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Die Bundesrepublik Deutschland und das Nordatlantische Bündnis | APuZ 38/1983 | bpb.de

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APuZ 38/1983 Artikel 1 Die Bundesrepublik Deutschland und das Nordatlantische Bündnis Vorrang für Vertragspolitik. Zum Problem von Nuklearwaffen in Europa Warum Nachrüstung? Rückblick und Ausblick auf Abschreckungspolitik

Die Bundesrepublik Deutschland und das Nordatlantische Bündnis

Peter-Kurt Würzbach

/ 14 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die NATO kann heute eine überzeugende Bilanz vorweisen: Seit über drei Jahrzehnten herrscht Frieden in Europa, während in anderen Teilen der Welt mehr als 140 Kriege geführt wurden, Grundlage dieses Erfolges war und ist, daß das Verbindende in der Wertegemeinschaft des Bündnisses stets den unterschiedlichen nationalen Interessen übergeordnet war. Die seit 15 Jahren gültige NATO-Strategie hat in dieser Zeit ihren politischen Zweck erfüllt, und es gibt keinen Grund, nicht auch weiterhin an ihren friedenserhaltenden Wert zu glauben. Neue Vorschläge wie „No First Use", „Nuclear Freeze“ oder eine „Atomwaffenfreie Zone“ können nichts oder wenig zur Erweiterung der Sicherheit beitrageh. Die Bundesrepublik leistet sowohl hinsichtlich der aufgestellten Einheiten als auch bezüglich der Verteidigungsausgaben einen beachtlichen Beitrag zum Bündnis und wird auch gegenüber den neuen Herausforderungen der NATO nicht abseits stehen: 1. Die Bundesregierung steht nach wie vor zum NATO-Doppelbeschluß. 2. Die Bundesrepublik Deutschland hat in den letzten Jahren bereits viel Geld für die konventionelle Verteidigung aufgewendet, deren Ausbau angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit des Warschauer Paktes weiter vorangetrieben werden muß. 3. Auch für die Bundesrepublik wird es notwendig sein, zürn Schutz vitaler Interessen aller NATO-Staaten außerhalb des Bündnisgebietes beizutragen, indem sie die Vereinigten Staaten (die in diesem Zusammenhang globale Aufgaben zu übernehmen haben) in Europa entlasten wird. 4. Die Ausarbeitung einer militärstrategischen und politischen Gesamtkonzeption gegenüber dem Warschauer Pakt ist notwendig, um das Kräftegleichgewicht zwischen den Blöcken zur Sicherung des Friedens aufrechterhalten zu können. Auch hier will die Bundesrepublik Deutschland mit ihren Partnern dazu beitragen, Lücken zu schließen.

Wer die augenblickliche sicherheitspolitische Diskussion in unserem Land auf ihren Kern zurückführt, stößt schnell auf die Frage, welche Bedeutung das NATO-Bündnis für die Bundesrepublik Deutschland hat und, umgekehrt, welchen Beitrag unser Land zur politischen und militärischen Funktionsfähigkeit des Bündnisses leistet Als die Sowjetunion nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges immer stärker dazu überging, die Situation in Osteuropa zu ihren Gunsten zu verändern und ihre Macht auszudehnen, schlossen sich die Völker Westeuropas und Nordamerikas zum Nordatlantischen Bündnis zusammen, um weiteren Expansionsbestrebungen der Sowjetunion wirksam entgegentreten zu können. Dies ist auch heute noch der Zweck des Bündnisses.

Dabei ist die NATO mehr als nur ein Pakt zur militärischen Sicherung des Vertragsgebietes. Die Mitgliedstaaten bemühen sich über die Fortentwicklung der gemeinsamen Sicherheits-und Verteidigungspolitik hinaus um Zusammenarbeit in Fragen der Außen-und Wirtschaftspolitik, der Wissenschaft und Technik, der sozialen Entwicklung und der Ökologie. Der Nordatlantikvertrag liefert den Rahmen für eine Zusammenarbeit, die ganz wesentlich auf gemeinsamen politischen Wertvorstellungen beruht.

