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Kernwaffen und NATO. Zwischen Einsicht und Unvernunft | APuZ 28/1982 | bpb.de

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APuZ 28/1982 Europa, Amerika und die Entspannung Kernwaffen und NATO. Zwischen Einsicht und Unvernunft

Kernwaffen und NATO. Zwischen Einsicht und Unvernunft

Stanley Hoffmann

/ 36 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Konflikte im NATO-Bündnis haben von jeher ihren Ursprung entweder in der sicherheitspolitischen Abhängigkeit Westeuropas von den USA oder in den unterschiedlichen Sichtweisen der Weltpolitik auf beiden Seiten des Atlantiks. Die aktuelle Kontroverse über Mittelstreckenwaffen beruht auf der zweiten Kategorie von Ursachen. Einerseits sind in Europa Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Sicherheitsgarantie der USA aufgekommen, andererseits aber ist die Beurteilung der Sowjetunion in Westeuropa seit Beginn der Entspannungspolitik weniger von Feindbildern bestimmt Zugleich hat für große Teile der Jugend in Europa das „Modell Amerika“ keine Zugkraft mehr. Im Gegenteil stellt sich für sie die Politik der USA eher negativ dar und wird zum Teil als sicherheitsgefährdend angesehen. In den Vereinigten Staaten herrscht hingegen das Gefühl vor, in dei Welt „herumgestoßen" zu werden; dadurch wird das Verlangen ausgelöst, amerikanische Macht wiederherzustellen. Die heutige Debatte in Europa über den Nachrüstungsbeschluß ist Ausdruck der Furcht, zum künftigen Kriegsschauplatz zu werden. Die häufige Betonung des Machtverfalls der USA durch amerikanische Politiker hat in Europa zunehmend Früchte getragen, wozu in jüngster Zeit die Sorge getreten ist, daß die strategischen Maßnahmen der Vereinigten Staaten der letzten Jahre einen Erstschlag der Sowjetunion heraufbeschwören könnten. Das zentrale Problem der Mittelstreckwaffen-Diskussion liegt dabei im Verhältnis der europäischen Regierungen zu ihrer Öffentlichkeit und nicht in ihrer Bündnistreue. Es kann daher nicht im Sinne der USA sein, durch Beharren auf der Stationierung von Pershing II und Marschflugkörpern den westeuropäischen Regierungen, insbesondere der Bundesregierung, die innenpolitische Legitimität zu entziehen. Statt dessen sollten bis 1983 Alternativen erarbeitet werden. In der Zukunft müßte die NATO darauf achten, daß ihre Entscheidungen nicht überwiegend von aktuellen, kurzfristigen Gesichtspunkten (z. B. SALT II) dominiert werden. Für die USA ist es im Umgang mit den Europäern wichtig, mehr Feingefühl für die westeuropäische Kriegsangst zu entwickeln. Die Westeuropäer sollten sich hingegen um Ansätze für den Aufbau einer europäischen Verteidigungsorganisation im Rahmen der NATO bemühen, um das strukturelle Ungleichgewicht zwischen den NATO-Partnern auszugleichen, denn bis dato hat Europa durch seinen Verzicht auf eine eigenständige Rolle amerikanische Tendenzen zu einseitigen Handlungen bestärkt.

I.

Nachdruck aus: Foreign Affairs, Winter 1981/82. Copyright 1981 beim Council on Foreign Relations, Inc.

Übersetzung: Jörg Heinemann, Hamburg.

Die Geschichte des Atlantischen Bündnisses ist eine Geschichte der Krisen. Man muß jedoch zwischen den üblichen Schwierigkeiten unterscheiden, deren Ursprung in der sicherheitspolitischen Abhängigkeit Westeuropas von den USA und in den wirtschaftlichen Interdependenzen zwischen den Verbündeten liegt, und den wirklich substantiellen Krisen und Differenzen, die nicht nur die unvermeidlichen Interessendivergenzen offenbaren, sondern eine grundlegend unterschiedliche Sicht der Weltprobleme und Prioritäten.

Die gegenwärtigen Klagen führender westeuropäischer Politiker über die Auswirkungen der hohen amerikanischen Zinsen auf die Volkswirtschaften Westeuropas oder über US-Präsident Reagans zögernde Haltung zum Nord-Süd-Verhältnis gehören zur ersten Kategorie. Die anhaltende Kontroverse in Europa über Kernwaffen gehört zur zweiten und stellt die Allianz heute vor eine ihrer gefähr-liebsten Bewährungsproben. Oberflächlich gesehen geht der Meinungsstreit um den NATO-Doppelbeschluß vom Dezember 1979 zur Stationierung der neuen Atomraketen in Europa ab 1983 und zur Aufnahme von Rüstungskontrollverhandlungen mit der Sowjetunion über eben diese Waffensysteme. Noch stellen sich in dieser Kontroverse verbündete Regierungen nicht gegen die US-Administration. Aber die breite westeuropäische Friedensbewegung gegen diese Stationierung weist in einigen Staaten sowohl auf einen tiefen, politisch destabilisierenden Graben zwischen Regierungen und einem beträchtlichen mobilisierten Teil der Öffentlichkeit hin als auch auf eine wachsende Divergenz der Gefühle und Perzeptionen auf beiden Seiten des Atlantiks. Weit mehr als nur technische Fragen der Abschreckung und Strategie stehen denn auch zur Debatte. Diese sind in erster Linie nur Symptome grundlegender Probleme.

II.

Die heutige Friedensbewegung ist nicht die erste ihrer Art. Viele Briten beteiligten sich in den frühen sechziger Jahren an einer leidenschaftlichen Kampagne für atomare Abrüstung, und man sollte auch nicht den starken Widerstand in der Bundesrepublik Deutschland gegen die Nutzung der Kernenergie in den letzten Jahren vergessen. Die gegenwärtige Unruhe ist nicht gleichmäßig stark verbreitet. Die Demonstration z. B., die am 25. Oktober letzten Jahres in Paris stattfand, wurde von der Kommunistischen Partei Frankreichs und einer ihrer Tarnorganisationen organi-siert und beherrscht, und während die Demonstration in Rom vom gleichen Tag zwar über das Spektrum der Kommunistischen Partei Italiens und ihrer Gewerkschaft hinausreichte, so stellte sie doch keine Kräfteansammlung wie im nördlichen Teil des Kontinents dar. Dessenungeachtet ist die heutige Friedensbewegung in verschiedener Hinsicht neu und machtvoll: Sie ist eine Massenbewegung von kontinentaler Reichweite, die die Menschen über Grenzen hinweg mobilisiert und bewegt — etwas Ungewöhnliches im immerhin teilweise integrierten Westeuropa von heute. Sie erreicht die aktive Teilnahme von Frauen und einer großen Zahl religiöser Gruppen (vorwiegend, jedoch nicht ausschließlich, protestantischer Herkunft) in Ländern, in denen diese vormals kaum je an großen Demonstrationen teilgenommen hatten. Sie ist in dem Land besonders stark, das bis jetzt der zuverlässigste Verbündete der Vereinigten Staaten auf dem Kontinent und der Dreh-und Angelpunkt der NATO-Strategie war, der Bundesrepublik Deutschland. Obwohl diese Bewegung also — vor allem in den Niederlanden und in Skandinavien — Menschen aus den verschiedensten Parteien zusammenbringt und oft von bekannten Geistlichen, Intellektuellen oder Politikern angeführt wird, stellt sie doch zum großen Teil eine Zusammenkunft junger Menschen dar; sie ist der erste Generationsprotest seit 1968. Vor allem ist sie, wie die Bewegung vom Mai 1968 in Frankreich, mit de Gaulles Wort „inssaisissable", ungreifbar, da in ihr verschiedene Sorgen, Befürchtungen und Sehnsüchte bezüglich einer Kernfrage zusammenlaufen, und weil sie mehr Emotionen und Leidenschaft als klare Analysen anbietet. Daher rührt die Schwierigkeit, ein passendes Wort zu ihrer Definition zu finden.

