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Modernisierung und Stabilität in der Türkei Die türkische Krise — Chancen des Militärs | APuZ 21/1982 | bpb.de

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Modernisierung und Stabilität in der Türkei Die türkische Krise — Chancen des Militärs

Uwe-Jens Pasdach

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Zusammenfassung

Am 12. September 1980 übernahm zum dritten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg das türkische Militär die Regierungsgewalt angesichts des zunehmenden Verfalls der Staatsautorität. Dahinter verbirgt sich eine tiefgehende Krise der Türkei. In Abschnitt I werden diese Krise und ihre Ursachen dargestellt. Kemal Atatürks Revolution gelang gleichzeitig die sozio-ökonomische Modernisierung und die Schaffung einer stabilen politischen Ordnung. Vielfältige Wandlungsprozesse als Folgen der Modernisierung verbreiterten das ideologische Spektrum und schufen eine zunehmend instabile politische und soziale Lage — bis hin zu politischem Radikalismus, Terrorismus und Anarchie. Das Aufkommen eines extremen Nationalismus, des Islamismus und des Marxismus/Linksextremismus stellten die demokratische, nationalstaatliche und laizistische türkische Republik in Frage. Hinzu kam eine tiefgehende Zahlungsbilanzund Wirtschaftskrise. In Abschnitt II werden die politischen Ziele und die praktische Politik der neuen Militärregierung dargestellt. Das Militär betrachtet sich als Hüter des Staats und ergriff bereits zweimal (1960, 1971) die politische Macht, um sie bald wieder an das Parlament zurückzugeben. Die Korrekturkraft dieser Interventionen scheint abgenommen zu haben. Die Militärregierung vom September 1980 möchte daher tiefgreifendere Verfassungsreformen durchführen mit dem Ziel, die türkische Demokratie auf eine stabilere Grundlage zu stellen. Im Kampf gegen den Terrorismus war die Militärregierung erfolgreich, ihre marktwirtschaftlich orientierte Wirtschaftspolitik hat bereits zu beachtlichen Erfolgen geführt. Ob das Militär auch (verfassungsrechtliche) Grundlagen für eine stabilere Demokratie legen kann, dies wird erst die Zukunft zeigen. In Abschnitt III erfolgt eine kritische Würdigung von H. Keskins Analyse der türkischen Krise und der Militärregierung — ebenfalls erschienen in dieser Zeitschrift (B 40/81).

Am 12. September 1980 übernahm zum dritten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg das türkische Militär die Regierungsgewalt. Äußerer Anlaß dafür waren zunehmender Terrorismus, Anarchie und Ineffizienz des Parlaments. Dahinter verbirgt sich eine tiefgehende Krise der Türkei. Drei Fragen stellen sich:

Worin besteht die Krise der Türkei?

Kemal Atatürks nationale türkische Revolution ist die vielleicht erfolgreichste nichtkommunistische Modernisierung einer traditionellen Staats-und Gesellschaftsordnung im 20. Jahrhundert — vergleichbar ist allenfalls die (soziale) mexikanische Revolution von 1910. Atatürk gelang in nahezu einmaliger Weise gleichzeitig die sozio-ökonomische Modernisierung der Türkei und die Schaffung einer stabilen politischen Ordnung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich das kemalistische, autoritäre Einparteien-zu einem demokratischen Mehrparteiensystem: Erst dadurch wurde die im Islam verwurzelte Agrarbevölkerung der Osttürkei in den politischen Prozeß einbezogen. Dies und die raschen sozio-kulturellen und ökonomischen Wandlungen haben eine explosive Lage geschaffen und die vorher stabile politische Ordnung immer instabiler gemacht. Die türkische Demokratie konnte ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen und wurde von links-und rechtsradikalen sowie islamisch-fundamentalistischen Kräften grundsätzlich in Frage gestellt. Die entscheidende Frage ist also: Kann eine stabile und effiziente demokratische Ordnung geschaffen werden? Oder ist politische Stabilität und sozio-ökonomische Modernisierung nur um den Preis einer Militär-oder Einparteienherrschaft möglich

Die Modernisierung der Türkei seit Atatürk führte zu starken Veränderungen in allen Bereichen. Die heutige Türkei ist daher nicht mehr die Türkei Kemal Atatürks, sie ist aber äus ihr hervorgegangen, ist ohne sie nicht denkbar. Heute ist die nachkemalistische politische Ordnung der Türkei in Frage gestellt durch die mit der Modernisierung verbundene 2. Welche Politik, welche Ziele verfolgt die neue türkische Militärregierung? Welche Chancen hat das Militär, die Krise zu lösen? 3. Stellen die prononcierten Thesen, die Hekki Keskin in dieser Zeitschrift (B 40/81) entwickelt hat, eine angemessene Beurteilung der aktuellen Situation dar?

I. Die türkische Krise 1)

Instabilität und durch die aufgrund der sozialen Wandlungen, der Veränderungen des poli-tischen Systems und der Schaffung des Mehrparteiensystems erfolgte Verbreiterung des politischen und ideologischen Spektrums. Kern der Problematik ist also heute die Frage nach der Vereinbarkeit von wirtschaftlich-sozialer Entwicklung und pluralistischer Demokratie mit den spezifischen Gegebenheiten der politischen Kultur der Türkei

Die politische und soziale Krise

Ihre politische Stabilität verdankte die Türkei bis 1946 einer starken Einheitspartei, der kemalistischen Republikanischen Volkspartei. Die aufgrund der sozio-ökonomischen Entwicklung erstarkende wirtschaftliche Mittelschicht verlangte jedoch nach verstärkter politischer Teilnahme. Die Republikanische Volkspartei, die Repräsentant einer relativ homogenen bürokratisch-militärischen Elite geblieben war, war nicht in der Lage, dieses Verlangen innerhalb ihrer Partei aufzufangen. Die wirtschaftliche Mittelschicht übernahm daher nach Einführung des Mehrparteiensystems 1946 die Führung der neu gegründeten Demokratischen Partei. Ihre Begrenzung auf diese Schicht führte ihr jedoch bei den ersten Wahlen nur wenig Stimmen zu.