Seit über drei Jahrzehnten herrscht Frieden in Europa, während in anderen Teilen der Welt mehr als 140 Kriege geführt wurden. Das ist eine überzeugende Bilanz für die NATO. Auf dieses Ergebnis können alle Bündnismitglieder stolz sein. Hat doch das Verbindende stets über dem Trennenden gestanden. Daß dies angesichts teilweise recht unterschiedlicher Interessen möglich war, verdanken wir der gemeinsamen Wertschätzung von Freiheit und Recht, aber auch der Bereitschaft aller, nationale Wünsche dem Wohle dieser Wertegemeinschaft unterzu-

I. Grundlagen des Bündnisses

ordnen. So ist eine Schicksalsgemeinschaft gewachsen, die bisher stets schnell genug auf die sich verändernden Elemente der Bedrohung reagieren konnte. Solidarität, Flexibilität und Opfersinn aller waren dafür nötig.

Diese Tugenden werden zukünftig angesichts gestiegener und weiter steigender Aufrüstung im Warschauer Pakt noch wichtiger. Denn unsere notwendige Reaktion darauf wird von ungünstigen wirtschaftlichen Bedingungen in den Mitgliedsländern der NATO, von teilweiser wirtschaftlicher Stagnation, hohen Inflationsraten und gestiegener Arbeitslosigkeit behindert.

In einer solchen Zeit können leicht nationale Egoismen über die Notwendigkeiten der Leistungen für die Gemeinschaft die überhand gewinnen. Dazu dürfen wir es nicht kommen lassen. Gerade jetzt müssen wir Kräfte mobilisieren und die Wachsamkeit zeigen, zu der uns der Wahlspruch der NATO „vigilia pretium libertatis“ — Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit — verpflichtet, eben auch und ganz besonders unserer Freiheit.

Im Jahre 1967 hat das Bündnis die Prinzipien seiner Politik im Harmel-Bericht neu definiert. Es hat sich danach eine doppelte Aufgabe gestellt: Zum einen eine hinreichende militärische Stärke und politische Solidarität aufrechtzuerhalten, um gegenüber Aggressionen und anderen Formen von Druckanwendung abschreckend zu wirken und das Gebiet der Mitgliedstaaten zu verteidigen, falls es zu einer Aggression kommt; zum anderen auf der Basis hinreichender militärischer Sicherheit nach Fortschritten in Richtung auf eine Verminderung der politischen Spannungen zwischen den Blöcken zu suchen, aber auch nach Wegen, die Rüstungspotentiale beider Seiten nach dem Grundsatz gleicher Sicherheit auf einem möglichst niedrigen Niveau zu stabilisieren. Ziel muß es sein, den Frieden mit immer weniger Waffen zu erhalten — mit 'weniger Waffen auf allen Seiten.

Ein verbindendes Element war stets auch die gemeinsame Strategie. Diese Strategie hat sich als erfolgreich und friedenserhaltend erwiesen. Die derzeit gültigen Vorstellungen sind heute 15 Jahre alt und stehen nun wieder im Mittelpunkt der Diskussion — nicht zuletzt deswegen, weil in den Ländern der NATO ein neues Interesse der Menschen für die Rolle der Nuklearwaffen gewachsen ist. Zwar wird die Rolle der Abschreckung zur Friedenssicherung weithin verstanden und akzeptiert. Dennoch nehmen immer mehr Menschen verstärkt wahr, welche Auswirkungen der Einsatz nuklearer Waffen bei einem Versagen der Abschreckung haben könnte.

Nun hat die Abschreckung bisher ihren politischen Zweck erfüllt. Es gibt keinen Grund, nicht auch weiter an ihren friedenserhaltenden Wert zu glauben. Die handelnden Politiker sind aber auch verpflichtet, die Besorgnisse ihrer Bevölkerung ernst zu nehmen und im verständlichen Dialog und geduldiger Diskussion komplizierte Zusammenhänge sachlich zu vermitteln. Gerade bei den Nuklearwaffen ist an immer wieder neuen Vorschlägen und Aufrufen aus der Öffentlichkeit kein Mangel.