Einige Teile der Friedensbewegung, z. B.der linke Flügel der britischen Labour Party, sprechen sich für eine vollständige atomare Abrüstung Europas und für einseitige Schritte in dieser Richtung aus; andere befürworten Verhandlungen über eine beiderseitige Reduzierung der Rüstung zwischen Washington und Moskau. Wieder andere sind weiterhin für die NATO, allerdings gegen den Beschluß vom Dezember 1979, während einige von einem neutralen Europa träumen. Viele verurteilen beide Großmächte, die ihnen als gehirnlose Monster erscheinen, und greifen die „Blockpolitik" an, die Europa geteilt und in Abhängig, keit läßt. Andere konzentrieren ihre Angriffe allein auf die USA. Die meisten scheinen vor allem einen Atomkrieg zu fürchten, wobei viele Menschen über die ihrer Meinung nach falsche Betonung militärischer Lösungsversuche bei internationalen Problemen ebenso empört sind wie über die maßlosen Rüstungsausgaben in einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit, der Kürzungen im Sozialbereich und manchmal — wie in England — schwerer Wirtschaftskrisen. Wiederum andere Kritiker sind Mitglieder politischer Parteien, hochpolitisiert und Experten der Manipulation; viele jedoch sind auf der Suche nach einer „konkreten Utopie" und fast herausfordernd un-oder antipolitisch. Oder aber sie sind der Überzeugung, daß in einer Welt, in der die traditionelle Machtpolitik bei der Schaffung eines dauerhaften Friedens oder der Beseitigung der drohenden atomaren Vernichtung versagt hat, spektakuläre Gesten der Verweigerung ansteckend wirken könnten. Sie glauben, daß Exempel der Selbstverleugnung sogar nur kleiner Staaten die Groß-mächte zu schamvollem Respekt oder zum Nachahmen veranlassen könnten. In der deutschen Friedensbewegung werden viele von der Entschlossenheit getrieben, jede Art von Politik zurückzuweisen, die nach deutscher Vergangenheit schmeckt, also nach Vertrauen auf Gewalt als wichtigstem Instrument der Politik, und so suchen sie nach einer reinen und untadeligen Identität. Es gibt auch einzelne in dieser Bewegung, die eher aus einem grollenden oder ehrgeizigen Nationalismus aktiv werden.

III.

Warum also ist diese komplexe Bewegung aus der Diskussion um die eurostrategischen Waffen großer Reichweite (LRTNF = Long-Range Theater Nuclear Forces) entstanden? Zwei Fragen sind hierbei impliziert: Warum gerade jetzt und warum die Konzentration auf dieses Problem?

Es gibt heute zu der Stimmungslage in den späten fünfziger Jahre, als sich auch Friedensbewegungen in verschiedenen Ländern ausbreiteten, grundlegende Unterschiede. Damals existierte paradoxerweise sowohl ein allgemeines Vertrauen in die nukleare Überlegenheit der USA (daher die relativ geringe Angst vor einem Atomkrieg) als auch die allgemeine Überzeugung, die Sowjets seien die Unterdrücker, die den Frieden in Europa zu zerstören drohten. Es war die Zeit der Berlin-Krise, und was man in der Bundesrepublik — und in West-Berlin, dessen Regierender Bürgermeister Willy Brandt war — fürchtete, war amerikanische Nachgiebigkeit. Heute finden wir vertauschte Rollen vor: Es existieren ernsthafte Zweifel an der Zusage der USA, die Sicherheit Westeuropas auch weiterhin durch atomare Abschreckung zu erhalten. Im Zeitalter nuklearer Parität scheint es trotz rituell wiederholter Zusicherungen von offizieller Seite unwahrscheinlich, daß Washington Amerikas Überleben wegen des Schutzes Europas aufs Spiel setzen würde. Angesichts der erweiterten Fähigkeiten der neuen Atomwaffen wie Zielgenauigkeit und Mobilität scheint die Nuklearstrategie auf Kriegführungsoptionen hinzudeuten, da Abschreckung einerseits durch Androhung massiver Vernichtung von Ballungszentren nicht länger glaubwürdig ist, andererseits mittels Androhung eines atomaren Erstschlags gegen die strategischen Streitkräfte der UdSSR wegen des Verlusts der amerikanischen Überlegenheit tendenziell aufgehoben scheint.

Die westeuropäische Sicht der Sowjetunion hat sich noch weiter verändert, gedämpft durch die Erfahrungen während der Entspannungsphase und beeinflußt durch die sowjetischen Schwierigkeiten in Osteuropa.

Zu diesen allgemeinen Faktoren kommen einige andere hinzu, die besonders für die Bundesrepublik zutreffen. Eine neue Generation ohne die Erfahrungen europäischer Krisen — die Invasion der Tschechoslowakei liegt 14 Jahre zurück — und mit einer tiefen Abneigung gegen Deutschlands Vergangenheit und Gegenwart ist herangewachsen. In ihren Augen war die ältere Generation entweder zu eifrig mit dem Aufbau einer neuen, ehrenhaften Gesellschaft beschäftigt oder zu eilfertig im Vergessen einer ehrlosen Vergangenheit; von ihrer eigenen Tugendhaftigkeit zu überzeugt, sofern die Angehörigen jener Generation gegen die Nationalsozialisten waren, oder zu schuldig, um mit dem Blick zurück übermäßig viel Zeit zu verschwenden. Heute stellen ihre Söhne und Töchter Fragen nach der blutigen Geschichte jenes vereinten Deutschlands, wecken das schmerzliche Problem deutscher Identität wieder und scheinen versucht, ziemlich romantisch, durch die Idee einer neuen Mission Deutschlands als dem Boten des Friedens und der Befreiung ganz Europas. Darüber hinaus wurden die jungen Menschen Deutschlands vielfach in der Schule oder der Universität über die Übel der deutschen Nachkriegsgesellschaft aufgeklärt: Krämergeist, Materialismus, Konsumorientiertheit, aufdringliches Vorzeigen des Wohlstandes etc. Selbst bei denjenigen, die in Regionen zur Schule gingen, in denen Marxisten und Mitglieder der Neuen Linken nicht die Klassenräume beherrschen, finden sich die gleichen Themen auf den Leinwänden der Kinos oder auf dem Bildschirm wie auch in den Romanen der bekanntesten Schriftsteller der Bundesrepublik.

Schließlich scheinen sich viele Deutsche vom „amerikanischen Modell" entfremdet oder es sogar ganz verworfen zu haben. Anstelle des „Modells Amerika", ein noch in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren vorherrschendes Meinungsbild, tritt heute wenn nicht die Vorstellung eines bedrohlichen Amerikas (obwohl es eindeutig auch solche Momente gibt), aber doch zumindest ein negatives Bild der Vereinigten Staaten, beschmutzt durch Vietnam und die Gewalt im Lande, durch ethnische Spannungen und weitverbreitete Stimmenthaltungen bei Wahlen sowie durch eine bizarre Mischung aus politischem Militarismus und einer selbstgefälligen Weigerung zur Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht.

Hiermit treffen wir auf die erste von vielen Paradoxien. Anstatt der Meinung zu sein, die USA gewährleisteten Sicherheit und die UdSSR gefährde sie, sind viele junge Europäer heute vom Gegenteil überzeugt. Selbst dann, wenn sie sich darauf verstehen, daß die Gefährdung der Sicherheit aus dem Osten kommen könnte, reagieren sie auf eine den USA zuwiderlaufende Art und Weise. Auf der westlichen Seite des Atlantiks geht das öffentliche Stimmungsbild in Richtung auf eine Wiedererlangung amerikanischer Stärke, so wie es sich in der Wahl Reagans und des neuen Kongresses niederschlägt. In Westeuropa hingegen herrscht Angst vor einem Krieg und die Meinung, die Anhäufung von Waffen könne nur zum Krieg führen, und man will die Groß-mächte ihre Differenzen auf andere, für die Menschheit weniger gefahrvolle Weise aushandeln sehen. Darum die Betonung — selbst durch die Regierungen — von Verhandlungen mit dem Osten, und daher auch die Verführung der Öffentlichkeit durch verschiedene Formen der Weltflucht, angefangen bei atomwaffenfreien Zonen bis zur Neutralität. Die Ereignisse der siebziger Jahre haben die Ameri17 kaner und Europäer unterschiedlich berührt. Die Amerikaner wollen offenbar in der Welt „nicht länger herumgestoßen werden" und wenden sich fundamentalistischen Mitteln des ökonomischen Aufschwungs zu: Betonung privaten Unternehmertums und einer verminderten Rolle des Staates. Die Westeuropäer hingegen konzentrieren sich auf ihre innenpolitischen Schwierigkeiten und bauen auf staatliche Initiativen und eine gemischte Volkswirtschaft, wie immer auch die politische Orientierung der Regierungen sein mag.

In den letzten Jahren waren Amerikaner und Europäer, selbst auf offizieller Ebene, bei drei zentralen Fragen unterschiedlicher Meinung. Die Amerikaner sind in ihrem Verhältnis zu Moskau zu einer Sichtweise und Politik zurückgekehrt, in denen Feindseligkeit dominiert; Westeuropa hat von gemäßigten Beziehungen profitiert und will sie erhalten. Die USA wollten ihre Verbündeten zu einer weltweiten Allianz zusammenschließen, da sie eine globale sowjetische Herausforderung sehen; die Westeuropäer wiederum bestehen auf den geographischen Grenzen des NATO. Bündnisses, nehmen Washingtons Versuche übel, El Salvador zu einem Prüfstein atlantischer Solidarität aufzubauen oder Nord-Süd-Konfliktherde aus der Perspektive des Kalten Kriegs zu beurteilen oder auch im Nahen Osten den Waffen Vorrang vor diplomatischen Schritten zu geben. Die USA sind überzeugt davon, daß die zentrale Aufgabe unserer Zeit die Eindämmung des sowjetischen Imperialismus sei, und daß die von der UdSSR ausgehende militärische Gefahr vielfältig durchdrungen sei von den großen Schwächen des sowjetischen Gesellschafts-und Regierungssystems. Auch die Westeuropäer bejahen diese Gefahren, aber sie sehen sie durch diese Schwächen und durch die sowjetischen Schwierigkeiten in Afghanistan und Polen als verringert, wettgemacht oder neutralisiert an

IV.

