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Grenzen der Politik | APuZ 32-33/1982 | bpb.de

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APuZ 32-33/1982 Grenzen der Politik „Freiheit" als Bürgerpflicht Ein Beitrag zur Ermutigung demokratischer Gesellschaft Über das Altern revolutionärer Ideen. Materialien zum Übergang des Herzklopfens für das Wohl der Menschheit in den Weltlauf und der Versuch eines Resümees Aussteigermentalität und politische Apathie Jugendlicher. Eine zentrale Herausforderung für die politische Bildung der achtziger Jahre

Grenzen der Politik

Christian Graf von Krockow

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Seit Beginn der Neuzeit ist ein Prozeß der Fundamentalpolitisierung in Gang gekommen, der zum Äußersten, zur Totalität tendiert. Damit entsteht zugleich die Tendenz, Politik für alles verantwortlich zu machen, sogar für die menschliche Glücksbilanz. Aber so wächst nicht nur die Gefahr einer angesichts letzter menschlicher und menschheitlicher Fragen terroristischen Politik mit dem guten Gewissen. Sondern es wird auch einer anklagenden Abkehr von allen politischen Systemen der Weg bereitet, die die überzogenen Erwartungen notwendig enttäuschen. Freiheitliche Politik setzt demgegenüber eine sorgfältige Grenzziehung zwischen vorletzten und letzten, mehrheitsfähigen und nicht mehrheitsfähigen, politisch beantwortbaren und politisch nicht beantwortbaren Fragen voraus. Diese Grenze freiheitlicher Politik wird in jüngster Zeit in der Bundesrepublik theoretisch wie praktisch zunehmend mißachtet. Um so dringender ist eine Aufklärung über die geschichtlichen Erfahrungen zu fordern, aus denen deutlich genug spricht, wohin die Mißachtung der Grenzen politischen Handelns am Ende führt.

„ Was nicht von dem Menschen selbst gewählt, worin er auch nur eingeschränkt und geleitet wird, das geht nicht in sein Wesen über, das bleibt ihm ewig fremd, das verrichtet ernicht eigentlich mit menschlicherKraft, sondern mit mechanischer Fertigkeit... überhaupt wird der Verstand des Menschen doch, wie jede andre seiner Kräfte, nur durch eigne Tätigkeit, eigne Empfindsamkeit oder eigene Benutzung fremder Erfindungen gebildet. Anordnungen des Staats aber führen immer mehr oder minder Zwang mit sich, und selbst wenn dies nicht der Fall ist, so gewöhnen sie den Menschen zu sehr, mehrfremde Belehrung, fremde Leitung, fremde Hilfe zu erwarten, als selbst aufAuswege zu denken... Noch mehr aber leidet durch eine zu ausgedehnte Sorgfalt des Staats die Energie des Handelns überhaupt und der moralische Charakter.“ Wilhelm von Humboldt: fdeen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, 1792. . Albanien, ein Leuchtfeuer der Freiheit! Diese Schlagzeile produzierten, als habe sie ein Cervantes unserer Tage für seinen Don Quijote erfunden, vaterlos gewordene Maoisten nach dem Sturz der „Viererbande" in China. Das abgeschottete, unbekannte Land der Skipetaren blieb als letzte Fluchtburg der Utopie, der Hoffnung auf eine andere, bessere Welt.

Aber der Sachverhalt läßt sich verallgemeinern und stimmt dann eher traurig als heiter. So viele, alle Hoffnungen sind zerstoben. Der Mythos Amerika starb mit John F. Kennedy und in Vietnam. Vom Sowjetmythos bleibt nichts als die imperiale Erstarrung, die den elenden Alltag einer bürokratischen Verwaltung des Mangels zur Kehrseite hat. Und vom bundesdeutschen Aufbruch 1969 — „Wir fangen erst an!" — bleiben bloß Resignation und . Tendenzwende". Wo immer man seither den Aufbruch und Ausbruch noch probte, sei es wie in Großbritannien und den Vereinigten Staaten nach „rechts“, sei es wie in Frankreich nach „links", scheint Enttäuschung un-fehlbar auf dem Fuße zu folgen. Nicht einmal das nüchtern-pragmatische „Machen" gelingt mehr; niemand oder allenfalls der Scharlatan weiß, wie der wirtschaftlichen Depression, der Inflation, der Arbeitslosigkeit, dem Rüstungswettlauf, der Armut und der Bevölkerungsexplosion in der Dritten und dem Wertezerfall, der Abkehr der Jugend in der Ersten Welt wirklich beizukommen ist.

Die Vermutung drängt sich auf, die Politik selbst sei an oder über Grenzen geraten und es gelte für sie, was bisher im Spannungsfeld von Ökonomie und Ökologie als Grenze des Wachstums dargestellt worden ist. Begriffe wie Unbehagen — schärfer, treffender im Fremdwort: Malaise —, Krise, Unregierbarkeit signalisieren, was eben nicht nur einen Staat oder ein „System" betrifft, sondern unter allen Vorzeichen überall sich bemerkbar macht. Was aber „Wachstum” und „Grenzen" der Politik eigentlich meinen und worin sie bestehen, soll im folgenden erörtert werden.

I.

Politik ist nach einer bekannten Formel organisierter Machtkampf. Das heißt genauer und in erster Linie: Politik ist der Kampf um die Veränderung bestehender Verhältnisse — oder um ihre Bewahrungangesichts möglicher Veränderungen.

Dieser Begriff des Politischen unterstellt, daß die Verhältnisse dem Prinzip nach tatsächlich „machbar" sind, daß also ihre Veränderung oder Bewahrung im Bereich menschlicher Möglichkeiten liegt. Kämpfen und Konflikte austragen oder Frieden schließen und aus-3 drücklich Frieden halten kann man ja nicht um etwas, was sich ohnehin jedem Zugriff entzieht Zum Beispiel gibt es noch kein wirksames Mittel, das Wetter nach Wunsch zu programmieren, und daher gibt es noch keine Wetterpolitik, kein Wetterrecht, keine Wetterparteien und Wetterminister, keinen Interessenkonflikt oder gar Krieg um das Wetter. Gerade dieses Beispiel offenbart allerdings eine historische Dimension und in ihr das Wachstum der Politik. Denn wenn man vom Wetter einmal absieht, ist nahezu alles, was einst in vormodernen Ordnungen unvordenklich festlag, was als natürliches oder göttliches Schicksal erschien und hingenommen wurde, veränderbar, machbar und eben damit prinzipiell auch politisch geworden. Seit Beginn der Neuzeit tritt der Mensch an zum titanischen Versuch umfassender Weltbemächtigung. Die Revolution der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse bildet hierfür die praktische Grundlage. Aber alles — gesellschaftliche Entwicklungen wie nicht zuletzt Ideen, Ideale, Wertvorstellungen — drängt in die gleiche Richtung.