Anregungen wie „No first use", . Atomwaffen-freie Zone" oder „Nuclear Freeze" gehören dazu, sind aber keine Vorschläge, die die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland erhöhen. „No first use" deshalb nicht, weil das Bündnis nicht nur den nuklearen, sondern jeden Krieg in Europa verhindern muß. Angesichts so großer konventioneller Überlegenheit des Warschauer Paktes ist das jedoch nur möglich, wenn die Gegenseite für den Fall ihres Angriffs mit untragbaren Schäden rechnen muß. Dies aber ist entweder mit nuklearen Mitteln möglich oder bedürfte einer stark vermehrten konventionellen Kampfkraft auf Seiten der NATO. Letztere könnte gegenwärtig aber nur zu so hohen Kosten bereitgestellt werden, daß die Verwirklichung angesichts der wirtschaftlichen Lage in den Bündnisländern unerreichbar erscheint. Außerdem müßte eine weitgehende „Militarisierung" unserer Gesellschaft erfolgen — keiner kann dies wollen. Die NATO kann den nuklearen Ersteinsatz nicht ausschließen, so lange der Warschauer Pakt in Europa überlegene konventionelle Streitkräfte unterhält. Nicht nur in der Verhandlungsstrategie, sondern in nunmehr jahrzehntelanger Praxis wie für die Zukunft verzichten wir auf den Ersteinsatz aller Waffen.

Eine „Atomwaffenfreie Zone" ist sicher ein schöner Traum, aber gegenwärtig kein taugliches Mittel der Strategie. Es kommt nämlich bei den weitreichenden Waffen weniger darauf an, wo sie stehen, als vielmehr darauf, wohin sie wirken können. Der erste und bisher einzige atomare Einsatz erfolgte gegen ein Land, das von Atomwaffen frei war. Das Bemühen muß daher darauf gerichtet sein, Bedingungen für eine Verminderung der Waffen zu schaffen. Nukleare Waffen auf beiden Seiten allmählich auszusondern, um sie möglichst gegen Null zu bringen, das wäre der beste Schutz! Das Ziel muß wirkliche Abrüstung sein. Das erst schafft die Sicherheit, die sich auch jene ja in Wirklichkeit wünschen, die für atomwaffenfreie Zonen in Ost und West eintreten.

Und „Nuclear Freeze" begünstigt nur die, die in einer Zeit politischer Entspannung eine Vielzahl nuklearer Waffenprogramme aufgelegt haben, die „vor“ -gerüstet haben und nun diesen Zustand der Überlegenheit vertraglich sichern wollen. Er begünstigt also die Sowjetunion. Das aber ist nicht akzeptabel für den Westen. Es schriebe ein Ungleichgewicht zu seinen Ungunsten fest, das der Osten gewiß politisch nutzen würde.

Stets waren sich die europäischen Verbündeten darin einig, daß ihre Sicherheit ohne den militärischen Schutz durch die Vereinigten Staaten nicht zu gewährleisten wäre. Nur die Welt-und Nuklearmacht USA ist in der Lage, die sowjetische Militärmacht auszugleichen — regional und weltweit. Umgekehrt wissen die USA, daß Europa ein ganz wesentlicher Pfeiler ihrer Weltmacht ist, dessen Verlust ihre Position gegenüber der Sowjetunion entscheidend schwächen würde.

Fast 35 Jahre lang hat die NATO bis jetzt ihren Zweck erfüllen können. Dabei war das Bündnis auch immer wieder inneren Belastungen und Krisen ausgesetzt. Dies ist nur natürlich. Die NATO ist ein Bündnis freier und souveräner Staaten, deren nationale Interessen ungeachtet der großen Übereinstimmung in grundlegenden Wertvorstellungen und Zielen in Einzelfragen zum Teil erheblich differieren. Die Unterschiede ergeben sich unter anderem aus der jeweiligen geostrategischen Lage eines Landes, seinem Status als Nuklear-oder Nichtnuklearmacht, seiner Größe und seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, seinen Handelsinteressen und den traditionellen Mustern seines politischen Handelns. Da das Bündnis nicht auf Unterordnung beruht, sondern auf fnteressenabstimmung und -ausgleich, erfordern alle Entscheidungen kollektive Beratung, einvernehmliche Definition der fnteressen, Bereitschaft zur gerechten Teilung der Risiken und Lasten — und damit vor allem Kompromißfähigkeit. Das führt dann zuweilen zu einem langwierigen und harten Ringen um den gemeinsam zu tragenden Beschluß, vor allem wenn es gilt, langfristig wirkende Konzepte zu entwickeln.