Die Demokratische Partei wandte sich unter Menderes der Landbevölkerung zu und gewann mit deren Hilfe ab 1950 in den meisten Wahlen den größten Stimmenanteil. Es ist das Verdienst dieser Partei, die Landbevölkerung erstmals in der Türkei in den politischen Prozeß integriert und eine Brücke geschlagen zu haben zwischen den westlich orientierten städtischen Eliten, die in der Republikanischen Volkspartei repräsentiert waren, und der dem traditionellen Islam noch weitgehend verhafteten Landbevölkerung vor allem Ostanatoliens. Steinbach spricht von der „Anatoli-sierung" der türkischen Innenpolitik. Bei dem sozialen Wandel, der wirtschaftlichen Entwicklung und der sozialen Differenzierung in verschiedene Gruppen wäre das Einparteiensystem der Republikanischen Volkspartei immer instabiler geworden. Die Demokratische Partei hat somit in der Türkei einen wichtigen Beitrag zur politischen Stabilität des Landes geleistet. Gleichzeitig begünstigte das Mehr-parteiensystem konservative Parlamentsmehrheiten und die Reislamisierung.

Das Mehrparteiensystem in der Türkei, vor al-lem das Aufkommen der Demokratischen Partei, hatte aber auch eine Dezentralisierung der politischen Macht zur Folge. Ein zunehmender Anteil der Parlamentsabgeordneten kam nicht mehr aus den städtischen, sondern aus den ländlichen Regionen. Die Qualität des türkischen Parlaments hat in der Folgezeit kontinuierlich abgenommen, da mit dem stärker werdenden Einzug des anatolischen Elements in die Volksvertretung die politischen und fachlichen Qualitäten der Abgeordneten nicht mehr in dem erforderlichen Umfang zur Verfügung standen

Gegen die politische Teilnahme der Landbevölkerung mit der Konsequenz verzögerter sozio-ökonomischer Modernisierung und gegen die zunehmend autoritäre Herrschaft von Menderes schritt 1960 das türkische Militär als Hüter des kemalistischen Erbes ein. Es übernahm für kurze Zeit die Macht und schuf die liberale Verfassung von 1961. Bei den Wahlen von 1965 und 1969 errang die Gerechtigkeitspartei als Nachfolgeorganisation der Demokratischen Partei jedoch wiederum die meisten Stimmen.

Eine Folge der Verfassung von 1961 war die leichter gewordene Bildung weiterer Parteien. Das in den führenden Parteien, der Republikanischen Volkspartei und der Gerechtigkeitspartei, vorherrschende Klientel-Patronage-Verhältnis war nicht in der Lage, die durch den sozialen Wandel hervorgerufenen Kräfte in das politische System einzufügen. Teile der Arbeiterklasse wandten sich kommunistisch-sozialistischen Gruppierungen zu sowie der linksorientierten Gewerkschaft DISK; Teile des Mittelstandes und Teile der Jugend wandten sich entweder einer extremen nationalistischen Rechten oder einem islamischen Fundamentalismus zu. Die neue nationalistische Rechte organisierte sich in der Aktionspartei des ehemaligen Obersten Türkesch, die islamische Orthodoxie in der nationalen Heilspartei unter der Führung von Erbakan.

Diese Entwicklung wurde auch nach einer erneuten Machtübernahme des türkischen Militärs im Jahre 1971 nicht gebremst.

So wie die Gerechtigkeitspartei die ländliche Bevölkerung seinerzeit in den politischen Prozeß integriert hatte, so veränderte in den siebziger Jahren Ecevit die kemalistische Republikanische Volkspartei von einer nationalistischen Elite-und Honoratiorenpartei zu einer sozialdemokratischen Partei mit einem starken linkssozialistischen Flügel.

Dennoch zeigte sich, daß das türkische Mehrparteiensystem in den siebziger Jahren nicht mehr in der Lage war, alle wichtigen Gruppen zu integrieren. Außerdem nahm die Polarisierung zwischen den beiden dominierenden Parteien, der Republikanischen Volkspartei und der Gerechtigkeitspartei, zu, da keine mehr die absolute Mehrheit der Stimmen erhielt und deshalb auf die kleineren und radikaleren Partner in den Koalitionsregierungen Rücksicht nehmen mußte. Ein Konsensus, eine'gemeinsame Politik in wichtigen nationalen Fragen wurde zwischen den beiden großen Volksparteien unmöglich. auch im politischen Leben einräumt. Eine weitere Ursache für das Wiederaufleben liegt darin, daß der säkularisierte kemalistische Staat keine Antwort hat auf die tiefer liegenden religiösen Sehnsüchte des Volkes, die in einer Zeit der sozialen und politischen Umwälzungen wieder stärker werden. Atatürk hatte die Säkularisierung ohne eine geistige Auseinandersetzung mit dem Islam herbeigeführt. In jedem Fall scheint der Islam heute wieder eher die Grundlage für einen gesamtgesellschaftlichen Konsens und den türkischen Nationalismus abzugeben als der eher künstliche Nationalismusbegriff des Kemalismus.

Der Kemalismus wird aber auch von links und rechts in Frage gestellt: durch Marxismus und Sozialismus sowie durch einen pantürkisch inspirierten übersteigerten Nationalismus. Wachsender Nationalismus und sunnitischer Islamismus verschärfen gleichzeitig die Spannungen gegenüber den ethnischen und religiösen Minderheiten (Kurden, schiitische Ale-viten, Armenier, Christen).

Identitätskrise Verschärft wurde die Instabilität der türkischen Demokratie durch eine tiefgehende Identitätskrise. Diese Identitätskrise ist zugleich auch eine Modernisierungskrise. Atatürk hatte die Türkei nach eindeutig westlichen Vorbildern modernisiert. Er hat durch das Abschneiden von der osmanischen und islamischen Tradition ein quasi geschichtsloses Volk geschaffen. Heute sehen die Türken zunehmend wieder im Osmanischen Reich ihre eigene Geschichte. Sie sehen darin sogar das goldene Zeitalter ihrer Geschichte. Mit der Frage nach der eigenen Vergangenheit wird auch die Frage nach der islamischen Tradition für die heutige Türkei wieder gestellt. Noch auf zwei anderen Wegen dringt der Islam in das Bewußtsein der modernen Türken wieder ein: Ein Weg ist das demokratische, Mehrparteiensystem, das — wie oben dargestellt — durch die zunehmende Partizipation des islamisch gebliebenen Ostanatoliens dem islamischen Element eine zunehmende Bedeutung Außenpolitische Orientierungskrise Die verschiedenen in der Türkei wirkenden Ideologien stellen auch die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene außenpolitische Orientierung nach Westeuropa und den USA in Frage. Sozialismus und Marxismus fordern eine Anlehnung an den Ostblock, der islamische Fundamentalismus hingegen ein Anlehnung an die islamisch-arabische Nachbarregion. Die Republikanische Volkspartei unter Ecevit versuchte 1977— 1979 unter der Voraussetzung der internationalen Entspannungspolitik zwischen Ost und West eine so-genannte „Dreieckspolitik", eine Anlehnung oder Zusammenarbeit mit allen drei großen Regionen: Westen, Ostblock, islamische Nachbarregion. Damit verbunden ist die Frage der Zugehörigkeit zu einer „größeren Familie“ oder einer Unabhängigkeit nach allen Seiten, die die Gefahren einer Isolierung in sich birgt.