Wenn also, gemäß einer anthropologischen Formel Helmuth Plessners, natürliche Künstlichkeit die Lebensweise des Menschen bestimmt dann akutalisiert und radikalisiert sich in einem geschichtlich noch sehr jungen Prozeß doch auf eine unerhörte Weise, was die Formel meint — bis zu dem Umschlagspunkt hin, der zuerst im 18. Jahrhundert in den Blick kommt — Rousseau! —, von dem an man immer drängender und bedrängter nach künstlicher Natürlichkeit fragt. Am Ende wird, folgerichtig, Natur selbst etwas, was künstlich und mit hohem Aufwand — auch im Sinne politischer Konflikte und Entscheidungsprozesse, man denke nur an Stichworte wie Wirtschaftswachstum und Umweltschutz — bewahrt oder wiederhergestellt werden muß. Pointiert: Natur wird etwas, was man gegen Eintrittsgeld im Naturschutzpark oder im zoologischen Garten (bezeichnende Begriffe!) besichtigen kann, wobei der Besucher noch nicht einmal sicher sein darf, ob der Schimpanse, den man dort vorführt, nicht eine neurotische Karikatur dessen darstellt, was er ursprünglich in Savanne oder Urwald einmal war. Im Umbruch von den vormodernen zu modernen Verhältnissen verwandelt also Natur sich in Politik, kommt ein Prozeß progressiver Fundamental- Politisierung in Gang, der immer weitere Lebensbereiche erfaßt und immer mehr sich beschleunigt. Und wenn einst Schicksal als etwas, was dem Menschen als Natur oder aus Gotteshand zufiel, die bestimmende Daseins-kategorie war, dann wird nun Politik das Schicksal: ein Schicksal, das Menschen bereiten und entscheiden.

In vormodernen Ordnungen ist dagegen im Sinne der Machbarkeit und Veränderbarkeit sehr weniges wirklich politisch. Durchweg lebt die große Mehrheit der Bevölkerung auf dem Lande und von der Landwirtschaft, eingebettet in die natürlichen Bedingungen des Bodens und des Klimas, abhängig vom Rhythmus der Tages-und Jahreszeiten und von den überkommenen Produktionsverhältnissen, die allenfalls so unmerklich sich wandeln, daß ihre prinzipielle Veränderbarkeit gar nicht ins Bewußtsein dringt. Und niemand, kein noch so mächtiger Herrscher und kein Herrschaftswechsel, kann dagegen etwas ausrichten. Politik, als Kampf um Herrschaftsgebiete und Herrschaftspositionen, bleibt darum gewissermaßen ein Luxusgut, Privileg für zahlenmäßig eng begrenzte Herrenschichten; für die große Mehrheit aber etwas, was man als eine andere Art von Natur einfach hinzunehmen hat: als Krieg oder Frieden, fürsorgliche oder bedriikkende Herrschaft wie gute und schlechte Ernten, wie Sonnenschein und Hagel.

Eine Konsequenz ist, daß zwischen „oben“ und „unten", zwischen Herrenschicht und Herrschaftsunterworfenen im Regelfall nur lose Verbindungen bestehen. Nicht allein Rußland ist groß und der Zar weit; die Organisations'Strukturen, Nachrichtentechniken und Verkehrsmöglichkeiten setzen enge Grenzen, so daß man im Herrschaftszentrum kaum Vorstellungen davon hat, was bei den Bauern im nächsten Tal vorgeht. In umgekehrter Richtung gilt das natürlich erst recht. Es gibt Ausnahmen, etwa bei Flußkulturen, die eine verhältnismäßig komplexe und genau regulierte Gesamtorganisation erfordern und daher bereits Bürokratien entwickeln. Doch gewöhnlich bleibt der Austausch beschränkt; einigen Schutzfunktionen der Herrschenden stehen die erzwungenen Abgaben der Beherrschten, vor allem Natural-und Dienstleistungen, gegenüber. Der lose Charakter herrschaftlicher Überlagerung, kombiniert mit einer sehr weitgehenden Selbstversorgung dörflicher Gemeinschaften, bringt es mit sich, daß selbst schwere Erschütterungen, ja die Vernichtung des politischen „Überbaus" die Basis oft kaum berühren. Krieg und Eroberung mögen zwar Schrecken, Verwüstung, Tod mit sich führen. Aber im allgemeinen wissen alte wie neue Herren gut genug, daß, wenn die Abgaben regelmäßig und auskömmlich eintreffen sollen, man die Ernten nicht zertreten, die Herden nicht abschlachten darf — und mit ihnen nicht die Bauern und die Hirten. Menschenfreundlichkeit mag, wie zu allen Zeiten, für die Abhängigen nur eine prekäre Existenzgarantie bedeutet haben. Aber handfeste Interessen, bei den Herrschenden häufig zum patriarchalischen. Fürsorgebewußtsein verdichtet und verhüllt, bieten in der Regel Schutz, gesetzt nur, daß die Unterworfenen gehorsam und leistungsbereit bleiben.

Seit Beginn der Neuzeit wächst jedoch die Veränderbarkeit. Von Marx stammt der berühmte Satz: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert-, es kommt darauf an, sie zu verändern“ Man tut dem Autor keine Gewalt an, wenn man den Satz umformuliert: Bisher konnten die Philosophen die Welt nur verschieden interpretieren; jetzt ist es möglich geworden, sie zu verändern. Grundlage der wachsenden Veränderbarkeit ist, wie Marx erkennt, die Entwicklung der Produktivkräfte im bürgerlichen Zeitalter. Aber nicht in einem einfachen und einseitigen, sondern in einem höchst komplexen Bedingungsverhältnis geht es zugleich um den Prozeß der Fundamentalpolitisierung.

Weil im Zuge dieser Entwicklung Politik immer mehr Menschen in immer weiteren, elementareren Lebensbereichen erreicht und betrifft — am Ende praktisch jeden und alles —, müssen umgekehrt zugleich die Massen politisiert werden. Es ist unerläßlich, sie zu aktivieren, sie ins politische Handlungssystem zu integrieren. Das kann unter sehr verschiedenen Vorzeichen geschehen. Als besonders wichtiges und wirksames Mittel der Massenaktivierung hat sich der Nationalismus erwiesen, der im Gefolge der Französischen Revolution seinen Siegeszug durch Europa und die Welt antrat. Der Prozeß wird nicht bloß begleitet, sondern vorangetrieben von einer großen Idee: „Im Mittelpunkt steht der Mensch." Was inzwischen längst zur Phrase in Sonntagsreden und Alltagspredigten verkommen ist, war einmal eine — nein: die Verheißung schlechthin.

Denn einst, unter vormodernen Verhältnissen, bestimmten eben der Zufall — am Beispiel einer prinzipiellen Ungleichheit schon mit der Geburt — und Gnade — Gottes und der weltlich Herrschenden — das Schicksal. Dagegen revoltiert der moderne Mensch. Er tut es auf vielen, auf allen nur möglichen Wegen, vor allem aber politisch. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung 1776 proklamiert als Grundrechte „life, liberty, and the pursuit of happiness". Das meint viel mehr als nur die Emanzipation der Kolonien vom Mutterland. Es meint die Emanzipation überhaupt: Der Mensch, frei und gleich geboren, soll den Platz einnehmen, an dem bisher Vorbestimmung regierte. Jeder sein eigener Herr, jeder seines Glückes Schmied!

Die Französische Revolution führt mit ihrer Proklamation der Menschen-und Bürger-rechte diese Emanzipation auch im ständisch bestimmten Europa wenn schon nicht zum Ziel, dann doch in den Kampf: Fort mit den Schranken und Privilegien! Rechts-und Bürgergleichheit für alle! Das Geschick also des Menschen und der Menschheit in Menschen-hand! Eine Zeitenwende wird damit bezeichnet, die noch der gereifte, eher konservative Hegel in bewegten Worten gefeiert hat: „Solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, das ist, auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut... Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen."

II.

Die Versöhnung läßt freilich auf sich warten, und dem Enthusiasmus ist nur zu bald die Ernüchterung gefolgt. Es gibt eine Dialektik der Emanzipation; mit ihr werden die Grenzen der Politik sichtbar.

