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Die deutsche Frage als europäisches Problem | APuZ 51-52/1982 | bpb.de

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APuZ 51-52/1982 Die deutsche Frage als europäisches Problem Ein „besonderer deutscher Weg" zum Sozialismus?

Die deutsche Frage als europäisches Problem

Wilfried Loth

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Gegen eine weitverbreitete und durch die jüngsten Erschütterungen der westlichen Allianz reaktivierte Geschichtsauffassung wird mit diesem Beitrag daran erinnert, daß die „deutsche Frage" — definiert als Frage nach der staatlichen Existenz Deutschlands und seiner Stellung in Europa — nicht erst seit dem Ausgang des Zweiten Weltkrieges ein Kardinal-problem der internationalen Politik in Europa darstellt und daß die gegenwärtige Spaltung der deutschen Nation keineswegs in erster Linie als ein Produkt des Ost-West-Konflikts verstanden werden darf. Einer Zusammenfassung der deutschen Nation in einem Nationalstaat stand seit jeher die Furcht der übrigen europäischen Mächte vor einer deutschen Dominanz über den europäischen Kontinent entgegen. Als sie mit der „kleindeutschen" Lösung von 1871 dank einer außerordentlich günstigen internationalen Konstellation wenigstens zum Teil realisiert werden konnte, stellte sie sogleich das prekäre innereuropäische Gleichgewicht in Frage; und nachdem es den Reichsleitungen nach Bismarck nicht gelang, der halbhegemonialen Stellung des Reiches durch eine behutsame Krisendiplomatie gerecht zu werden, griffen die Deutschen im Ersten Weltkrieg in der Tat nach der ganzen Hegemonie über den Kontinent. Desgleichen überschritten die Revisionsbemühungen nach 1919 der Intention nach vielfach die Grenze der bloßen Gleichberechtigung, so daß sich Hitlers Expansionsprogramm trotz seiner radikalen Zuspitzung des Machtstaatsdenkens auf eine breite Resonanz stützen und zur erneuten Zerstörung des europäischen Gleichgewichtssystems führen konnte. Bei den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs überwog zunächst die Tendenz zur Zerschlagung des Reiches und zu seiner definitiven Ausschaltung als machtstaatliches Zentrum. Erst die wechselseitige Furcht vor einem übergroßen Einfluß der Gegenseite im zerstörten Deutschland eröffnete wieder die Chance für gesamtdeutsche Regelungen, freilich nunmehr unter der gemeinsamen Kontrolle der Siegermächte. Die Furcht vor einer „Amerikanisierung" bzw. „Sowjetisierung" ganz Deutschlands steigerte sich dann allerdings soweit, daß schließlich nur noch die Zwei-Staaten-Lösung als für alle Beteiligten zweitbeste Lösung übrigbleib — eine Lösung, die gerade aufgrund ihres Kompromißcharakters außerordentlich stabil war. Eine Restaurierung des Nationalstaats von 1871 anzustreben, erscheint im Lichte dieser Erfahrungen äußerst problematisch: nicht nur nahezu aussichtslos, sondern langfristig gesehen auch ohne den Ost-West-Konflikt voller Risiken für die Aufrechterhaltung des Friedens in Europa. Für die Ermöglichung einer Existenz in Selbstbestimmung für alle Devtsehen müssen daher neue Wege jenseits des Nationalstaatsmodells gesucht werden.

Redigierte Fassung eines Vortrags, der am 1. 10. 1981 auf einer Tagung des Staatlichen Instituts für Lehrerfortbildung im Saarland gehalten wurde.

Unter der „deutschen Frage" wird in der gegenwärtigen politischen Diskussion nicht selten nur das Problem der Teilung oder Spaltung Deutschlands im Kontext des Ost-West-Konfliktes verstanden. Hinter diesem Sprachgebrauch steht die Annahme, daß „Deutschland" vor dem Jahre 1945 ein klarer Begriff gewesen sei; und reflektiert oder unreflektiert steht dahinter meist auch die Vorstellung, „Deutschland" müsse, könne oder solle als „Deutsches Reich", wie es zwischen 1871 und 1945 bestanden hat, wiederhergestellt werden.

Tatsächlich führt diese Betrachtungsweise in die Irre. Die „deutsche Frage" — definiert als die Frage nach der staatlichen Existenz Deutschlands und seiner Stellung in Europa — ist nicht erst 1945 entstanden, und was als „Deutschland" zu gelten habe, ist nicht erst seit 1945 umstritten. Was bis heute im vorherrschenden Geschichtsbewußtsein als die Politik der „Einigung Deutschlands" gilt — die auswärtige Politik Bismarcks nach seiner Berufung zum preußischen Ministerpräsidenten im Jahre 1862 —, ist von vielen seiner Zeitgenossen, von dem preußischen Altkonservativen Ludwig von Gerlach bis zu Karl Marx und Friedrich Engels, als Weg zur „Zerreißung" oder „Teilung" Deutschlands bekämpft worden. Als die Gründung des Zweiten Kaiserreichs 1871 schließlich erreicht war, schrieb etwa Ludwig von Gerlach, Deutschland sei „seit 1648 nicht so zerissen als jetzt" -Man konnte und kann unter einem geeinten Deutschland also auch etwas ganz anderes verstehen als das Reich von 1871 oder „in den Grenzen von 1937"; und allein schon die Tatsache, daß die Gründung dieses Reiches mit drei „Einigungskriegen" verbunden war, macht deutlich, daß die Existenz „Deutschlands" (in welcher Form auch immer) schon im 19. Jahrhundert auch eine Frage der internationalen Politik war, eine Frage, die nicht von Deutschen allein, sondern stets auch von den europäischen Nachbarn mitentschieden wurde. Für das Verständnis der aktuellen Dimensionen und Implikationen der deutschen Frage ist folglich der Rückgriff auf die Vergangenheit auch jenseits der Epochengrenze von 1945 unerläßlich; er allein macht erst die seither getroffenen Entscheidungen und Entwicklungen voll verständlich und ermöglicht eine rationale Betrachtung des Problems, das sich hinter der deutschen Frage verbirgt

I.