Die Wirtschaftskrise Mehrfach führte die türkische Wirtschaftspolitik zu Zahlungsbilanz-und Wirtschaftskrisen: 1958, 1970 und 1978/79. Die Wirtschaftskrisen 1958 und 1970 sollten mit Hilfe von Stabilitätsprogrammen, die mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) vereinbart worden waren, behoben werden. Die Stabilitätsprogramme hatten zwar beachtliche Anfangserfolge, wurden jedoch nicht konsequent durchgeführt und viel zu früh abgebrochen. Die Krise 1978/79 war gekennzeichnet durch eine drastische Verschlechterung der Leistungsbilanz, hohe (kurzfristige) Auslandsverschuldung, Rückgang der industriellen Produktion und des Wirtschaftswachstums, hohe Inflationsrate, wachsende Budgetdefizite und zunehmende Arbeitslosigkeit. Entstanden war die Krise zwischen 1973 und 1977 in einer Phase raschen wirtschaftlichen Wachstums.

Wichtigste Ursache der Zahlungsbilanzkrise war die Inflationsdifferenz, d. h.der künstlich überhöhte Wechselkurs der türkischen Währung. Damit sank der Anreiz zum Export, während der Anreiz zum Import zunahm. Der unrealistische Wechselkurs trug auch bei zum Rückgang der hohen Gastarbeiterüberweisungen

Hinzu kam die türkische Entwicklungspolitik, die seit den dreißiger Jahren eine binnenmarktorientierte Industrialisierungspolitik verfolgte. Sie begünstigte die Industrie gegenüber der Landwirtschaft und baute eine relativ tief gegliederte Industriestruktur hinter ho-hen Zollbarrieren auf — auch mit dem Ziel einer Verringerung der Importe (Importsubstitution). Das Gegenteil wurde erreicht: Die Importabhängigkeit der Industrie nahm zu. Und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der türkischen Wirtschaft wurde mit dieser Entwicklungsstrategie verschlechtert. Ein enormer Hemmschuh für die wirtschaftliche Entwicklung wurde auch die Staatsbürokratie.

Ausdruck der Wirtschaftskrise war die Inflation. Hauptursache dafür war die Finanzierung der anhaltend hohen Defizite der Staatsunternehmen und des Staatshaushalts durch Geldschöpfung. Zwar sollte die Ausweitung der Investitionsprogramme der öffentlichen Unternehmen auch in den siebziger Jahren die nachlassenden privaten Investitionen kompensieren; dieses Nachlassen wurde jedoch erst durch die staatliche Wirtschaftspolitik selbst verursacht. Denn die privaten Investoren konnten sich nicht die notwendigen Kredite bei den Banken besorgen, weil aufgrund der staatlich festgesetzten niedrigen Zinssätze die Spartätigkeit gering war. Gerken vermutet sogar, daß die durch diese Wirtschaftspolitik hervorgerufene Fehlleitung von Kapital und Arbeit zu volkswirtschaftlichen Verlusten führte, die noch weit über die ausgewiesenen Betriebsverluste der staatlichen Unternehmen hinausgehen Diese Politik der unsoliden Finanzierung des Wirtschaftswachstums, der geringen Spartätigkeit und der Reglementierung führte letztlich dazu, daß die Türkei über ihre Verhältnisse lebte und ihr wirtschaftliches Potential nicht optimal nutzte.

Eine Sanierung der türkischen Wirtschaft, eine Wiederherstellung ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit ist also nur möglich durch Bekämpfung der Inflation, eine restriktive Budget-und Geldpolitik und den Wechsel der Entwicklungsstrategie von der Importsubstitution zur exportorientierten Wachstumsstrategie auf der Basis einer realistischen Wechselkurspolitik.

Nachdem die Regierung Ecevit 1978 und 1979 trotz der Hilfe des Auslands die Wirtschaftsprobleme nicht ernsthaft in Angriff nahm, wurde unter der Regierung Demirel im Januar 1980 ein neues, mit dem IWF abgestimmtes marktwirtschaftliches Sanierungsprogramm begonnen. Noch vor der Machtübernahme des Militärs am 12. September 1980 zeigte dieses Wirtschaftsprogramm erste Erfolge.

II. Die neue türkische Militärregierung — Politische Ziele und praktische Politik

Zwei Traditionen beherrschen das türkische Militär: Speerspitze der Modernisierung und Hüter des Staates zu sein — eine progressive und eine konservative Idee. Welche Idee sich durchsetzt ist abhängig von der jeweiligen Situation Revolutionär war die Gründung der modernen Türkei, zunehmend bewahrend die beiden militärischen Interventionen 1960 und 1971. Wie ist die militärische Intervention vom 12. September 1980 zu beurteilen?

Erfolgreiche Wirtschaftspolitik

Die Militärregierung ist intensiv darum bemüht, das Sanierungsprogramm vom Januar 1980 fortzuführen. Dieses Sanierungsprogramm brachte einen radikalen Kurswechsel in der türkischen Wirtschaftspolitik. Bis dahin galt das Prinzip einer „gemischten Wirtschaft“ (mixed economy) mit einem hohen Anteil des Staatssektors und einem starken staatlichen Einfluß auf den Wirtschaftsablauf. Diese Wirtschaftspolitik des kemalistischen „Etatismus“ hatte zwar beachtliche Wachtums-und Industrialisierungserfolge gebracht, jedoch nicht die Grundprobleme der türkischen Wirtschaft gelöst. Diese hatten sich vielmehr allmählich verschärft und zu der bisher tiefgreifendsten Wirtschaftskrise der Türkei 1977/79 geführt. Ziel des türkischen Stabilisierungsprogramms vom Januar 1980 ist es, auf allen Gebieten die vorhandenen Potentiale mit marktwirtschaftlichen Lösungen und, wo nötig, mit Anreizen zu mobilisieren. Damit soll zum ersten Mal seit langer Zeit die notwendige internationale Wettbewerbsfähigkeit der türkischen Volkswirtschaft hergestellt werden: Eine gewaltige Aufgabe nach den langen Jahren der Bürokratisierung, der Reglementierungen, der Vernachlässigung der Landwirtschaft und der Binnenorientierung mit Hilfe von Importsubstitution und hohem Außenschutz. Die Türkei hat dabei seit langem über ihre Verhältnisse gelebt, sie hat zu wenig gespart und zuviel konsumiert. Kernpunkte sind jetzt Inflationsbekämpfung, exportorientierte Wachstumsstrategie, höhere Sparquote und Sanierung der Staatsunternehmen, ohne die eine Beseitigung der ho-hen Defizite im Staatshaushalt unmöglich ist. Nur so kann auch die große Arbeitslosigkeit nachhaltig beseitigt werden. Ergänzt werden soll diese Politik auch durch Strukturreformen. Architekt dieses Programms ist Turgut Özal, ehemaliger Chef der staatlichen Planungsorganisation, seit September 1980 stellvertretender Ministerpräsident.