Zunächst einmal entsteht eine fatale Verbindung von Tugend und Terror. Sie ist folgerichtig: Wenn Politik das Schicksal ist, dann muß jemand schuldig sein, sobald Unheil und Unglück über uns kommen. Wenn es um die Befreiung des Menschen, ums Menschheitsheil geht, dann wird jeder zum Menschheitsfeind und zum Opfer von Feme und Verfolgung, der sich widersetzt. Und wo der Enthusiasmus zur Pflicht aufrückt, macht sich schon verdächtig, wer auch nur „privat" und abseits bleibt In seiner berühmten Rede vor dem Konvent vom 5. Februar 1794 hat Maximilian Robespierre den Zusammenhang so klar wie konsequent beschrieben

Einerseits geht es um das große Ziel: „Wir wollen in unserem Lande den Egoismus durch die Moral ersetzen, die Ehre durch die Rechtschaffenheit, die Gewohnheiten durch die Prinzipien, die Schicklichkeit durch die Pflicht, den Zwang der Tradition durch die Herrschaft der Vernunft, die Geringschätzung des Unglücks durch die Geringschätzung des Lasters, die Frechheit durch das Selbstgefühl, die Eitelkeit durch die Seelengröße, den Geldhunger durch die edle Ruhmsucht, die soge-nannte gute Gesellschaft durch gute Menschen, die Ränkesucht durch die Verdienstlichkeit, den Schöngeist durch die Genialität, den falschen Glanz durch die Wahrheit, die Langweiligkeit der Wollust durch den Zauber des wahren Glücks, die Kleinheit der großen Leute durch die Größe des Menschen, ein artiges, leichtfertiges, klägliches Volk durch ein großmütiges, glückliches Volk, das heißt alle Laster und alle Lächerlichkeiten der Monarchie durch alle Tugenden und alle Wunder-werke der Republik. — Mit einem Wort, wir wollen den Willen der Natur erfüllen, die Bestimmung der Menschheit Wirklichkeit werden lassen, die Versprechungen der Philosophie einlösen, die Vorsehung von der langen Herrschaft des Verbrechens und der Tyrannei freisprechen.“

Andererseits gilt: „Herrscht die Tyrannei auch nur einen einzigen Tag, dann gibt es bald keine Patrioten mehr. Wie lange noch wird man die Wut der Despoten Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit des Volkes aber Rohheit oder Aufsässigkeit nennen? Wie zartfühlend ist man doch gegenüber den Unterdrückern, wie unerbittlich gegen die Unterdrückten! Nichts ist natürlicher: Wer nicht das Verbrechen haßt, kann die Tugend nicht lieben! — Das eine oder das andere muß jedoch unterliegen. Nachsicht für die Royalisten, schreien manche Leute, Erbarmen für die Schurken! Nein: Erbarmen für die Unschuld, Erbarmen für die Schwachen, Erbarmen für die Unglücklichen, Erbarmen für die Menschlichkeit! — Nur den friedlichen Bürgern schuldet die Gesellschaft ihren Schutz; und Bürger sind in der Republik nur die Republikaner. Royalisten, Verschwörer sind für die Republik nur Ausländer, mehr noch: Feinde.“

Wenn also „die Triebkraft der Volksregierung in Friedenszeiten die Tugend ist, so ist die Triebkraft der Volksregierung in Zeiten der Revolution zugleich Tugend und Terror: die Tugend, ohne die der Terror unheilvoll ist, der Terror, ohne den die Tugend machtlos ist Der Terror ist nichts anderes als das schlagfertige, unerbittliche, unbeugsame Recht, er ist somit eine Emanation der Tugend; er ist weniger ein besonderes Prinzip als ein Produkt des allgemeinen Prinzips der Demokratie, das auf die dringendsten Angelegenheiten des Vaterlandes angewendet wird.“

In der Tat Wo es ums Menschheitsheil oder -unheil schlechthin geht, da panzert die Tugend den Terror mit dem guten Gewissen. Es handelt sich ja nur — nur! — um ein zeitweiliges Mittel, das von dem großen Ziel gerechtfertigt wird, die „Morgenröte der Weltglückseligkeit“ anbrechen zu lassen. Genau damit avanciert der Terror zur Pflicht. Mit Lenin zu reden: Wer nicht fähig ist auf dem Bauch durch den Schmutz zu kriechen, ist kein Revolutionär, sondern ein Schwätzer.

Eine andere Frage ist es freilich, ob nicht die einmal errichtete Herrschaft der selbsternannten Revolutionselite ihre eigene Dialektik mit sich führt: nämlich sich bürokratisch zu verfestigen, statt sich in der Emanzipation der Massen aufzuheben, in deren Namen man doch handelt Für Frankreich hat schon Tocqueville in seinen Betrachtungen über den alten Staat und die Revolution melancholisch registriert, daß der absolutistische Zentralismus nicht etwa abgeschafft, sondern vollendet wurde, mit dem Resultat, daß, „sooft man später die absolute Gewalt zu stürzen versuchte, man sich stets damit begnügte, den Kopf der Freiheit auf einen servilen Rumpf zu setzen" Oder wie Kant es bereits 1784 in seiner Schrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ ahnungsvoll formulierte: „Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zustande kommen; sondern neue Vorurteile werden, eben sowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen.“ Denn zur Emanzipation wie zur Aufklärung gelangt man eben nicht durch fremde Anleitung, sondern nur durch Freiheit, durch den Mut zum eigenen Denken und Handeln.

Inzwischen ist ein zusätzliches Problem entstanden. Der Konflikt, der Krieg tendiert, wie Clausewitz es ausgedrückt hat, zum Äußersten. Das gilt nicht zuletzt für die Mittel. Und heute haben diese Mittel eine Grenze der Totalität erreicht und überschritten: Es ist technisch möglich geworden, die Welt zu vernichten. Wenn aber zugleich die Politik zum Äußersten tendiert, indem sie praktisch jedermann und alle Lebensbereiche erfaßt, und wenn sie überdies mit dem Anspruch des moralisch Äußersten, des radikalen Entweder-Oder von Freund und Feind sich wappnet, dann ergibt sich eine wahrhaft furchterregende Kombination dreifacher Totalität Denn dann kann ausgerechnet der Kampf um das absolute Menschheitsheil zur absoluten Menschheitsvernichtung führen. Dagegen hilft offenbar nur noch eine vierte, negative Totalität der Furcht, die in der prekären Balance wechselseitiger Abschreckung den Konflikt nicht löst, sondern einfriert.

Doch womöglich steckt nicht einmal darin die zentrale Herausforderung. Vielleicht verbirgt sie sich in dem, was man die Dialektik des Erfolgsnennen könnte. Alles in allem sind ja, wenigstens in den gemeinhin „westlich“ genannten Industriestaaten, elementare Probleme bewältigt worden, die die Menschen unvordenklich in ihrem Bann gehalten haben. In einem Jahrhundertkampf wuchs aus dem Massen-elend des 19. Jahrhunderts der Mehrheitswohlstand unserer Tage hervor, entstanden die immer weiter ausgreifenden Systeme sozialer Sicherheit, der medizinischen Versorgung, hob sich der allgemeine Wohn-wie der Lebensstandard überhaupt, wurde die durchschnittlich notwendige Lebensarbeitszeit wesentlich beschnitten. Und so fort und fort.