Vor diesem Hintergrund läßt sich unschwer ermessen, warum die LRTNF-Verhandlungen im Brennpunkt des Meinungsstreits stehen. Der NATO-Beschluß vom Dezember 1979 war ein „verzögernder" Beschluß, in dem von einer künftigen Stationierung und von Rüstungskontrollverhandlungen die Rede ist. Obwohl die zu diesem Beschluß führenden Konsultationen zwischen den Regierungen wohlbedacht und langandauernd waren, war doch die Öffentlichkeit der wichtigsten westeuropäichen Staaten nie wirklich an diesem Prozeß beteiligt. Es gab vorher keine große Debatte hierüber, und in der oben bereits skizzierten Atomsphäre kann die auf die Stationierungsfrage zugespitzte Kontroverse heute als fast unausweichlich angesehen werden. Denn es existiert eine lange Geschichte interalliierter Meinungsverschiedenheiten über die Strategie und vor allem über die Atomwaffen der NATO

Erstens gab es vor allem nie eine Übereinstimmung in bezug auf die militärische Funktion atomarer Gefechtsfeldwaffen (TNF = Theater Nuclear Forces) innerhalb der NATO-Strategie. Während der gesamten sechziger Jahre drängten die USA auf eine konventionelle Aufrüstung der NATO als bestmöglicher Abschreckung eines sowjetischen Angriffs oder vielmehr als besten Weg, der strategischen Nukleargarantie der USA Glaubwürdigkeit zu verleihen. Sie sprachen sich füi eine Art Feuerschneise zwischen einer konventionellen und einer nukleartaktischen Auseinandersetzung aus, und sie sahen diese taktischen Nuklearwaffen in erster Linie als Abschreckungsmittel gegen einen sowjetischen Einsatz gleicher Waffen an und darüber hinaus als ultima ratio, sollte die konventionelle Verteidigung zusammenbrechen. Den Europäern jedoch wäre die Androhung eines frühen Einsatzes atomarer Gefechtsfeldwaffen durch die NATO lieber gewesen, um auf diese Weise den Sowjets die Annahme für immer unmöglich zu machen, sie könnten einen rein konventionellen Krieg in Europa beginnen und führen. Die formell 1967 eingeführte Strategie der „flexiblen Reaktion" war deshalb ein Kompromiß der nichts löste. Daraus folgte zweitens, daß es nie eine Übereinstimmung über Art und Umfang der benötigten TNF gab. Falls ihre Funktion darin liegt, die Verpflichtung der USA gegenüber Europa zu demonstrieren und zur Abschreckung einer möglichen sowjetischen Aggression beizutragen, so ist es überflüssig, diesen sowjetischen Atomstreitkräften genau gleiches entgegenzustellen. Denn in der Tat können die sowjetischen TNF, die neue SS-20Mittelstreckenrakete und der Backfire-Bomber, durch strategische Waffen der USA aufgewogen werden. Die Westeuropäer haben immer schon zu der Annahme geneigt, daß „Eskalationsfähigkeit", nämlich die Fähigkeit, den Sowjets auf jeder Eskalationsstufe mit gleichen Waffen begegnen zu können, um den Angreifer so von einer Eskalation bis zur Stufe einer möglichen Überlegenheit abzuschrecken, weniger abschrecke als Strategien, die eine frühe Auslösung und für den Angreifer unkontrollierbare Eskalation eines Atomkriegs androhen.

Drittens scheint mir der NATO-Beschluß vom Dezember 1979 über die Einführung neuer Mittelstreckenraketen in geringerer Zahl als die vergleichbaren sowjetischen Systeme jeder operativen Logik zu entbehren. Hatte er den Zweck, wie einige Vertreter unvorsichtigerweise meinten, den SS-20 ein Gegengewicht entgegenzustellen (ohne ihnen damit genau entsprechen zu wollen), um die USA nicht zu zwingen, im Fall eines Einsatzes der SS-20 auf ihre eigenen strategischen Streitkräfte zurückgreifen zu müssen? Dieser Ansicht wurde von europäischen Befürwortern des Beschlusses heftigst widersprochen, weil sie sowohl das Mißtrauen der Protestbewegung bezüglich der amerikanischen Entschlossenheit vergrößert, US-Territorium im Interesse Europas zu gefährden, als auch die Befürchtung verstärkt, daß jeder Versuch, ein Wie-du-mir-so-ich-dir-Gleichgewicht in Europa aufzubauen, auf eine „Abkopplung" der strategischen Waffen der USA vom potentiellen europäischen Gefechtsfeld hinausliefe. Liegt demnach die Logik des Beschlusses in der Wiederanbindung europäischer Sicherheit an die strategischen Systeme der USA, eine Anbindung, die durch die jüngsten sowjetischen Stationierungen gefährdet war? Wenn das aber der Zweck war, nämlich die Wiederherstellung der Abschreckung, sind dann die verwundbaren Pershing II-Raketen und weniger verwundbaren, aber schwer aufzulockernden bodengestützten Marschflugkörper die besten Mittel dafür? Oder besteht die Logik etwa in erster Linie darin, der NATO Verhandlungsmasse zu verschaffen? Schließlich besteht unter den Verbündeten keine Übereinstimmung über die Rüstungsteuerungs-Aspekte des Beschlusses. Zwar macht er die Stationierung nicht von einem Scheitern der Verhandlungen abhängig, aber man muß doch ein Anwachsen des Widerstands gegen die Stationierung erwarten, falls es noch eine Chance für ein Abkommen geben sollte, das eine begrenztere Stationierung oder sogar keine auf westlicher Seite zuließe.

Im Unterschied zum Plan für eine Multilaterale Atomstreitmacht (MLF), der in den frühen sechziger Jahren die Schaffung einer integrierten Atomstreitmacht mehrerer NATO-Staaten vorsah, war der Doppelbeschluß kein Versuch, auf ein politisches Problem eine militärische Antwort zu geben. Er versuchte vielmehr eine militärische und politische Lösung eines militärischen Problems. Angesichts der unterschiedlichen Denksysteme hierzu gab es jedoch weder eine Übereinstimmung in der Beurteilung der tatsächlichen Bedeutung und Beschaffenheit des durch die Sowjets geschaffenen Problems noch in der richtigen Antwort darauf. In Anbetracht des heiklen Kerns der Frage war es absurd anzunehmen, der Beschluß werde den quälenden Spannungen ein Ende setzen.

Ganz eindeutig ist die gegenwärtige Debatte nur der letzte Ausdruck der andauernden Furcht in Westeuropa, zum Kriegsschauplatz zu werden. Falls sich die USA durch die Weigerung, mit ihrem eigenen Territorium das Risiko im Fall eines sowjetischen Angriffs mitzutragen, „abkoppeln" sollten, weil sie die atomare Überlegenheit verloren haben oder aus einem anderen Grund (wie etwa der gegenwärtigen Unfähigkeit der NATO, die westliche Sowjetunion atomar zu treffen), dann könnte Westeuropa der Willkür der UdSSR ausgeliefert sein oder durch einen konventionellen oder begrenzten Nuklearkrieg vernichtet werden. Aber selbst wenn die USA Maßnahmen ergriffen, die als Wiederankopplung verstanden werden würden, indem sie z. B. davon ausgingen, daß die Sowjetunion nicht zwischen ei-19 ner in Westeuropa oder einer auf hoher See oder von US-Boden gestarteten Rakete unterscheiden würde, selbst dann kann Westeuropa immer noch nicht sicher sein, daß die USA wirklich ihre Atomwaffen einsetzen würden, da die Vereinigten Staaten die letztendliche Kontrolle über deren Einsatz ausüben. Weiterhin: Würde denn eine Wiederankopplung einen großen Unterschied ausmachen, falls die Großmächte sich in Richtung auf einen globalen Krieg bewegen? Es ist der verschwommene oder verblendende Hintergrund solcher Fragen, der die psychologischen Widersprüche und Verzerrungen der europäischen Friedensbewegung erklärlich macht. Menschen, die sich in aussichtsloser Lage befinden oder in einer Situation, in der die einzig gute Lösung — Frieden — immer unwahrscheinlicher zu werden scheint, neigen dazu, mit einer Mischung aus Illusionen, Vorurteilen und gedanklichen Inkonsistenzen zu reagieren, weil die Grammatik der Emotionen nichts mit Verstandeslogik zu tun hat. Erinnern wir uns, auf welche Weise die Franzosen, erpicht auf den Frieden und im Glauben, ein neuer Krieg werde ihr Land vernichten, auf die Bedrohung durch die Nationalsozialisten reagierten (ein Vergleich, der hier wegen der psychologischen, nicht politischen Parallelen gezogen wird).