Erste Erfolge: Die Inflationsrate wurde von über 100% zu Beginn des Jahres 1980 durch eine restriktive Geldund Kreditpolitik auf ca. 35— 40 % am Jahresende 1981 herabgedrückt. Eine drastische Abwertung der türkischen Währung schuf die Voraussetzung für eine beachtliche Zunahme der Exporte und der Gastarbeiterüberweisungen. Erstmals seit der Gründung der türkischen Republik im Jahre 1923 wurden die Bankzinsen freigegeben: Die Bankeinlagen steigen seitdem stark an; ein Kapitalmarkt ist im Entstehen begriffen. Produktion und Investitionen beleben sich wieder. Nach einem stagnierenden bzw. leicht negativen Wirtschaftswachstum in den Jahren wieder 1979 und 1980 wurde 1981 ein reales Wachstum des Bruttosozialprodukts von 4, 4 % erreicht Was aber langfristig bedeutsam ist: Die Kombination von türkischem Sanierungsprogramm und Internationaler Türkeihilfe hat erreicht, daß die Unternehmen und Banken sowohl des Auslands als auch der Türkei allmählich wieder Vertrauen in die türkische Wirtschaftsentwicklung setzen. Nur so können schrittweise an die Stelle von Hilfsleistungen wieder zu Marktbedingungen erbrachte Produktions-und Finanzierungsleistungen der Firmen und Banken treten.

Eine wichtige strukturelle Maßnahme der Militärregierung im Frühjahr 1981 war eine schon lange angestrebte, aber nie durchgeführte Steuerreform. Sie entlastet die Bezieher niedriger Einkommen und unterwirft zahlreiche selbständige Gewerbetreibende und Grundbesitzer überhaupt erstmalig der Steuerpflicht. über ein zu erwartendes höheres Steueraufkommen wird somit ein Beitrag zur Verringerung der Budgetdefizite geleistet sowie gleichzeitig mehr soziale Gerechtigkeit erzielt.

Trotz der ersten Erfolge der neuen türkischen Wirtschaftspolitik ist die Türkei noch keineswegs über den Berg. Dies ist auch verständlich, denn eine derartig umfassende, aber notwendige Neuorientierung der Wirtschaftspolitik kann nur schrittweise die gewünschten Erfolge bringen. Um so mehr ist es dringend erforderlich, daß die Türkei den einmal eingeschlagenen wirtschaftspolitischen Kurs konsequent beibehält.

Die neue, marktwirtschaftlich orientierte Wirtschaftspolitik der Türkei hat bereits erste Erfolge bei der Bekämpfung der aktuellen Wirtschaftskrise erzielt; sie ist aber auch ein wichtiger Schritt zur Lösung der Strukturprobleme und damit zur Sicherung eines langfristigen Wirtschaftswachstums. Ergänzende tiefgreifende Maßnahmen sind aber noch erforderlich, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen, die noch unterentwickelten Regionen des Landes in die Wirtschaft zu integrieren und mehr soziale Gerechtigkeit herbeizuführen. Wird dies durchgeführt, könnte die Türkei allmählich ihre schwerwiegenden Wirtschaftsprobleme meistern und eines der großen und dynamischen „Schwellenländer" werden — ein erfolgreicher Wirtschaftspartner für die islamisch-arabische Region, für Ost und West

Bekämpfung des Terrorismus

Ein eskalierender Terrorismus war zumindest vordergründig das auslösende Moment für die Übernahme der Regierungsgewalt durch das Militär. Bei der Bekämpfung des Terrorismus hat die Militärregierung auch bisher die durchschlagendsten Erfolge gehabt. 5 241 Todesopfer und 14 162 Verletzte allein in den zwei Jahren vor dem 12. September 1980 beschreiben das Ausmaß, das der Terrorismus in der Türkei erreicht hatte, noch nicht einmal hinlänglich, weil diese Zahlen nicht die progressive Zunahme der Todesopfer berücksichtigen. In den 90 Tagen vor der Machtübernahme gab es täglich 22 Todesopfer. Den Militärs ist es gelungen, den Terror zu bremsen. Gleichwohl sieht auch die Militärregierung angesichts der hohen Zahl von Personen, die in Terrorakte verwickelt waren oder mit ihnen sympathisierten, den Kampf gegen den Terror noch nicht als abgeschlossen an. Einige 10 000 Gewehre und andere Waffen wurden von der Militärregierung beschlagnahmt bzw. von der Bevölkerung an die Militärbehörden abgegeben. Der Verdacht, daß der Ostblock durch Einschleusung von Waffen den Terrorismus mit der Zielsetzung eines Umsturzes in der Türkei geschürt hat, ist kaum von der Hand zu weisen. Die Waffenfunde erhärten die Auffassung der Regierung, daß das Ausmaß der politischen Gewalttätigkeit noch größer war, als dies die Zahl der Opfer vermuten läßt. Mit zunehmender Dauer der Terrorismusbekämpfung und der Bekämpfung politischer Instabilität taucht allerdings das Element des Druckes nach innen auf, das den Generälen zunehmend im Verhältnis zur eigenen Öffentlichkeit und zum westlichen Ausland zu schaffen macht. Unverkennbar beginnt an die Stelle der Angst vor Terror, die vor dem 12. September 1980 alles beherrschte, eine andere Sorge zu treten: die Sorge über die Methoden der Repression. Dies gilt bisher nicht für die meisten, gilt aber für diejenigen, die eine Teilhabe am öffentlichen Leben beanspruchen. Und in der Tat sind auch Methoden, die jenseits der von der Militärregierung selbst nicht gewollten und mehrfach bereits bestraften Menschenrechtsverletzungen (Folterungen) liegen, wie Presseverbote, eklatante Übergriffe unterer Sicherheitsorgane (gegen den eingestandenen Willen des Nationalen Sicherheitsrates), Uneinsichtigkeit bei einzelnen Militärs, gegeben und schaffen zusätzliche Probleme.