Gewiß gibt es noch immer viele Probleme, bleibt vieles unvollkommen und dringend verbesserungsbedürftig. Und neben die alten treten neue soziale Fragen. Aber es sind — soweit es sich um strikt materielle handelt — bezeichnenderweise eher Minderheitsais Mehrheitsprobleme, Randgruppenfragen. Schumpeter hat während des Zweiten Weltkriegs eine interessante Rechnung aufgemacht: Würde der Kapitalismus in der Zu-PSiehe kunft noch einmal für einige Jahrzehnte die Wachstumsleistungen erreichen, die er in der Vergangenheit erbrachte, so könnte er mit den materiellen Problemen der Gesellschaft definitiv fertig werden, „abgesehen von pathologischen Fällen" Tatsächlich wurden nach 1945 die durchschnittlichen Leistungen früherer Perioden weit übertroffen. Gleichwohl steckt in der Gesamtbilanz offensichtlich ein kardinaler Fehler. Denn was sich in unserer Zeit als Krisengefühl und Protest immer nachdrücklicher entwickelt und mit Schlagworten wie Identitätsverlust, Entfremdung, Wertewandel oder wie immer umschrieben wird, entstammt, bezeichnenderweise, im wesentlichen gerade nicht den benachteiligten Minderheiten und Randgruppen, sondern dem Kern der Wohlstandsgesellschaft Wie alle Beobachtungen und Untersuchungen zeigen, sind es vorab die Kinder der Aufgestiegenen und der Mittelschichten, die zum Exodus aus dem „System" sich formieren. Und wenn sie häufig auch mit „geborgtem Elend" sich drapieren, ist es zwar leicht, dies ironisch abzutun. Aber damit ist die Frage nur umgangen statt beantwortet, welches innere Elend die verschämte Einkleidung in das geborgte eigentlich bewirkt.

Man mag sagen, daß mit dem wachsenden Wohlstand die Bedürfnisse sich verschieben. Nachdem das Überleben gesichert ist, wird „Lebensqualität“ wichtig. Erst kommt das „Fressen“, dann die Bekleidungswelle, das „Schöner Wohnen“, die Motorisierung und die Reisewut, schließlich die Moral. Tatsächlich fällt auf, wie sehr die neuen Formen des Pro-tests sich moralisch aufgeladen haben. Nicht um die Verteidigung oder Durchsetzung partikularer Interessen geht es, sondern ums Ganze, ums „System", das als falsch, widersinnig, inhuman erscheint — nicht zuletzt deshalb, weil in ihm der notwendig immer kompromißbeladene Interessenausgleich eine zentrale Rolle spielt.

Darum dürfte zweifelhaft sein, ob eine bloße Verschiebung politischer Prioritäten den Protest aufzufangen vermag. Mehr Umwelt-und Naturschutz, Reinigung oder Reinerhaltung von Luft und Wasser, Verkehrsberuhigung in Wohngebieten statt immer neuer Schnellstraßen und Autobahnen, behutsame Altstadtsanierungen statt des Niederreißens ganzer Viertel und ihres öde betonierten Neubaus, Vorrang fürs Energiesparen und die Entwick-* lung von Spartechnologien: dies und vieles mehr ist zum mindesten dem Prinzip nach „machbar", und hierauf kann ein politisches System gerade unter dem Vorzeichen der parlamentarischen Demokratie sich einstellen, sofern ein gewandeltes Bürgerbewußtsein und das entsprechende Wählerverhalten zureichenden Veränderungsdruck erzeugen.

In Wahrheit ist ja schon ein weiter Weg zurückgelegt worden. Zur Erinnerung: Als 1961 die SPD im Bundestagswahlkampf einen „blauen Himmel über der Ruhr'1 forderte, errang sie bloß einen Heiterkeitserfolg; seriöse Beobachter tadelten die Parole als unpolitisch. Würde heute nicht umgekehrt sich disqualifizieren, wer den Umweltfragen keinen hohen Rang zumessen wollte? Und läßt sich in der Zukunft nicht noch mehr erreichen, gesetzt nur, man hält sich an Max Webers Maxime, wonach Politik „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich" bedeutet?

Doch vielleicht handelt es sich wiederum um geborgtes Elend, um vermeintliche oder wirkliche Mißstände, die man demonstrativ aufgreift und anklagend dem „System“ zurechnet weil anders sich offenbar nicht ausdrücken und begreifbar machen läßt, was das tiefere Unbehagen, die eigentliche Klage ausmacht Als These formuliert: Im Kern geht es um Fragen, die die Grenzen der Politik erreichen und überschreiten, so daß sie in Wahrheit politisch gar nicht angemessen beantwortet werden können — oder jedenfalls nicht unter den Bedingungen und in den Grenzen freiheitlicher Politik.

III.

Wir stoßen heute schmerzhaft auf die Grenzen des Machbaren, die die Natur uns setzt. Und mühsam genug beginnen wir zu begreifen, daß wir unsere Lebensgrundlagen, unsere Zukunft verspielen, wenn wir Herrschaft über die Natur nicht vorab als die Verantwortung verstehen, sie zu bewahren. Doch noch kaum wagen wir uns bis zu dem Eingeständnis vor, daß es natürliche Grenzen in uns selbst gibt, letzte Mauern, von denen all unsere Emanzipiertheit ohnmächtig abprallt. Welche Aufregungen und Anklagen provoziert nicht schon, so als handle es sich um ein Attentat auf Rechts-gleichheit und Menschenwürde, jeder Hinweis auf die Tatsache, daß es angeborene, also dem einzelnen vorgegebene Begabungsunterschiede gibt! Schicksalhaft natürliche Grenzen sind eben für den modernen Menschen das Obszöne, das Tabu schlechthin. Doch wie sollen wir fähig werden, die Natur um uns wirklich zu achten, wenn wir sie in uns mißachten? Alles Mißachtete rächt sich; das Schicksal schlägt zurück.

Zu den elementaren Tatsachen unseres Lebens gehört das Altern. Es gehört dazu das allmähliche Abgleiten oder der plötzliche Sturz in die Hilflosigkeit. Und am Ende: der Tod. Genau darin steckt die zwar verschwiegene und verdrängte, aber von der Natur selber gestellte Herausforderung, der moderne Menschen kaum gewachsen sind, weit weniger jedenfalls als vormoderne. Denn wo die Gnade so zweifelhaft geworden ist wie das Betroffensein vom Schicksal unschicklich, da bleiben nur verschiedene Möglichkeiten, den Tatsachen nicht ins Auge zu sehen.

Die eine besteht darin, ewig jugendhaft zu erscheinen. Aktiv bleiben, Interessen festhalten und neue entwickeln, Sport treiben, tanzen, gesellig reisen, basteln, Spiele spielen! Was immer — bloß nicht nachgeben. Das mag alles vernünftig sein; jeder „Senioren" -Ratgeber ist voll davon. Und nichts ist daran auszusetzen. Schließlich weiß man nur zu gut, wie ein plötzlicher Abbruch zum Beispiel des Berufslebens wirken kann, wenn keine Alternativen vorbereitet und eingeübt wurden. Der Pensionierungsschock droht, oft genug der rasche Pensionierungstod. Aber die gutgemeinten Aktivitätsratschläge lösen das eigentliche Problem nicht, sondern verschieben und verschleiern es nur: Statt wirklich noch anerkannt zu sein, werden „die lieben Alten" mit Beschäftigungstherapien abgespeist. Nur zu leicht gerät ohnehin das „AisOb" der Aktivitäten in jene Lächerlichkeit, hinter der die Trostlosigkeit lauert: Man sehe sich die „Juhu“ -Attitüde welker Damen einmal an, wenn sie im Dirndl ihren Urenkelinnen Konkurrenz machen, sei's in amerikanischen „Sonnenschein" -Gettos oder auf Mallorca. Will man noch würdige und schöne Greisinnen und Greise sehen, muß man in andere Himmelsrichtungen reisen, in den Kaukasus vielleicht: dorthin, wo es noch vormoderne Traditionsbestände gibt. Dort kann man noch eine Ahnung davon bekommen, was die Bibel meint, wenn sie von Abraham oder Isaak sagt, daß sie alt und lebenssatt starben. Die zweite Möglichkeit hängt mit der ersten zusammen. Doch sie reicht weiter, wirkt radikaler, rabiater: Die Betroffenheit durch die Grenze wird mit einem Bann belegt. In der arbeitsteiligen Gesellschaft gibt es Zuständige, Fachleute, denen man den Umgang mit dem Letzten überantworten kann: in Heim und Klinik die Pfleger, Schwestern, Ärzte, schließlich die Beerdigungs-„Unternehmer“. Freilich reagieren die Fachleute so, wie sie es gelernt haben und wie es ihrer Aufgabe entspricht — routiniert, technisch, mit all dem gehörigen Aufwand, den moderne Errungenschaften bereithalten. Aufs Eigentliche, Letzte der Grenzsituation aber sind sie so wenig vorbereitet wie die Laien.