Ansatzweise gab es die Frage nach der staatlichen Existenz Deutschlands, seit mit dem Beginn der Neuzeit das Nationale im modernen Sinne, die Nationalität, allmählich zu einem Gestaltungsprinzip staatlicher Ordnung aufstieg und das Heilige Römische Reich deut-scher Nation demzufolge mehr und mehr als ein verfassungs-und völkerrechtliches „Monstrum" (so Samuel von Pufendorf nach dem Westfälischen Frieden) empfunden wurde. Politisch relevant wurde die Frage allerdings erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als im Gefolge der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege die Nationalstaatsbildung nach französischem Modell zu einem vorrangigen Gestaltungsprinzip in Europa wurde und die damals aufstrebenden bürgerlichen Kräfte das Nationalstaatsprinzip als ideales Vehikel zur Verwirklichung ihrer Interessen gegenüber dem absolutistischen bzw.semiabsolutistischen Staat zu entdecken begannen. Daß die deutsche Frage schon in dieser frühen Phase auch, wenn nicht sogar in erster Linie, eine Frage der internationalen Politik war, zeigt sich überdeutlich an der staatlichen Neuordnung Deutschlands nach dem Zusammenbruch des napoleonischen Imperiums 1815: Die Schaffung des Deutschen Bundes, die Verhinderung der vollen Annexion Sachsens durch Preußen, der Rückzug Österreichs aus Südwestdeutschland, die Verankerung Preußens am Rhein, all das ist von den europäischen Großmächten mitentschieden worden, und sie haben auch den Deutschen Bund in seiner lockeren Form als Staatenbund garantiert Von der Schaffung einer neuen Großmacht im mitteleuropäischen Raum konnte sich keine der bestehenden Großmächte etwas Gutes versprechen, und die deutschen Mittelstaaten hatten keine Veranlassung, über die Arrondierung ihrer Besitzungen hinauszudenken; damit stand gegen eine deutsche Nationalbewegung eine äußerst wirkungsvolle Interessen-koalition deutscher und auswärtiger Staaten. Dem europäischen Gleichgewicht, so formulierte Wilhelm von Humboldt 1816 das Problem in einer Denkschrift, „würde nun durchaus entgegen gearbeitet, wenn in die Reihe der europäischen Staaten, außer den größeren deutschen einzeln genommen, noch ein neuer collectiver in einer, nicht durch gestörtes Gleichgewicht aufgeregten, sondern gleichsam willkürlichen Tätigkeit eingeführt würde, der bald für sich handelte, bald einer oder der andern größern Macht zur Hülfe oder zum Vorwande diente. Niemand könnte dann hindern, daß nicht Deutschland als Deutschland auch ein erobernder Staat würde, was kein ächter Deutscher wollen kann.“ Nun war die deutsche Nationalbewegung zu diesem Zeitpunkt ohnehin noch äußerst schwach, so daß die europäischen Mächte keinen Anlaß hatten, unmittelbar gegen die Errichtung eines deutschen Einheitsstaates zu intervenieren. Mit dem Wachsen der Nationalbewegung im Vormärz wurden dann aber die Barrieren sichtbar, die die Garantiemächte des Deutschen Bundes geschaffen hatten.

Die gesamtdeutsche Bewegung von 1848/49 war darum von Anfang an untrennbar in die europäischen Machtverhältnisse verflochten. Ein unitarisches Deutsches Reich mußte das bestehende europäische Gleichgewichtssystem zerstören, und soweit es dann auch noch demokratisch strukturiert war, bildete es eine erhebliche Gefahr auch für die innere Ordnung zumindest der autokratischen Mächte. Keine der außerdeutschen Mächte hat darum die revolutionäre Frankfurter Reichsgewalt anerkannt, jede massiv zugunsten des Status quo eingegriffen — freilich mit Abstufungen: Die stärkste Gegnerschaft gegen einen deutschen Nationalstaat kam von Rußland. Die russische Regierung hoffte zwar anfangs, die national-revolutionären deutschen Kräfte könnten von Preußen gezügelt werden, und hielt sich darum zunächst entsprechend zurück, griff dann aber um so massiver ein, als sie nicht nur die Bildung eines machtstaatlichen Aktionszentrums in Mitteleuropa befürchtete, sondern ebenso ihre autokratische Herrschaftsform und ihr multinationales Imperium in Gefahr sah. Die Briten standen zwar, anders als die russische Regierung, den liberalen Verfassungsbemühungen mit deutlichem Wohlwollen gegenüber und hielten auch eine Stärkung der machtpolitischen Position der Deutschen insgesamt als Gegengewicht gegen Frankreich und Rußland für wünschenswert, fürchteten aber insgeheim auch schon die künftige Konkurrenz, die sich mit der Tätigkeit des Deutschen Zollvereins und den ausgreifenden Flottenplänen deutscher Regierungskreise abzuzeichnen begann. Als die Nationalversammlung den Anschluß der Herzogtümer Schleswig und Holstein an das zu gründende Reich forderte, sah die britische Regierung das Maß dessen, was England tolerieren konnte, als überschritten an und zwang, von Frankreich und Rußland unterstützt, die preußischen Truppen zum Rückzug. In Frankreich waren die Reaktionen ähnlich: Zwar wegen der eigenen revolutionären Entwicklung vielfach widersprüchlich, undeutlich und schwach, vielfach voller Sympathie für die Verfassungsbewegung und die Idee des antirussischen Volkskrieges aus ordnungspolitischen wie machtstaatlichen Gründen begrüßend; aber in der Summe dann doch eine grundsätzliche Ablehnung der staatlichen Einheit Deutschlands, in welcher Form auch immer, ob klein-deutsch oder großdeutsch, demokratisch oder konstitutionell. Die Sicherheit der eigenen Nation ließ die Übertragung des nationalrevolutionären Modells von 1789 auf den potentiell über größere Ressourcen verfügenden Nachbarn nicht zu. Wenn die deutsche Revolution von 1848/49 auch nicht nur an der Gegnerschaft der europäischen Großmächte scheiterte, so standen ihr doch auch die gesamteuropäischen Machtverhältnisse im Wege; und durch mangelndes außenpolitisches Augenmaß hat die nationale selbst Bewegung den noch für allenfalls verbliebenen Spielraum eine vertan. erfolgreiche Politik Daß die Reichsgründung von 1871 gelang, war zwei grundlegenden, sich wechselseitig beeinflussenden Veränderungen gegenüber der Situation von 1848 zu verdanken: Zum einen zerfiel die seit 1815 im wesentlichen durchgehaltene Solidarität der europäischen Groß-mächte mit dem Krimkrieg von 1854— 1856. Die englisch-russische Rivalität nahm jetzt zu, ohne daß sich die englisch-französische Rivalität verringerte; Österreich wurde von Rußland und von den Westmächten isoliert, während Preußen seine Beziehungen zu beiden Seiten wahren konnte; das Zarenreich konzentrierte seine Anstrengungen auf die Revision der im Frieden von Paris 1856 festgelegten Schwarz-meer-Klauseln, wandte sich also dem südosteuropäischen Raum zu und, zumindest in gewissem Maße, von Fragen der mitteleuropäischen Politik ab. Zum zweiten bewegte sich die deutsche Einigungspolitik immer deutlicher auf die „kleindeutsche" Lösung zu, definitiv mit dem preußischen Sieg über Österreich 1866, der nicht zuletzt deshalb unangefochten blieb, weil das „kleindeutsche" Reich unter preußischer Führung jene Lösung der deutschen Frage darstellte, die von den europäischen Mächten, wenn überhaupt, dann noch am ehesten ertragen werden konnte.