Rückkehr zur Demokratie

Wichtigster Punkt der Militärs neben der Bekämpfung des Terrorismus ist die Schaffung einer neuen Verfassung. Am 23. Dezember 1981 trat die Beratende Versammlung zusammen, die gemeinsam mit dem Nationalen Sicherheitsrat die Verfassunggebende Versammlung bildet. Alle 160 Mitglieder der Beratenden Versammlung wurden vom Nationalen Sicherheitsrat ernannt.

Nach der jüngsten Neujahrsansprache von Staatschef Evren soll die Beratende Versammlung ihren Verfassungsentwurf bis zum Spätsommer 1982 fertigstellen. Nach Überarbeitung und Billigung durch den Nationalen Sicherheitsrat soll die türkische Bevölkerung im Herbst 1982 in einem Referendum über den Verfassungsentwurf entscheiden. Nach Ausarbeitung eines Parteien-und Wahlgesetzes durch die Beratende Versammlung sollen allgemeine Wahlen im Herbst 1983, spätestens im Frühjahr 1984 stattfinden.

Schwieriger als die Frage, ob die Militärs zur Demokratie zurückkehren wollen und zu welchem Zeitpunkt, ist die über die künftige politische Struktur der Türkei, d. h. über die inhaltliche Gestaltung der künftigen Verfassung zu beantworten. Vieles deutet darauf hin, daß die Militärs die Demokratie in ihrer derzeitigen Form durch Verfassungsreformen in Richtung einer Stärkung der Exekutive durch einen Ausbau der Position des Staatspräsidenten (Präsidialverfassung) und/oder durch Sicherung stabiler Parlamentsmehrheiten (eventuell durch Einführung des Mehrheitswahlrechts anstelle des Verhältniswahlrechts) ändern wollen.

Eine neue politische Elite?

Die Militärs haben die Absicht, zumindest für einige Zeit die führenden Politiker und Kader der bisherigen Parteien aus dem politischen Leben, d. h. vom Parlament auszuschalten. Damit wollen die Militärs also nicht nur formal eine neue Verfassungsstruktur schaffen, sondern eine neue politische Klasse schaffen, die stärker als die bisherigen Parteien dem Allgemeinwohl und weniger ihren Eigeninteressen verpflichtet sind.

Außenpolitik

Nach den außenpolitischen Schwankungen und Tastversuchen der Regierung Ecevit und der Westorientierung der letzten Regierung Demirel hat die Militärregierung die Westorientierung der Türkei bekräftigt. Sie hält grundsätzlich an dem Gedanken einer vollen Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Gemeinschaft fest Gleichzeitig ist sie bestrebt, weiterhin entspannte Beziehungen zu den Ostblockstaaten zu unterhalten und die Verbindungen zu der für den türkischen Außenhandel immer wichtiger werdenden islamischen Welt, insbesondere zu den arabischen Staaten, auszubauen.

Chancen der Militärregierung

Welche Chancen hat die Militärregierung, die türkische Krise bewältigen? zu Am einfachsten ist dies für die Wirtschaftspolitik zu beantworten. Wird die derzeitige Wirtschaftspolitik konsequent fortgesetzt und durch weitere Strukturreformen ergänzt, so ist die Chance für eine Sanierung und Umstrukturierung der türkischen Volkswirtschaft groß. Die Durchführung von Strukturreformen wie die Steuerreform und hoffentlich auch noch eine Agrarreform dürfte in jedem Fall die Militärregierung überdauern. Damit würde die Militärregierung einer künftigen demokratischen Regierung eine weiterentwickelte und entwicklungsfähige Volkswirtschaft hinterlassen, die auch im internationalen Rahmen wettbewerbsfähig ist.

Offen bleiben muß vorläufig die Frage, ob eine neue Verfassung und andere gesetzgeberische Maßnahmen die der türkischen Krise zugrunde liegenden politischen Probleme lösen können. Eine bessere, stabilere gesetzliche Grundlage der Demokratie ist sicherlich zu begrüßen; entscheidend wird jedoch das politische Handeln künftiger demokratischer Regierungen und das Verhalten der großen Parteien und der sie tragenden Bevölkerungsschichten sein. Bisher hatten jedenfalls die Machtübernahmen durch das Militär (1960 und 1971) die Lage langfristig nicht stabilisiert, sondern sogar an Korrekturkraft abgenommen.

Auf die drängenden politisch-geistigen Fragen nach der Identität der Nation haben die nüchternen Militärs bisher keine Antwort gegeben. Die einfache, unreflektierte Beibehaltung der kemalistischen Prinzipien von Säkularismus und Nationalismus sind hier keineswegs ausreichend. Die Herausforderung, einen Ausgleich zu finden zwischen der islamischen Tradition der Türkei und den Erfordernissen einer modernen Gesellschaft, wird von der erneuerten Demokratie gelöst werden müssen.

Exkurs: Menschenrechte Türkei = Polen?

Seit die USA Sanktionen gegen das polnische Militärregime fordern, werden in Westeuropa verschiedentlich die Militärregierungen Polens und der Türkei verglichen — mit der Folge, daß im Fall von Sanktionen gegen Polen auch Sanktionen gegenüber der Türkei ergriffen werden müßten oder umgekehrt. Dahinter steht der moralische Vorwurf, daß die USA im Falle der Türkei ein undemokratisches Militärregime unterstütze, während sie es im Falle Polen verurteile. Diese Argumentation übersieht wichtige Unterschiede. Warum sind die Militärregierungen in Polen und in der Türkei nicht vergleichbar?

— Die Machtergreifung der türkischen Generale war eine rein innertürkische Angelegenheit. Sie handelten nicht unter dem Einfluß einer äußeren Macht. Die Machtübernahme durch General Jaruzelski dagegen ist ohne den Druck der Sowjetunion nicht denkbar. — Das Verhältnis der beiden Militärregierungen zu ihrem Volk ist völlig verschieden. Im Falle der Türkei gehen fast alle in-und ausländischen Beobachter davon aus, daß die überwiegende Mehrheit des türkischen Volkes hinter dem Eingreifen der Militärs steht. Als Alternative sahen die Türken nicht Demokratie oder Militärregierung, sondern Anarchie und Terrorismus oder Militärregierung. Die Türken haben zudem Vertrauen in die Zusagen ihrer Militärs, eine demokratische Ordnung wiederherzustellen. In Polen dagegen hat das Militär eine von breiten Schichten des Volkes getragene Reform-und Freiheitsbewegung unterdrückt.