Es gibt Europäer, die es ablehnen, in der SS-20 mehr als nur eine modernisierte Version älterer sowjetischer Raketen zu sehen oder die sich der Vorstellung einer möglichen sowjetischen militärischen Überlegenheit verweigern, oder die nicht zugeben wollen, daß die UdSSR jene Überlegenheit militärisch nutzen könnte, die sie besitzt, die aber durchaus bereitwillig glauben, die USA könnten einen sowjetischen Angriff nicht mehr abschrecken, weil sie ihre Überlegenheit verloren haben. Wir Amerikaner haben in den letzten Jahren, wie Henry Kissinger 1979 in Brüssel, zu stark das relative Nachlassen unserer Macht betont, unsere Unfähigkeit zu fortdauernder Abschreckungskraft. In den Vereinigten Staaten hat die Perzeption eines Niedergangs zu einem erneuerten und oft undifferenzierten Willen zur Aufrüstung geführt. In Europa jedoch hat sie die Zweifel an den USA und ein Wunschdenken über die potentielle sowjetische Bedrohung geschürt.

Man trifft bei den Protestlern auch auf den Wunsch nach glaubhafter Abschreckung (da nur erfolgreiche Abschreckung sinnvoll ist) und gleichzeitig auf die Befürchtung, keine Form der Abschreckung werde mehr völlig glaubwürdig sein. Man trifft auf Mißtrauen gegenüber strategischen Schritten der USA und auf eine neue Entschlossenheit, diesen Widerstand entgegenzusetzen, da sie auf eine Verschiebung von einer Strategie der Abschrekkung zu einer der Kriegführung hinzudeuten scheinen. Die Kritiker sehen hierbei in Carters Präsidenten-Direktive 59 mit ihrer Betonung der Abdeckung der sowjetischen Offensivstreitkräfte einen alarmierenden Musterfall, aber auch in Reagans Entscheidungen zur Produktion der Neutronenwaffe und zur Stationierung der strategischen MX-Interkonti.

nentalrakete sowie der Pershing II-Mittel.

streckenrakete, die beide furchteinflößende Erstschlagswaffen sind und, in Anbetracht ihrer Verwundbarkeit, einen sowjetischen Entwaffnungsschlag herausfordern könnten.

Es läßt sich aber auch die Überzeugung finden, daß die Verteidigung Europas und Neutralisierung jeder sowjetischen Bedrohung des Kontinents ein zentrales Interesse der USA bleiben werde, was immer auch die Verbündeten tun würden und welche Hiebe sie auch immer ihrer Schutzmacht zumuten werden. Es wird die feste Meinung vertreten, daß die Sowjets, selbst wenn sie in einigen Bereichen stärker sein sollten, diese militärische Überlegenheit nicht in politische Vorteile verwandeln könnten (Titos Jugoslawien, Ceaucescus Rumänien, ein freies Finnland haben überleben können), aber es existiert kaum ein Verständnis der dieser Entwicklung zugrunde liegenden Ursachen.

Tatsächlich nämlich liegt der Grund für die Grenzen des sowjetischen Einflusses doch in der westeuropäisch-amerikanischen Solidarität, und ein Bruch zwischen beiden Seiten des Atlantiks würde Westeuropa gefährlich exponieren. Es läßt sich auch, und das ist am gefährlichsten, eine Tendenz der Schuldzuweisung ausmachen, in der die Schutzmacht zum Grund allen Übels erklärt wird (entsprechend schoben viele Franzosen im Sommer 1938 ihrem Schützling, Bene, Tschechoslowakei, die Schuld für die Spannungen mit Hitler zu), und mit der man einen Fluchtweg durch überz 0 gen zu finden sucht. Kann also, nur weil der Frieden das einzig kluge und vernünftige Ziel des atomaren Gleichgewichts und des internationalen politischen Klimas sein?

V

Wir sind in der Geschichte des Bündnisses verschiedentlich Zeugen von Krisen geworden, die durch die europäischen Sicherheitsprobleme verursacht wurden. In zwei Fällen gaben die USA nach: Johnson bei der MLF, Carter bei der Neutronenwaffe. In einem anderen Fall führte ein zunehmend aussichtsloser werdender Kurs zu einer Bruchlandung, glücklicherweise gefolgt von einer Rettungsaktion: das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954 und die Entscheidung zur Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland innerhalb der NATO. Dies sind keine erfreulichen Präzedenzfälle.

Es darf in naher Zukunft kein Abrücken vom Doppelbeschluß geben. Entgegen früheren Stationierungsbeschlüssen war dies ein gemeinsam getragener Beschluß, und selbst wenn sich die belgische und niederländische Regierung zu seiner Verwirklichung nicht in der Lage sehen oder dazu nicht bereit sein sollten, so werden doch Großbritannien (außer im unwahrscheinlichen Fall einer Rückkehr der Labour Party in die Regierung), Italien und die Bundesrepublik versuchen, ihn durchzusetzen. Obwohl die gegenwärtige Regierung in Bonn scheitern könnte, wenn die SPD den von ihr gestellten Ministern das Vertrauen entziehen würde oder innenpolitische Probleme zum Bruch in der Koaliton führen, würde sich eine von den Christdemokraten geführte Regierung doch nur um so nachdrücklicher zum NATO-Doppelbeschluß bekennen. Im übrigen würde jedes Abrücken Verhandlungen zur Rüstungskontrolle den Boden entziehen.

Die wirkliche Gefahr liegt vielmehr unterhalb der offiziellen Ebene, im Verhältnis der Regierungen zu ihrer Öffentlichkeit. Einige Regierungen könnten sich nicht in der Lage sehen, zu ihrer vorläufigen Verpflichtung zu stehen (wie Belgien und Holland) oder ihren klaren Entschluß zu verwirklichen (wie im Fall der Bundesrepublik). Um den Graben zwischen diesen Regierungen und ihren Kritikern zu schließen, könnte man sich einige Ereignisse vorstellen, die jedoch alle nicht wahrscheinlich sind. Ein solches Ereignis wären erfolgreiche Verhandlungen zur Rüstungssteuerung. Selbst wenn man der Meinung ist, die Verhandlungen sollten auf TNF in Europa beschränkt sein (und damit auf Westeuropa gerichtete sowjetische Interkontinentalraketen unberücksichtigt lassen oder die der NATO assignierten Poseidon-und Trident-U-Boote oder auch die U-Boot-gestützten Marschflugkörper, die in den USA bald gebaut werden und als Verbindungsglied zwischen den strategischen Systemen der USA und dem europäischen Kontinent dienen könnten), gäbe es erhebliche technische und politische Hindernisse zu überwinden.

Auf der technischen Seite stellt sich die Frage: Über welche Waffensysteme soll verhandelt werden? Was soll gezählt werden: Raketen, Startvorrichtungen, Gefechtsköpfe? Welche Begrenzung wäre sinnvoll, und gäbe es überhaupt ein Niveau, das die Europäer vor neuen Stationierungen „sichern" würde, wenn man dem jüngsten NATO-Kommuniqu nicht trauen mag, nach dem im „Idealfall" einer NullLösung die Sowjetunion ihre SS-2O abwracken würde, und die USA dann ihre eigenen TNF nicht zu stationieren brauchten? Wird nicht in Ermangelung eines klaren, militärisch logischen Grundkonzepts auf westlicher Seite wahrscheinlich eine Einigung, in erster Linie der Verbündeten selbst, erschwert? Welchen Preis würden die Sowjets für ihr Einverständnis verlangen, die SS-20 abzuwracken und nicht bloß abzuziehen, falls sie dies überhaupt machten? Schließlich: Wie könnte dies verifiziert werden

Auf der politischen Seite stellt sich heraus, daß entgegen der mit dem Doppelbeschluß verbundenen Absicht einer Stärkung der westlichen Verhandlungsposition durch ent-schiedene Bereitschaft zur Stationierung die Verhandlungsmasse nun zur Quelle von Uneinigkeit und Schwäche wird. Die Sowjets haben jetzt nur geringe Anreize zum schnellen Abschluß eines Abkommens. Alles, was sie zu tun haben — und was sie einzig tun, sind vernünftig klingende Vorschläge zu machen, um dann auf die Resonanz der Öffentlichkeit in Westeuropa zu warten und den Konflikt zwischen den „ablehnenden" westlichen Regierungen und deren eifrigen Kritikern zu verschärfen.

Ein anderes denkbares Ereignis zur Schließung jenes Grabens wäre ein sowjetischer Schritt, der die Protestbewegung von der tatsächlichen sowjetischen Bedrohung überzeugen würde. Eine sowjetische Invasion Polens, auf allen Bildschirmen Westeuropas gezeigt, könnte die Friedensbewegung demoralisieren. Sie würde andererseits alle Chancen auf Rüstungssteuerung verbauen und damit all das neutralisieren, was an größerer Geschlossenheit des Westens durch sie erreicht werden könnte. Jedenfalls sollte man weder mit einer Rettung durch die Sowjets rechnen noch solch eine Tragödie erhoffen.