Bismark, selbst kein Vertreter des nationalen Gedankens, sondern Anwalt preußischen Großmachtinteresses, hat diese Veränderung der internationalen Lage erkannt und äußerst geschickt zugunsten Preußens ausgenutzt, ohne festen Fahrplan, aber doch immer so, daß er den Spielraum der preußischen Politik beständig erweiterte. Der stärkste Widerstand gegen die „kleindeutsche" Lösung ging — verständlicherweise — von Frankreich aus; um ihn zu brechen, bemühte sich Bismarck mit Erfolg um eine Neutralisierung Rußlands, ohne dessen Beteiligung antideutsche eine Einheitsfront der Großmächte undenkbar war. Der Preis, den Bismarck für die wohlwollende Neutralität der Zarenregierung im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 zahlen mußte, war die Aufhebung der Pontus-Klauseln, die 1871 gegen den Widerstand der Briten erfolgte. Regierung und Öffentlichkeit in Großbritannien nahmen die Entwicklung hin — die Begeisterung für die Verfassung des neuen Staates war zwar bedeutend geringer als 1848, dafür war die Eindämmung der Franzosen unter machtstaatlichen Gesichtspunkten nun um so willkommener. Äußerst negativ reagierten dagegen die Polen: Die Schaffung des Deutschen Reiches unter dem Patronat ihrer Okkupationsmächte Preußen und Rußland verminderte die Chancen auf die staatliche Wiedergeburt der eigenen Nation ganz erheblich. Cum grano salis läßt sich also feststellen, „daß die Freude über dieses Ereignis (= die Reichs-gründung) um so größer war, je weiter eine Land vom Schauplatz der Ereignisse entfernt war oder umgekehrt, das Unbehagen um so ausgeprägter, je näher man sich dabei befand"

II.

Tatsächlich bedeutete die Schaffung des klein-deutschen Nationalstaates eine tiefgreifende Umwälzung des europäischen Staatensystems. Ein neues Machtzentrum in Mitteleuropa war entstanden, das an Gewicht um so mehr zu-nahm, als das Reich im Begriffe stand, alle anderen europäischen Großmächte im Industrialisierungstempo zu überholen. Die Zeitgenossen haben diese Umwälzung durchaus als solche empfunden, am markantesten Benjamin Disraeli, der 1871 das Ergebnis des deutsch-französischen Krieges „die deutsche Revolution" nannte, „ein größeres politisches Ereignis, als die Französische Revolution des letzten Jahrhunderts" Eben weil er um diese sy-stemsprengende Potenz des neuen Reiches wußte, hat Bismarck nach der Reichsgründung Deutschland für „saturiert" erklärt und das „friedliche Nebeneinanderwohnen der großen europäischen Mächte“ zum Ziel deutscher Politik proklamiert: Das neue Reich sollte als Ordnungsfaktor im Sinne des traditionellen europäischen Gleichgewichtssystems empfunden werden, nicht als potentielle Hegemonialmacht im Herzen Europas, vor der schon Wilhelm von Humboldt zurückgeschreckt war, und die es doch tatsächlich war. Um die 1871 errungene Großmachtstellung zu wahren und für die übrigen Großmächte erträglich zu gestalten, suchte Bismarck, so gut es ging, Interessengegensätze zwischen den übrigen Mächten zu stabilisieren und zu vertiefen und Spannungen insgesamt von Mitteleuropa weg auf Südosteuropa und später auch auf die überseeischen Expansionsgebiete der imperialistischen Mächte hin zu lenken — eine Politik, die ihren Höhepunkt auf dem Berliner Kongreß von 1878 erlebte, als Bismarck das Reich zum „ehrlichen Makler" stilisieren konnte.

Diese Politik war jedoch von Anfang an gefährdet: Einmal schufen die Annexion Elsaß-Lothringens und der Versuch der „Eindeutschung" der polnischen Reichsbewohner auf Dauer belastende Konfliktpotentiale, die eine auf Gleichgewicht bedachte Politik immer wieder stören konnten. Zum andern und vor allem konnte die für die Politik des „ehrlichen Maklers“ notwendige Zurückhaltung beim Erwerb von Kolonien und überseeischen Einflußzonen angesichts der dynamischen Expansion der übrigen imperialen Großmächte zu einem relativen Absinken der eigenen Position im Kreis der Großmächte führen. Es ist daher kein Wunder, daß es Bismarck in den achtziger Jahren immer schwerer fiel, seinen Kurs durchzuhalten, und daß dessen innenpolitische Basis immer geringer wurde. „Wir müssen begreifen", gab Max Weber in seiner berühmten Antrittsvorlesung von 1895 einem unterdessen nahezu allgemeinen Empfinden der reichsdeutschen Gesellschaft Ausdruck, „daß die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluß und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte." Liberale Imperialisten wie Max Weber, Friedrich Naumann oder Gustav Stresemann verlangten eine* durch Beseitigung der konstitutionellen Fesseln abgestützte ökonomische Weltmachtpolitik, die alle gesellschaftlichen Kräfte im Innern anspannte, um eine um so stärkere Machtentfaltung nach außen zu ermöglichen; „alldeutsche" und militaristische Kräfte drängten umgekehrt zur Zurücknahme der bereits zugestandenen liberalen Freiheiten, um den Staat für einen Eroberungskrieg wappnen zu können.

Beide Gruppen, so lautstark sie waren, konnten sich gewiß weder in der späten Bismarck-zeit noch in der Wilhelminischen Ära ab 1890 voll durchsetzen. Dennoch dachte die Reichs-leitung nach Bismarck (und durch eine breite Opposition gegen Bismarck im Generalstab und Auswärtigen Amt in dessen letzten Amts-jahren schon vorbereitet) weit „imperialer" als der erste Reichskanzler, zielte sie nicht mehr auf den Erhalt des Reiches allein, sondern ging es ihr um die Machtstellung des nun als festen Machtblock in Mitteleuropa angesehenen Zweibundes Deutsches Reich/Osterreich-Ungarn, eines Blocks, der sich im Zuge der Wirtschaftsexpansion nach der Jahrhundertwende in Gestalt einer deutschen Einflußsphäre weit nach Südosten bis in das Osmanische Reich hinein ausweitete. Als sich dann im Zuge einer solchen Machtblockpolitik in der Julikrise 1914 der auch zuvor schon häufig geäußerte Gedanke eines Präventivkrieges durchsetzte — indem er von Reichskanzler Bethmann Hollweg als mögliche Konsequenz eines auf „Sprengung" der gegnerischen Koalition angelegten diplomatischen Manövers akzeptiert wurde —, war der von Bismarck errichtete Damm gegen den vollen Durchbruch der „deutschen Revolution" endgültig gebrochen; die liberalimperialistischen und militaristischen Kräfte kamen zum Zuge. Wohl blieb auch jetzt noch umstritten, welchen Expansionszielen im einzelnen Vorrang eingeräumt werden sollte und ob Methoden informeller Herrschaftssicherung oder direkte Annexionen und offene Gewaltpolitik den Interessen des Reiches besser dienten; in der Summe liefen die Kriegszielvorstellungen der politisch entscheidenden Kräfte des Reiches jedoch übereinstimmend auf die Etablierung eines nach Ost und West erweiterten „Mitteleuropas" unter deutscher Hegemonie hinaus, auf die Schaffung einer beherrschenden kontinentaleuropäischen Stellung des Reiches also, die die Basis bilden sollte für eine in einer zweiten Phase zu erringende maritimkoloniale Weltmachtposition — Ziele, an die Hitler später unmittelbar anknüpfen konnte, auch wenn er sie mit seinem rassenideologischen Universalismus überhöht hat. Mit der Erschöpfung der militärischen Reserven des Reiches und seiner Verbündeten bröckelte dieser Konsens dann wieder ab, trat auf der liberalen Seite bis in die Reichsleitung hinein allmählich wieder die Bereitschaft, sich im Westen mit dem Status quo ante zufriedenzugeben; doch konnte sich diese Teil-Revision der deutschen Kriegszielpolitik nicht eindeutig durchsetzen und war vor allem seit der — von einem breiten Konsens getragenen — Verwirklichung der Expansionspläne nach Osten hin im Vertrag von Brest-Litowsk für die Westmächte nicht mehr akzeptabel.