Das ist kein Vorwurf, bloß eine Feststellung des Folgerichtigen. Folgerichtig wäre es am Ende, auch das Letzte noch technisch bewältigen zu wollen: durch Euthanasie. Was im Dritten Reich schon einmal begann, war gewiß ein barbarischer Fehlstart. Aber es war weniger der Widerruf als vielmehr die Konsequenz einer Modernität ohne Grenzen.

Seit 1945 ist ein Umstand noch hinzugetreten, zumal in einem traditionsarm modernistischen Lande wie der Bundesrepublik, der die Lage dramatisch verschärft. Man könnte ihn schlagwortartig bezeichnen als AufJösung der Milieus. Damit sind wenn nicht natürliche, dann doch über lange Zeiträume gewachsene und in ihnen befestigte Lebensformen gemeint: Zusammenhänge, in die der einzelne sich selbstverständlich eingebettet findet — nicht zuletzt im selbstverständlichen Zusammenhang der Generationen — und die ihn ebenso bestimmen und stützen, wie sie ihn freilich zugleich eingrenzen.

Was Milieus einmal bedeutet haben, kann man aus der Literatur erfahren: Fontane bei und Thomas Mann wie bei Fritz Reuter und Ludwig Thoma. Es gab viele und sehr verschiedenartige Milieus, ländliche und urbane, bürgerliche und proletarische, konfessionelle, akademische, sogar politische; man denke an die sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Prägungen in Ballungsräumen der Industrialisierung, wie sie etwa im Ruhrgebiet im Zusammenwachsen von Eingesessenen und Zugewanderten bis hin zu einem spezifischen Vereinswesen, ja bis zum Sprachlichen sich entwickelt haben.

Es gibt allerdings einen politischen Todfeind der Milieus: die totalitäre Gewaltherrschaft.

Wie sie, soziologisch gesehen, in ihrem Ursprung wesentlich dem Milieu sozusagen der Milieulosen entstammt, so muß sie die relative Geschlossenheit des Milieus als Potential des Widerstandes gegen „Gleichschaltung“ und „totale Mobilmachung" erbittert bekämpfen. Tatsächlich ließe sich die Geschichte des deutschen Widerstandes gegen die nationalsozialistische Herrschaft weithin als eine Geschichte aus Milieus beschreiben: von den sozialistisch-proletarischen bis zum preußisch-aristokratischen. Praktisch bedeutsamer war indessen der Erfolg des Nationalsozialismus. Er hat zur Auflösung der Milieus wesentlich beigetragen. Krieg und Kriegsfolgen taten ein übriges; man denke nur an das Einströmen der Millionen von Heimatvertriebenen und Flüchtlingen. Charakteristisch genug sind nach 1945 Anbindungen von Massenorganisationen an Milieus entweder gar nicht mehr versucht worden oder verblaßt: An die Stelle von Richtungsgewerkschaften oder Richtungssportverbänden traten Einheitsgewerkschaft und Einheitssportbund; gegenüber der neuen Volkspartei CDU hatte die alte Milieu-partei Zentrum keine Chance mehr, und die SPD kam erst auf Erfolgskurs, als sie mit dem Godesberger Programm den Wandel nachvollzog.

Der Gesamtvorgang erweist sich als durch und durch ambivalent. Auf der einen Seite bringt die Auflösung der Milieus einen Modernitätsschub mit sich. Das Individuum emanzipiert sich aus Bindungen, die im Rückblick als Fesseln erscheinen. Die Mobilitäts-und die Aufstiegschancen wachsen. Der wirtschaftliche Erfolg der Bundesrepublik, aber auch ihre alle Anfangserwartungen weit übertreffende politische Stabilität sind durch diesen Modernitätsschub wesentlich gefördert, wenn nicht begründet worden.

Auf der anderen Seite fallen mit den Bindungen die Schutzfunktionen des Milieus. Es wachsen der individualisierte Leistungs-und der Konkurrenzdruck — und damit die Orientierungsschwierigkeiten wie die Versagensängste. Daher entsteht so etwas wie „Nostalgie", eine wiederum höchst ambivalente Sehnsucht und Suche nach der verlorenen Geborgenheit, wie sie unter anderem in der Neuentdeckung des Lokalen, des Regionalen, der Mundarten, im Kampf für die Erhaltung von Umwelten — der natürlichen ebenso wie der historisch-sozialen zum Beispiel alter Stadtviertel — oder auch im Interesse für die Milieugeschichte zum Ausdruck kommt. Nicht zuletzt entstehen ideologisch militante Formen der Antimodernität: Urbanität und Liberalität, Technik und Industrie erscheinen dann, wie die arbeitsteilige, konkurrenzbestimmte und leistungsorientierte Gesellschaft überhaupt als das Fremde, Feindliche, Lebensbedrohende schlechthin.

Wie zum Ersatz des Milieus, als ihr Surrogat, entwickeln sich moderne Spielarten des Gettos: Ausgrenzungen oder „Gemeinschaften“ der Gleichaltrigen, Gleichartigen, Gleichgesinnten. Besonders auffällig zeigt sich dies in den Subkulturen der Jugend. Solche Gettos mögen einige der Schutz-und Orientierungsfunktionen übernehmen, die einst den Milieus eigneten. Aber im Unterschied zu diesen erweisen sich die modernen Gehege als eigentümlich strukturarm. Zum Beispiel werden die Verbindungen mit Familien-und Generationszusammenhängen weitgehend gekappt oder doch ausgeblendet, ebenso wie die zur Arbeitswelt. Die jeweils aktuellen Leitbilder, Bewegungen und Formen — von der Musik, der Kleidung, der Sprache, der Stilisierung überhaupt bis hin zu modisch religiösen und politischen oder antipolitischen Zielsetzungen — dienen wesentlich dazu, die Fremdheit und Feindseligkeit der Außenwelt demonstrativ sichtbar zu machen und damit die eigene, innere Abriegelung gegen sie zu begründen.

Aber damit entsteht, zum mindesten der Tendenz nach, ein pathologisches Verhältnis, ein fundamentales Mißverhältnis nicht nur zur Gegenwart, sondern vor allem zur Zukunft Sie ängstigt. Man kann ja zum Beispiel nicht dau. ernd jugendlich bleiben, und wer es doch versucht, wird früher als gedacht mit sanfter Unerbittlichkeit abgedrängt: „Na, Opa, was willst du denn hier?"

Anders und allgemeiner ausgedrückt: Es stellt sich — und zwar nur spiegelbildlich verkehrt für junge wie für alte Menschen gleichermaßen — die bedrängende Frage nach einer insgesamt tragfähigen Lebensperspektive, die Frage nach dem Sinn. Was Arnold Gehlen als eine Aufgabe der Institutionen beschrieben hat: daß sie die Frage nach dem Sinn beantworten oder vielmehr gar nicht erst aufkommen lassen, insofern das Individuum sich in der Objektivierung seiner Existenz, im Dienste der Institutionen „konsumieren" läßt, das dürfte noch mehr und in erster Linie den Milieus zuzurechnen sein. Erst ihre Auflösung macht die „Sinnfrage" akut — und zunehmend ausweglos auch für die Institutionen, wenn diese mit ihr befrachtet werden.