Was wird nun geschehen, wenn bis zum Zeitpunkt des Stationierungsbeginns kein Durchbruch in der Rüstungssteuerung erreicht und das Wettrüsten der Großmächte so wie heute fortgesetzt wird? Geschicktes Manövrieren innerhalb der SPD hat vielleicht die entscheidende Auseinandersetzung auf dem SPD-Parteitag vom letzten April auf 1983 verschieben und so dem Verhandlungsteil des Doppel-beschlusses noch eine Chance verschaffen können, bevor die eigentliche Stationierung der betreffenden Waffensysteme anläuft. Aber läßt sich die Begleichung der Rechnung ewig aufschieben? Eine entscheidende Kraftprobe 1983 könnte zu einem politischen Bruch führen, der die sozial-liberale Koalition entzweien und eine Koalition von CDU/CSU und FDP noch vor den Bundestagswahlen 1984 ermöglichen könnte. Alternativ hierzu könnte ein Kompromiß entstehen, um die Regierung durch die Forderung an die NATO zu retten, die Stationierung zu verschieben (sie soll Ende 1983 beginnen), insbesondere dann, wenn es noch einen Hoffnungsschimmer für die Verhandlungen geben sollte. Eine Rückkehr der CDU/CSU an die Macht noch vor der Wahl 1984 könnte theoretisch die Krise beenden. Es besteht jedoch ein wichtiger Unterschied zur Regierungszeit Adenauers, dem es durch Beharrlichkeit gelang, die SPD seinen außenpoli. tischen Prioritäten — westeuropäische Integration und Beitritt zur NATO — anzunähern, und der heutigen Zeit, da die CDU selbst nicht völlig immun gegen die antinukleare Anstekkung ist und der Öffentlichkeit ständig ihr Eintreten sowohl für Verhandlungen als auch für Stärke versichert.

Zweifellos ist es nicht in amerikanischem Interesse, den NATO-Beschluß — und implizit die Strategie und Politik der USA — weder für die SPD zur Kernfrage für die Erhaltung der Macht noch zur zentralen Frage deutscher Politik gemacht zu sehen, was geschähe, wenn die Regierungskoalition über den Beschluß stürzt oder die SPD von ihrem linken Flügel beherrscht werden würde. Die Bundesrepublik bleibt bei aller wirtschaftlichen Stärke und Stabilität ein zerbrechliches Gebilde.

Die Festigkeit des Bündnisses in Westeuropa konnte immer auf einer breiten außenpolitischen Übereinstimmung der nichtkommunistischen Parteien aufbauen. Es könnte deshalb klug für die Vereinigten Staaten sein, sich über eine Alternative Gedanken zu machen für den Fall, daß sich der Beschluß vom Dezember 1979 als undurchführbar erweisen sollte. Das Schlimmste, was passieren könnte, wäre ein Beharren der USA auf dessen Verwirklichung als Test der Bündnisloyalität, verbunden mit einem Murren über „Finnlandisierung" und Drohungen mit einem amerikanischen Truppenabzug. Es liegt nicht in amerikanischem Interesse, die europäischen Regierungen zu Geiseln zu machen und sie zu zwingen, zwischen der NATO und innenpolitischer Unterstützung zu wählen. Denn schließlich sollten doch die Westeuropäer durch den NATO-Beschluß, der sowjetischen Stationierung der SS-20 mit in Europa stationierten Raketen zu begegnen, der amerikanischen Unterstützung versichert werden. Es gibt andere militärische Möglichkeiten, um mit der Bedrohung fertigzuwerden, und es entspricht unserem Interesse, einen Weg zu finden, der die Regierungen unddie Öffentlichkeit zufrieden-stellt und die Gefahren der Polarisierung verhindert. Natürlich könnte die Friedensbewegung mit der Zeit den Mut verlieren, nachlassen, aufgeben. Aber auch das Gegenteil kann eintreten, und es entspricht nicht unserem Interesse, ein weiteres Anwachsen dieser Mischung aus dunkler Angst und rosigen Illusionen zu riskieren, die die jetzige Bewegung kennzeichnet.

An dieser Stelle sollten wir uns der unseligen Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und der Jahre 1954/55 erinnern. Solange noch eine Chance bestanden hatte, daß das französische Parlament die EVG passieren lassen würde, mußte die US-Regierung wohl darauf bestehen, daß es keine gute Alternative gäbe. Aber es war nicht klug von Washington, mit einer „schmerzlichen Neubewertung" zu drohen und nicht auf einen anderen Ausweg vorbereitet zu sein. Washington konnte froh sein, daß der britische Premierminister Eden und der französische Ministerpräsident Mendös-France mit einer Alternative aufwarten konnten. Heute ist es sinnvoll, sich sofort über andere Möglichkeiten Gedanken zu machen.

Es müßten die entscheidenden Ziele des NATO-Beschlusses auf eine Weise erreichbar gemacht werden, die politisch weniger kostspielig ist. Insofern wir mit der Psychologie der Perzeption mindestens ebensoviel zu tun haben wie mit militärischen Gewißheiten (die mangels Erfahrungen mit Atomkriegen nicht existieren, was das Durcheinander der Expertenmeinungen beweist), sollten wir uns nicht nur einem Lösungsweg zuwenden.

Eine Alternative sollte auf folgenden Überlegungen aufbauen: Erstens: Das Ziel des Dezember-Beschlusses von 1979 bleibt bestehen, die Sowjets von der Annahme abzuhalten, sie könnten mit ihrem neuen TNF-Potential angreifen, ohne einen amerikanischen Gegen-schlag auf sowjetisches Territorium zu riskieren. Zweitens: Eine solche Verstärkung der Abschreckung ist glaubwürdiger, wenn sie sich nicht ausschließlich auf die strategischen US-Systeme stützt. Die „kalkulierte Unkalkuierbarkeit" einer amerikanischen Reaktion, die nach McGeorge Bundy einen großen sowjetischen Angriff abschreckt, ist dann größer, wenn die USA nicht nur zwischen einem begrenzten taktischen Vergeltungsschlag und einem strategischen Erstschlag gegen die Sowjetunion wählen können. Drittens: Die Glaubwürdigkeit des Abschreckungsmittels und der defensive Zweitschlagscharakter der Waffensysteme werden durch ihre Unverwundbarkeit verstärkt.

Obwohl die Fragen der Unverwundbarkeit und Ankopplung teilweise strittig sind, gibt es doch Wege der Verständigung. Einer bestünde in der Erhaltung einer beschränkten landgestützten Einsatzkapazität in Form einer kleinen Zahl von Marschflugkörpern (die der Pershing II vorzuziehen sind, da sie weniger verwundbar und damit eine geringere Herausforderung für einen sowjetischen Präemptivschlag darstellen), die durch seegestützte, vor den Küsten stationierte Marschflugkörper zu ergänzen wären, deren Produktion kürzlich von US-Präsident Reagan beschlossen wurde. Die Konzeption einer seegestützten Streit-macht aus Marschflugkörpern wurde 1979 von der NATO verworfen, weil die zentrale Frage die der sichtbaren Ankopplung war, die ihrerseits nur durch landgestützte Systeme zu gewährleisten ist. Obwohl eine seegestützte Streitmacht aufgrund ihres mobilen, bodenungebundenen Charakters als weniger wirksames Abschreckungsinstrument angesehen werden könnte, ließe sich jedoch auch argumentieren, daß sie wegen ihrer geringeren Verwundbarkeit andererseits effektiver abschrecke. Jedenfalls ist ein Abschreckungsmittel mit geringer Akzeptanz weniger wirksam als eines, das keine polarisierenden Kontroversen auslöst und die Kritiker in absolute und absurde Positionen hineintreibt.

Vorstellbar wäre ein Abkommen ausschließlich zur Begrenzung der LRTNF, in dem sich die Sowjets zu einer Beendigung der Stationierung oder gar zu einer Reduktion ihrer Raketen bereit erklären würden zugunsten einer begrenzten Stationierung von NATO-Systemen der vorgesehenen Art. Andererseits könnte ein Scheitern der TNF-Verhandlungen auf der Grundlage des NATO-Beschlusses zum Anlaß genommen werden, diesen durch einen neuen zu ersetzen. Diese Alternative könnte in der Mischung von stationierten LRTNF bestehen, die für die Öffentlichkeit annehmbarer ist, und einer Verringerung des NATO-Arsenals an Atomwaffen kurzer Reichweite, das gegenwärtig für Abschreckungszwecke zu groß und für eine Krisenstabilisierung zu nahe am potentiellen Gefechtsfeld stationiert ist und das, sollte es zur Kriegführung eingesetzt werden, Europa zerstören würde, ohne überhaupt eine erfolgreiche Verteidigung sichern zu können.

Eine letzte Option wäre natürlich, eine TNF-Verstärkung überhaupt aufzugeben. Zwei Pläne dieser Art sind vorgeschlagen worden, und beide sind nicht wünschenswert. Der eine stützt sich auf die luftgestützten Marschflugkörper der USA (ALCM = Air Launched Cruise Missile) und folgt derjenigen Abschreckungstheorie, die die „kalkulierte Unkalkulierbarkeit" für wichtiger hält als der anderen Seite exakt entsprechendes Drohpotential oder ein „lückenloses Netz" der Abschrekkung entgegenzustellen Es trifft natürlich zu, daß unser Gesamtkonzept der Abschrekkung von unserer eigenen Einschätzung der Bündnisnotwendigkeiten ausgehen sollte und nicht von der Vorstellung, jedem einzelnen sowjetischen Potential mit einem genau entsprechenden eigenen Potential entgegenzutreten, aber eine der Notwendigkeiten ist die Gewährleistung einer glaubwürdigen Ankopplung.Das Problem besteht nicht darin, daß die strategischen Streitkräfte der USA die neuen sowjetischen Raketen nicht angemessen abschrecken könnten, sondern es ist das Statio-nierungsgebiet der eigenen Raketen, was aus europäischer Sicht zählt. Die Lösung hierfür — weniger schwer als die Quadratur des Kreises — besteht in einem Stationierungsraum, der die Europäer mehr beruhigt und unterstützt und ihnen weniger bedrohlich erscheint. Der zweite Plan fordert, alle Anstrengungen der NATO in die konventionelle Aufrüstung zu stecken. Ein besseres konventionelles Gleichgewicht ist zwar unverzichtbar, aber kein Allheilmittel. Politisch wäre eine Zustimmung der europäischen Verbündeten, den größten Teil der Finanzlasten selbst zu tragen (anders als beim Beschluß vom Dezember 1979), nur sehr schwer zu erreichen. Darüber hinaus stieße diese Konzeption als abkoppelnde Maßnahme wie immer in der Vergangenheit auf Widerstand. Und militärisch stellt sie vielleicht noch nicht einmal eine wirkliche Option dar, es sei denn, alle Atomwaffen würden aus Westeuropa abgezogen werden (was viele der heutigen Befürworter eines Abbaus von Atomwaffen dann als Beweis eines Aufgebens Europas durch die USA brandmarken würden).

VI.

Aus der Geschichte des NATO-Beschlusses vom Dezember 1979 sind drei Lehren zu ziehen. Die eine betrifft die wichtigen Entscheidungen der NATO insgesamt: Sie tendieren dahin, zu sehr von jeweils augenblicklichen Zeitumständen und kurzfristigen Überlegungen geprägt zu sein und sich damit vom politischen Klima des Augenblicks abhängig zu machen. Die Parallele zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft soll hier nochmals betont werden. Die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik war eine langfristige Notwendigkeit, aber die Hast, mit der sie, und die Art, wie sie vorangetrieben wurde, kann nur mit dem Schock des Korea-Kriegs erklärt werden. Ein Vertrag zur Wiederbewaffnung, in der düsteren Phase des Spätstalinismus ausgearbeitet, sah dann nach dem Tod des Diktators, als man einem möglichen Tauwetter entgegensah, ein ganzes Stück anders aus.

In unserem Fäll hier ging es wiederum um berechtigte langfristige Sorgen, die aus der sowjetischen Aufrüstung in Europa erwuchsen In der Art und Weise jedoch, in der der Beschluß gefaßt wurde, schlugen sich zwei kunfristige Überlegungen nieder. Die eine war die amerikanische Versicherung an die Westeuropäer, der SALT-II-Vertrag werde kein „eurostrategisches Ungleichgewicht" schaffen oder vielmehr zurücklassen, obwohl bereits Ende der siebziger Jahre klar war, daß die Entwicklung der amerikanischen Nuklearprogramme, vor allem die der Marschflugkörper, wahrscheinlich das atomare Gleichgewicht gegen Ende der achtziger Jahre zugunsten der USA verschieben und die Unterscheidung zwischen strategischen und regionalen Systemen verwischen würde.

Die zweite Überlegung bestand in der Demonstration der amerikanischen Führungskraft um eine Wiederholung des Neutronenwaffen Fiaskos zu verhindern, im Verlauf dessen die Regierung Carter ihre Entscheidung zur Produktion und Stationierung der Neutronenwaffe zurücknahm und damit europäische Regierungen in Verlegenheit brachte, die den ursprünglichen Beschluß unterstützen wollten.

Vor allem aber verschwand der politische Kontext des Beschlusses vom Dezember 1979 fast unmittelbar nach dessen Verabschiedung. Insoweit er ein Instrument für Verhandlungen nach SALT darstellte, ging man sowohl von der Ratifizierung des SALT-II-Vertrags als auch von einer Fortsetzung dessen aus, was von der sowjetisch-amerikanischen Entspannung übriggeblieben war (die ein Ausloten von Bereichen für Rüstungskontrolle war). Als jedoch Bundeskanzler Schmidt im Juni 1979 zur Unterstützung der Ratifizierung von SALT II in die USA kam, hat er wohl den wachsenden Widerstand gegen den Vertrag gespürt, und seine Unterstützung für den sich abzeichnenden NATO-Beschluß hat danach wahrscheinlich etwas nachgelassen. Der Zug war allerdings abgefahren und entwickelte sich zu einer Höllenmaschine. Paradoxerweise wurde der Beschluß, der sowjetischen Schritten entgegenwirken sollte, nach der Intervention in Afghanistan nicht annehmbarer, sondern weniger akzeptabel. Das Militärprogramm, das auf die Wiederherstellung des Kräftegleichgewichts in einem Entspannungsklima zielte, stellte sich als ein weiterer Schritt hin auf Armageddon im Zeitalter des Kalten Kriegs heraus.

Die zweite Lektion betrifft die USA. Ihr politischer Stil und Ton sind ebenso wichtig wie ihre tatsächliche Politik. Unsere Führung muß den Unterschied zwischen Wiederherstellung amerikanischer Stärke und kriegerischem Auftreten erkennen lernen, zwischen Erweiterung des Schutzes unserer Freunde und Machtübernahme, zwischen Verbreitung von Illusionen über Rüstungssteuerung und scheinbarer Absage an Rüstungssteuerung überhaupt, zwischen Unterstützung verbündeter Regierungen bei deren Überwindung innenpolitischer Opposition, indem man alles unterläßt, was Mißtrauen und Vorurteile der Demonstranten verstärken könnte, und einer Verschärfung der amerikanisch-europäischen Spannungen, indem man unbeugsam ad infinitum das logische Kalkül des Beschlusses von 1979 wiederholt und die Friedensbewegung direkt verurteilt (das sollte man den europäischen Regierungen überlassen). Zwei Dinge sind hierbei zu berücksichtigen. Das eine ist ein größeres Feingefühl für die europäische Kriegsangst. Sie ist nicht gleichzustellen — und sollte nicht gleichgestellt werden — mit einer Sympathie für Moskau. Unter den Demonstranten sind die Anhänger Moskaus eine Minderheit. Für ein Amerika jedoch, das die'Welt in Kategorien eines bipolaren Wettstreits sieht, ist es schwer zu verstehen, daß die Ernüchterung der europäischen Jugend und Intellektuellen über Moskau diese paradoxerweise fordernder und nicht weniger fordernd den USA gegenüber macht (sie fühlen sich weder verantwortlich für den Angriff auf Afghanistan noch von ihm überrascht, aber als Verbündete der USA fühlten sie sich vom Schicksal Vietnams betroffen und waren deshalb gleichzeitig selbstgerecht und in der Revolte). Demnach ist die europäische Kriegs-angst kein Wunsch nach Appeasement und keine feige Ablehnung von Verteidigung und sollte auch damit nicht gleichgesetzt werden. In ihr drückt sich vielmehr eine völlig verständliche Entschlossenheit aus, auf der einzig vernünftigen Seite der großen, vielleicht verblassenden Trennlinie zu stehen, die Abschreckung von Krieg trennt — nämlich auf der Seite von Abrüstung und Rüstungskontrolle. Es stimmt selbstverständlich, daß es in der Geschichte einige schlimmere Dinge als Krieg gegeben hat. Aber die USA waren in den dreißiger Jahren gegenüber der Appeasement-Politik nicht immuner als Großbritannien oder Frankreich. Und es ist einfacher, andere an die Vorzüge des Krieges zu erinnern oder sich Szenarien des Atomkriegs in kalter Pseudorationalität auszudenken, wenn das eigene Land nie besetzt oder verwüstet wurde, oder wenn man ein gutes Gewissen hat, anderen Menschen niemals um einer schlechten Sache willen böswillige Vernichtung gebracht zu haben, wie es viele Deutsche ihrer nicht allzufernen Vergangenheit gegenüber schuldbewußt fühlen.