II. Die Bundesrepublik Deutschland im Bündnis

Als die Bundesrepublik Deutschland vor 28 Jahren dem Nordatlantischen Bündnis beitrat, entsprach ihre Wiederbewaffnung nicht nur den Wünschen unserer Partner — vor allem der USA —, die einen deutschen Beitrag in dem sich verschärfenden Ost-West-Konflikt als unverzichtbar ansahen und die Bundesrepublik gleichzeitig fest im Westen verankern wollten; sie entsprach auch dem Hauptziel der westdeutschen Nachkriegspolitik unter Konrad Adenauer — der Westintegration und europäischen Einigung. Seitdem bilden die Mitgliedschaft zur Nordatlantischen Allianz und die Sicherheitspartnerschaft mit den Vereinigten Staaten das Fundament der Außen-und Sicherheitspolitik unseres Landes. Nur auf diesem Fundament konnte sich die Bundesrepublik zu dem entwickeln, was sie heute ist: eine innerlich gefestigte Demokratie, ein erfolgreicher Industriestaat, ein verläßlicher und geachteter Partner in der internationalen Politik. keinen Kurs zwischen den beiden Blöcken geben kann. Daran hat sich seit Konrad Adenauer nichts geändert. Für die Bundesrepublik Deutschland als das am meisten gefährdete Land des freien Westens an der Naht-stelle zwischen West und Ost im Herzen Europas würden Bündnisfreiheit und Neutralität den Verlust an Sicherheit und politischer Handlungsfreiheit bedeuten. Solange zwischen West und Ost die grundsätzlichen Unterschiede in politischen Wertvorstellungen und Zielsetzungen bestehen bleiben und die Sowjetunion nicht aufhört, ihre militärische Macht zu steigern, kann unser Land nur an der Seite seiner Bündnispartner Sicherheit finden.

Für ihre Sicherheit hat die Bundesrepublik Deutschland neben der politischen Solidarität mit ihren Verbündeten vor allem durch ihren militärischen Beitrag Lasten zu übernehmen. Diese müssen der geostrategischen Lage unsers Landes und seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entsprechen. Der Gesamtbeitrag bestimmt das Gewicht, das die Bundesrepublik Deutschland im Bündnis hat. Dieses Gewicht sichert Einfluß und Mitsprache in Angelegenheiten, die unsere nationalen Interessen berühren.

Die Bundesregierung hat ihr klares Bekenntnis zum Bündnis und zur freundschaftlichen Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten bekräftigt und erneuert. Sie läßt sich in ihrer Außen-und Sicherheitspolitik von der festen Überzeugung leiten, daß es für unser Land

III. Der Beitrag der Bundesrepublik Deutschland

Der sicherheitspolitischen Abhängigkeit unseres Landes vom Nordatlantischen Bündnis steht die Abhängigkeit des Bündnisses von der Mitgliedschaft der Bundesrepublik gegen-über. Ohne die Bundesrepublik fehlte der Allianz ein wesentlicher Faktor politischer und militärischer Stabilität in Europa. Die Kräfte würden sich verschieben. Die meisten westeuropäischen Verbündeten verlören ihr militärisches Vorfeld, die Vereinigten Staaten und das Bündnis insgesamt einen seiner umfangreichsten, am besten ausgerüsteten und ausgebildeten Streitkräfteanteile. Mit zwölf Divisionen des Feldheeres und sechs teilpräsenten Heimatschutzbrigaden stellt die Bundeswehr 50% der NATO-Landstreitkräfte in Mitteleuropa. Ihre mehr als 450 Kampfflugzeuge machen 30% aller Kampfflugzeuge, ihre 60 Flugabwehreinheiten 50% der bodengebundenen Luftverteidigung aus. In der Ostsee stellt die Bundesmarine 70% der Seestreitkräfte und 100% der Seeluftstreitkräfte. Alle Kampfverbände sind schon im Frieden für die Unterstellung im Bündnis vorgesehen und erfüllen die höchsten Einsatzforderungen der NATO. Sie könnten bei Mobilmachung innerhalb von drei Tagen um bis zu 850 000 ausgebildete Reservisten verstärkt werden.