IV.

Die Frage mag sich aufdrängen, was eigentlich Probleme der Generationen, des Milieus oder gar des Glücks und des Sinns mit Politik zu tun haben? In der Tat: Genau das ist die Frage. Walter Scheel hat als Bundespräsident einmal ironisch formuliert: „Die Demokratie will und kann ihren Bürgern nicht ihren Lebenssinn, handlich verpackt, liefern; den müssen sich die Bürger schon selber suchen."

Doch in dieser Formulierung steckt schon Abwehr: die Abwehr von Ansprüchen, die versteckt oder offen an das politische System gerichtet werden. Und solche Ansprüche sind im Grunde nur konsequent, sofern Politik das Schicksal geworden ist und zum Äußersten, zur Totalität tendiert. Die totalitäre Konsequenz taucht schon in den Worten Robespierres auf, wenn er sagt, es komme darauf an, ein glückliches Volk zu schaffen und die Welt-glückseligkeit vorzubereiten. (Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung unterscheidet sich hiervon in einer bedeutsamen Nuance, indem sie eben nicht happiness, sondern pursuit of happiness als politisches Grundrecht proklamiert.) Seither ist der Anspruch, das Glück, den Lebenssinn, das Heil schlechthin politisch herzustellen, unter vielen Vorzeichen proklamiert und praktiziert worden. Genau dies macht den „idealistischen" Kern aller totalitären Politik aus — und genau dies ihre Attraktivität. Sie nutzt zwar den Menschen als Mittel zum Menschheitsheil. Aber sie sagt ihm, indem sie ihn opfert, was die Aufgabe, den Sinn seines Lebens ausmacht. Darum gilt, was Ernst Jünger einmal so erschreckend wie klar ausgesprochen hat: „Jede Haltung, der ein wirkliches Verhältnis zur Macht gegeben ist, läßt sich auch daran erkennen, daß sie den Menschen nicht als Ziel, sondern als Mittel ... begreift. Der Mensch entfaltet seine höchste Kraft, entfaltet Herrschaft überall dort, wo er im Dienste steht. Es ist das Geheimnis der echten Befehlssprache, daß sie nicht Versprechungen macht, sondern Forderungen stellt Das tiefste Glück des Menschen besteht darin, daß er geopfert wird, und die höchste Befehls-B kunst darin, Ziele zu zeigen, die des Opfers würdig sind."

Es läßt sich leicht sagen, daß die totalitäre Prophetie nur Illusionen bietet, weil die letzten, die wirklichen Erfahrungen der Jugend und des Alters, des Schmerzes, des Leids und des Todes wie der Liebe, des Glücks und der Lebenssättigung mit Sinn den einzelnen Menschen immer auf sich selbst als Person und auf sein Verhältnis zu anderen Personen verweisen. Doch es ist schwer, solche Erfahrungen gegenüber den Verlockungen totalitärer Politik vorab einsichtig zu machen. Denn deren Desillusionierung erfolgt erst nachträglich, wenn sich zeigt, daß sie die Versprechungen, die sie macht, prinzipiell nicht einzulösen vermag — und daß also die Opfer, die sie einforderte, umsonst erbracht wurden.

Angesichts dieser Tatsache steht freiheitliche Politik vor einer doppelten, doppelt schwierigen Aufgabe. Erstens muß sie ihre Reichweite bewußt beschränken und die menschlich letzten Fragen aussparen. Sie muß also sich selbst Grenzen setzen. Wegen der modernen Tendenz des Politischen zum Äußersten, Totalen sind solche Grenzen aber keineswegs „natürlich“ — wie sie es unter vormodernen Bedingungen einmal waren: das ist die konservative Illusion —, sondern durch und durch künstlich, ein immer gefährdetes, zerstörbares Kunstwerk politischer Kultur.

Zweitens kommt es darauf an, die Erfahrungen, die der einzelne nicht oder nur schmerzhaft im nachhinein machen kann, überindividuell aufzuheben und zu institionalisieren in den Elementen der Verfassungsordnung. Die Anerkennung des Prinzips Erfahrung gehört damit zu den Bedingungen freiheitlicher Politik.

Zu den einschneidenden europäischen Erfahrungen, die am Beginn der neuzeitlichen Entwicklungen stehen, gehören die verheerenden Auswirkungen religiös aufgeladener Bürgerkriege und Kriege. Wo es um letzte Fragen geht, gibt es auch nur letzte Lösungen: die Durchsetzung der eigenen Überzeugung mit allen Mitteln und entweder die Bekehrung oder die Verfolgung, Vertreibung, Ausrottung des Andersdenkenden. Will man dies vermeiden, so bleibt nur ein Ausweg: die Idee und die Praxis der Toleranz. Der Staat, die politische Gewalt setzt sich selbst Grenzen durch den Rückzug aus den letzten, den natürlichen und göttlichen Fragen auf die vorletzten des prak-tischen Zusammenlebens. Mühsam genug, immer unvollkommen und immer gefährdet, gewinnt die Toleranz Boden: in den Niederlanden zunächst, dann in den nordamerikanischen Kolonien der britischen Krone, aus denen die Vereinigten Staaten hervorgehen, aber auch, auf andere Weise, in einem Obrigkeitsstaat wie Brandenburg-Preußen.

Inzwischen ist das Toleranzprinzip verallgemeinert worden: Alle letzten Unterschiede zwischen den Menschen, sie mögen natürlich oder durch Überzeugungen begründet sein, sollen ausgegrenzt werden. Sie sollen politisch keine Rolle spielen; sie werden aufgehoben im Prinzip der staatsbürgerlichen Gleichheit. Das Bonner Grundgesetz bringt den Sachverhalt genau zum Ausdruck, wenn es in Artikel 3 sagt: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. — Männer und Frauen sind gleichberechtigt. — Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden."

Angelpunkt ist die Würde des Menschen, seine Freiheit und seine Verantwortung. Jeder kann nur für sich selbst entscheiden, wie und wöhin er sein Leben im Letzten führen will, was für ihn Glück bedeutet und den Sinn des Lebens ausmacht. Insofern darf es über die formalen Bestimmungen der Freiheit, der Gleichheit und der Gerechtigkeit hinaus keine politisch auferlegten Grundwerte geben, sondern nur Grundrechte, in denen der Schutz der menschlichen Freiheit und Verantwortung vor dem politischen Zugriff im einzelnen entfaltet wird.

Zu den Grundrechten in einem erweiterten, aber handgreiflich elementaren Sinne gehören heute die sozialen. Denn Freiheit und Selbstverantwortung des Menschen setzten ein Mindestmaß materieller Möglichkeiten ebenso voraus, wie die Absicherung gegen Risiken, die das Individuum als Individuum nicht zu tragen vermag. Und wenn die Lebenschancen des einzelnen immer direkter und unmißverständlicher von seiner qualifizierten Ausbildung abhängen, dann rückt ein Optimum an Chancengleichheit im Bildungswesen zum sozialen Grundrecht auf. Richtmaß des Sozialstaates muß freilich immer bleiben, daß Freiheit und Selbstverantwortung des Menschen gestärkt und nicht etwa stranguliert werden.