So besteht auf der amerikanischen Seite des Atlantiks oft ein Mangel an Vorstellungskraft und Empathie. Das subtile verborgene Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Westeuropäern, Osteuropäern und den Sowjets durch kriegsbedingte Traumata ist eine Tatsache, die die Sowjets mit Geschick auszunutzen verstehen. Wir müssen uns dessen bewußt sein und entsprechend vorsichtig verfahren. In den USA könnte eine glatte Sprache ohne Kanten der einzige Weg zur Ermöglichung einer neuen Politik sein, denn der Unterschied zwischen offizieller Wortwahl (von jeder US-Regierung neu gefunden) und den Realitäten (wo Kontinuitäten bestimmend sind) ist oftmals groß. Andere jedoch beurteilen uns nach unserer Wortwahl und interpretieren harmloseMaßnahmen oder zweideutige Erklärungen im Licht unseres rethorischen Gehabes. Vielen Europäern scheinen die Entscheidung US-Präsident Reagans zur Produktion der Neutronenwaffe und seine Bemerkungen aus dem Handgelenk über die Möglichkeit der Begrenzung eines atomaren Schlagabtauschs auf Europa Teil eines Plans zu sein. Wenn heute viele derer, die einst die Nachricht von der Verwundbarkeit der USA und ihrer Schwäche hinausposaunten, die Muskeln spielen lassen und einen High Noon erwarten, dann muß die westeuropäische Öffentlichkeit, die sowohl einen verläßlichen amerikanischen Schutz als auch eine Zusicherung des Friedens braucht, notwendigerweise konfus und ängstlich werden. Eine langfristige Politik gegenüber der UdSSR ist ebenfalls notwendig. Selbst diejenigen Europäer, die angesichts der Unfähigkeit der Carter-Regierung eine kohärente politische Strategie gegenüber Moskau zu entwickeln am unnachsichtigsten waren und die die Entscheidung der jetzigen US-Regierung zur Stärkung der amerikanischen Verteidigung unterstützen, machen sich über neue innere Widersprüche und fragwürdige neue Trends Sorgen. Sie sehen eine US-Regierung, die sie zur Übernahme von Risiken drängt und sie wegen ihres Zögerns und ihrer Wirtschaftsbeziehungen mit Moskau kritisiert, das amerikanische Getreideembargo aber aufhebt und es für politisch angebracht hält, die MX-Rakete in bereits existierenden Silos zu stationieren, wie verwundbar diese auch sein mögen. Die Europäer sympathisieren oft mit Washingtons Entschlossenheit, die Kosten für sowjetische oder sowjetisch unterstützte Einmischungen in internationale Angelegenheiten in Lateinamerika oder Afrika zu erhöhen und die Ölfelder des Nahen Ostens zu schützen. Sie sind jedoch wegen der Neigung der Amerikaner besorgt, der sowjetischen Bedrohung überall Priorität einzuräumen und genau das gleiche auch von anderen zu erwarten, selbst angesichts drängender regionaler Bedrohungen oder interner Bedrängnisse. Sie sorgen sich um die offensichtliche Annahme der US-Regierung, ein Dialog mit Moskau sei unmöglich, es sei denn, die Sowjets akzeptierten die amerikanischen Vorstellungen von Zurückhaltung oder — in strategischen Fragen — von einschneidenden Rüstungskürzungen. Sie machen sich Sorgen um eine in ihren Augen vorhandene amerikanische Sehnsucht nach den fünfziger Jahren, nach der Ära amerikanischer atomarer Überlegenheit, einer relativ ruhigen Dritten Welt und der unangefochtenen Führung eines Bündnisses von Ungleichen.

Die westeuropäischen Führungen müssen ihren Völkern klarere Perspektiven anbieten können als unbeschränkte Eindämmungspolitik und wiederholte politische Zusammenstöße. Sie fürchten, daß eine Kombination aus tiefem Mißtrauen über sowjetische Maßnahmen und Absichten, der Erwartung von großen Unannehmlichkeiten und dem Mangel an jeder Art von Politik, die über rein militärisches hinausgeht, die Prophezeiung einer Konfrontation einer gefährlichen Selbsterfüllung entgegentreiben lassen könnte.

Die dritte Lektion betrifft Westeuropa. Die Reaktionen der Friedensbewegung zeigen mehr als eine berechtigte Kriegsangst, mehr als eine idealistische Forderung nach einer Zukunft, die Raum läßt für Hoffnung und Fortschritt In ihnen schwingt auch der hohe Preis von 35 Jahren Abhängigkeit mit. Westeuropa ist die Bratpfanne auf einem Herd, der von anderen bedient und kontrolliert wird. Unverantwortlichkeit und Vorurteile sind die unausweichlichen Resultate. Staaten, die sich in ihrer Verteidigung und folglich in vielen Bereichen ihrer Außenpolitik auf andere stützen müssen, neigen oftmals zu einer Wendung nach innen und überlassen anderen die Verantwortung — und Schuld — für schwierige Entscheidungen. Seit Jahren schon erklären die Architekten der Europäischen Gemeinschaft, indem sie aus der Not eine Tugend zu machen versuchen, daß ihre neue Gemeinschaft ihrer Natur nach „zivil" sei und Machtpolitik ablehnen werde, um auf diese Weise ein Modell für andere Staaten sein zu können. Verteidigungsfragen wurden der NATO überlassen, in der die wichtigsten Entscheidungen einseitig von den USA oder gemeinsam auf amerikanische Initiative hin getroffen werden. Im Ergebnis hatte Europa den schlechteren Teil beider Welten: die Versuche einer neuen gemeinschaftlichen politischen Einheit ohne Kontrolle des einen Problems, das im Zentrum von Souveränität und Macht steht.

Nicht zufällig ist Frankreich das einzige Land, in dem die Friedensbewegung nur schwach ist, in dem die Gegner der Kernenergie z. B. nicht gegen die französische Nuklearstreitmacht zu sein scheinen, und in dem seit de Gaulle die französische Regierung für die Verteidigung Frankreichs einschließlich der Nuklearbewaffnung verantwortlich zeichnet. In Frankreich haben sich während der letzten 20 Jahre Optimisten und Utopisten, z. B. in der Sozialistischen Partei, von einer Opposition gegen die französische Verteidigungspolitik hin zur Übernahme der Verantwortung entwickelt. Frankreich ist allerdings kein Beispiel für andere NATO-Staaten. Entweder sind diese zu schwach oder — Beispiel Bundesrepublik — der politische Preis für eine Suche nach Autonomie wäre innen-wie außenpolitisch zu hoch. Aber dieser Mangel an nationaler Autonomie fördert die Neigung zu Wunschdenken und romantischem Widerstand. Zu lange hat der westeuropäische Verzicht auf eine eigenständige Politik amerikanische Tendenzen zu einseitigen Handlungen bestärkt, und dies wiederum hat die westeuropäische Unzufriedenheit genährt. Viele Amerikaner haben bereits ihren Verbündeten vorgeworfen, sie versuchten sie in eine aussichtslose Rüstungskontroll-Scharade hineinzuziehen. Einige zornige und durchaus repräsentative Stimmen in den USA ziehen Vergleiche zwischen dem Geist von München und den neuen Protesten oder dem Versagen einiger Regierungen bei der Durchsetzung des ursprünglichen Beschlusses, und sie drohen, Westeuropa sich selbst zu überlassen. Auf der anderen Seite gibt es in Europa ebenfalls verärgerte und nicht unrepräsentative Stimmen wie Heinrich Albertz in Berlin und Erhard Eppler, die eine Situation beendet sehen wollen, die Deutschland zum Zielgebiet der Großmächte und die Westeuropäer zu Bauern auf deren Schachbrett macht.

Die Abhängigkeit der NATO-Verbündeten der USA schadet nicht nur den amerikanisch-europäischen Beziehungen, sondern sie ist darüber hinaus ein Faktor innereuropäischer Uneinigkeit. Gestern noch war die Bundesrepublik über die Entscheidung des gaullistischen Frankreich verärgert, die NATO zu verlassen und eine Strategie zu verfolgen, in der die Bundesrepublik im wesentlichen zum Glacis für den französischen Schutz gemacht wurde, auf das französische Atomartillerie fiele, und nicht zum Partner der Vorneverteidigung. Heute sind es die Franzosen, die die Proteste in der Bundesrepublik nicht nur mit einer gewissen Herablassung als eine direkte Folge jener Abhängigkeit sehen, sondern die erneut den Verdacht haben, die Protestbewegung werde von dem Wunsch nach Wiedervereinigung in Neutralität geleitet, die der Sowjetunion zugute käme und das Bündnis unterminieren würde, ein Verdacht, den bereits der französische Präsident Pompidou angesichts der Ostpolitik Brandts gehabt zu haben schien. Sicherlich ist die Abhängigkeit von der Präsenz amerikanischer konventioneller Truppen und der Nukleargarantie der USA eine feststehende Tatsache westeuropäischen Lebens; die US-Truppen verleihen der Garantie Glaubwürdigkeit, und die Garantie ist das grundlegende Instrument der Abschreckung. Gleichwohl müssen Wege gefunden werden, um die politischen Kosten der unausweichlichen geographischen und militärischen Unterlegenheit Westeuropas zu verringern, eine Schwäche, die durch die gegenwärtige Bündnisstruktur übertrieben wird. Dies muß drei Änderungen der Politik innerhalb der NATO zur Folge haben.