— Die Ziele der beiden Militärregierungen sind entgegengesetzt. Beide wollen zwar die Erhaltung eines Systems. Aber Ziel der türkischen Generale ist die Erhaltung bzw. die Wiederherstellung der türkischen Demokratie; Ziel der polnischen Militärregierung dagegen ist die Erhaltung des kommunistischen Herrschaftssystems. Allerdings: streitig wird die Frage nach der Verwirklichung von Menschenrechten unter nichtkommunistischen Militärregierungen und kommunistischer Herrschaft bleiben. Zu unterschiedlich sind Wertvorstellungen und politische Maßstäbe, nach denen geurteilt wird.

III. Kritik an Keskin

Eine andere als die oben vorgelegte Analyse der türkischen Krise und der türkischen Militärregierung hat Hakki Keskin in dieser Zeitschrift gegeben

Keskin verfügt über stupende Türkeikenntnisse; die Ernsthaftigkeit und das Engagement Keskins sollte man respektieren, auch dann, wenn man anderer Ansicht ist Keskin gibt eine große Zahl zutreffender Ursachen und Erscheinungsformen für die türkische Krise an: Zahlungsbilanzdefizit, hohe Arbeitslosigkeit, ungleiche Einkommensverteilung, fehlende Steuerreform u. a. Zahlreichen Einzelheiten, vor allem aber seiner Interpretation der Wirtschaftskrise, muß entschieden widersprochen werden. Zu widersprechen ist auch seiner theoretischen Grundvorstellung sowie der darauf aufbauenden Analyse der politischen Lage in der Türkei. Die oben gegebene Darstellung der türkischen Krise und der Militärregierung enthält implizit bereits die Kritik an Keskin. Explizit seien hier noch fünf grundsätzliche kritische Bemerkungen angefügt:

Internationaler Währungsfonds (IWF)

Nach Keskin verlief „die Wirtschafts-und Außenwirtschaftsorientierung der Türkei ... bis heute ... konsequent nach den Rezepten des IWF" Gerade das Gegenteil ist richtig: Die wirtschaftspolitischen Stabilisierungsprogramme des IWF anläßlich der Zahlungsbilanzkrisen 1958 und 1970 wurden nur kurze Zeit eingehalten. Dadurch wurden die ersten bereits eingetretenen Sanierungserfolge — vor allem Exportsteigerungen nach 1970 — wieder zunichte gemacht

Zahlreiche Einzelheiten über die Rolle des IWF sind von Keskin verzerrt dargestellt worden. So ist es einfach nicht zutreffend, wenn Keskin behauptet, daß es zu den Bedingungen des IWF gehört habe, die Exportmöglichkeiten der Türkei nicht zu mobilisieren. Im Gegenteil: Der IWF betonte die Notwendigkeit steigender Exporte zum Ausgleich der Leistungsbilanz. Er wollte dies erreichen durch die Erhöhung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der türkischen Wirtschaft, wozu notwendigerweise eine realistische Wechselkurspolitik durch Abwertung der türkischen Währung gehörte. Aufgrund des IWF-Stabilisierungsprogramms vom Januar 1980 erzielte die Türkei deshalb auch geradezu dramatische Erfolge beim Export. Hinter Keskins Analyse der Rolle des IWF steckt nichts anderes als die Auffassung, daß der IWF der Erhaltung der ökonomischen Abhängigkeit der Entwicklungsländer von den Industrieländern diene. Dieses Konzept verstellt den nüchternen Blick auf das Verhältnis zwischen IWF und Türkei

US-Entwicklungsmodell

Keskin zufolge hat die Türkei seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Wirtschaftspolitik zunehmend nach einem ihr oktroyierten US-Entwicklungsmodell betrieben; dieses US-Entwicklungsmodell mit Hilfe von Auslandsverschuldung und Auslandsinvestitionen sei die Ursache für die türkische Wirtschaftskrise. Ursachen und Erscheinungsformen der türkischen Wirtschaftskrise sind jedoch nicht durch „klassisch-kapitalistische Entwicklungsvorstellungen''bedingt, sondern im Gegenteil durch eine Vernachlässigung marktwirtschaftlicher Prinzipien — ergänzt durch eine unsolide Geld-und Finanzpolitik.

Kurzfristige wirtschaftliche Stabilisierung

Keskin macht elf Vorschläge zur „Korrektur der Fehlorientierung", die allerdings nicht in wenigen Jahren zu verwirklichen seien Seine wichtigsten Vorschläge sind: Verringerung des Zahlungsbilanzdefizits, Verstärkung des inländischen Sparens, erhöhte Energieerschließung aus inländischen Energiequellen, Beseitigung der Arbeitslosigkeit, Investitionen in weniger entwickelten Gebieten und Reformen (Landreform, Ausbildungsreform, Steuerreform u. a.). Diese zentralen Forderungen Keskins entsprechen weitgehend dem von ihm abgelehnten Wirtschaftsprogramm der letzten Regierung Demirel, das gemeinsam mit dem IWF und der Weltbank konzipiert worden war.

Die Militärregierung hat bereits erfolgreich mit der Verwirklichung der meisten dieser Vorschläge Keskins begonnen. Ist also aus dem Systemkritiker Keskin plötzlich ein wirtschaftspolitischer Pragmatiker geworden? Wohl kaum. Aber vielleicht ist hier ein leichtes (nur taktisch bedingtes?) Abrücken von seinen bisherigen grundsätzlichen ideologisch-dogmatischen Positionen zu erkennen. Allerdings stellt er dies mit Punkt 12 seines Maßnahmenkatalogs selbst wieder in Frage: .... können die Erfolgschancen dieser Maßnahmen ohne eine radikale Änderung des bestehenden Entwicklungsmodells und Systems insgesamt nicht von Dauer sein"

Vorbild: Sozialistische Planwirtschaft Keskin bleibt eine eindeutige Antwort darauf schuldig, wie das politische und gesellschaftliche System der Türkei aussehen soll. Seine Ausführungen über „strukturelle Abhängigkeit der türkischen Wirtschaft vom Ausland" könnten die Schlußfolgerung zulassen, daß Keskin eine wirtschaftliche Entwicklung der Türkei im Sinne der Abkoppelungsthese befürworte: nicht Integration in den Weltmarkt durch eine exportorientierte Wachstumsstrategie, sondern Abkoppelung vom Weltmarkt durch eine Orientierung an den Bedürfnissen des türkischen Volks, welche auch immer diese sein mögen bzw. wer auch immer diese bestimmen mag. Diese einseitige Wirtschaftspolitik der binnenmarktorientierten Wirtschaftsentwicklung wird häufig von den Theoretikern eines Abhängigkeitsverhältnisses der Entwicklungsländer von den Industrieländern vertreten (Dependenztheorie).