Die abgrenzende Unterscheidung zwischen dem Vorletzten und dem Letzten macht ein freiheitliches Gemeinwesen, macht Demokratie erst möglich. Denn sie setzt zugleich eine Grenze zwischen den mehrheitsfähigen und den nicht mehrheitsfähigen Fragen. Über praktische, materielle Fragen und Interessen-konflikte, die jedenfalls im Prinzip den Ausgleich im Kompromiß erlauben, kann man nach formalen Regeln mit Mehrheiten entscheiden. Man kann es unter der Bedingung tun, daß die Mehrheitsmacht nur auf Zeit verliehen wird und damit der Minderheit eine Chance bleibt, für ihre Auffassung zu werben, um die Mehrheitsverhältnisse zu ändern. Aber man kann über das uns natürlich Vorgegebene so wenig abstimmen wie über absolute Heilsund Unheilsperspektiven oder darüber, ob es Gott gibt oder nicht gibt. Wo immer deshalb und unter welchem Vorzeichen immer diese Grenze überschritten und das Letzte politisiert wird, da ist Demokratie nicht mehr möglich, vielmehr einzig noch die barbarische Herrschaft einer „strukturellen“ Gewalt, die vom Gewaltmonopol des Rechtsstaates und seiner Friedensfunktion sich abgründig unterscheidet. In diesem Sinne gilt als buchstäblich grundlegende Erfahrung — und nicht bloß für Parteien —, was Adolf Arndt so ausgedrückt hat:

„Der soziale Staat und die menschenwürdige Gesellschaft sind ein Vorletztes; ihnen kann nicht gerecht werden, wer sich übernimmt einzig im Namen des Letzten zu leben, und dadurch das uns anvertraute Diesseits mißachtet. Wer so verfährt, verfällt der Gefahr, nicht aus der Wahrheit, die er sich so offenbart glaubt, tätig zu sein, sondern mit dem politisch zu wirken, was sich an Brauchbarkeit mit dieser Wahrheit anfangen läßt, indem sie für ihn nicht mehr unverfügbare Wahrheit, sondern etwas Fungibles und Funktionierendes wird, kurz: eine Ideologie, d. h. ein Instrumentarium der Außensteuerung ... Ich bitte, es als das Herzstück meines Versuchs, als den beschwörenden Zuruf meiner Ausführungen aufzufassen, wenn ich jetzt sage: Die Unmenschlichkeit bricht aus, sobald im Vorletzten, wie es jeder demokratischen Partei als Ort gebührt, eine letzte Wahrheit vom Menschen zum Maßstab für mitmenschliche Gemeinschaft erhoben wird."

V.

Selbstverständlichkeiten? Nein, keineswegs. Es handelt sich um bittere Erfahrungen, nicht zuletzt unserer neueren deutschen Geschichte. Und es ist die Frage, ob sie nicht zunehmend mißachtet werden.

Zum mindesten haben wir es mit fundamentalen Zweideutigkeiten zu tun. Auf der einen Seite wuchert die Staatsverdrossenheit. Jedermann klagt über Steuern und Abgaben, über eine erstickende Bürokratie, die Gesetzesflut, über ein Verordnungs-und Erlaßunwesen. Es hat längst schon zu dem absurden Zustand geführt, daß der „Dienst nach Vorschrift" eine Sonderform des Streiks darstellt und Stillstand verursacht. Vielleicht nähern wir uns einer Situation — oder befinden uns schon darin —, die in mancher Hinsicht an den erstarrten „Staat als Maschine" im Zeitalter des Spät-absolutismus erinnert. Wie Wilhelm von Humboldt 1792 in seinen „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen", notierte: „Was nicht von dem Menschen selbst gewählt, worin er auch nur eingeschränkt und geleitet wird, das geht nicht in sein Wesen über, das bleibt ihm ewig fremd, das verrichtet er nicht eigentlich mit menschlicher Kraft, sondern mit mechanischer Fertigkeit ... überhaupt wird der Verstand des Menschen doch, wie jede andre seiner Kräfte, nur durch eigne Tätigkeit, eigne Empfindsamkeit oder eigene Benutzung fremder Erfindungen gebildet Anordnungen des Staats aber führen immer mehr oder minder Zwang mit sich, und selbst wenn dies nicht der Fall ist, so gewöhnen sie den Menschen zu sehr, mehr fremde Belehrung, fremde Leitung, fremde Hilfe zu erwarten, als selbst auf Auswege zu denken ... Noch mehr aber leidet durch eine zu ausgedehnte Sorgfalt des Staats die Energie des Handelns überhaupt und der moralische Charakter." Oder wie der Freiherr vom Stein es ausdrückte: „So wie die Erfahrung bewiesen, daß... man die Schulknaben selbst, indem man ihnen Vertrauen zeigt, ihre Selbständigkeit anspricht zum Unterricht in den Schulen brauchen und ein Schulmeister-Heer ersparen kann, so zeige man uns gleiches Vertrauen, überlasse uns unsere eigenen Angelegenheiten, setze uns denen Schulknaben gleich und erspare ein Beamtenheerr Auf der anderen Seite wird freilich für das eigene, überragend wichtige und edle „Anliegen“ um so dringender gefordert, was man generell beklagt. Der Gesetzgeber soll endlich tätig werden, der Staat energisch eingreifen, durchgreifen. Und wenn sparsamer zu wirtschaften ist, Opfer zu bringen sind, der Rotstift angesetzt werden muß, dann doch nicht ausgerechnet hier, am genau falschen Ort! Im übrigen brauchen wir den Anschluß an die Autobahn und neue Schnelltrassen für die Bundesbahn; nur sollen sie uns und die Natur nicht belästigen.

Man mag das als menschlich allzumenschliches „St. -Florians-Prinzip" belächeln. Wichtiger und bedenklicher ist etwas anderes: Die Grenzen zwischen dem Vorletzten und dem Letzten, zwischen den mehrheitsfähigen und den nicht mehrheitsfähigen Fragen werden mehr und mehr mißachtet. Das geschieht in doppelter Richtung. In der einen geht es um den Anspruch aufs Glück und den Lebenssinn, der politisch eingeklagt wird und der sich in die Anklage gegen den Staat, das „System" verwandelt, wenn er nicht eingelöst wird. Es lauertdie Gier nach den Aufgaben, die des Opfers würdig sind, und eine „geistige Führung" wird verlangt, die zugleich die geistliche meint.

In der Gegenrichtung werden vorletzte, praktische Fragen zu den letzten des Heils und Unheils schlechthin hinaufstilisiert. Exemplarisch hat dies Iring Fetscher am Streit um die Kernenergie sichtbar gemacht: Es „sollte klar sein, daß in dieser Frage der Hinweis auf die formal-demokratischen Verfahren nicht mehr ausreicht, um Legitimitätsüberzeugungen zu begründen. Genauso wenig, wie sich die religiösen Minderheiten im 17. Jahrhundert — in England und den Niederlanden — durch Mehrheitsbeschlüsse von ihren Glaubensüberzeugungen abbringen ließen, lassen sich heute Gegner der Nukleartechnologie ... davon überzeugen, daß wir , in die Steinzeit'zurückfallen, wenn wir auf diese technologische Möglichkeit verzichten, und daß sie sich aus diesem Grunde dem Mehrheitsvotum beugen müssen."

Nun geht es im Ernst wohl kaum um das «Steinzeit-Argument, um so mehr aber um die guasi-religiösen, heils-und unheilsgeschichtlichen Perspektiven. Sie führen in ein auswegloses Dilemma, das Fetscher selbst schildert: •Als während des konfessionellen Bürgerkrie-ges im 17. Jahrhundert die widerstreitenden Konfliktparteien sich nicht einigen konnten, wurde der politische Friede dadurch wiederhergestellt, daß sich der Staat aus der Sphäre der religiösen Streitigkeiten herauszog. Eine analoge Haltung ist deshalb bei unserer Streitfrage nicht möglich, weil der moderne Staat selbst als handelndes Subjekt energiepolitischer Förderer der technologischen Entwicklung ist. Ohne seine Entscheidungen ... wäre die Entwicklung z. B.der Kernenergie kaum möglich gewesen und kann sie weder fortgesetzt noch abgebrochen werden."