Eine Zerstörung des europäischen Staatensystems in einem solchen Ausmaß, wie es von den Deutschen zeitweilig angestrebt wurde, hat keiner der Kriegsgegner Deutschlands verfochten; was verfochten wurde, war — in unterschiedlichen Ausmaßen — eine Zurückdrängung Deutschlands auf oder knapp unter die 1871 errungene Position. Am weitesten ging man dabei in Frankreich, wo sich die Forderung nach Abtrennung bestimmter Gebiete vom Deutschen Reich weithin durchsetzte: Elsaß-Lothringen natürlich, bestimmte östliche Gebiete, Nordschleswig, daneben aber auch das Rheinland. Im Winter 1916/17 machte sich die französische Regierung die Forderung nach Schaffung eines neutralen rheinischen Pufferstaates offiziell zu eigen; 1918/19 ging Clemenceau mit Vorstellungen-dieser Art in die Friedensverhandlungen; und auch nachdem der Rheinstaatsgedanke auf der Versailler Konferenz Schiffbruch erlitten hatte, hat die französische Politik bis 1923 separatistische Bestrebungen im Rheinland zumindest inoffiziell gefördert. Die britische Regierung begnügte sich dagegen damit, die deutsche Weltmachtstellung zu beseitigen, dem Reich also die Flotte, die Kolonien und die überseeischen Einflußgebiete zu nehmen; sobald dies erreicht war, achteten die Briten darauf, Deutschland als in etwa gleichrangiges Gegengewicht gegen eine französische Vormachtstellung auf dem europäischen Kontinent zu erhalten. In den Friedensverhandlungen setzte sich die britische Delegation folglieh für Regelungen nach dem Nationalitätenprinzip ein, sowohl bezüglich Elsaß-Lothringen und Polens als auch bezüglich ÖsterreichUngarns; und die amerikanische Regierung schloß sich diesen Vorstellungen — mehr aus prinzipiellen denn aus genuin machtpolitischen Gründen wie im britischen Falle — nahezu vorbehaltlos an. Rußland blieb nach der Oktoberrevolution von 1917 von der definitiven Friedensregelung ausgeschlossen, hatte aber auch schon zuvor unter dem Zarenregime kein eindeutiges Kriegszielprogramm entwikkelt: Daß Ostpreußen, Posen, Schlesien und Galizien in den russischen Machtbereich einbezogen werden sollten, hatte einigermaßen festgestanden, aber wie dies geschehen sollte, war unklar geblieben, nachdem man sich auch bezüglich der künftigen Stellung Polens nicht zu einer eindeutigen Lösung hatte durchringen können.

Die in Versailles beschlossene Friedensordnung für Europa folgte im wesentlichen den Vorstellungen der angelsächsischen Mächte. Die staatliche Einheit des — geschichtlich gesehen ja noch sehr jungen — Deutschen Reiches blieb bestehen, obwohl dies, wie wir gesehen haben, keineswegs selbstverständlich war. Die Gebietsverluste des Reiches waren nicht unbeträchtlich, ließen sich aber in der Regel mit dem Nationalitätenprinzip rechtfertigen; und wo das nicht der Fall war, also im Saargebiet und in Oberschlesien, wurden dilatorische Kompromisse getroffen, die eine spätere Regelung nach dem Selbstbestimmungsrecht ausdrücklich einschlossen. Nur im Falle der Deutsch-Österreicher und Deutsch-Böhmen, die nach dem Zerfall des Habsburger Vielvölkerstaates für den Anschluß an das Deutsche Reich votierten, blieb das Selbstbestimmungsrecht grundsätzlich versagt: Hier stimmten alle Siegermächte in der Furcht vor einer erneuten Revolutionierung des europäischen Gleichgewichtssystems überein. Insgesamt wurde der bis 1914 durch Industrialisierung und imperiales Ausgreifen gewonnene Machtzuwachs des Reiches in etwa wieder zurückgenommen, doch wurde es keineswegs auf den Status einer mittleren Macht reduziert, vielmehr behielt es alle Chancen, die bisherige Großmachtstellung wiederzugewinnen.

III.

Diese Chancen wurden, was eine auf die „Schmach von Versailles“ konzentrierte Betrachtungsweise lange Zeit übersehen hat, durch die Entwicklung des internationalen Staatensystems nach dem Ersten Weltkrieg sogar noch verstärkt: Das Deutsche Reich brauchte sich nicht länger von einer Assoziation Englands, Frankreichs und Rußlands eingekreist zu fühlen; vielmehr entwickelte sich zwischen Großbritannien und der Sowjetunion ein ideologisch-ordnungspolitisch begründeter weltweiter Gegensatz, und Briten und Franzosen entfremdeten sich über ihre gegensätzlichen Vorstellungen von der Machtverteilung auf dem europäischen Kontinent. Diese Entwicklung ließ sowohl die Sowjetunion als auch Großbritannien zu objektiven Verbündeten eines deutschen Wiederaufstiegs werden (natürlich nur, solange er nicht zur Dominanz Deutschlands führte), und auch der dritte der ehemaligen Hauptgegner des Deutschen Reiches sah sich schließlich zu einer kooperativen Politik gegenüber dem „Erbfeind" gezwungen, wollte er nicht erneut, wie schon 1870, in den Windschatten der europäischen Politik geraten. Mit der Sowjetunion teilte das Deutsche Reich das Streben nach Ausbruch aus der Isolation, Revision der im Versailler Vertrag festgeschriebenen Machtverhältnisse im allgemeinen und Korrektur der beiderseitigen Grenzen zu Polen im besonderen. In Großbritannien entsprach den deutschen Bemühungen um eine Revision des Versailler Vertrages eine wachsende Abneigung gegen französisches Hegemoniestreben auf dem Kontinent. Selbst in Frankreich gewannen ab 1924 mit dem Wahlsieg des Links-kartells Kräfte an Gewicht, die die Poincarsehe Politik der Sicherheit durch Dominanz auf dem europäischen Kontinent nicht für der Weisheit letzten Schluß hielten und um eine Einbindung Deutschlands in das europäische Staatensystem durch Verständigung bemüht waren. Immerhin fand sich Frankreich 1925 zur Unterzeichnung des Locarno-Vertragspakts bereit und war Außenminister Briand in den folgenden Jahren um eine Aufhebung der Deutschland diskriminierenden Elemente des Versailler Vertragssystems bemüht.

Bei den deutschen Bemühungen um eine Revision des Versailler Vertragswerkes und eine Wiederherstellung der deutschen Großmacht-position standen sich zwei Konzeptionen gegenüber, die vom deutschen Generalstab schon im Dezember 1918, unmittelbar nach der Niederlage, kontrovers diskutiert worden sind: Die Konzeption Seeckts (des späteren Chefs der Heeresleitung) zielte darauf, mit Rußland zusammen Polen zu zerschlagen und mit russischer Rückendeckung einen Befreiungskrieg gegen Frankreich zu führen; die Konzeption Schleichers (der grauen Eminenz des Jahres 1932) lief — weit realistischer — darauf hinaus, zunächst das Reich innenpolitisch zu konsolidieren, wirtschaftlich gesunden zu lassen und damit eine Basis für eine kraftvolle Vertretung der deutschen Interessen nach außen zu gewinnen. Seeckts Konzeption konnte sich (trotz eines Teilerfolgs in Rapallo) letztlich nicht durchsetzen; Schleichers Konzeption ist dann ab 1924 von Stresemann Schritt für Schritt verwirklicht worden. Gegenseitiges Ausspielen der unter den Großmächten vorhandenen Gegensätze, Operieren mit den öffentlichen Meinungen in Europa, insbesondere mit jenen Kräften, die für die Wilsonschen Prinzipien eintraten, Ausspielen der wirtschaftlichen Möglichkeiten des Reiches, Bemühen um eine Stärkung des militärischen Potentials — das waren die Elemente der Stresemannschen „Verständigungspolitik", die letztlich ebenso zielbewußt auf die Wiederherstellung einer faktisch-realen Groß-machtstellung mit der Möglichkeit des Ausgreifens nach Übersee zielte wie ihre Vorgänger und die darum Hoffnungen auf einen tatsächlichen stabilen Interessenausgleich in einem „Vereinten Europa" sehr schnell an ihre Grenzen stoßen ließ.

Der Übergang von dieser in ihren Mitteln gemäßigten Revisionspolitik zu jener deutschen Außenpolitik, die in den Zweiten Weltkrieg geführt hat, erfolgte schrittweise. Schon unter Brüning wurde der deutsche Staatsegoismus stärker betont als unter Stresemann: Brüning lehnte Briands Plan einer „europäischen föderalen Union", die auf die Festigung des Status quo hin angelegt schien, mit der Begründung ab, es müsse zuerst „eine gerechte und dauerhafte Ordnung Europas" geschaffen werden, „in dem Deutschland seinen ausreichenden natürlichen Lebensraum haben müsse" Mit den Plänen für eine deutsch-österreichische Zollunion und die erneute Durchdringung Südosteuropas trat die deutsche Politik jetzt wieder ganz offen in die Nachfolge der traditionellen Mitteleuropa-Pläne. Wie wir aus Brünings Memoiren wissen, wollte der mit Notverordnungen regierende Reichskanzler zurücktreten, sobald die Reparationsschuld gestrichen und die formale militärische Gleichberechtigung erreicht war (diese Ziele waren unterdessen in der Tat zum Greifen nahe); seine Austeritätspolitik würde, so hoffte er, bis dahin die deutsche Position auf dem Weltmarkt soweit gestärkt haben, daß ein auf ihn folgendes Kabinett der autoritären Rechten wieder offen deutsche Großmachtpolitik betreiben konnte. Mit dem Sturz Brünings und der Etablierung der Regierung Papen trat das Ziel, effektiv Freiheit für die Wiederaufrüstung zu erlangen, in den Vordergrund der deutschen Politik. Bürokratie und Generalität arbeiteten auf ein schnelles Scheitern der Genfer Abrüstungskonferenz und die dann möglich werdende offene Wiederaufrüstung über die in Versailles gezogenen Grenzen hinaus hin.

Hitlers Regierungsantritt am 30. Januar 1933 bedeutete zunächst keine Radikalisierung dieses Kurses; im Gegenteil drosselte der nationalsozialistische Führer bis September 1933 sogar das Tempo der Revisionspolitik, um nicht unnötigerweise geschlossenen Widerstand der Siegermächte von 1918/19 zu provozieren. Die Politik der folgenden Jahre bewegte sich durchaus in den seit der Wilhelminischen Ära vorgezeichneten Bahnen; erst nachdem Hitler die Vertreter des liberalen Wirtschaftsimperialismus (Schacht 1936) und des wilhelminischen Weltmachtdenkens (Blomberg 1938) eliminiert hatte, ging seine Politik mit rassenideologisch begründeten Vernichtungsvorstellungen und radikaler Zuspitzung des sozialdarwinistischen Alles-Oder-Nichts-Prinzips — Weltherrschaft oder Untergang — qualitativ über das bisherige deutsche Hegemonialstreben hinaus. Freilich bewegte sie sich auch fortan auf dem Resonanzboden der bisherigen Weltmachtvorstellungen; nur darum ließ sie sich so widerstandslos durchsetzen und im Zweiten Weltkrieg gegen alle widrigen Umstände so lange durchhalten.

Dieser Zweite Weltkrieg war darum unter Kontinuitätsgesichtspunkten der zweite und diesmal erfolgreiche Versuch, Deutschlands halbhegemoniale Stellung in Europa zugunsten einer dominierenden Stellung zu überwinden und damit das traditionelle europäische Staatensystem zu zerstören. Beides hat Hitler erreicht, auf Dauer freilich nur das zweite. Nachdem die europäischen Mächte schon 1938 dem Übergang Deutschlands zur hegemonialen Stellung in Mitteleuropa (durch die „nachgeholten" Angliederungen Österreichs und des Sudetenlandes) keinen Widerstand mehr entgegensetzen konnten und sie 1939/40 vom Ansturm der deutschen Truppen förmlich überrannt wurden, konnte sich ein europäisches Staatensystem aus eigener Kraft nicht mehr rekonstruieren. Das erste Ziel — der Kontinent unter deutscher Herrschaft — scheiterte, nachdem es für einen Moment realisiert schien, am Zusammentreffen der geostrategischen Vorteile Englands und der Sowjetunion, die Hitler nicht gleichzeitig überwinden konnte, und am Aufstieg der USA zur ersten und nunmehr auch weltweit interessierten Industriemacht der Welt. Das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges war darum ein Machtvakuum in Europa, in das die beiden neuen Weltmächte USA und UdSSR geradezu zwangsläufig vordringen mußten.

Was mit „Deutschland" nach dieser Zerstörung Europas werden sollte, darüber herrschte im Lager der Sieger eine bis dahin nicht dagewesene Unsicherheit. In Großbritannien überwog zunächst die Forderung nach Zerstörung des aggressiven Aktionszentrums im Herzen Europas durch Aufteilung des Deutschen Reiches in selbständige Einzelstaaten, doch verminderte dann die Sorge, das deutsche Potential könne dem sowjetischen Expansionsstreben zum Opfer fallen, deutlich die Bereitschaft, diese Teilungspläne zu realisieren. In Frankreich konnten sich diese zwar eindeutiger durchsetzen, konkretisierten sie sich insbesondere erneut in der Forderung nach einem separierten Rheinstaat und erstmals nach der Separierung des Industriereviers der Ruhr, doch warnten hier von Anfang an starke Gegenkräfte, daß Verletzungen des nationalen Selbstbestimmungsprinzips nur erneuten Revanchismus provozieren würden und Sicherheit vor Deutschland daher ohne die Einbindung der Deutschen in eine starke internationale Organisation nicht möglich sei. In den USA standen sich die Forderung nach radikaler Beseitigung des mitteleuropäischen Unruheherdes durch Entindustrialisierung und das Interesse an einer Rekonstruktion des deutschen Marktes unvermittelbar gegenüber; ab Kriegsende bestimmte dann vorwiegend die Sorge, gegenüber dem sowjetischen Konkurrenten nicht ins Hintertreffen zu geraten, die konkrete amerikanische Deutschlandpolitik. Die sowjetische Führung schließlich schwankte zwischen Maßnahmen zur Verhinderung einer neuen deutschen Hegemonie auf dem europäischen Kontinent und Maßnahmen zur Verhinderung einer amerikanischen Vormachtstellung in Europa, die sich nach dem Zusammenbruch des traditionellen europäischen Staatensystems von einem besetzten Deutschland aus leicht etablieren konnte.

Gerade wegen der Unentschiedenheit der Siegermächte geriet die deutsche Frage sehr schnell in den Sog der bipolaren Blockbildung im Zeichen des Kalten Krieges. Weder die westliche Seite noch die Sowjetmacht glaubten es sich leisten zu können, das deutsche Potential ganz der Gegenseite zufallen zu lassen, und von einem bestimmten Punkt der Konflikteskalation an konnten sie es sich auch tatsächlich nicht mehr leisten. Damit blieben nur noch die Alternativen, Deutschland entweder in eine östliche und eine westliche Dependance zu teilen oder das gesamte Deutschland zu einer neutralen Pufferzone zwischen Ost und West zu deklarieren, von den Gebietsverlusten östlich von Oder und Neiße abgesehen. De facto lief die Entwicklung seit 1945 auf die erstgenannte Lösung zu, indem sich nämlich in den westlichen und in der sowjetischen Besatzungszone unterschiedliche, mehr und mehr gegensätzliche Gesellschaftssysteme etablierten; von den Zeitgenossen wurde jedoch bis in die Mitte der fünfziger Jahre hinein auch die zweite Alternative ernsthaft diskutiert — nicht nur von Deutschen, die auf diese Weise an der Spaltung der Nation vorbeizukommen hofften und mit einer Vermittlerrolle zwischen Ost und West die alte Großmachtpolitik wiederaufzunehmen gedachten, sondern auch von den beiden Hauptantagonisten des Kalten Krieges, die (zu unterschiedlichen Zeitpunkten freilich!) die negativen Konsequenzen einer Neutralisierung geringer einschätzten als die belastenden Folgewirkungen einer Teilung.

Auf amerikanischer Seite ist die Neutralisierung — was bisher kaum bekannt war — im Sommer 1948 erwogen worden, als die im Gefolge des amerikanischen Wiederaufbauprogramms für Westeuropa unausweichliche Gründung der westdeutschen Bundesrepublik durch die Berliner Blockade torpediert zu werden drohte. Daß die Versorgung der West-Berliner Bevölkerung aus der Luft technisch zu bewerkstelligen sein würde, war damals noch nicht abzusehen; einen Krieg wegen Berlin wollte aber kaum jemand riskieren, weder in den USA und schon gar nicht in Europa. Langfristig gesehen, schienen die Westmächte in Berlin also in einer unhaltbaren Position zu sein, und die von Stalin als Voraussetzung für die Aufhebung der Blockade verlangte Suspendierung der westdeutschen Staatsgründung konnte folglich mehr und mehr auf Unterstützung im Westen rechnen, insbesondere bei den mit den in London beschlossenen Gründungsvereinbarungen sehr unzufriedenen Franzosen und nicht zuletzt bei den Deutschen, deren Ministerpräsidenten dem angeordneten Schritt zur Staatsgründung zunächst deutlich Widerstand entgegensetzten. Befragt, wie sich die amerikanische Regierung angesichts des sich abzeichnenden Dilemmas verhalten sollte, entwickelte der Politische Planungsstab des State Department unter George F. Kennan den Plan einer sowjetisch-westlichen Vereinbarung über einen beiderseitigen Truppenabzug aus Deutschland, gefolgt von der Restitution eines unabhängigen gesamtdeutschen Staates: „Wir könnten dann ohne Prestigeverlust aus Berlin abziehen, und die Bevölkerung der Westsektoren würde nicht unter sowjetische Herrschaft fallen, weil die Russen die Stadt ebenfalls verlassen würden." Eine solche Lösung erschien dem Planungsstab trotz des Risikos beträchtlicher Komplikationen des europäischen Wiederaufbauprogramms und der Möglichkeit einer Abwendung der vereinten Deutschen vom Westen immer noch akzeptabler zu sein als eine dauernde Belastung mit dem Berlin-Problem, mit einem ohne die Verbindung zum Osten und ohne europäische Föderation wirtschaftlich nicht lebensfähigen Westdeutschland, mit auf Wiedervereinigung sinnenden Westdeutschen und mit einer Perpetuierung der Spaltung Europas.

Daß dieser Neutralisierungsplan nicht durchgeführt wurde (und auch nicht an die Öffentlichkeit drang), war vor allem dem Erfolg der Luftbrücke nach Berlin zu verdanken, der sich Ende August 1948 abzuzeichnen begann; in der amerikanischen Führung überwog nun die Furcht vor einem nicht wiedergutzumachenden Vertrauensverlust der USA in Westeuropa im Falle eines Rückzugs aus Berlin. Daneben spielte das Votum der französischen Regierung in dieser Krisensituation eine wichtige Rolle: Sie stimmte nicht, wie man hätte erwarten können, für eine Revision der ungeliebten Londoner Deutschlandvereinbarungen, sondern für die Aufrechterhaltung der westlichen Positionen in Berlin — ein zweigeteiltes Deutschland, verbunden mit dauernder Anwesenheit amerikanischer Truppen auf deutschem Boden, schien ihr nun doch ein kleineres Übel zu sein als ein neutralisiertes Gesamtdeutschland. Das Deutschland-Problem sollte — zum Teil wenigstens — durch die Integration des westlichen Reichsteils in eine eng verbundene westliche Staatengemeinschaft gelöst werden; in diesem Sinne richtete sich die Gründung der NATO und der ersten europäischen Institutionen nicht nur gegen die sowjetische Bedrohung, sondern auch gegen eine neue deutsche Gefahr. Sowjetischerseits ist die Neutralisierung Gesamtdeutschlands (auch hier natürlich ohne die Gebiete östlich von Oder und Neiße) dann bekanntlich 1952/53 erwogen und proklamiert worden. Das sowjetische Verhandlungsangebot vom Frühjahr 1952 — ein Gesamtdeutschland, das innerhalb eines gemäß den Potsdamer Vereinbarungen zu bestimmenden „demokratischen" Rahmens frei über seine Geschicke bestimmen konnte — war gewiß zunächst taktisch gemeint, als Mittel, die mit der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft drohende Bewaffnung der Bundesrepublik zu verhindern; darüber hinaus spiegelte es aber auch ähnliche Überlegungen wider, wie sie die amerikanische Führung zweieinhalb Jahre zuvor bewegt hatte. Wie damals im amerikanischen Falle bedeutete das sowjetische Angebot einen Verzicht auf die bereits errungene Verfügungsgewalt über einen Teil Deutschlands, erzwungen durch die Furcht vor der Alternative, in diesem Falle vor einem rüstungsintensiven Militärblock an der Westgrenze des sowjetischen Einflußbereiches. Wie damals war die Konzession eines von alliierten Truppen befreiten Gesamtdeutschlands mit schwer kalkulierbaren Risiken verbunden, was seine künftige innen-und außenpolitische Orientierung wie den Zusammenhalt der verbleibenden Teile des eigenen Lagers betraf; wie damals rechneten sich die Befürworter des Neutralisierungsplans jedoch gute Chancen aus, das deutsche Potential in der Ost-West-Auseinandersetzung schließlich doch noch zugunsten des jeweils eigenen Lagers verbuchen zu können: die Amerikaner im Vertrauen auf die Attraktivität des westlichen Gesellschaftsmodells in freien Wahlen, die Sowjets, indem sie einerseits in ostentativer Anknüpfung an die „Rapallo-Linie“ in den deutsch-sowjetischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit auf ein Bündnis mit den nationalkonservativen Kräften Deutschlands setzten und sich andererseits mit der Durchführung von „Demokratisierungs'-Maßnahmen sowie durch die ständige Präsenz von DDR-und UdSSR-Vertretern in dem zu freien Wahlen und Friedensvertrag führenden Prozeß ein Minimum an permanentem Einfluß auf die künftige Politik Gesamtdeutschlands zu sichern gedachten.

Die Chancen des sowjetischen Neutralisierungsprojekts waren freilich von Anfang an weit geringer als die Chancen der amerikanischen Pläne von 1948. In Frankreich und Großbritannien weckte das sowjetische Angebot zwar vage Hoffnungen auf einen Abbau der Ost-West-Konfrontation in Mitteleuropa und, damit verbunden, auf eine Verhinderung der problematischen westdeutschen Wiederbewaffnung im letzten Moment, so daß die beiden Regierungen unter starkem innenpolitischen Druck zeitweilig eine ernsthafte Prüfung der Noten erwogen. Doch fehlte ihren Initiativen der nötige Nachdruck, da die große Mehrheit der Franzosen andererseits in einem mit einer Nationalarmee ausgestatteten Gesamtdeutschland ein noch größeres Sicherheitsrisiko sah, als es mit der Ost-West-Spannung in Europa und in die Europäische Verteidigungsgemeinschaft integrierten westdeutschen Streitkräften gegeben war, da weiterhin die Briten nicht erneut wie in der Zwischenkriegszeit zum Schutze Frankreichs vor einem potentiell starken Deutschland verpflichtet werden wollten und beide grundsätzlich von der Notwendigkeit einer militärischen Stärkung des Westens gegenüber der Sowjetunion überzeugt blieben. Die amerikanische Regierung vermochte dem sowjetischen Angebot überhaupt keine positiven Seiten abzugewinnen, zielte es doch daraufhin ab, das amerikanische Eindämmungswerk in seinem wirtschaftlichen, militärischen und politischen Herzstück in Europa zu treffen. Hinzu kam, daß von den politischen Führungskräften der Bundesrepublik kaum jemand bereit war, die im Laufe der Jahre seit Kriegsende gesetzten wirtschafts-, gesellschafts-und verfassungspolitischen Prioritäten Westdeutschlands zugunsten eines gesamtdeutschen Neuanfangs mit unsicherem Ausgang aufs Spiel zu setzen, weder Adenauer, der in einer Neutralisierung eine außenpolitische Unmöglichkeit und eine innenpolitische Katastrophe (durch den Wiederaufstieg der nationalistischen Kräfte) sah, noch die „nationale“ Opposition, die mit dem Beharren auf den Reichsgrenzen von 1937 und der Beseitigung jeglicher sowjetischer Kontrollmöglichkeiten Maximalforderungen stellte, die die Sowjetregierung nicht konzedieren konnte.

An der westlichen Ablehnung des sowjetischen Neutralisierungsangebots war darum auch nicht mehr zu rütteln, als die sowjetische Führung nach dem Tode Stalins im März 1953 damit begann, die Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone durch die Zurücknahme zahlreicher Kollektivierungs-und Uniformierungs-Beschlüsse auf eine mögliche Wiedervereinigung hin abzustellen. Die neuerliche sowjetische Initiative führte nur dazu, daß sich die Arbeiter (die von den Liberalisie11 rungsbemühungen ausgenommen worden waren) und die sonstigen DDR-Bewohner (die aus der Ankündigung des „neuen Kurses" Mut schöpften) am 17. Juni 1953 in einer breiten Aufstandsbewegung gegen die Herrschaft Ulbrichts empörten; die Westmächte sahen auch in der offenkundigen Infragestellung des DDR-Systems durch die sowjetische Führung keinen Anlaß, ihren deutschlandpolitischen Kurs zu überprüfen. Nachdem der Aufstand das ganze Ausmaß sowohl der Unpopularität des Sowjetregimes als auch der Unbeweglichkeit der Westmächte deutlich gemacht hatte, setzte sich in der Sowjetführung die Ansicht durch, es sei besser, den mitteldeutschen Teil-staatzu stabilisieren, anstatt weiter auf gesamtdeutsche Lösungen zu hoffen. Fortan machte die Sowjetführung gesamtdeutsche Regelungen von einer vorherigen Anerkennung des DDR-Regimes abhängig und damit für die Westmächte und die Westdeutschen vollends inakzeptabel; damit war die gesamtdeutsche Alternative endgültig aus dem Bereich kurz-oder mittelfristig erreichbarer politischer Lösungen ausgeschieden. Im Jahr 1955 ratifizierte dann die zeitlich parallele Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO und der DDR in den (eigens zu diesem Zweck geschaffenen) Warschauer Pakt die tatsächlich längst vollzogene Teilung der Nation.

V.

Der damit erreichte Status der deutschen Frage wurde von keiner der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges als optimale Lösung betrachtet, stellte aber doch einen für alle einigermaßen akzeptablen Kompromiß dar: Die Sowjetunion sah sich zwar mit einer wirtschaftlich und militärisch starken amerikanisch-westdeutschen Entente konfrontiert, hatte aber die Grenzen ihres Sicherheitssystems bis in die Mitte des deutschen Territoriums vorgeschoben und stabilisierte sie in den folgenden Jahren; die Westmächte hatten den westlichen Teil Deutschlands in ein starkes westliches Organisationsgeflecht eingebunden, das Schutz vor sowjetischer wie vor deutscher Bedrohung bot. Die westdeutsche Forderung nach Wiedervereinigung „in Freiheit" wurde zwar von den westlichen Alliierten unterstützt, freilich mit der deutlichen Nebenabsicht, gegenüber der sowjetischen Einigungspropaganda nicht ins Hintertreffen zu geraten, und ohne Folgen für die praktische Politik, die über die Wahrung der Rechte als Siegermächte hinausgingen. Als die Wiedervereinigungspolitik der Bundesrepublik mit dem Programm des „Wandels durch Annäherung" der ersten sozialliberalen Koalition ab 1969 erstmals über die Bahnen hinausging, die durch die Westintegration vorgezeichnet waren, regte sich unter den Westmächten sogleich wieder die Furcht vor einer deutschen Sonder-rolle zwischen Ost und West auf Kosten der eigenen Interessen — sowohl in Frankreich, wo man die eigene Rolle als bevorzugter Gesprächspartner der Sowjetunion in der Entspannungspolitik in Gefahr geraten sah, als auch in den USA, wo Präsidentenberater Kissinger (nach Ausweis seiner Memoiren) zumindest einem Teil der Brandt-Administration eine Wiederauflage gesamtdeutscher Neutralisierungspläne unterstellte. Daß sich die deutsche „Ostpolitik" dann tatsächlich eng in die allgemeine westliche Entspannungspolitik einfügte und dabei auch viel von ihrem anfänglichen gesamtdeutschen Optimismus verlor, ließ einmal mehr deutlich werden, daß die deutsche Frage mit der Ost-West-Teilung der Nation den europäischen Nachbarn weit mehr einer „Lösung" nähergebracht erschien, als sie den Deutschen selbst gelöst erscheinen konnte.

Ob die Deutschen freilich überhaupt eine Rückkehr zum Nationalstaat von 1871 anstreben sollen, nicht nur, ob sie es unter den Bedingungen des fortdauernden Ost-West-Konfliktes können, muß im Lichte der historischen Erfahrung ernsthaft bezweifelt werden. So unverzichtbar es für das Selbstverständnis und die moralische Legitimation der bundesrepublikanischen Demokratie auch ist, für das Selbstbestimmungsrecht auch derjenigen Deutschen einzutreten, die nicht unter den Bedingungen einer freiheitlichen Demokratie leben können, und so notwendig es ganz allgemein ist, ihnen soviel praktische Solidarität als möglich zukommen zu lassen: dies mit dem Ziel oder über den Weg einer Wiedererrichtung eines deutschen Nationalstaats tun zu wollen, heißt nicht nur, gegen Schwierigkeiten anzukämpfen, die nach aller Erfahrung unüberwindbar sind, sondern auch einen gefährlichen Weg zu beschreiten, der selbst bei den friedlichsten Absichten zur Zerstörung des prekären innereuropäischen Gleichgewichts zu führen und damit die Sicherung aller Euro-B päer zu gefährden droht Wie anders, oder besser gesagt: wie tatsächlich allen Deutschen eine Existenz in Selbstbestimmung und Frieden ermöglicht werden kann, ist eine Frage, die aus der historischen Perspektive allein nicht beantwortet werden kann, vielmehr eines hohen Maßes an produktiver Phantasie bedarf. Auf jeden Fall schafft aber der Abschied von der Fixierung auf ein nationalstaatlich verengtes Bild von der jüngeren deutschen Geschichte, so schmerzlich er für diejenigen sein mag, die mit ihm groß geworden sind, Raum für dienotwendige Entwicklung einer solchen Phantasie.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zit. n. Gerhard Ritter, Die preußischen Konservativen und Bismarcks deutsche Politik 1858 bis 1876, Heidelberg 1913, S. 389.

  2. In Anbetracht der Fülle der Bezüge der folgenden Überlegungen zur älteren und jüngeren Fachdiskussion beschränken sich die Anmerkungen auf unmittelbare Zitatnachweise. Einleitend seien aber eine Reihe von Essays bzw. Essaysammlungen genannt, in deren Tradition diese Skizze steht, auch wenn sie die Akzente zum Teil anders setzt: Andreas Hillgruber, Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, Düsseldorf 1969-, Walter Hofer (Hrsg.), Europa und die Einheit Deutschlands, Köln 1970; Theodor Schieder, Das Deutsche Reich in seinen nationalen und universalen Beziehungen 1871 bis 1945, in: Theodor

  3. Wilhelm von Humboldt, Eine Auswahl aus seinen politischen Schriften, Berlin 1922, S. 125.

  4. Walter Hofer (Hrsg.), Europa und die Einheit Deutschlands, Köln 1970, S. 338.

  5. Zit. n. Leopold von Muralt, Deutschland und das europäische Gleichgewicht, in: Walter Hofer (Hrsg.), a. a. O., S. 15.

  6. Max Weber, Politische Schriften, Tübingen 19582, S. 23.

  7. Zit. n. Walter Lipgens, Europäische Einigungsidee 1923— 1930 und Briands Europaplan im Urteil der deutschen Akten, in: Historische Zeitschrift 203 (1966), S. 339.

  8. Foreign Relations of the United States 1948, vol. III, Washington 1973, S. 1288— 1296.

Weitere Inhalte

Wilfried Loth, Dr. phil., geb. 1948, Hochschulassistent an der Fachrichtung Geschichte der Universität Saarbrücken. Veröffentlichungen: Sozialismus und Internationalismus. Die französischen Sozialisten und die Nachkriegsordnung Europas 1940— 1950, Stuttgart 1977; Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941— 1955, München 1980, 19823; Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschlands, Habilitationsschrift Saarbrücken 1982; (als Ko-Autor:) Das Zwanzigste Jahrhundert II. Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Frankfurt (im Druck); zahlreiche Aufsätze zur französischen Zeitgeschichte und zu Problemen der internationalen Politik im 20. Jahrhundert.