Letztlich scheint aber Keskin nicht eine derartige abgekoppelte Wirtschaftsentwicklung zu befürworten. Als Alternative zu dem von ihm sogenannten US-Entwicklungsmodell sieht er die sozialistische Planwirtschaft des Ostblocks, zumindest beschreibt er sie mit großer Sympathie:

»Wenn diese Arbeit unsere grundlegende These untermauert hat, daß die Unterentwicklung der Dritten Welt und die Entwicklung der neo-imperialistischen Staaten einen... untrennbar miteinander verbundenen Prozeß darstellen und daher unter der Regie des Weltkapitals und der imperialistischen Staaten eine den Bedürfnissen der Länder der Dritten Welt entsprechende Entwicklung nicht möglich ist, so ist mit Recht zu fragen, wie wir uns dann die Entwicklung eines unterentwik-kelt gehaltenen Landes vorstellen ...

Die eine Alternative, den Weg der kapitalistischen Welt, nämlich das kapitalistische Entwicklungsmodell, haben wir vorgestellt und feststellen können, daß das kapitalistische Weltsystem ... bis heute kein Beispiel liefern kann, wo in einem von ihm beherrschten Land der Dritten Welt sein Modell zum Erfolg geführt hätte. Vielmehr ist sein Entwicklungsmodell überall gescheitert, auch in der Türkei ...

Die andere Alternative für eine rasche und allseitige Entwicklung der Länder der Dritten Welt ist die sozialistische Planwirtschaft. Was auch immer unsere politische Einstellung sein mag, wir können die bedeutenden Erfolge der sozialistischen Planwirtschaft seit einem halben Jahrhundert... nicht leugnen."

Falsch ist die Behauptung Keskins, daß ein kapitalistisches, besser gesagt: marktwirtschaftliches Entwicklungsmodell in der Dritten Welt keine Erfolge haben könne. Die wirtschaftlichen Erfolge Japans, Taiwans, Südkoreas, Brasiliens, Hongkongs, Malaysias, Kenias und der Elfenbeinküste, z. T. auf der Basis von Agrarreformen und -entwicklung, beweisen dies deutlich (eine andere Frage ist das politische System in einigen dieser Länder). Und schließlich waren auch einmal Deutschland und USA — im Verhältnis zu Großbritannien — Entwicklungsländer.

Peripherie und Zentrum Keskin vertritt die Auffassung (dies tritt in seinem Buch deutlicher hervor als in seinem Aufsatz), daß die Ursache für die Unterentwicklung der Türkei wie für die gesamte Dritte Welt das kapitalistische System sei. Dieses Konzept geht aus von der Ausbeutung der Dritten Welt, der sogenannten Peripherie, durch die westlichen Industriestaaten, das so-genannte Zentrum Diese Theorie übersieht, daß die Unterentwicklung primär nicht auf externen Gründen beruht, sondern vorwiegend in den Entwicklungsländern selbst begründet mustheorien, Göttingen 19802. Für die Behandlung im Rahmen der Wirtschaftswissenschaft sei auf die beiden zuletzt erschienenen Lehrbücher zur Entwicklungstheorie und -politik verwiesen: J. B. Dönges, Außenwirtschaftsund Entwicklungspolitik, Berlin-Heidelberg-New York 1981, und W. Ochel, Die Entwicklungsländer in der Weltwirtschaft, Köln 1982. ist — zumindest ist Unterentwicklung nicht monokausal, sondern durch einen Komplex interner und externer Ursachen bedingt. Die positive wirtschaftliche Entwicklung in einer Reihe von Entwicklungsländern macht auch deutlich, daß durch eine marktwirtschaftlich orientierte Entwicklungspolitik das soge-nannte Abhängigkeitsverhältnis, das sie auf dem Stand eines Rohstoffproduzenten hält, überwunden werden kann.

Fussnoten

Fußnoten

  1. über die türkische Krise informieren in deutscher Sprache: Udo Steinbach, Kranker Wächter am Bosporus. Die Türkei als Riegel zwischen West und Ost, Freiburg/Würzburg, 1979; A. Hottinger, Identitätskrise in der Türkei. Was bleibt vom Geist der Reformen Atatürks?, in: Europa-Archiv, 25. Januar 1980; Gustav Adolf Sonnenhol, Atatürk heute. Kulturrevolution und Entwicklung, in: Merkur, Heft 11, November 1981. In weiteren lesenswerten Untersuchungen zur türkischen Krise finden sich bereits auch Analysen der neuen türkischen Militärregierung: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Die türkische Krise. Beiträge eines Expertengesprächs der Friedrich-Ebert-Stiftung, 24. — 26. September 1980. Analysen aus der Abteilung Entwicklungsländerforschung Nr. 89/90, Bonn, Februar 1981. Eine knappe, klare Zusammenfassung des Expertengesprächs wurde unter dem Titel „Die Krise in der Türkei und die Perspektiven ihrer Lösung" veröffentlicht und kann kostenlos bezogen werden bei: Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, Abteilung Entwicklungsländerforschung, Godesberger Allee 149, 5300 Bonn 2. Ebenfalls kostenlos kann von dort bezogen werden: „Ausweg oder Kreuzweg? Stabilität und Demokratie in der Türkei" (Zusammenfassung eines Symposiums der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn am 2, /3. 6. 1981); H. Keskin, Die Türkei. Vom Osmanischen Reich zum Nationalstaat; Werdegang einer Unterentwicklung, 3., aktualisierte Auflage, Berlin 1981; H. Kramer, Die Türkei. Gefährdeter Partner der westlichen Allianz. Ansatzpunkte für Beiträge zur wirtschaftlichen, sozialen und sicherheitspolitischen Stabilisierung, hrsg. von der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen, Juli 1981; U. Steinbach, Atatürks Staat in der Krise, in: Geographische Rundschau, Heft 12, Dezember 1981. Nach Fertigstellung meines vorliegenden Aufsatzes erschienen noch A. Hottinger, Die Türkei unter der Herrschaft des Militärs, in: Europa-Archiv, 10. 4. 1982, sowie Konrad-Adenauer-Stiftung/lnstitut für Begabtenförderung (Hrsg.), Kultur und Politik der Türkei, in: im gespräch, 1. Vj. 1982.

