbeit wird von ORT gegenwärtig in 20 Entwicklungsländern durchgeführt; ca. 150 technische Ausbilder führen mehr als 30 Projekte durch. Viele dieser heutigen Lehrer sind frühere ORT-Schüler, die das Lehrer-Technikum bei Genf absolviert und als Berufslehrer mehrjährige Erfahrungen gesammelt haben, bis sie in verantwortliche Positionen bestellt wurden.

Die ORT-Programme und -Projekte in der Dritten Welt werden von Regierungsstellen, multilateralen Fonds wie der Weltbank, der OECD, UNDP und gemeinsam mit privaten Betrieben gefördert.

So bemüht sich ORT aus seiner historischen Verpflichtung heraus immer wieder aufs neue darum, technisches und pädagogisches Wissen weiterzugeben, insbesondere an Entwicklungsländer, um dort eines der fundamentalsten menschlichen Rechte sichern zu helfen: das Recht, sich die Fähigkeit aneignen zu können, sein Brot zu verdienen.

Fussnoten

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Norbert Jessen, geb. 1950 in Duisburg; von 1973 bis 1977 Studium der politischen Wissenschaften und Geschichte in Köln und Tel Aviv; Redakteur der deutschsprachigen Tageszeitung „Chadaschoth Israel"; Freier Mitarbeiter mehrerer Zeitungen und Rundfunksender in der Bundesrepublik.