Erstens ist es entgegen der eigenen Zurückhaltung Westeuropas notwendig, daß es umfassender und weit gleichberechtigter an den wichtigen militärischen Entscheidungen beteiligt wird, nicht nur an Stationierungsbeschlüssen, sondern auch an Entscheidungen über Strategie und Taktik sowie den möglichen Einsatz von Kernwaffen. Der Beschluß vom Dezember 1979 zeigt, wie bereits gesagt, die Bereitschaft der USA, die Risiken ihrer Verbündeten mitzutragen. Aber solange die letztendliche Entscheidung über den Einsatz oder Nichteinsatz dieser Waffensysteme einzig bei den USA liegt, solange werden ihre Verbündeten fürchten, das Risiko im Augenblick der Wahrheit allein tragen zu müssen.

Zweitens dürfen selbst die wichtigsten militärischen Entscheidungen nur Teil einer übergreifenden Politik gegenüber der Sowjetunion sein. Das Verteidigungskonzept dient als Plattform, auf die sich eine weitergreifende Politik gründen kann, und die Militärdoktrin zielt auf die Bewältigung hypothetischer Worst-Case-Szenarien. Die Politik insgesamt jedoch, die dazu dienen muß, den schlimmsten denkbaren Fall durch politische und militärische Mittel unwahrscheinlich zu machen, darf nicht länger in Washington allein beschlossen werden. Es ist genau die oben erwähnte Divergenz in den Konzeptionen, die den Versuch eines Ausgleichs zur einzig vernünftigen Alternative gegenüber wachsenden Meinungsunterschieden oder einer Folge von Ad-hoc-Lösungen und -Kompromissen macht, welche die Differenzen nur weiterbestehen ließen.

Drittens sollten westlicherseits Rüstungskontroll-Verhandlungen über TNF in Europa entsprechend den Verhandlungen über eine beiderseitige und ausgewogene Truppenreduzierung nicht allein von den USA, sondern von den Vereinigten Staaten und ihren militärischen Verbündeten geführt werden. Andererseits ist es für die Westeuropäer an der Zeit darüber nachzudenken, ob nicht Möglichkeiten zu einem — zumindest graduellen — Aufbau einer europäischen Verteidigungsorganisation bestünden, da das überragende Gewicht der USA in der NATO wahrscheinlich als Quelle von Spannungen bestehenbleiben wird. Eine solche Organisation würde die Franzosen einschließen müssen und hätte in einer ersten Phase sowohl die Kooperation bei der Modernisierung der konventionellen Streitkräfte als auch die nukleare Koordination zwischen Frankreich und Großbritannien zu fördern.

Die Aussichten sowohl auf eine zunehmende Verlagerung amerikanischer Ressourcen aus Westeuropa in andere Teile der Welt, die die Westeuropäer als außerhalb der Verantwortung der NATO liegend betrachten, als auch auf eine amerikanische Unzufriedenheit mit der anscheinenden Verschleppungstaktik Westeuropas innerhalb der NATO und mit der Notwendigkeit, die politische Kooperation Europas durch eine militärische Zusammenarbeit zu stützen, genügen bereits zur Rechtfertiguing einer solchen Unternehmung. Falls sie wachsen und sich entwickeln und zu einem zufriedenstellenden Prozeß kollektiver Entscheidungsfindung führen sollte, wäre sogar eine gemeinsame Anstrengung aller oder einiger Beteiligter vorstellbar, TNF in Europa herzustellen (die Franzosen planen bereits Mittelstreckensysteme und sind in der Lage, die Neutronenwaffe zu bauen) und möglicherweise gemeinsam amerikanische TNF zu beschaffen, die dann aus amerikanischem oder NATO-Oberbefehl auf ein europäisches Kommando übergingen. Dies würde selbstverständlich die Errichtung eines europäischen Verteidigungsdirektoriums notwendig machen, das einen unabhängigen Zugang der Bundesrepublik Deutschland zu Kernwaffen oder zur Produktion und zum Besitz solcher Waffen unmöglich machen würde, eine westdeutsche Beteiligung an Entscheidungen über deren Einsatz, gemeinsame Produktion und gemeinsamen Besitz jedoch offenließe. Wir sind heute allerdings offensichtlich sehr weit von derartigen Möglichkeiten entfernt. Bis jetzt zogen es die Westeuropäer vor, den USA die wichtigsten Entscheidungen zu überlassen und sie wegen ihrer Fehler oder Konfusion zu kritisieren. Eine spezielle westeuropäische Verteidigungsgemeinschaft wirft drei wesentliche Probleme auf, die in der Vergangenheit unlösbar waren: das Risiko, Washington einen Grund für eine Verringerung des US-Engagements in Westeuropa zu liefern (z. B. durch Truppenabzug); die Probleme in Zusammenhang mit einer Beteiligung der Bundesrepublik an einer europäischen Nuklearstreitmacht; schließlich die Disparität zwischen gemeinsamer Verteidigung und der sehr lockeren Integration der Innen-und Außenpolitik innerhalb der EG.

Das erste Problem könnte in Zukunft eine ganz andere Wendung erfahren. Eine beiderseitige Verbitterung im bestehenden Rahmen der NATO könnte selbst die größte Gefahr für die fortdauernde amerikanische Verpflichtung in Europa darstellen; die beiden anderen Probleme jedoch bleiben bestehen. Die deutsche Frage sollte allerdings in richtiger Per-B spektive gesehen werden: Ist nicht eine Bundesrepublik Deutschland mit wachsenden militärischen Aufgaben, die innerhalb einer europäischen Organisation ausgeübt und in sie eingebunden wären, einer durch Neutralismus und Nationalismus versuchten Bundesrepublik vorzuziehen? Würde eine derartige Entwicklung im letzten Fünftel dieses Jahrhunderts wirklich von der Sowjetunion als eine echte Bedrohung angesehen werden angesichts der Nichtexistenz jedweden westdeutschen Revanchismus und der Restriktionen, die die militärische Souveränität Bonns weiterhin beschränken würden? Und müssen sich, was die Diskrepanz der Funktionen angeht, alle Bereiche im gleichen Rhythmus entwikkeln? Die Gründe, in diese neue Richtung voranzugehen, sind angesichts der Alternativen zwingend. Und doch: Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß sie eingeschlagen werden wird. Teils wegen der Überbeanspruchung jedes europäischen Staates durch wirtschaftliche und soziale Probleme; teils wegen des nicht vorhandenen größeren Ehrgeizes in Europa, kombiniert mit dem Fortdauern getrennter außenpolitischer Interessen und nationaler Perspektiven; teils wegen des beachtlichen Gewichts bestehender Verhaltensmuster und Gebräuche sowohl in der militärischen Organisation der NATO als auch in Frankreich, wo es selbstzufrieden für die Vorteile eingesetzt wird, die einer Kombination aus Autonomie und Kooperation mit der NATO entspringen. Simples sorgenfreies Sich-Verlassen ist jedenfalls keine Möglichkeit mehr (war es übrigens je sorgenfrei?). Ein zweifelnd-beunruhigtes Sich-Verlassen mit einer wachsenden Anziehungskraft eines neutralistisch-pazifistischen Gemischs wird das wahrscheinlichste Ergebnis all desen sein, falls die USA nicht wesentlich mehr Finesse als in den letzten Jahren zeigen werden. Auf keinen Fall stehen wir vor einem guten Ergebnis.

Selbstverständlich gehen diese Betrachtungen weit über den Problemkomplex TNF hinaus. Aber die Reaktionen in Westeuropas auf diese Probleme und das bisherige Unverständnis auf der anderen Seite des Atlantiks machen deutlich, daß eine Lösung von Fortschritten auf den eben angesprochenen Gebieten abhängen wird oder — sollte der Beschluß vom Dezember 1979 nicht wunderbarerweise auf eine Art verwirklicht werden, die allen Verbündeten entgegenkäme — die fundamentaleren Probleme blieben unerledigt zurück, um später neue Krisen zu provozieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. hierzu ausführlicher meine Analyse: The Western Alliance. Drift or Harmony?, in: International Security, Fall 1981, S. 105 ff.

  2. Die folgende Untersuchung der nicht-strategischen Atomstreitkräfte folgt weitgehend einer demnächst erscheinenden Studie der Carnegie-Stiftung über die Sicherheit der USA und die Zukunft der Rüstungskontrolle.

  3. Vgl. zu diesen Fragen: William Hyland, Soviet Theatre Forces and Arms Control Policy, in: Survival, September/Oktober 1981, S. 194 ff.

  4. McGeorge Bundy, Instead of Missiles, in: The New York Times, 21. Mai 1981.

Weitere Inhalte

Stanley Hoffmann, Prof, an der Harvard University und Leiter des dortigen Center for European Studies. Veröffentlichungen u. a.: Gulliver s Trouble, Primacy or World Order, American Foreign Policy since the Cold War.