Die Verteidigungsausgaben der Bundesrepublik Deutschland verlangen große Anstrengungen. Hinter den Nuklearmächten USA (65, 1 %), Großbritannien (8, 5%) und Frankreich (7, 8%) -leistete die Bundesrepublik Deutschland mit 7, 6% den viertgrößten Anteil an den gesamten Verteidigungsausgaben der NATO—Staaten im Jahr 1982. Mit 26, 5% zahlt die Bundesregierung mehr als alle anderen europäischen Regierungen für NATO-Infrastrukturprogramme. Die aus diesem Programm finanzierten Bauvorhaben dienen allerdings zu einem erheblichen Teil der Verwirklichung von Verstärkungsprogrammen für den Verteidigungsfall auf dem Gebiet der Bundesrepublik. Mit 16, 1 und 19, 4% trägt sie darüber hinaus den drittgrößten Finanzierungsanteil an den gemeinsamen Zivil-und Militärhaushalten des Bündnisses. Schließlich leistet sie einigen schwächeren Partnern Verteidigungshilfe. In keinem anderen Land der NATO sind so viele Streitkräfte auf engem Raum stationiert wie in der Bundesrepublik Deutschland. Hier stehen — rieben den 495 000 Soldaten der Bundeswehr — 392 000 Soldaten verbündeter Streitkräfte samt Waffen und Gerät. Ihre Stationierung schließt die Einlagerung nuklearer Waffen auf deutschem Boden ein, ohne daß die Bundesrepublik Deutschland über diese Waffen verfügt. Dies alles ist erforderlich, solange die militärische Bedrohung der Bundesrepublik in Verbindung mit ihrer geostrategischen Lage aus politisch-strategischen Gründen eine multinationale Streitkräftepräsenz in unserem Land verlangt und die Militärstrategie des Bündnisses auf die abschreckende Wirkung nuklearer Waffen nicht verzichten kann. Die Bundesrepublik akzeptiert diese Belastungen als unerläßlichen politischen Beitrag, den sie aus übergeordnetem sicherheitspolitischem Eigeninteresse leistet.

IV. Die Zukunft des Bündnisses

Das Bündnis wird sich in den kommenden Jahren erneut zu bewähren haben:

Die militärische Stärke der Sowjetunion ist in den letzten Jahren so gewachsen, daß sie heute weit, sehr weit über Verteidigungserfordernisse hinausgeht. Die Überrüstung, die ungeachtet der wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der prekären Versorgungslage der Bevölkerung konsequent vorangetrieben wurde, ist mit dem verständlichen Streben nach Aufrechterhaltung eines militärischen Gleichgewichts nicht mehr erklärbar. Aus der Kontinentalmacht Sowjetunion ist eine militärische Weltmacht geworden, die ihre Fähigkeit zu weltweiter Anwendung ihrer Macht trotz ungünstiger geostrategischer Lage mehrfach unter Beweis gestellt hat. Das Verhältnis der konventionellen Kräfte in Europa hat sich in den vergangenen Jahren weiter zuungunsten des Westens verschoben. Bedrohlichstes Ergebnis der sowjetischen Rüstungsanstrengungen ist das entstandene Un-gleichgewicht im nuklearen Mittelstrecken-bereich. Hier hat der Westen dem sowjetischen Potential bis zum heutigen Tage nichts Vergleichbares entgegenzusetzen.

Die Industriestaaten des Westens befinden sich in einer ökonomischen Struktur-und Anpassungskrise. Geringes wirtschaftliches Wachstum, Arbeitslosigkeit und sinkende Masseneinkommen haben Auswirkungen auf die möglichen Verteidigungsausgaben der Länder. Die Bewahrung des sozialen Friedens ist eine wesentliche Voraussetzung unserer Sicherheit; dies muß jede Regierung bei der Verteilung der knapper gewordenen Mittel berücksichtigen. Andererseits wäre der Versuch, den Verteidigungsbeitrag zu mindern, mit hohen Risiken verbunden. Risse im Bündnis könnten die Folge sein. In den USA ist schon jetzt die Ansicht weit verbreitet, die Lasten des Bündnisses seien ungleich verteilt und die Europäer trügen nicht den Anteil, der ihren wirtschaftlichen Fähigkeiten entspricht. Dieser Vorwurf wird in dem Maß lauter, wie die Amerikaner — trotz eigener wirtschaftlicher Schwierigkeiten — ihre weltweiten Anstrengungen zur Eindämmung der sowjetischen Machtentfaltung steigern müssen.