  2. Zu dieser Fragestellung und einer darauf beruhenden weltweiten Analyse, darunter auch der tür-

  3. Kramer, a. a. O„ S. 75.

  4. Die heutige Krise der Türkei ist also gekennzeichnet durch die Vielzahl gleichzeitig auftretender Entwicklungsprobleme oder Krisen („Kumulative Revolution"). Die türkische Krise ließe sich da-her auch mit den bisher in den Mittelpunkt der Forschung gestellten sechs Krisentypen beschreiben: Identitäts-. Legitimitäts-, Partizipations-, Integrations-, Penetrations-und Distributionskrise. Vgl. Wehler, a. a. O., S. 36f.

  5. Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Die Krise in der Türkei..., a. a. O., S. 8.

  6. Vgl. E. Gerken, Stabilisierung der türkischen Wirtschaft und internationale Hilfe, in: Europa-Archiv, 10. 11. 1980. Gerken zitiert die Ergebnisse eines gesamtwirtschaftlichen Modells der Weltbank. Danach errechnen sich folgende Anteile der Ursachen an der Entstehung der Zahlungsbilanzkrise: Ol-Preissteigerung 12 %, Inflationsdifferenz 32 %, Stagnation der Gastarbeiterüberweisungen 21 %, Anstieg der Investitionsquote 5 %, andere Ursachen (u. a. Rezession auf den Exportmärkten) 29 %. Der vielbeschworene Preisanstieg bei Ölimporten ist also nicht die wichtigste Ursache der Zahlungsbilanzkrise.

  7. Gerken, a. a. O., S. 666.

  8. S. P. Huntington drückt die Rolle des Militärs in modernisierenden Gesellschaften so aus: „As so-ciety changes, so does the role of the military. In the world of oligarchy, the soldier is a radical; in the middle-class world he is a participant and arbiter; as the mass society looms on the horizont he becomes the conservative guardian of the existing order“, in: Political Order in Changing Societies, a. a. 0. S. 221.

  9. In Anlehnung an meinen Artikel „Mit weltweiter Hilfe vielleicht zum dynamischen Wirtschaftspartner", in: Die Welt, 5. 10. 1981 (Sonderbeilage „Welt Report Türkei“).

  10. Einen guten Überblick über die beiden ersten Jahre der neuen Wirtschaftspolitik bieten die beiden Jahresberichte der OECD, Turkey, Paris, März 1981 und April 1982.

  11. Zu den mittelfristigen Entwicklungsaussichten der Türkei vgl. das Kapitel „Medium-term policy is-sues“, in: OECD, Turkey, April 1982, S. 35ff. Eine Zusammenfassung gibt U. -J. Pasdach, Gute Wachstumsaussichten für die türkische Wirtschaft. Eine mittelfristige Prognose der OECD, in: Nachrichten für Außenhandel, 9. 3. 1982.

  12. H. Keskin, Die Krise in der Türkei. Chancen des Militärs — Zukunft der Demokratie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40/81.

  13. Keskin, Die Krise in der Türkei, a. a. O., S. 7.

  14. Vgl. Y. Tolun, An Analysis of the IMF Recovery Plan and its Social and Domestic Consequences, in: Die türkische Krise, a. a. O., S. 137 ff.

  15. Einen kurzen Überblick über die von IWF, Welt-bank und OECD durchgeführte internationale Türkeihilfsaktion 1979— 1981 geben R. Geberth, The Role of OECD in the Task of Bringing the Turkish Economic Crisis under Control, in: Winfried Veit (Editor), Turkey. Crisis or Opportunity, Vierteljahresberichte Probleme der Entwicklungsländer, Nr. 86, Dezember 1981, S. 371 ff., und U. -J. Pasdach, Mit weltweiter Hilfe vielleicht zum dynamischen Wirtschaftspartner, in: Die Welt, 5. 10. 1981 („Welt Report Türkei").

  16. Dieses theoretische Konzept ist ausführlich dargestellt von R. Tetzlaff, Die Weltbank. Machtinstrument der USA oder Hilfe für Entwicklungsländer? München, London 1980. In dem Abschnitt „Der IWF als Zuchtmeister für Schuldnerländer" beschreibt Tetzlaff beispielhaft auch die Türkei, S. 233f.

  17. H. Keskin, Die Krise in der Türkei, a. a. O. S. 23.

  18. Ebd.

  19. H. Keskin, Die Türkei: Vom Osmanischen Reich zum Nationalstaat..., a. a. O., S. 249.

  20. Eine gute und lesbare kritische Auseinandersetzung mit der Theorie von Zentrum und Peripherie leisten aus liberaler Sicht: R. Aron, Plädoyer für das dekadente Europa, Berlin, Frankfurt/M. 1978, in dem Kapitel „über den Imperialismus ohne Imperium", sowie R. F. Behrendt, Die Zukunft der Entwicklungsländer als Problem des Spätmarxismus, in: M. Bohnet (Hrsg.), Das Nord-Süd-Problem, München 1971. Eine gute Darstellung aus der Sicht des Historikers gibt W. J. Mommsen, Imperialis-

Weitere Inhalte

Uwe-Jens Pasdach, geb. 1931; Regierungsdirektor, Dipl-Landwirt, Dipl. -Volkswirt; seit 1963 im Bundesministerium für Wirtschaft. Veröffentlichungen u. a.: Die langfristige Stahlnachfrage in der Bundesrepublik. Bestimmungsgründe und Prognose bis zum Jahr 1975, Köln und Opladen 1966; Internationale Türkeihilfe 1979. Die OECD-Sonderhilfsaktion: OECD-Special Assistance Action for Turkey, in: Mitteilungen, hrsg. von der Deutsch-Türkischen Gesellschaft, Heft 102, 1979; Mit weltweiter Hilfe vielleicht zum dynamischen Wirtschaftspartner, in: Die Welt, 5. 10. 1981 (Sonderbeilage „Welt Report Türkei"); Wie gültig ist Atatürks Erbe?, in: Mitteilungen, hrsg. von der Deutsch-Türkischen Gesellschaft, Heft 104, 1981; Gute Wachstumsaussichten für die türkische Wirtschaft. Eine mittelfristige Prognose der OECD, in: Nachrichten für Außenhandel, 9. 3. 1982.