In der Tat. Doch was folgt daraus? Fetscher schlägt ein Moratorium vor. Das mag unter Umständen sinnvoll sein, obwohl es im Zusammenhang der Argumentation eher an die sarkastische Bemerkung Carl Schmitts erinnert, gewisse Leute würden auf die Entscheidungsfrage „Barabbas oder Christus?" mit einem Vertagungsantrag oder der Einsetzung einer Untersuchungskommission antworten. Entscheidend aber ist die kritiklose Hinnahme, der Prämisse daß letzte und vorletzte Fragen vermischt, ja zur Deckung gebracht statt durch eine Grenze geschieden werden.

Konsequent bis ans Ende gedacht — und praktiziert — muß das verheerende Auswirkungen haben. Weil letzte Fragen und Überzeugungen nicht mehrheitsfähig sind, können Mehrheitsentscheidungen gar nicht mehr hingenommen werden, wenn sie dem eigenen Anspruch auf absolute Moral, höhere Einsicht und Heilswahrheit widerstreiten. Es ist dann heilige Pflicht, sie mit allen Mitteln zu bekämpfen. Die Konsequenz, mit anderen Worten, ist der Bürgerkrieg, hier der ökologische Bürgerkrieg, der folgerichtig genug ja bereits proklamiert — und nicht bloß proklamiert — worden ist. Konsequenz ist die Zerstörung der parlamentarischen Demokratie.

Die Härte des Entweder-Oder erlaubt keine Illusionen. Das hat mit besonderer Klarheit Bernd Guggenberger zum Ausdruck gebracht in seinem Buch „Bürgerinitiativen in der Parteiendemokratie“, das eigentlich „Bürgerbewegungen gegen die Parteiendemokratie" heißen müßte. Guggenberger sagt: „Was die Bürgerinitiativbewegung thematisch in ihrer Grund-richtung zum Ausdruck bringt, ist mit den von den Parteien traditionellerweise repräsentierten Themen, Werten und Normen immer weniger koexistenzfähig. So wenig dies im Einzelfall oft sichtbar wird — in ihrer Gesamtheit ergänzen die Bürgerinitiativen nicht auf eine vergleichsweise . harmlose'Art die herkömmliche Parteiprogrammatik, sondern liegen quer zu ihr." Daher ist von einem „Fundamentalkonflikt" die Rede — und, folgerichtig, vom ökologischen Bürgerkrieg: „Was sich abzeichnet, ist eine bevölkerungsweite Fundamentalpolarisierung, welche die konfliktkanalisierenden Pazifierungsmuster der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie Stück für Stück außer Kraft setzt.“ Und: „Die Bürgerinitiativbewegung setzt, in einem ganz grundsätzlichen Sinn, das Problem der Reichweite und der Grenzen politischer Entscheidungsfindung durch Mehrheiten auf die Tagesordnung." Das ist es. Das folgt aus der konsequenten Mißachtung der Grenzen zwischen dem Vorletzten und dem Letzten, zwischen mehrheitsfähigen und nicht mehrheitsfähigen Fragen. Guggenberger spricht von einem „lebensganzheitlichen" Prinzip, das im Gegensatz steht zu den Prinzipien der Arbeitsteilung, welche die repräsentative Demokratie ebenso wie die Industriegesellschaft insgesamt kennzeichnen. Doch damit wird nur liebenswürdig verbrämt was eigentlich totalitär genannt werden müßte.

VI.

Was kann man tun? Man kann selbstverständlich — das sei gegen Mißverständnisse nachdrücklich betont — sich für Änderungen der politischen Prioritäten einsetzen, für den Vorrang des Umweltschutzes vor dem Wirtschaftswachstum, für einen Ausstieg aus der Kernenergie oder für eine entschiedene, notfalls einseitige Abrüstung. Und man kann im Zeichen solcher Ziele werben, demonstrieren, Bürgerinitiativen und Parteien gründen. Voraussetzung ist immer nur, daß man in den Grenzen des Vorletzten und der parlamentarischen Demokratie bleibt, also die Geduld des Kampfes um Mehrheiten so wenig scheut wie den Kompromiß, der in den praktischen Fragen dieser Welt nun einmal unvermeidbar ist.

Wichtiger noch wäre Aufklärung: Aufklärung über geschichtliche Erfahrungen und, von ihnen her, über die voraussehbaren Folgen unserer Einstellungen, unserer Haltungen und unseres Handelns.

Womöglich ließe sich damit jene „Wende" wenigstens anbahnen, die heute, unter anderen Vorzeichen freilich, so oft beschworen wird. Die Einsicht in die Grenzen freiheitlicher Politik könnte dazu helfen, daß wir zugleich die Grenzen erkennen und anerkennen, die Gott und die Natur uns setzen. Vielleicht müßten wir dann nicht länger verdrängen, was Schicksal bedeutet; vielleicht könnte es wieder gelingen, in Unglück und Glück unser Leben mit einem Sinn zu sättigen, der bis ans Ende trägt

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Gesammelte Schriften IV, Frankfurt a. M. 1981, S. 383 ff.

  2. Philosophie der Geschichte, Vierter Teil, Dritter Abschnitt, Drittes Kapitel: Die Aufklärung und die Revolution.

  3. Habt ihr eine Revolution ohne die Revolution gewollt? — Reden, Leipzig o. J. Hier: über die Prinzipien der politischen Moral, S. 318 ff.

  4. Der alte Staat und die Revolution, Drittes Buch, Achtes Kapitel.

  5. Siehe Kant, Politische Schriften, Köln u. Opladen '965, S. 2.

  6. Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 2. Aufl. München 1950, S. 107 ff.

  7. Politik als Beruf, in: Gesammelte Politische Schriften, 2. Aufl. Tübingen 1958, S. 548.

  8. Nach dreißig Jahren. Die Bundesrepublik Deutschland •— Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, hrsg. v. Walter Scheel, Stuttgart 1979, S. 15.

  9. Der Arbeiter, Hamburg 1932, S. 71.

  10. Politische Reden und Schriften, hrsg. v. H. Ehmke u. C. Schmid, Berlin/Bonn-Bad Godesberg 1976, S. 273.

  11. Ideen zu einem Versuch .. „ Ausg. Stuttgart 1967, S. 37, 32, 33.

  12. Zit. nach: Gerhard Ritter, Stein — Eine politische Biographie, 3. Aufl. Stuttgart 1958, S. 199.

  13. °kologie und Demokratie — ein Problem der to itischen Kultur, in: Aus Politik und Zeitgeschich-te, B 26/82, S. 27 ff., hier: S. 31.

  14. Demokratietheoretisch gehört dazu, daß Fetscher die Axiome Rousseaus zum Ausgangspunkt nimmt, ohne zu fragen, ob diese mit den Prinzipien der repräsentativen Demokratie überhaupt kompatibel sind. Durchweg ist im übrigen ein Rousseauismus der alternativen „Bewegungen“ zu registrieren.

  15. Bürgerinitiativen in der Parteiendemokratie,

Weitere Inhalte

Christian Graf von Krockow, Prof. Dr. phil., geb. 1927; 1961— 1969 Professor für Politikwissenschaft in Göttingen, Saarbrücken und Frankfurt a. M; seither freier Publizist. Neuere Bücher u. a.: Nationalismus als deutsches Problem, München 19742, Reform als politisches Prinzip, München 1976; Herrschaft und Freiheit — Politische Grundpositionen der bürgerlichen Gesellschaft, Stuttgart 1977; Warnung vor Preußen, Berlin 1981.