In den Ländern unseres Bündnisses ist inzwischen eine Generation herangewachsen, die nicht mehr von dem Erlebnis der Diktatur und des Krieges unmittelbar geprägt wurde. Für sie sind die demokratischen Freiheiten eine Selbstverständlichkeit. Ihr ist weithin unbewußt, daß sie von den Zinsen eines Kapitals lebt, das über einen langen Zeitraum und unter großen Anstrengungen angesammelt wurde. Und die Einsicht in die geschichtliche Wahrheit ist vielfach abhanden gekommen, daß überleben und Fortschritt von Demokratien nicht garantiert werden können, wenn sie nicht stark bleiben gegenüber Mächten, die Freiheit als Bedrohung empfinden. Die wehrhafte Demokratie scheint der Vision einer friedlichen Welt im Wege zu stehen. Die gegenwärtige Unruhe in der Öffentlichkeit vieler NATO-Staaten stellt sicherlich noch keine unmittelbare Bedrohung der Existenz und Substanz des Bündnisses dar. Aber natürlich bleiben solche Entwicklungen nicht ohne Einfluß auf manche auch politisch Verantwortlichen, auf namhafte Vertreter in anderen großen Institutionen. Hier gilt es, standhaft zu bleiben.

Angesichts der geschilderten Entwicklungen muß das Bündnis auf vier Feldern neue Antworten auf alte und neue Herausforderungen finden:

1 Die Genfer Verhandlungen zur Begrenzung der nuklearen Mittelstreckensysteme treten in ihre entscheidende Phase. Die Standfestigkeit des Bündnisses wird schon jetzt auf eine harte Probe gestellt, und diese Belastung wird zunehmen, je näher der für den Fall des teilweisen oder vollständigen Fehlschiagens der Verhandlungen gesetzte Termin des Beginns der Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckensysteme kommt. Dabei wird die Sowjetunion bis zuletzt versuchen, Widerstände gegen die mögliche Stationierung zu fördern und für ihre Zwecke auszunutzen.

Die Bundesregierung steht nach wie vor zu dem, was gemeinsam im Bündnis beschlossen worden ist. Dies ist zwingend erforderlich, weil der Sowjetunion angesichts interkontinentalstrategischer Parität mit den USA kein Monopol bei landgestützten nuklearen Mittelstreckenraketen überlassen werden darf. Es steht deshalb nicht nur die politische Glaubwürdigkeit des Bündnisses auf dem Spiel, sondern ebenso seine Fähigkeit, die gültige militärstrategische Konzeption der kriegsverhindernden Abschreckung wirksam bleiben zu lassen. Rüstungskontrolle, und Rüstung sind zwei mögliche Wege zur Erhaltung oder Wiederherstellung militärischen Gleichgewichts zwischen den Blöcken. Sollte ein Gleichgewicht durch die Genfer Verhandlungen nicht zu erreichen sein, muß in erforderlichem Umfang nachgerüstet werden. 2. Angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit des Warschauer Pakts an konventionellen Streitkräften und eines regionalen und weltweiten nuklearen Kräfteverhältnisses, das sich in den letzten Jahren deutlich zugunsten des Ostens verändert hat, muß das Bündnis seine konventionelle Verteidigungsfähigkeit stärken, wenn seine militärstrategische Konzeption in den Augen des möglichen Gegners überzeugend bleiben soll.

Die Bundesrepublik Deutschland hat bereits in den vergangenen Jahren mehr Geld für die konventionelle Verteidigung aufgewendet als die anderen europäischen Bündnispartner. Gegenwärtig führt sie mit dem Kampfpanzer Leopard 2, dem Kampfflugzeug Tornado und der Fregatte 122 in alle Teilstreitkräfte moderne Waffensysteme ein. Im vorigen Jahr hat die Bundesregierung ein umfangreiches Abkommen mit der amerikanischen Regierung getroffen, um die schnelle Heranführung amerikanischer Verstärkungen zu unterstützen.

In dem Abkommen (Wartime Host Nation Support) verpflichten sich die USA, ihre in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Divisionen und dazugehörigen Luft-streitkräfte im Krisenfall innerhalb von zehn Tagen um sechs weitere Divisionen und etwa 800 zusätzliche Kampfflugzeuge zu verstärken.

Die Bundesrepublik Deutschland hilft durch den Aufbau und den Unterhalt einer umfassenden Unterstützungsorganisation.

Das Programm soll bis 1987 verwirklicht wer-j den. Seine Kosten werden zwischen beiden Seiten geteilt. Der Beitrag bewirkt einen Zuwachs konventioneller Kampfkraft.

Im übrigen ist die NATO dabei, neue technische Möglichkeiten zu verfolgen, um die konventionelle Abwehrkraft des Bündnisses im Vergleich zur Offensivfähigkeit des War-schauer Pakts zu steigern.

3. Die NATO kann die geographischen Grenzen des Vertragsbereiches heute nicht mehr als Begrenzung ihrer sicherheitspolitischen Interessen betrachten. Die außenwirtschaftliche Abhängigkeit der westlichen hochentwickelten Industriestaaten hat stetig zugenommen.

Mit Ausnahme der Agrarwirtschaft ist Westeuropa auf keinem Gebiet autark;

'Rohstoff-und Energieimporte sind für Europa daher lebenswichtig. Für das Bündnis ist es insgesamt eine Überlebensfrage geworden, ob es fähig ist, auch solchen Bedrohungen zu begegnen, die sich gegen seine wirtschaftlichen Lebensadern richten. Damit steht die Allianz vor der Aufgabe, mit verteilten Rollen Maßnahmen zu treffen, um auch außerhalb des Vertragsbereiches Krisen bewältigen zu können.

Die Vereinigten Staaten sind bereit, zum Schutz vitaler Interessen aller NATO-Staaten außerhalb des Bündnisgebietes globale Aufgaben zu übernehmen. Sie tun das in nationaler Verantwortung. Der eingeleitete Aufbau schneller Eingreifverbände dient diesem Zweck. Diese Kräfte stünden der NATO jedoch nicht zur Verfügung, wenn sie außerhalb des NATO-Vertragsbereiches eingesetzt würden. Deshalb müssen die europäischen Partner sich darauf einstellen, entstehende Lücken im Aufkommen der amerikanischen Verstärkungskräfte durch eigene Leistungen zu schließen.

4. Die Aufrechterhaltung eines militärischen Kräftegleichgewichts zwischen den Blöcken bleibt für die Sicherung des Friedens vorerst unverzichtbar. Gleichzeitig braucht das Bündnis in seinem Verhältnis zum Warschauer Pakt eine langfristig angelegte Gesamtstrategie, die von allen Partnern mitgetragen wird. Diese Strategie muß über die militärstrategische Konzeption von Abschreckung und Verteidigung hinaus das politische Vorgehen des Bündnisses in allen wesentlichen Bereichen bestimmen: in Fragen der Rüstung und Rüstungskontrolle, der wirtschaftlichen und sonstigen Zusammenarbeit mit dem Ostblock, des Technologietransfers und der Eindämmung sowjetischer Macht. Hier sind gewiß noch Lücken zu schließen. Die Bundesrepublik Deutschland ist entschlossen, auch dazu ihren Beitrag zu leisten.

In allen Ländern der NATO müssen die Werte von Freiheit und Frieden als solche empfunden werden, als hohes Gut eingeschätzt werden, um das uns die Mehrheit der Menschen auf der Erde beneidet.

Die bestehende ideologisch-militärische Bedrohung läßt uns dieses Leben in Freiheit für heute und für die Jugend in der Zukunft nicht zum „Nulltarif“ sichern. Deshalb müssen wir für unsere Freiheit — in der Welt, wie sie ist — auch unseren Beitrag leisten.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Peter-Kurt Würzbach, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung; Oberstleutnant a. D., Diplom-Pädagoge, 1980— 1982 Verteidigungspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion.